Der Blinde unter den Einäugigen

Eine Überraschung stellte der Wahlbetrug indes nicht dar. Die Fälschungen sowie die Reaktionen auf die zu erwartende in­ternationale Kritik waren von langer Hand vorbereitet. In einem rassistisch geführten Wahlkampf warf die regierende Refor­mierte Sozialchristliche Partei dem farbi­gen Peña Gómez immer wieder den Aus­verkauf nationaler Interessen vor. Peña Gómez ist Vizepräsident der Sozialisti­schen Internationalen und setzte auf aus­ländische WahlbeobachterInnen, um faire Wahlen zu garantieren.
Peña Gómez, der aus dem verarmten Nor­den des Landes stammt, ist der Vertreter der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. Über 80 Prozent der DominikanerInnen sind dunkler Hautfarbe. Balaguer stützt sich vor allem auf die weßen Ober­schichten, die alle wichtigen Bereiche des wirtschaftlichen Lebens kontrollieren.
Bereits Wochen vor der Wahl hatten die Oppositionsparteien von der Zentralen Wahlkommission verlangt, ihnen die Wählerverzeichnisse auszuhändigen. Erst drei Tage vor den Wahlen lagen die Listen vor. Als schließlich diese Verzeichnisse mit dem offiziellen Wahlregister vergli­chen wurden, stellten BeobachterInnen fest, daß tausende von Namen fehlten. Außerdem wurde vielen WählerInnen der Zutritt zu den Wahllokalen verwehrt. Ins­gesamt 200.000 Menschen konnten ihre Stimme nicht abgeben. In erster Linie handelte es sich dabei um AnhängerInnen der Opposition. Um sich zusätzlich abzu­sichern, ließ Balaguer seine eigenen Ge­folgsleute zum Teil sogar ein zweites Mal wählen. In einigen Wahlkreisen lag die Wahlbeteiligung bei über 100 Prozent.

Internationale Verschwörung

Diese Vorwürfe wurden von internatio­nalen WahlbeobachterInnen bestätigt. Die US-Administration sowie die Regierungen anderer Länder erklärten daraufhin umge­hend, die Wahlergebnisse nicht anzuer­kennen. Da der 87jährige blinde Balaguer ein Profi in Sachen Wahlbetrug ist, rea­gierte er schnell. Seine Strategie gleicht der, die bereits vor vier Jahren ihre Wirk­samkeit unter Beweis gestellt hatte: Zunächst einmal alles leugnen. Die Wah­len seien sauber gewesen und die Vor­würfe ein Vorwand der Opposition und ih­rer ausländischen Komplizen, um die Macht an sich zu reißen. Anschließend solle das Land mit dem Nachbarstaat Haiti vereinigt werden. Jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Domini­kanischen Republik werde die Regierung entschlossen entgegentreten. Der Einmi­schung der dominikanischen Bevölkerung in ihre eigenen Angelegenheiten trat das Regime entgegen, indem es Militärs auf den Straßen der großen Städte patroullie­ren ließ. Balaguer verhängte umgehend ein nächtliches Ausgehverbot. Peña Gó­mez hatte seine AnhängerInnen dazu auf­gerufen, friedlichen Widerstand gegen den Wahlbetrug zu leisten.
Auf die Peitsche folgte das Zuckerbrot. Der Diktator ließ verlauten, Unregelmä­igkeiten bei den Wahlen befänden sich im Bereich des Möglichen. Nur handele es sich eben nicht um Betrug, sondern um Schwächen des neuen Wahlsystems. Der weitverbreitete Analphabetismus habe sein übriges getan, um die Wahlen in ih­rem Ablauf zu behindern. Die Zentrale Wahlkommission stoppte die Bekannt­gabe der Wahlergebnisse und kündigte an, die Stimmen erneut auszählen zu lassen, um dann gegebenenfalls Neuwahlen in eini­gen Landesteilen auszurufen. Eine gene­relle Wiederholung des Urnengangs komme wegen verfassungsrechtlicher Vorschriften nicht in Betracht.
Balaguer will Zeit gewinnen und setzt darauf, daß die internationale Kritik nach der pflichtgemäßen Äußerung ihrer Empö­rung verstummt. Das Schweigen der USA will er sich erkaufen. Dem US-Gesandten für Haiti, William Grey, versprach der greise Staatspräsident, das von den Ver­einten Nationen gegen Haiti verhängte Embargo nicht länger zu mißachten. Die grüne Grenze zum Nachbarn soll nun un­durchlässig gemacht werden. Werden sich die USA auf dieses Geschäft einlassen, um der Beilegung der Krise in Haiti einen Schritt näher zu kommen? Sind sie bereit dazu, wieder einmal wegzusehen, wenn sich der blinde Balaguer zum siebten Mal an die Macht mogelt? Balaguer handelt offenbar weitsichtiger als das State De­partment denkt.

Sieg der revolutionären Prinzipien

Die FSLN hat in den letzten vier Jahren nicht nur in der öffentlichen Meinung Fe­dern lassen müssen. Meinungsumfragen sehen die Frente derzeit bei etwa 27 Pro­zent. Auch die eigenen Mitglieder sind ihr Scha­renweise weggelaufen – nicht zum politi­schen Gegner, aber in die politische Apa­thie. Viele zeigten sich frustriert über Korruption und autoritäres Führungsden­ken in den eigenen Reihen, andere über Konzep­tionslosigkeit in der nationalen Politik. Und fast alle waren unzufrieden, daß die FSLN keinen klaren Weg fand, um ihrer neuen Rolle als Oppositionspar­tei gerecht zu wer­den. Vom zweiten Par­teitag, der vom 20. bis 22. Mai in Mana­gua stattfand, wurden Weichenstellungen erwartet.
Eine klare Konfrontation zwischen zwei un­terschiedlichen Strömungen innerhalb der Sandinistischen Befreiungsfront be­stimmte den Parteitag. Auf der einen Seite stand der Ex-Vizepräsident Ser­gio Rami­rez, der die Parlamentsfrak­tion der FSLN anführt. Er stand vor allem für eine inner­parteiliche Demokratisierung der Frente, kritisierte den autoritären Füh­rungsstil Daniel Ortegas und setzte sich für eine moderate Oppositionslinie ein, die für die nächsten Wahlen 1996 ein Bündnis mit den gemäßigten Teilen des Bürger­tums ermöglichen soll, wie es durch den jetzi­gen star­ken Mann der Regierung Cha­morro, Antonio Lacayo, symbolisiert wird.
Auf der anderen Seite stand Ex-Präsident Daniel Ortega, der seit der Wahlnieder­lage 1990 seine Rolle mehrmals gewech­selt hat. Er steht den sandinistischen Ge­werkschaften nahe, die in der Nationalen ArbeiterInnen­front (FNT) zusammenge­schlossen sind und einen kämpferischen Kurs gegen die neolibe­rale Politik der Re­gierung eingeschlagen haben. War Ortega zunächst bei den ersten großen Streiks, als die Gewerkschaften die Hauptstadt mit Barrikaden lahmlegten, noch als ge­schickter Vermittler aufgetreten, dessen oberste Maxime die Stabilität des Landes zu sein schien, so hat sich seine Rhetorik mittlerweile radikalisiert. Er hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, die die alten Grundprinzipien sandinistischer Politik als Leitlinie des parteilichen Han­delns umge­setzt sehen wollen. Und das heißt: Radi­kale Opposition nicht nur auf parlamenta­rischem Wege, aber auch: ein guter Schuß linker Dogmatismus.
Die Auseinandersetzungen zwischen den bei­den Parteiflügeln hatten sich in den letz­ten Monaten zugespitzt. Da ging es zum Bei­spiel um Gesetzesentwürfe zur Privatisie­rung öffentlicher Dienstleistun­gen, die von der Parlamentsfraktion ein­gebracht worden waren. Motto: Wir kön­nen die Privatisierung nicht verhindern, also müssen wir sie steu­ern. Gewerk­schaften und Parteilinke rea­gierten em­pört, es kam zu öffentlichen Schreiereien zwischen Daniel Ortega und Sergio Rami­rez. Immer öfter, so ein Vor­wurf, koppele sich die Parlamentsfraktion von der Partei ab, mißachte Beschlüsse der Sandinisti­schen Versammlung – des höchsten Gre­miums zwischen den Parteitagen – und vertrete mithin nur noch sich selbst, nicht aber die Partei.

Showdown in Managua

Der Parteitag lud zum Showdown. Auf der Ta­gesordnung standen die Neuwahl der Lei­tungsgremien und die Neuverhandlung von Programm und Statuten. Die zwei Strömungen, mittlerweile auch mit Namen ausgestattet – “Demokratische Linke” für die Ortega-Frak­tion und “Zurück zu den Mehrheiten” für Ra­mirez – hielten sich mit gegenseitiger Kri­tik schon im Vorfeld nicht mehr zurück. Hatte die FSLN immer versucht, ihre inter­nen Konflikte so lautlos wie möglich auszu­tragen und nach außen hin als homogener, monolithischer Block aufzutreten, nutzten nun beide Strömun­gen die Medien, um sich kräftig zu behar­ken. Insbesondere das Or­tega-hörige “Radio Ya” schimpfte tüchtig auf die bourgeoisen Vertreter der Ramirez-Linie.
Beide Fraktionen hat­ten Kandidatenlisten aufge­stellt, die sich nur zum Teil überschnit­ten. Selbst für den Posten des Generalsekretärs ließ sich ein Gegenkan­didat gegen Ortega finden. Der Alt-Co­mandante Henry Ruiz, Kampfname “Modesto”, fungierte als Kompro­miß-Kandidat der “Strömungslosen”. Auf der Liste Ramirez’ standen auch der ehe­malige Erziehungsminister Fern­ando Car­denal, die Abgeordnete Comandante Doris Tijerino, der – mittlerweile strikt markt­wirtschaftlich orientierte – ehemalige Pla­nungsminister Alejandro Martinez Cu­enca, der Vorsitzende der sandinistischen Bauern­vereinigung UNAG, Daniel Nuñez und der Ver­treter der Landarbeitergewerk­schaft ATC, Edgardo García. FSLN-Schatzmeister Bayardo Arce war auf die­ser Liste nicht mehr ver­treten, und Tradi­tionsführer Victor Tirado tauchte gar zunächst auf bei­den Listen nicht auf, eben­sowenig wie Noch-Armeechef Hum­berto Ortega und Ex-Landwirtschaftsmini­ster Jaime Whee­lock, der zur Zeit in Har­vard studiert.
Auf der Liste Ortegas fand sich unter an­derem auch der Sohn des FSLN-Gründers Car­los Fonseca, Carlos Fonseca Terán.

Die neue Nationalleitung:
Daniel Ortega (Generalsekretär), To­mas Borge (Stellvertreter), Ba­yardo Arce, Mo­nica Baltodano, René Nuñez, Victor Hugo Tinoco, Dora Maria Tel­lez, Dorotea Wil­son, Henry Ruiz, Luis Carrión, Lumberto Campbell, René Vivas, Benigna Mendiola, Mirna Cun­ningham, Vic­tor Tirado

Nachdem der Parteitag eine Frauenquote von 30 Prozent für alle Leitungsgremien der Partei beschlossen und die National­leitung von bislang zehn auf fünfzehn Mitglieder erweitert hatte, mußten fünf Frauen in die neue Nationalleitung ge­wählt werden. Zunächst gab es noch Streit, ob die Führung überhaupt weiter so heißen solle, denn, so meinten einige De­legierte, der alte Spruch “Nationalleitung befiehl!” sei doch vielen NicaraguanerIn­nen noch so unan­genehm in Erinnerung, daß man jetzt besser von einem “Nationalrat”, “Parteirat” oder ähnlichem sprechen sollte. Der Vorschlag wurde mit Mehrheit abgelehnt.
Die Zusammensetzung der neuen Nationallei­tung dokumentiert den Durch­marsch der Or­tega-Fraktion. Nicht nur Sergio Ramirez selbst wurde nicht wieder in die Führung gewählt, auch der Großteil seiner Kandida­tInnen fiel durch. Lediglich die ehemalige Erziehungsministerin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dora Maria Tellez schaffte als Ramirez-Kandi­datin den Sprung in die Nationalleitung, obwohl sie klar für die Ramirez-Fraktion steht. Ex-Polizeichef René Vivas war Kandidat beider Seiten, ebenso wie Lum­berto Campbell und die Coman­dante Mo­nica Baltodano, die sich als Stadt­rätin in Managua durch einen stetigen Kon­flikt mit dem Rechtsaußen-Bürgermeister Ar­noldo Aleman ausgezeichnet hat.
Zum ersten Mal gab es auf nationaler Ebene Kampfabstimmungen um Personen, zum ersten Mal sind Frauen in der National­leitung, zum ersten Mal auch sind Sandini­stInnen von der Atlantikküste in die Füh­rung eingebunden. Für die Sandi­nistische Versammlung wurde neu fest­gelegt, daß die meisten ihrer Mitglieder nunmehr in den Re­gionen direkt gewählt werden, und nicht mehr vom Parteitag. Doch sowohl diese Füh­rung als auch die Zusammensetzung der neuen Asamblea Sandinista lassen kaum erwarten, daß dem autoritären Führungsstil Daniel Or­tegas Einhalt geboten würde. Immerhin hatte Ortega es vor dem Parteitag zu verhindern gewußt, daß die Delegierten neu gewählt würden. Sie repräsentieren das Meinungs­spektrum von 1991, als sie in den Regio­nen bestimmt worden waren. Da dieser Parteitag ein außerordentlicher war, wur­den sie nicht neu gewählt. Ergebnis: Starke Mehrheiten für Ortega und vor al­lem: JedeR fünfte ge­wählte Delegierte nahm gar nicht erst teil. So nimmt es nicht Wunder, daß Ramirez nach seiner Nie­derlage nur noch kommentierte, die Zu­sammensetzung des Parteitags sei nicht repräsentativ für die Basis, sondern im Gegenteil von Ortega selbst ausgewählt.

Und jetzt wohin?

Der Parteitag hat ent­schieden. Gesiegt hat das archaische Nica­ragua, das den rechts­radikalen Bürgermei­ster Managuas auf der einen und die links­radikal auftretende FNT auf der anderen Seite kennt. Das ent­spricht der verzweifel­ten Situation vieler Nicara­guanerInnen, die verarmt und von der Re­gierungsmauschelei enttäuscht ra­dikalen Lösungen den Vorzug geben. Verloren hat mit Sergio Ramirez die aus­söhnende, Bündnisse suchende Linie, die die politi­sche Auseinandersetzung im pola­risierten Nicaragua zu zivilisieren sucht. Aber wo, außerhalb der hauptstädti­schen Mittel- und Oberschicht, gibt es diese Position ei­gentlich sonst als aktiven Part?
Die FSLN wird, sollte sich die mit diesen Parteiwahlen eingeschlagene Linie in radi­kalerem Auftreten durchsetzen, Schwierig­keiten haben, irgendeinen Bündnispartner für die 1996 anstehenden Wahlen zu finden. Alleine aber ist sie kaum mehrheitsfähig. Wenn Daniel Or­tega nun, nachdem Sergio Ra­mirez auch als möglicher Spitzenkandidat gescheitert ist, wiederum die Präsident­schaft anstrebt, wenn sich in der Führung mit Ausnahme von Jaime Wheelock und Hum­berto Or­tega alle alten Comandantes wieder­finden, die bei den nicht ohnehin sandini­stischen Stammwählern doch ziemlich diskre­ditiert sind, dann präsentiert sich die Frente als Partei des alten, des schon ein­mal ge­scheiterten traditionellen sandini­stischen Konzeptes. War im letzten Wahl­kampf das Frente-Motto: “Todo será mejor” (Alles wird besser!) so könnte es jetzt lauten “Todo era mejor!” (Alles war bes­ser!). Das löst Ängste aus bei vielen, die sich noch an Hyperinflation und Krieg, an Allmacht und Willkür mancher lokaler sandi­nistischer CDS-Vorsitzender, an Schwarz­markt und leere Regale in Su­permärkten er­innern können. Rückwärts­gewandt ist ein Wahlkampf kaum zu ge­winnen, es sei denn für die Somozisten. Die Erinnerung an das somo­zistische Re­gime hat sich bei vielen längst verklärt, die sozialen Errungenschaften der sandini­stischen Revolution sind ohnehin schon Geschichte, und immerhin waren die letzten Jahre Somozas trotz Bürgerkrieg Jahre wirtschaftlicher Blüte.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Da­niel Ortega, der zu Kampfzeiten als Füh­rer der “Terceristas” die Frente zum Bündnis mit dem fortschrittlichen Bür­gertum drängte, steht jetzt für den Bruch. Ausgerechnet Or­tega, der damals den Kontakt zum Schrift­steller Sergio Ramirez aufbaute und dem den Auftrag gab, die intellektuelle “Gruppe der Zwölf” auf san­dinistischen Kurs zu bringen, sorgt jetzt für den Rauswurf Ramirez’ aus der Natio­nalleitung, in die der “Doktor” gerade erst auf dem ersten Parteitag ge­wählt worden war.
Obwohl die meisten Kommentare davon ausge­hen, die Gefahr der Spaltung der FSLN sei zunächst wieder gebannt, er­scheint es doch durchaus nicht unwahr­scheinlich, daß die Gruppe um Sergio Ramirez die Partei noch rechtzeitig vor Beginn des Wahlkampfes ver­lassen und etwas eigenes aufbauen könnte. Immerhin bleibt Ramirez Fraktionsführer, und es steht zu erwarten, daß sich die Kri­tik der Parteigremien, die Fraktion ent­ferne sich von den Parteibeschlüssen und agiere au­tonom, in der neuen Konstellation noch verschärfen wird.

Das archaische Nicaragua

Das Szenario, das sich für die nächsten Wahlen abzeichnet, ist düster. Auf der Rechten scheint sich eine Kandidatur des somozistischen Arnoldo Aleman abzu­zeichnen. Dessen “liberale” PLC, eine Art Nachfolge­partei der somozistischen PLN, konnte bei den Wahlen an der Atlantikkü­ste im Februar größere Erfolge verzeich­nen, die der Popu­larität des Hauptstadt-Bürgermeisters nur zugute kamen. Steht gegen ihn eine radika­ler auftretende Frente, die vom dogmati­schen Gewerk­schaftsflügel getragen wird, dann sind das zwei sich ausschlißende Ge­sellschaftsentwürfe. Eine moderate Mitte, die den Weg von Polarisation und Bürger­krieg zu verhindern sucht, wird aufgerie­ben. Nun schien diese technokratische – und überaus bürgerliche – Mitte beider Seiten, verkörpert durch Sergio Ramirez und Antonio Lacayo, ohnehin nicht so recht zur brutalen sozialen Realität des Landes zu passen. Insofern mag die Wahl des auf Volkstümlich­keit bedachten Da­niel Ortega emotional be­friedigen. Aber es gibt zu denken, daß praktisch die gesamte Führung der sandini­stischen Bauernverei­nigung UNAG auf dem Parteitag Ramirez unterstützte. Auf dem Land hat man Er­fahrung mit Konfrontation.

Drei zu Zwei

Am 24. April wurde Armando Calderón Sol von der ultrarechten ARENA-Partei in einer Stichwahl ge­gen den Oppositions­kandidaten Rubén Za­mora zum neuen Präsidenten El Salvadors gewählt. Es hatte zwar ge­ringe Verbesse­rungen des Wahl­ablaufs im Vergleich zum ersten Urnen­gang am 20. März ge­geben. Doch nach wie vor waren Hundert­tausende ohne Wahlaus­weis. Das Ergebnis war aller­dings eindeutig: Calderón Sol hatte 68 Prozent, Zamora le­diglich 32 Prozent der Stimmen erhalten. Bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale gratu­lierte Rubén Zamora dem ARENA-Kan­didaten zu seinem Wahlsieg.

Die Vorgeschichte des Streits

Joaquín Villalobos hatte bereits im letzten Sommer die Nominierung des Vorsitzen­den der “Sozialchristlichen Volksbewe­gung” (MPSC), Rubén Za­mora, zum ge­meinsamen Präsident­schaftkandidaten kri­tisiert. Da die MPSC in den 80er Jahren mit der FMLN verbündet war, sei Zamora als Linker verschrien. Da es aber in erster Linie darum gehe, ARENA von der Re­gierung abzulösen, solle die FMLN Abra­ham Rodriguez von der Christde­mokra­tischen Partei (PDC) unterstüt­zen. Nach­dem dieser in den PDC-in­ternen Vor­wah­len jedoch dem PDC-Vorsitzen­den Fidel Chávez Mena un­terlegen war, hatte Villa­lobos keine Alternative mehr anzubieten. Denn Chávez Mena lehnte ein Bündnis mit der ehemaligen Guerilla ab. Das ERP (seit 1992 mit dem neuem Na­men Aus­druck der Volkserneuerung) und die RN (Nationaler Widerstand), un­terlagen dann in der Kandidatenfrage den anderen drei Parteien: FPL (Volksbefreiungskräfte), PCS (Kommunistische Partei) und PRTC (Zentralamerikanische Arbeiterpartei) stimmten für Zamora. Immerhin wurde mit Francisco Lima ein Vizepräsident­schaft­skandidat gekürt, der bis dahin noch nichts mit der linken Opposition zu tun hatte.
Doch die Spaltung in zwei Lager war of­fensichtlich geworden. ERP und RN hat­ten sich in den letzten Jahren im­mer deut­licher von ihren ursprüngli­chen sozialisti­schen Zielen entfernt und forderten für die FMLN eine sozialdemokratische Orientie­rung. Die anderen drei Organisationen woll­ten am Sozialismus zumindest als Fernziel festhalten. ERP und RN fühlten sich benachteiligt, da ihre Position bei eini­gen Entscheidungen in den obersten FMLN-Gremien, die alle paritätisch be­setzt sind, mit drei zu zwei Stimmen über­stimmt wurden.
Bereits in der Wahlnacht des 24. April wurde deutlich, daß die FMLN-Einheit der letzten Monate vor allem dem Wahl­kampf geschuldet war. ERP-Chef Joaquín Villalobos forderte in einer Pressekonfe­renz, daß die FMLN sich jetzt in die poli­tische Mitte bewegen müsse. Außerdem ließ die ERP durch­sickern, daß keine Chancen hatte, die Wahlen zu gewinnen. Klar war, daß ERP und RN sich in Zukunft nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen beu­gen wollten.

Der mißlungene Parlamentsboykott

Nachdem ARENA in der letzten Sit­zung des alten Parlaments die Ge­schäftsordnung geändert hatte, um auch nach den Wahlen die Mehrheit im Par­la­ments­prä­sidium und in den Aus­schüssen zu be­halten, entschied die FMLN – wieder mit drei zu zwei Stimmen – die Präsi­di­ums­wahl für das neue Parla­ment und die Mit­arbeit in den Ausschüs­sen so­lange zu boykottieren, bis diese Rege­lung zurück­genommen würde.
Am Morgen des 1. Mai ließen sich die 21 Abgeordneten der FMLN noch feierlich im Parque Cuscatlán “vom Volk vereidi­gen”. Dort hatten sich we­niger als 1.000 Menschen zur traditio­nellen 1. Mai-De­monstration der Ge­werkschaften versam­melt. Dagoberto Gutierrez, einer der neuen Abgeord­neten, feierte in seiner Rede “die Einheit der Arbeiter und die Einheit der FMLN”.
Mittlerweile hatte ARENA erfahren, daß die Einheit der FMLN nur noch für Sonn­tagsreden taugt und verstän­digte sich mit sieben FMLN-Abgeord­neten von ERP und RN (lediglich der RN-Abgeordnete Eu­genio Chicas hielt sich an den Be­schluß der FMLN) auf einen Kuhhandel: Die sie­ben störten den feierlichen Parla­ments­auftakt nicht durch ihren Boykott und unterstützten die Wahl der ARENA-Abge­ord­neten Gloria Salguero Gross zur Parla­ments­präsidentin. Im Gegenzug un­ter­stützte die ARENA-Fraktion die Wahl von Ana Guadalupe Martínez zur Vize­präsiden­tin und von RN-Chef Eduardo San­cho zum Vorsitzenden des Parlaments­se­kretariats. Der Eklat war da, und Ar­man­do Calderón Sol freute sich: “Diesen 1. Mai wird die FMLN nicht so schnell vergessen.”

“Geht doch wieder in die Berge”

Es kam, was kommen mußte. Die FMLN-Mehrheit war sauer, und Scha­fik Handal von der Kommunistischen Partei, der vor eineinhalb Jahren noch einstimmig zum Koordinator der FMLN gewählt worden war, verkün­dete im Namen der ganzen Par­tei (!), daß die sieben Abgeordneten nicht mehr im Namen der FMLN sprechen dürften. Ana Guadalupe Martínez und Eduardo Sancho sollten im Parlaments­präsidium nicht länger die Interessen der FMLN repräsen­tieren. Die FMLN könne diesen Verstoß gegen die Parteibeschlüsse nicht hinnehmen.
ERP und RN hielten ihr Verhalten hinge­gen für völlig legitim und erklär­ten, “daß sie sich von der FMLN nicht vorschreiben ließen, wie sie sich im Parlament zu ver­halten hätten.”
Joaquín Villalobos heizte die Stimmung noch weiter an und meinte: “Wir sind nicht im Parlament, um uns zu schlagen oder zu beschießen. Wir wer­den unsere Gegner respektieren und wollen eine kon­struktive Opposition ausüben…Wenn je­mand das Gegenteil denkt, wäre es nur konsequent, daß er wieder in die Berge geht.” In diesem Ton ging es von beiden Seiten noch ein paar Tage weiter.
Eher peinlich für ERP und RN war je­doch das Lob, daß sie von Kirio Waldo Salgado erhielten. Waldo Sal­gado ist Leitartikler der rechtsextremen Tageszeitung “El Dia­rio de Hoy”, war lange Zeit klarer Gegner des Friedens­prozesses und gilt als einer der intel­lektuellen Köpfe der Todesschwadro­nen in El Salvador. In ei­nem Kom­mentar am 5. Mai freute er sich über den Streit in der FMLN, lobte ERP und ERP für ihre “Konversion zur So­zialdemokratie” und machte ihnen die Ab­spaltung von der FMLN schmack­haft: “Wenn die Konvertiten von ERP und RN sich vom dogmatischen Fana­tismus der Kommunisten in der Frente entfernen, könnten sie eine Macht­quote im neuen Obersten Gerichtshof (der demnächst neu gewählt wird; die Red.) erhalten und, wer weiß, vielleicht sogar in der neuen Regie­rung von Dr. Armando Calderón Sol.”
Als die FMLN-Mehrheit eine außer­ordentliche Sitzung ihres Nationalrates ein­berief, machten ERP und RN deut­lich, daß sie an dem Treffen nicht teil­nehmen wür­den. PRTC-Chef Fran­cisco Jovel warnte beide Orga­nisationen davor, der Sitzung fernzu­bleiben “Die Kriterien de­mokratischer Organisation und Funtions­weise in der FMLN müssen respektiert werden. Dies heißt, daß wie in jeder Demo­kratie alle Möglichkeiten der Konsens­fin­dung ausgeschöpft werden müssen. Ge­lingt dies nicht, muß jedoch der Wille der Mehr­heit akzeptiert werdfen.” Und Orlan­do Quinteros, frisch­gewählter Vor­sitzen­der der (Mehrheits-) Fraktion der FMLN meinte, ERP und RN wollten nicht an der Sitzung teilnhe­men, “weil sie ein­fach nicht erklären können, weshalb sie die FMLN-Ent­scheidung ab­gelehnt und sich der ARENA-Mehrheit gefügt haben.”
Zusätzlich verschärft wurde die Situa­tion, als die sieben Abgeordneten und Villalo­bos von der “Salvadorianischen Revolu­tionären Front” (FRS) als Ver­räter be­zeichnet und mit dem Tode bedroht wur­den. Die FRS hatte sich im Herbst 1992 erstmals öffentlich gemeldet und das Ver­halten der FMLN-Spitze im Friedenspro­zeß ver­urteilt. Zusammensetzung und Stärke der FRS sind nicht im Detail be­kannt. Angeblich besteht sie aus einigen (ehe­maligen) FMLN-Combatientes. Sie ver­fügt aber auf jeden Fall nicht über einen größeren Rückhalt.
Wie angekündigt erschienen die Vertrete­rInnen nicht zu der außerordentlichen Sit­zung des FMLN-Nationalrats am 9. Mai. In einem Brief an FPL, PCS und PRTC begründeten sie die Politi­schen Kommis­sionen von ERP und RN ihren Schritt da­mit, daß sie an der Ent­scheidung, die Sit­zung einzuberufen, nicht beteilgt gewesen seien. Den sieben Abgeordneten und Joaquín Villalobos (der nicht für das Par­lament kandidiert hatte) wurde nun of­fiziell verboten, im Namen der FMLN auf­zutreten. RN-Chef Eduardo Sancho meinte daraufhin in einer Pressekon­ferenz am Tag nach der Nationalrats­sitzung, “FPL, PCS und PRTC sind noch keine de­mo­kratischen Organisatio­nen.” Außer­dem wür­den ERP und RN “keinerlei Be­schlüs­se des Nationalrats mehr akzeptie­ren.” Die Spal­tung schien perfekt.
Zusätzlich meldete nun die Tendencia Democrática (TD) ihr Interesse an, in die FMLN aufgenommen zu werden. Die TD ist eine Gruppe enttäuschter ERP-Mitglie­der, die sich gegen den sozialdemokrati­schen Kurs und den autoritären Führungs­stil der ERP-Spitze wenden. Einige Mit­glieder dieser Gruppe, die ihren Rückhalt vor allem in der (ehemaligen) ERP-Basis in Usulután, San Miguel und Morazán hat, wurden im letzten Jahr aus dem ERP aus­geschlossen. Viele haben ihr jedoch frei­willig den Rücken gekehrt.

Kein Ausweg in Sicht

Erst langsam schienen alle am Streit Be­teiligten langsam zu bemerken, daß sie nur der Rechten in die Hände spielten. Schadensbegrenzung war angesagt. In der Öffentlichkeit wurde wieder freundlicher miteinander umgegangen und versucht, die Auf­merksamkeit auf andere Themen zu lenken. Die Wogen sind vorüberge­hend wie­der geglättet, doch eine Lö­sung des ei­gentlichen Problems ist nicht in Sicht. Klar ist zunächst ledig­lich, daß die FMLN so wie bisher nicht mehr bestehen bleiben kann. Das historische Projekt der FMLN ist ver­braucht, eine Neudefinition des Ver­hältnisses zwischen den fünf Mit­gliedsorganisationen notwendig.
Bislang ist es auch deshalb noch nicht zur Spaltung gekommen, weil keine Organi­sation auf den Namen der FMLN ver­zichten will. Wer ausschert, hat keinen Anspruch mehr auf den Namen und würde in der Öffentlichkeit als Spalter gelten. Au­ßerdem besitzt nur die FMLN, nicht aber die einzel­nen Mitgliedsorganisatio­nen, einen le­galen Status.
Eine Reorganisierung der FMLN könnte ein der Frente Amplio in Uru­guay ähnli­ches Bündnis ergeben. Alle Mitgliedspar­teien und Organisationen hätten ihre ei­gene politische und ideologische Identität, der Zusam­menschluß würde vor allem für Wahlen gelten. Doch auch in Uruguay ist das Projekt nicht einfach aufrechtzuerhal­ten. In El Salvador wäre Vorbedingung, daß die fünf FMLN-Organisationen in Freund­schaft aus­einandergehen. Doch daß dies gelingt, ist nicht sicher.
Momentan scheint es so, daß die ‘Dreier-Gruppe’ – die aber in sich wesentlich un­terschiedlicher als ERP und RN ist – mehr Interesse an der Aufrechterhaltung der Einheit hat und entgegen aller Unter­schiede weiter an einem gemeinsamen Pro­jekt der Lin­ken festhalten will.
ERP und RN scheinen das gemein­same Pro­jekt eher aufgeben zu wollen. Das ist verständlich, wenn man be­denkt, daß sie mit ihren Positionen oft unterliegen. Au­ßerdem wird es ihnen dann leichter fallen, in die Sozialisti­sche Internationale aufge­nommen zu werden. Nachdem die sozialdemokra­tische MNR bei den Parla­mentswahlen unter einem Prozent blieb, ist noch nicht einmal sicher, daß sie ihren le­galen Parteistatus behalten wird. So oder so muß sich die Sozialistische Internatio­nale neue BündnispartnerIn­nen in El Sal­vador suchen. Am liebsten hätte sie wohl alle drei Parteien – egal ob als Bündnis oder in Form einer neuen Partei.
Vor al­lem Joaquín Villalobos will raus aus der FMLN. Seine eigene Partei hat er nach dem Ausschluß einiger KritikerInnen fest im Griff. Doch er verträgt nicht, daß er in der gesamten FMLN nicht die “Nummer 1” ist. Es wäre gut möglich, daß er als ge­läuterter Sozialdemo­krat bei den näch­sten Wahlen in drei (Parlament) und fünf Jah­ren (Präsidentschaft) mit der PDC ge­meinsame Sache macht und mit einem Bündnis der Mitte antritt. Bereits seit letztem Jahr hofiert er die Christ­demokratische Partei. Und mit Fidel Chá­vez Mena, dem mittlerweile zu­rück­ge­tre­te­nen Vorsitzenden der PDC, war er im ver­gangenen Jahr auf Europa-Rundreise, um Geld für ein gemeinsames Zeitungs­projekt zu sam­meln. Was er aus dem ehe­ma­li­gen Guerillasender “Radio Vence­remos” gemacht hat, steht im fol­genden Artikel…

Gegen die Auflösung der Nation

Bereits im Oktober letzten Jahres hatte die Partei Leitlinien zur Erarbeitung eines Re­gierungsprogramms veröffentlicht und eine Programmkommission eingesetzt, in der alle Strömungen der Partei vertreten waren. Die Erarbeitung eines Regierungs­programmes war begleitet durch einen breiten innerparteilichen Diskussionspro­zeß, wie auch durch ein hartes Ringen um einzelne Punkte. Oberste Leitlinie sollte dabei sein, daß die PT nichts versprechen dürfe, was sie als Regierung schließlich nicht umsetzen könne. Im März dieses Jahres legte die Programmkommission einen 112 Seiten starken Entwurf vor. Bis zum 25. April hatten die Gruppen in der Partei nicht weniger als 289 Änderungs­vorschläge erarbeitet, die den Delegierten in einem 124 Seiten umfassenden, größe­ren DIN A4-Heft präsentiert wurden. Hinzu kamen unzählige nderungsan­träge, die in letzter Minute eingereicht wurden – ein Papierwust, der kaum noch zu bewältigen war. Und so konnte es nicht verwundern, da sich die Diskussion auf dem Programmparteitag auf einige wenige symbolische Punkte konzentrierte: Ab­treibung, Verhältnis zu den Militärs und die Frage der Auslandsschulden standen bereits im Vorfeld im Blickpunkt der Dis­kussion. Jenseits aber von Polemiken um einzelne Punkte, mußte die PT in ihrer Programmdiskussion eine Antwort auf die Frage finden, wie denn ein linkes Regie­rungsprojekt in Lateinamerika aussehen kann.

Die Linke will an die Macht

Eines sei gleich klargestellt: Es gibt unter den linken und fortschrittlichen Kräften keine wichtige Strömung, ja nicht einmal eine individuelle Stimme von Bedeutung, die die Regierungsübernahme nicht will. Die Linke hat in Brasilien die Chance, die Wahlen zu gewinnen und sie will regie­ren. Selbst die linksradikale PT-Abspal­tung PSTU, die der PT übelsten Refor­mismus vorwirft, unterstützt vorbehaltlos die Kandidatur Lulas. Die Frage ist eher, was kann und will eine Regierung Lula er­reichen. Dabei kann die internationale Si­tuation nicht aus dem Blickwinkel gera­ten: Vier Jahre nach dem Fall der Mauer ist es wohl unmöglich, einen tropischen Sozialismus in einem Land zu verkünden, noch dazu aller Wahrscheinlichkeit nach ohne eine Mehrheit im Parlament. Die große Herausforderung, vor der die PT heute also steht, lautet: Wie kann unter den aktuellen Bedingungen von Welt­markt, Globalisierung und interner Krise Brasiliens ein gesellschaftlicher Trans­formationsprozeß eingeleitet werden, der auf mehr Gerechtigkeit zielt.
In den Leitlinien zum Regierungspro­gramm hatte die PT versucht, die Stoß­richtung eines solchen Projektes zu be­schreiben: “Die Partei der Arbeiter geht in den Wahlkampf mit dem Profil einer so­zialistischen, linken Partei, die mit ande­ren sozialen und politischen Kräften eine breite Koalition formieren muß. Die Vor­schläge, die die PT in ihrem Regierungs­programm vorlegen wird, gehen in die Richtung einer demokratischen und anti­monopolistischen – und das heißt antiim­perialistischen und gegen den Großgrund­besitz gerichteten – Transformation, die Teil einer langfristigen Strategie ist, um eine Alternative zum Kapitalismus zu ent­wickeln, eine demokratische Revolu­tion, die radikal die Basis der Macht än­dert. Die Definition dieses sozialistischen Pro­jektes entwickelt sich aus einer Vertie­fung der Kritik an den Paradigmen des staats­bürokratischen Sozialismus und der So­zialdemokratie, über den Aufbau einer Alternative zum Kapitalismus, der welt­weit und insbesondere in Brasilien seine Unfähigkeit an den Tag legt, die Forde­rungen der großen Mehrheit der Bevölke­rung zu erfüllen. Der Sozialismus kann für die PT nicht das Konstrukt einer Utopie sein, das dann in eine ferne Zukunft ver­schoben wird. Er hat eine aktuelle Be­deutung.”
Wie aber schlägt sich ein solches Be­kenntnis zum Sozialismus im Programm nieder? Einen Hinweis gibt schon der Ti­tel des Programms: “Eine demokratische Revolution in Brasilien.” Eine etwas gründlichere Lektüre des Programment­wurfes wie auch die Debatten um dassel­bige, zeigen, daß zwei verschiedene Grundansätze ziemlich unverbunden ne­beneinanderstehen: den einen könnte man als Rekonstruktion eines nationalen Ent­wicklungsprojektes bezeichnen, den ande­ren als Entwurf für eine neue gesell­schaftliche Ethik.

Ein neues nationales Projekt?

Die VertreterInnen des ersten Grundan­satzes durften sich vor allem im 4. Kapitel des Regierungsprogrammes ausbreiten: “Wirtschaft und Gesellschaft transformie­ren und eine Nation errichten”. Das Kapi­tel trägt deutlich die Handschrift von Cesar Benjamin, einem der Chefökono­men der PT. Es geht aus von einer Ana­lyse der brasilianischen Krise, die nach fünfzehnjähriger Dauer nicht mehr einfach als eine Wirtschaftskrise begriffen werden kann, sondern eine Auflösung der Nation bewirkt: Explodierende Inlands- und Auslandsverschuldung und eine Inflation, die seit Jahren nicht zu besiegen ist, sind die Symptome einer tiefgehenden Sy­stemkrise, die einen vorangegangenen fünzigjährigen Wachstumszyklus endgül­tig begraben hat. Die neoliberale Antwort auf die Krise verfolgt ein klares Ziel. Eine Gesellschaft mit einigen Entwicklungs­enklaven und einer kleinen Oberschicht, während die große Mehrheit der Bevölke­rung ausgeschlossen bleibt.
Diesem Szenario will die PT (oder Cesar Benjamin) einen neuen Entwicklungszy­klus entgegensetzen, der auf zwei Ele­menten aufbaut: über eine Einkommens­umverteilung soll der interne Markt sti­muliert werden und über politischen Druck soll eine effektive Politik der Ar­mutsbekämpfung eingeleitet werden. Mit Hilfe dieser beiden Elemente kann – so das Szenario der PT – ein neuer, langer Wachstumszyklus eingeleitet werden. Für beides ist ein reformierter, effizienter und aktiver Staat erforderlich, der nicht mehr das Instrument einzelner Machtgruppen, sondern durch den Druck der sozialen Bewegungen zu einem Instrument eines nationalen Projektes werden würde.
Wachstum via Stärkung des internen Marktes ist weder ein neues noch ein be­sonders revolutionäres Projekt. Das Par­teiprogramm bewegt sich hier auf recht traditionellem, altlinkem Terrain, in dem Wachstum der Schlüsselbegriff ist und der Reformaspekt sich auf die Frage der Ein­kommensverteilung zuspitzt. In demsel­ben Kapitel finden sich aber Passagen, die offensichtlich die Handschrift eines ande­ren Theoretikers der PT tragen: Christo­vam Buarque, ehemaliger Rektor der Uni­versität von Brasilia und jetziger Kandidat für das Gouverneursamt in der Hauptstadt. Buarque hat dafür gesorgt, daß der Begriff der “sozialen Apartheid” zu einem Schlüs­selbegriff der Zustandsbeschreibung der brasilianischen Gesellschaft wurde. Durch diesen Begriff ist die Frage der sozialen Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Dies ist für die PT ein wichtiger Entwicklungsprozeß. Entstan­den als “Partei der Arbeiter” mit starken Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung – deutlich verkörpert Lula diese Tradition der PT – ist sie auch zu einer Partei der unorgani­sierten Interessen der Gesell­schaft gewor­den.
Noch bei den Wahlen 1989 hatt eine per­verse Allianz zwischen Oligarchie und unorgansierten Sektoren der Gesellschaft die Wahl zugunsten des Demagogen Collor entschieden. Die Mehrheit der bra­silianischen Bevölkerung arbeitet eben nicht in formellen Arbeitsverhältnissen, sondern im informellen Sektor. Und ten­denziell nimmt das Gewicht der formali­sierten Arbeitsplätze ab. Auf diese Her­ausforderung kann eine Politik, die sich primär auf die Forderungen der organi­sierten Sektoren stützt, keine Antworten geben. Und allein ein neuer Wachstums­zyklus, das beweisen die Erfahrungen des entwickelten Kapitalismus, kann das Pro­blem der Ausgrenzung nicht lösen. In einem Artikel zur Debatte über das Regierungs­programm hat Buarque seine Ideen au­drücklich den Wachstumsideo­logien ent­gegengestellt: “Es gibt zwei ver­schiedene Linke: Die eine beschäftigt sich mit der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Profit und Lohn… und es gibt eine andere Linke, die eine Revolu­tion der nationalen Prioritäten erreichen will… Die Frage, die wir heute in Brasi­lien stellen müssen, lautet nicht Wie wachsen? son­dern Wohin wachsen?” Für Buarque steht also die Definition von Wachstumszielen an erster Stelle. Und das bedeutet für ihn in erster Linie umfassen­des Reformpro­gramm für die “Ausge­schlossenen”. Diese Orientierung hat er als “ethische Moder­nität” bezeichnet, die sich von einer rein technischen Modernität unterscheidet. Konzeptionell bedeutet dies eine Abwen­dung von den organisierten Interessen der Gesellschaft hin zu den unorganisierten Sektoren. Wichtig ist, daß zu der ethi­schen Moder­nität auch der Schutz der Umwelt gehört, ein Aspekt der bei den “Wachstumslinken” nicht auf­taucht.
Auf die Frage, ob sich die beiden Re­formansätze verbinden lassen, gibt der Programmentwurf der PT jedoch noch keine Antwort. Vielleicht ist diese Un­klarheit aber auch lediglich Ausdruck der unterschiedlichen Strömungen in der PT.

Die Jahrhundertwahlfarce

“ARENA hat die absolute Mehrheit ver­fehlt. Damit haben wir einen klaren Sieg bei den heutigen Wahlen errun­gen.” Als Rubén Zamora, Präsident­schaftskandidat des linken Oppositi­onsbündnisses aus der ehemaligen Guerilla FMLN und den bei­den klei­nen Parteien Demokratische Kon­vergenz (CD) und National-Revolutio­näre-Bewegung (MNR) in der Wahl­nacht des 20. März gegen 22 Uhr vor die Presse tritt, sind ihm nicht nur die Strapazen des Wahlmarathons anzumer­ken. Auch seine optimistische Einschät­zung des Wahler­gebnisses wirkt vor der versammelten Journa­listInnenschar ge­zwungen. Zumal sich zu diesem Zeit­punkt, als vor allem Einzelergebnisse aus der Hauptstadt San Salvador vorlagen, noch eine ab­solute Mehrheit für den rechtsextre­men ARENA-Kandidaten Ar­mando Calderón Sol abzuzeichnen schien.
Über­zeugender wirkte da schon Za­moras Kritik an den vielen “Unregelmäßig­keiten”, die es bei der Vorbereitung der Wahlen und am Wahltag selbst gegeben hatte (und die sich bei der Auszählung der Stimmen in den nächsten Tagen noch fort­setzen sollten). Unterstützt von den Mitglie­dern der ehemaligen General­kommandantur der FMLN, de­monstrativ hinter Zamora postiert, rief er die Wahl­helferInnen der Oppo­sitionskoalition dazu auf, bei der Aus­zählung in den Wahllo­kalen weitere Betrugsmanöver zu verhin­dern: “Wir wer­den mit friedlichen Mitteln um jede Stim­me kämpfen.”
In der Wahlnacht war noch unklar, ob es überhaupt einen zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen geben würde, dann dauerte es fast drei Wo­chen, bis für die Präsidentschafts-, Parlaments- und Gemeindewahlen ein offizielles Ender­gebnis feststand. Eigentlich als Jahrhun­dertwahlen ge­plant, geriet der Wahlgang vom 20. März zunehmend zur Jahrhun­dertwahlfarce. Hauptverantortlicher des skandalösen Ablaufes der ersten Wah­len nach dem Friedens­schluß zwischen Regie­rung und FMLN vor zwei Jahren ist der von den rechten Parteien dominierte Oberste Wahlrat (TSE).

Die wichtigsten Ergebnisse

Nachdem ARENA-Rechtsaußen Calderón Sol am 20. März bereits über 49 Prozent der Stimmen erreicht hat, ist nicht mehr zu erwarten, daß ihm die Präsidentschaft noch streitig ge­macht werden kann. Weit abgeschlagen landete Zamora mit 24,9 Prozent auf dem zweiten Platz. Die ChristdemokratInnen, die mit Napoleón Duarte bis 1989 noch den Präsidenten ge­stellt hatten, erzielten mit ihrem Kandida­ten Fidel Chávez Mena lediglich 16 Pro­zent. Entgegen der Absprache mit der FMLN/CD/MNR-Koalition rief die PDC-Führung ihre AnhängerInnen im zweiten Wahl­gang nicht zur Wahl von Zamora auf.
Bei der Sitzverteilung im Parlament sieht das Panorama etwas besser aus. Hier hat ARENA 44 Prozent und damit 39 Sitze erzielt. Doch die rechtsextreme PCN, de­ren Militärkan­didaten in den 60er und 70er Jahren sämt­liche Präsidenten stellten, konnte lediglich vier Mandate erringen. Damit haben die beiden rechten Parteien nur eine denkbar knappe Mehrheit von 43 der 84 Parla­mentssitze.
Die linke Opposition trat bei den Parla­mentswahlen – genauso wie bei den Ge­meindewahlen – getrennt an. Die FMLN erreichte mit fast 22 Prozent der Stimmen auf Anhieb 21 Sitze und ist damit auch im Parlament in Zukunft die größte Kraft der Opposition. Die Demokratische Konver­genz konnte nicht davon profitieren, daß ihr Vorsitzender Rubén Zamora Präsident­schaftskandidat der Oppositionskoalition war. Sie blieb unter fünf Prozent der Stimmen. Nachdem sie auch noch ihre Landesliste (64 Abgeordnete wurden auf Provinzlisten, 20 Abgeordnete auf einer landesweiten Liste gewählt) nicht recht­zeitig eingereicht hatte, verlor sie im Ver­gleich zu den letzten Wahlen acht ihrer neun Parlamentssitze. Die sozialdemokra­tische MNR blieb unter einem Prozent und wird im Parlament nicht mehr vertre­ten sein.
Der Niedergang der Christdemokratischen Partei, die heillos zerstritten ist und der noch immer die Korruptionsskandale aus ihrer Regierungszeit in den 80er Jahren anhaften, setzte sich weiter fort. Sie er­reichte nur noch 18 Parlamentssitze. Der einzige Abgeordnete der evangelikalen “Bewegung der Einheit” (Movimiento de Unidad – MU) wird wahrscheinlich mit der Opposition stimmen. Die MU kam auf 2,4 Prozent, die andere erst­mals bei Wah­len angetretene evangelikale Partei, die “Bewegung der Nationalen So­lidarität” (MSN), blieb unter einem Pro­zent und verlor deshalb ihren legalen Sta­tus als Partei. Nachdem mittlerweile 20 Prozent der Bevölkerung evangelikalen Sekten und Kirchen angehören, war mit einem höheren Ergebnis für die MU und vor al­lem für die MSN gerechnet worden.

ARENA-Durchmarsch bei den Gemeindewahlen

Bei den Gemeindewahlen reichte eine re­lative Stimmenmehrheit aus. Deswegen konnte ARENA, die landesweit ein sehr ausgegli­chenes Ergebnis erzielte, 207 der 262 BürgermeisterInnenposten erringen. Doch für die Opposition fiel das Ergebnis kata­strophal aus. Die FMLN erreichte in le­diglich 15 Gemeinden die Mehrheit. Diese liegen hauptsächlich in den ehemals kon­trollierten Zonen von Morazán und Cha­latenango. Immerhin konnte sie so sym­bolisch wichtige Gemeinden wie Per­quín, Arcatao und San José Las Flores gewin­nen. Doch außerhalb ihrer traditio­nellen Hochburgen (in der sie längst nicht alle Gemeinden gewann), wird sie nur in eini­gen wenigen Gemeinden (u.a. Suchi­toto und Nejapa) regieren. Dabei war ein Grundpfeiler der FMLN-Strategie, insbe­sondere von den Kommunen aus in den nächsten Jahren eine Gegenmacht von unten aufzubauen. Selbst in zurückhalten­den Schätzungen ging die FMLN davon aus, in mindestens 40 Gemeinden zu ge­winnen. Schmerzlich ist dabei auch, daß sie in keiner der Gemeinden des Armen­gürtels um die Hauptstadt wie Mejicanos, Soyapango oder Ciudad Delgado gewann. Während der Großoffensive im November 1989 hatte sie dort eine hohe Unterstüt­zung erfahren. In San Salvador profitierte der allgemein als schwach angesehene ARENA-Kandidat Mario Valiente von der hohen Stimmenzahl bei den Präsident­schaftswahlen für Calderón Sol und ge­wann mit 44 Prozent klar vor dem FMLN-Kandidaten Schafik Handal, der auf 21 Prozent kam.

Technischer Wahlbetrug

Auch wenn es keinen Urnenklau und an­deren “offensichtlichen” Betrug wie noch in den 70er Jahren gegeben hat, waren die Unregelmäßigkeiten doch so gravierend, daß von einem “technischen Wahlbetrug” ge­sprochen werden muß. Lediglich bei den Präsidentschaftswahlen ist das Ergeb­nis so deutlich ausgefallen, daß Calderón Sol höchstwahrscheinlich auch bei saube­ren Wahlen gewonnen hätte. Im Parlament und in den Gemeinden sähe die Situation ohne den fraude técnico jedoch ganz an­ders aus. In vielen Gemeinden haben die ARENA-Kandidaten mit einem äußerst geringen Vorsprung gewonnen, manchmal nur durch wenige Stimmen. Und in den wenigen Gemeinden, in denen die Wahl­beteiligung sehr hoch war, konnte die FMLN oft sehr gute Ergebnisse erzielen. Im Landesdurchschnitt nahmen nur circa 53 Prozent der Stimmberechtigten an den Wahlen teil. In Cinquera im Department Cabañas erreichte die FMLN bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent 55 Pro­zent der Stimmen, und in El Rosario in Morazán kam sie bei 78 Prozent Wahlteil­nahme auf eine relative Mehrheit von 33 Prozent.
Diese Teilergebnisse sind deutliche Indi­zien dafür, daß die FMLN (und die ande­ren Oppositionsparteien) bei einer höheren Wahlbeteiligung um einiges besser abge­schnitten hätte. Insbesondere auf dem Land – und dort vor allem in den ehemali­gen Konfliktgebieten – warten viele Men­schen bis heute vergeblich auf ihren Wahlausweis (der im übrigen ab dem 1. Mai zusätzlich zum Personalausweis ein obligatorisches Dokument ist, um bei­spielsweise Geschäftsabschlüsse zu täti­gen oder um Anträge bei Behörden zu stellen).
Mindestens 350.000 Menschen waren erst gar nicht in die Wählerverzeichnisse auf­genommen worden beziehungsweise hat­ten keinen Ausweis erhalten, obwohl sie im Verzeichnis waren. Der Oberste Wahl­rat (TSE) hatte seit dem letzten Jahr auf vielfältige Weise den Einschreibungspro­zeß behindert. Die USA hatten deswegen sogar vorübergehend ihre Hilfe an El Sal­vador eingestellt. Aber auch am Wahltag selbst durften viele Menschen nicht wäh­len, obwohl sie einen Ausweis hatten. Al­lein aus Guarjila, einer Rücksiedlung in Chalatenango, sind mindestens 15 Fälle bekannt, in denen die dort fast geschlos­sen in der FMLN organisierten Bewohne­rInnen noch zwei Wochen vor den Wah­len im Verzeichnis standen, ihre Namen am Wahltag jedoch nicht mehr aufzufin­den waren. Die UN-BeobachterInnenmis­sion ONUSAL erklärte, daß rund 25.000 Menschen auf diese Art vom Urnengang ausgeschlossen wurden. In fast der Hälfte der Wahllokale sei es zu “Unregel­mäßig­keiten” gekommen”, die jedoch nur in wenigen Fällen schwerwie­gend gewesen seien.
Dabei tauchten ver­einzelt Urnen mit über 600 Stimmen auf, obwohl an keiner Urne mehr als 400 WählerInnen in den Listen standen. Ob­wohl die Wahllokale teilweise mit mehre­ren Stunden Verspätung geöff­net worden waren, wurden Tausende WählerInnen bei der Schließung der Wahllokale um Punkt 17 Uhr abgewiesen. Die Wahlprozedur zog sich so langsam hin, daß während der ersten fünf Stunden nur ein Viertel der re­gistrierten WählerIn­nen ihre Stimme ab­geben konnte. In vielen Fällen gaben die Menschen nach zweistündigem vergebli­chen Warten in der sengenden Sonne auf und gingen nach Hause.

Vorzeitige Absolution durch die Vereinten Nationen

All dies läßt vermuten, daß die ONUSAL-Zahlen viel zu niedrig angesetzt sind. Nach anderen Schätzungen durften 10-15 Prozent der WählerInnen nicht wählen. Doch ONUSAL-Missionschef Ramiro Ocampo hatte bereits am Tag nach den Wahlen erklärt, die Wahlen seien trotz der Unregelmäßigkeiten “akzeptabel”. Da vor allem auch die Christ­demokraten bereits signalisiert hatten, daß sie das Wahlergeb­nis akzeptieren würden, war es der Oppo­sitionskoalition aus FMLN, CD und MNR unmöglich, die Wahlen nicht zu akzeptie­ren und auf die Repräsentanz im Parla­ment zu verzichten. Eine Anfechtung der Wahl wäre nur mit einem geschlossenen Vorgehen der ge­samten Opposition mög­lich gewesen. Die FMLN hat die Wahlen in 65 Gemeinden angefochten, der TSE hat die Einwendun­gen jedoch in sämtli­chen Fällen zurück­gewiesen. ONUSAL und TSE beeilten sich denn auch zu versi­chern, daß sie die Probleme des ersten bis zum zweiten Wahlgang beheben würden. In den letzten Tagen vor der zweiten Runde gingen noch Gerüchte um, daß die Oppositionskoali­tion die Stichwahl boy­kottieren würde.
Die Vereinten Nationen, darauf fixiert, El Salvador als erfolgreiches Beispiel ihrer Arbeit darzustellen, haben sich zum wie­derholten Mal in diplomatische Zurück­haltung geflüchtet, statt Druck auf Regie­rung und TSE zu entwickeln. Denn daß der TSE nichts von alleine ändern würde, war abzusehen. So wurden bis zur Stich­wahl lediglich 20.000 zusätzliche Wahl­ausweise ausgestellt. Auch Rafael López Pintor, Chef der Wahlabteilung von ONUSAL, befand die Änderungen für “unzureichend”.

Viele wollen zurück in die Berge

Die vielen Hürden, die aufgebaut wurden, damit möglichst wenig Menschen, erst­mals an den Wahlen teilnehmen können, reichen allein jedoch nicht aus, um die niedrige Wahlbeteiligung und den Sieg von ARENA zu erklären. Der Opposition ist es nicht gelungen, einen bedeutenden Anteil der traditionellen NichtwählerInnen für sich zu mobilisieren. Die Zahl der WählerInnen ist im Vergleich zu den letzten Wahlgängen nur unwesentlich ge­stiegen, obwohl die FMLN diesmal selbst bei den Wahlen antrat und nicht mehr, wie bei früheren Wahlgängen, zum Boykott aufgerufen hat. Die Stimmen für die FMLN sind in erster Linie auf Verluste der Christdemokraten und der Demokrati­schen Konvergenz zurückzuführen. ARENA konnte die eigene Stimmenzahl sogar noch steigern. Über eine halbe Mil­lion SalvadoriannerInnen haben erneut der Rechten ihre Stimmen gegeben. Der FMLN und den anderen Oppositionspar­teien ist es nicht gelungen, sich diesen WählerInnen als glaubwürdige Alternative zu präsentieren. Natürlich hatte ARENA wesentlich mehr Geld zur Verfügung und hat dieses Geld im Wahlkampf geschickt eingesetzt. Offensichtlich hat die Partei den Regierungsapparat für Wahlkampf­zwecke mißbraucht.
Vor allem aber ist festzustellen, daß sich Hunderttausende von SalvadorianerInnen nicht für Politik interessieren . (Daß dies bei uns ge­nauso ist, tut nichts zur Sache. Immerhin gab es vor wenig mehr als einem Jahr­zehnt ein hohes Maß an politi­scher Mobi­lisierung in El Salvador. Und wenn 1979 oder 1980 die Regierung von unten ge­stürzt worden wäre, dann wäre es tatsäch­lich durch eine “Massenbewegung” ge­schehen.) Will die FMLN aber eines Ta­ges die Regierungsmacht erringen, muß sie dieses Problem lösen. Viel wird davon abhängen, ob die FMLN-Führung den Kontakt zur eigenen Basis, vor allem auf dem Land, weiter verlieren wird. Denn die Unzufriedenheit der Basis ist in allen Or­ganisationen groß. Der Friedensprozeß kommt nur schleppend voran, die Land­verteilung stagniert, Kredite bleiben aus, und die soziale Lage der KämpferIn­nen ist oft schlechter als während des Krieges. Zusätzlich fühlen sich die Leute von ihren Comandantes im Stich gelassen, die sie meist nur noch im Fernsehen zu Gesicht bekommen. Gerüchte – teils wahr, teils unwahr – über den neuen plötzlichen Wohlstand der Führung gedeihen in die­sem Klima besonders gut. Die Unzufrie­denheit wächst mit jedem Tag. Nicht we­nige wünschen sich, in die Berge zurück­zukehren und den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.

Kasten:

“Ein unbeschreibliches Chaos”

Julie Scheer, Mitarbeiterin des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerech­tigkeit in München, arbeitete in den letzten Monaten im Wahlkoordinations­büro des Na­tionalen Kirchenrates (CNI) von El Salvador. Am 20. März war sie Wahlbeobachte­rin im “Instituto Arce, Escuela de Brasil”, einem der zentralen Wahlorte der Hauptstadt San Salvador. In ihrem Augenzeugenbericht, den sie unmittelbar nach den Wahlen anfertigte, berichtet sie über eine Vielzahl von Verstößen gegen das Wahlgesetz.

Um Punkt sechs Uhr wurden die Wahlhelfe­rInnen und 18 VertreterInnen der neun teil­nehmenden Parteien, je zwei mit den Emblemen ihrer Parteien, einge­lassen. Um sieben Uhr hätten die Wahllo­kale geöffnet werden sollen, die Vorbe­reitungen verzö­gerten dies aber bis 8.15 Uhr. Tausende warteten schon seit Stunden. Als die Türen geöffnet werden sollten, kam es zum völligen Chaos. Es war unmöglich, die vorgese­henen Abstände zwischen den oft nur Zentimeter voneinander entfernten “Wahltischen” einzuhalten. Die Wahllisten wurden ir­gendwo hinter der Wahlkabine aufge­hängt, so daß die Wählenden erheblich behin­dert wurden, weil Andere vor­beidrängten, um auf der ent­sprechenden Liste ihren Namen zu suchen. Zwischen den Urnen und den Wahlhelfe­rInnen am Wahltisch drängten sich die Leute in der Warte­schlange, so daß diese gar nicht se­hen konnten, ob die Wahlzettel eingewor­fen wurden. Die Schlange der Wartenden blockierte den ganzen Hof. Der Durchgang war gerade fünf Me­ter breit, und just hier hingen die Gesamt­register für das Wahlzentrum. Hier also hätten die Leute eigentlich feststellen müssen, an welcher Urne sie sich anstel­len müßten. Dort – an der Urne – mußten sie ihre Namen in einem weiteren Re­gister suchen.
Am Eingang war nicht zu erkennen, in welcher der bei­den Schulen man/frau regi­striert war. Wir versuchten dem durch Zettel, die wir auf­hängten, abzuhelfen. Unsere Aufgabe war, den Leuten zu helfen. Schon die dritte Per­son, die ich suchte, war in den Listen nicht vorhanden. Drei anderen Wahlhelfe­rInnen ging es genauso. Ich habe zehn solcher Fälle dokumentiert, darunter von Leuten, die schon lange einen Wahlausweis besit­zen, mit dem sie auch schon gewählt hat­ten. Es gab den Fall eines Mannes, des­sen Name nicht auftauchte, der aber seinen 1973 verstorbenen Vater und seinen 1992 verstorbe­nen Bruder auf der Liste ent­deckte. Manche Leute standen nur auf der Liste ihrer Urne, nicht aber im Gesamtre­gister, oder die Nummer ihres Wahlaus­weises stimmte nicht mit ihrer Nummer im Register über­ein. In all diesen Fällen konnten die Leute nicht wählen. Die Wahlkabinen waren in den Lokalen zu 80 Prozent so aufge­stellt, daß sie ohne Pro­bleme eingesehen werden konnten. Sogar der Vertreter von ONUSAL an unserem Hauptstützpunkt meinte daher, daß von einer geheimen Wahl nicht die Rede sein könne.
ARENA hatte wesentlich mehr Beobach­ter in den Lokalen als zulässig (die opti­sche Wirkung war überwältigend), ver­teilte Fähnchen und anderen Klimbim vor den Zen­tren. Im Instituto Brasil brachten sie unentwegt Parteiaufkleber an den Ur­nen an., was zu größeren Turbulenzen führte. Wahlpropaganda im Lokal ist ver­boten, davon abge­sehen war jede Art von Wahl­kampf seit dem 16.3 untersagt. An einer Urne wurde eine solche Turbulenz offen­bar dazu genutzt, neun Wahlzettel zu stehlen. Um 17.30 Uhr begann die Aus­zählung, bei der wir dabei sein konnten. Es gab nicht die erwarteten Hakeleien darüber, ob die Stimmen nun gültig seien oder nicht.

“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”

LN: Hat Sie das Ergebnis der Wahlen erstaunt?
Dada Hirezi: Ja, aber nicht wegen des ho­hen Stimmenanteils von fast 50 Prozent für ARENA, den ich niedriger erwartet hatte, sondern wegen der hohen Zahl von Menschen, die nicht wählten. Ich ver­meide bewußt den Begriff “Wahlenthaltung”, da viele, die wählen wollten, nicht wählen durften. Ich hätte nie geglaubt, daß es so viele Fehler im Wählerverzeichnis gibt. Selbst einige Funktionäre der Vereinten Nationen sind erstaunt über die hohe Zahl derer, die am Wahlsonntag nicht im Wählerverzeichnis aufgetaucht sind. Ich habe nicht damit ge­rechnet, daß die Wahlen so ungeordnet ablaufen…

Aber wenn die Menschen nicht im Wählerverzeichnis waren und keinen Wahlausweis hatten, erscheint dies auch nicht als Wahlenthaltung…
Richtig, genau davon wollte ich sprechen. Ich habe große Zweifel, ob die Zahlen, die der Oberste Wahlrat (TSE) veröffentlicht hat, richtig sind. Der TSE sprach von 2,7 Millionen Wählern, aber da waren eine Unmenge von Toten dabei. Ich habe am Wahlsonntag im Wählerverzeichnis die Namen mehrerer Verwandter entdeckt, die bereits tot sind. Es gibt unglaublich viele dieser Fälle. Oder die Leute durften nicht wählen, weil ihr Name nicht im Verzeich­nis auftauchte, jedoch ein Name der sehr ähnlich war. Das ist schon komisch, wo doch das Wählerverzeichnis und die Wahlausweise aufgrund der selben Daten erstellt worden sind. Also: ist das nur ein Fehler? Aber wie soll dieser Fehler ent­stehen? Und wenn es Absicht war? Was wurde damit bezweckt? Ich beschuldige niemanden, einen Wahlbetrug ausgeführt zu haben; ich habe auch keine Beweise. Aber die Zahlen beweisen, daß der TSE unglaublich schlecht und unverantwortlich gehandelt hat. Das hat selbst Armando Calderón Sol betätigt.

Gab es nun einen Wahlbetrug oder le­diglich – wie die FMLN dies ausdrückt – große Unregelmäßigkeiten?
Wenn die Unregelmäßigkeiten Absicht waren, war es Betrug. Wenn sie unab­sichtlich zustande gekommen sind, zeigen sie die Unfähigkeit des TSE, Wahlen zu organisieren. Aber dies ist letzlich gar nicht entscheidend. Was zählt ist, daß die Leute denken, daß das Ergebnis der Wahlen nicht legitim ist. Und dabei ist ganz gleich, wer gewonnen hat. Die Wahlen waren ein wichtiger Schritt in der Kon­struktion der Demokratie in unserem Land, und jetzt denken viele, daß dies in El Salvador nicht möglich ist.

Wird dadurch die Unzufriedenheit mit dem Friedensprozeß in El Salvador wei­ter anwachsen?
Das Vertrauen in die Möglichkeit, in El Salvador eine Demokratie zu errichten, war eine entscheidende Grundlage des Friedensprozesses. Dieses Vertrauen ist jetzt enttäuscht. Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis und glaubt, daß sie Wahlen gewonnen hat, die nicht sauber waren. Es waren mindestens 15 Prozent, die von den Wahlen ausgeschlossen wur­den, wie ONUSAL-Chef Ramírez Ocampo sagt. 15 Prozent ist aber einfach zu viel. Gerade bei den Gemeindewahlen hätten die Ergebnisse sonst tatsächlich ganz anders ausgesehen. Das Ge­sprächsthema sind die Unregelmäßigkei­ten bei den Wahlen und nicht, wer ge­wonnen hat. Das ist sehr gefährlich.

Gerade in den Orten, in denen die “Wahlenthaltung” am niedrigsten war, hat die FMLN gewonnen, wie in Cin­quera oder in El Rosario. Sind das nicht deutliche Zeichen für einen Wahlbe­trug?
Das sind deutliche Zeichen. Ich wollte von diesen Fällen nicht sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich es für schlecht hielte, daß ARENA ge­wonnen hat. Ich denke, es ist nicht ent­scheidend, wer gewonnen hat. Das größte Problem ist meiner Meinung, daß die Wahlen nicht sauber waren.

Was halten Sie von der Position von ONUSAL in diesem Zusammenhang? ONUSAL hat sofort nach den Wahlen gesagt, daß es zwar einige Probleme gab, die Wahlen insgesamt aber akzep­tabel seien.
Die offizielle Position von ONUSAL wi­derspricht der Haltung einiger ihrer Funk­tionäre, die von schweren Behinderungen in einigen Orten sprechen. Aber man muß sich auch in die Lage von ONUSAL ver­setzen. El Salvador ist für die gesamten Vereinten Nationen ein Vorzeigeland. Sie nennen es den erfolgreichsten Friedens­prozeß auf der ganzen Welt. Da ist es für die Vereinten Nationen fast unmöglich, Bereiche zuzugeben, in denen der Frie­densprozeß gescheitert ist. Das gab es schon öfter. Beim Amnestiegesetz, das es letztes Jahr gleich nach der Veröffentli­chung des Berichts der Wahrheitskommis­sion gab, war es so ähnlich. Die Vereinten Nationen protestierten nur sehr zurück­haltend, obwohl die Amnestie ein Skandal und ein Affront gegen die Vereinten Na­tionen ist. Aber ich kann die Zurückhal­tung der Vereinten Nationen fast verste­hen: El Salvador ist ihr Friedensprozeß. Und insgesamt kann sich das Ergebnis von ONUSAL sehen lassen, ihre Beteili­gung am Friedensprozeß war sehr wichtig.

Hätte ONUSAL aber nicht noch mehr erreichen können?
Auf jeden Fall, viel mehr. Manchmal hat ihnen die Konsequenz gefehlt, manchmal waren sie zu zurückhaltend.

Über 600.000 Menschen haben für ARENA gestimmt. Wie kommt es, daß ARENA eine so große soziale Basis ge­rade auch bei den Armen hat?
Dazu gibt es in ganz Lateinamerika viele Analysen. Das oberste Ziel der armen Be­völkerung ist zu überleben. Und irgend­wann fangen diese Menschen in ihrer Mi­sere an zu glauben, daß die Tatsache, daß sie überhaupt überleben können, ein Zu­geständnis der Mächtigen ist. Dann wäh­len sie auch noch deren Parteien und ge­ben sich mit dem Status Quo zufrieden. Sie fürchten sich vor dem Neuen. Jetzt können sie zumindest überleben. Wenn sich die Situation ändert, könnte es ja noch schlimmer werden. Au­ßerdem hat ARENA in ihrem Wahlkampf sehr ge­schickt Angst und Terror verbrei­tet: “Im Falle eines Wahlsieges der Lin­ken, gibt es wieder Krieg”, war eine häu­fige Parole von ARENA auf Wahlveran­staltungen.

Und wie war der Wahlkampf der Op­position?
Die Opposition hat nicht deutlich ge­macht, welche Alternative sie anzubieten hat. Damit meine ich vor allem die Christ­demokraten, die hätten deutlich machen müssen, daß auch sie ein Projekt für El Salvador haben. Dann wäre die Polarisie­rung im Wahlkampf vermutlich auch nicht so stark gewesen. Der Wahlkampf lief sehr US-amerikanisch ab. Es ging zu we­nig um Inhalte.

Und die Linke?
Die Wahlkampagne der Linken war sehr diffus. Und sie haben auf die Anschuldi­gungen von ARENA viel zu defensiv rea­giert. Rubén Zamora, der Präsident­schaftskandidat der Opposition, hat immer wieder betont, auch er stehe in Verhandlun­gen mit den Unternehmern, bei seinem Wahlsieg werde es keine wirtschaftli­chen Probleme geben. Aber wieso sollten die Menschen denn die Op­position wählen, wenn sie sich vor allem um die Unternehmer bemüht, das kann die Regie­rungspartei viel besser. Ich denke, daß die Opposition mit einer etwas offen­siveren Kampagne besser abgeschnitten hätte, vor allem bei den Mittelschichten der Städte und den öffentlichen Ange­stellten. Die Linke wollte die Polarisie­rung, wie sie im Krieg bestand, vermei­den. Aber als ARENA zu polarisieren be­gann, blieb die Oppositionskoalition de­fensiv. Das war ein Fehler. Mit einem de­fensiven Wahl­kampf kann man nicht auf die Attacken des Gegners reagieren.

Wie sehen Sie die Zukunft des Landes, vor allem falls ARENA, wie es zu er­warten ist, den zweiten Wahlgang ge­winnt und Calderón Sol Präsident wird?
Durch den Wahlsieg von Calderón Sol – ich bin mir sicher, daß er in der zweiten Runde gewinnen wird – wird es weitere Probleme im Friedensprozeß geben. ARENA wird versuchen, die Elemente des Friedensabkommens, die noch nicht er­füllt sind, weiter zu verzögern oder zu verhindern, zum Beispiel die Reform des Justizsystems. Bei der Polizei werden sie versuchen, die alte Nationalpolizei mit der neuen Zivilen Nationalpolizei zu ver­schmelzen. Aber das, was bereits erreicht ist, können sie nicht mehr umkehren.

Welche Auswirkungen hat das auf die salvadorianische Gesellschaft?
Das Problem ist, daß sich in El Salvador noch keine starke Zivilgesellschaft her­ausgebildet hat. Es ist wichtig, daß sich die Organisationen der Zivilgesellschaft, also etwa Gewerkschaften und Berufsver­bände, eine gewisse Autonomie von den politischen Parteien erkämpfen. Nur dann können sie auch zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen. Bislang sind diese Organisationen noch nicht stark genug, um die Demokratie in El Salvador zu tra­gen. Ich denke aber, wir werden hier bald eine sehr starke soziale Bewegung haben, die klare Forderungen an die staatlichen Institutionen stellt. Die Parteien sollten ih­rerseits versuchen, die soziale Bewegung zu unterstützen.

Und wie wird es mit der FMLN nach den Wahlen weitergehen? Wird sie einen Platz in der Gesellschaft finden? Und vor allem, kann sie ihre Einheit aufrechterhalten?
Die FMLN hat es von allen Parteien am schwierigsten, da sie ja noch nicht einmal zwei Jahre als politische Partei existiert. Die FMLN entstand aus gesellschaftlichen Organisationen, die subversiv tätig waren. Danach trat die FMLN in einen Krieg ge­gen das Regime ein, wurde dabei aber von der Zivilgesellschaft isoliert. Jetzt fällt es ihr am schwersten, sich in der Zivilgesell­schaft wieder zurechtfinden. Niemand hat das Recht, sie für ihre Probleme zu kriti­sieren. Die Transformation, die sie zu lei­sten hat, ist gewaltig.

Wird die FMLN sich spalten?
Ich denke, die FMLN sollte sich als Front oder Bündnis von fünf unabhängigen Parteien definieren. Dann wird es auch einfacher, die Unterschiede, die zwischen den fünf Parteien existieren, zu akzeptie­ren. Das ist die Transformation, die die FMLN leisten muß. Ob es eine Spaltung geben wird, weiß ich nicht. Es wird aber sicher etwas neues entstehen.

Werden alle fünf Organisationen wei­terbestehen, oder kann es sein, daß ei­nige verschwinden?
Langfristig werden höchstens drei Par­teien bestehen bleiben: das ERP, die FPL und die PCS. Die beiden anderen sind zu klein, um langfristig als unabhängige Parteien weiterzubestehen. Die RN wird wieder zu ihrem Ursprung, zum ERP, zu­rückkehren. Schwierig wird es für die PRTC, die schließlich aus keiner der an­deren Parteien entstanden ist, sondern als Projekt einer gemeinsamen zentralameri­kanischen Partei. Nur daß diese Versuche in den anderen zentralamerikansichen Ländern gescheitert sind.

Was wird aus dem ERP werden? Das ERP ist bereits gespalten, die Tendencia Democrática hat das ERP verlassen, ist aber weiterhin in der FMLN, ohne Mit­glied irgendeiner der fünf Organisatio­nen zu sein. Joaquín Villalobos hat be­reits seit einem Jahr intensive Kontakte zur Christdemokratischen Partei. Könnte daraus etwas Neues entstehen?
Die FMLN hat in den östlichen Landes­teilen, dort wo das ERP stark ist, am schlechtesten abgeschnitten. Dies wird auf die zukünftigen Diskussionen sicherlich Einfluß haben. Das ERP muß aufpassen, daß es seine soziale Basis nicht verliert. Eine Allianz mit den Christdemokraten möchte ich natürlich nicht ausschließen. Im Parlament wird die gesamte FMLN bemüht sein, mit den Christdemokraten eine gemeinsame Linie für Abstimmungen zu erreichen.

Niederlage im Frieden

Regierungsbeteiligung als Knackpunkt

Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittel­bar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kom­mentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditio­nellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die Wäh­lerInnnen der AD-M19 ent­täuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die tradi­tionellen Parteien zu sein ver­sprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltun­gen erpicht sind. Die Altpar­teien, die Li­berale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquen­wirtschaft und Kor­ruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regie­rungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahr­zehnten polarisierten Land einen Friedens­prozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Se­nator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidie­ren und zu beweisen, daß friedliches Zu­sammenleben möglich ist.” Er selbst er­hielt – aus der Guerilla in seine Heimat­stadt Cali zurückgekehrt – mehrere Mo­nate lang täglich mehrfach Mord­drohungen. Die Partei wollte bewei­sen, daß auch andere Kräfte das Land re­gieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “gei­sti­gen Entwaffnung” des Landes im Inte­resse des Friedens.

Fehlendes Profil

Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpie­rung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeits­ver­lustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vor­würfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Mini­ster seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfas­sungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Ge­sundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letz­ten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Man­gel an einem klaren Profil aus: “Das Pro­blem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar ma­chen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der So­zialversicherung (mit Renten- und Kran­kenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Ge­genstand der öffentlichen und parlamenta­rischen Debatte war. “In dieser sehr wich­tigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentanten­hauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteili­gung gerade an diesem wichtigen sozial­politischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lö­sungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozial­versicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen kon­struktiv daran mitgearbeitet.”

Viele Listen, wenig Stimmen

Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konn­ten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichti­gung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen ge­wannen mit 30.000 Stimmen einen siche­ren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im gan­zen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altpar­teien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewin­nen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blie­ben jedoch auch dann die deutlichen Stim­menverluste von 700.000 auf 150.000.

Zu viel persönlicher Ehrgeiz…

Die Vielzahl der Listen hat mit einer Aus­einandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandi­dieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur er­neuten Kandidatur auf­gefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu in­teressant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Le­bensunterhalt im informellen Sektor ver­dienen muß.

…und zu wenig Disziplin

Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitver­breiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander an­gewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Diszi­plin bei den ParlamentarierInnen ge­herrscht. “Im Parlament gab es keine Lei­tung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Anse­hen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individuali­sierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Viel­falt bezeichnet, allerdings für unvermeid­lich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierIn­nen unabhängige Parteistruktur aufzu­bauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Ver­fügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentra­tion auf die Arbeit im Parlament. “Wir ha­ben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Füh­rung und dem normalen Bürger geschaf­fen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirt­schaftskonzepte, die einseitige wirtschaft­liche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öff­nung für Importe hat die einheimische In­dustrie und Landwirtschaft einem Wett­bewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fort­setzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Ent­wicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.

Die Liberalen – die großen Sieger

Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherr­schen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Sam­per, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Ko­lumbiens sein wird. Er verspricht den Kolumbiane­rInnen einen sozialen Kapita­lismus, setzt auf die menschliche Arbeits­kraft und will eineinhalb Millionen Ar­beitsplätze schaf­fen. Der Staat soll wieder stärker eine so­ziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neolibera­lismus, wie In­ternationalisierung oder Privatisierung ne­giert, sondern nur einige Korrekturen vor­nehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozia­len Kapitalismus vielen KolumbianerIn­nen attraktiver er­scheint, als die Kritik an der wirtschaftli­chen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.

Trübe Aussichten

Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zu­gang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinan­derzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewe­gungen, die sich in Kolumbien als soge­nannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den tra­ditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Libe­ralen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschie­denen Flügeln, die teilweise auch fort­schrittlichere Positionen vertreten und Re­formkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Ba­sis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der ein­fachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Auf­bau einer funktionierenden Parteiorgani­sation. Notwendig sei ferner eine von al­len bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lo­kaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”

Rückfall in den “bipartidismo”

Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteili­gung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.

Selbstbewußte Indígenas

Ehrliches Erstaunen, ängstliches Entset­zen, Fassungslosigkeit, Wut – Das urbane, westliche Mexiko der “Modernisierer” um die technokratische Clique von Salinas & Co. war offensichtlich nicht darauf gefaßt, daß marginalisierte Campesinos und Indí­genas aus der “hinterletzten Ecke” des Landes ihnen die Feier des Beitritts zur Ersten Welt verderben könnten. Und es kam noch schlimmer: Die im offiziellen Diskurs verdrängte agrarische Zivilisation Mesoamerikas, von der Bonfil sprach, meldete sich nicht nur zu Wort; sie ent­larvte ihrerseits das Modernisierungs­projekt des neoliberalen Establishment als eine Fiktion, die zwar – vor allem vom PRI-hörigen Fernsehimperium TELE­VISA – me­dienwirksam verkauft wird, de­ren Umset­zung vor Ort jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum gerät.
So kam es, daß sich dieses “fiktive Me­xiko” um Salinas nicht nur internationa­lem Druck, sondern besonders auch der landesweiten Solidarisierung mit dem Za­patistischen Nationalen Befreiungsheer EZLN beugen mußte. Die sogenannten Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristóbal haben die Kluft zwischen beiden Mexikos verdeutlicht: Entsprechend ihrer über 60 Jahre bewährten Taktik des Kau­fens und Spaltens von Dissidenz entsenden Regierung und Staatspartei einen populistischen “Emissär” ohne kla­ren Auftrag und explizite Kompetenzen, der den Zapatisten mehr Geld, mehr Infra­struktur und mehr Entwicklung verspre­chen darf. Ihm gegenüber sitzen maskierte Campesinos, die als erstes bekräftigen, daß sie von der Basis der Dorfgemeinden gar nicht ermächtigt sind, mit der Regie­rung zu verhandeln, sondern nur einen “Dialog” führen. Dies entspricht dem – für die Regierung so schwer handhabbaren – Selbstverständnis des EZLN, bloß eine Organisationsform unter vielen anderen darzustellen und sich daher als bewaffne­ter Arm der chiapanekischen Indígenas und Campesinos dem politischen Willen der Dorfgemeinden unterzuordnen:
“Unsere Art zu kämpfen ist nicht die ein­zig mögliche, vielleicht ist sie für viele nicht einmal die angemessene. Andere Arten des Kampfes existieren, und sie exi­stieren zu Recht. Auch unsere Organisa­tion ist nicht die einzige, für viele ist sie vielleicht nicht einmal wünschenswert. Zu Recht existieren andere, aufrichtige, fort­schrittliche und unabhängige Organisa­tionen. Das Zapatistische Nationale Be­freiungsheer hat niemals den Anspruch erhoben, seine Art zu kämpfen sei die ein­zig legitime. Doch tatsächlich ist es für uns die einzige, die uns übrig gelassen wurde… Wir erheben nicht den Anspruch, die historische, einzige, authentische Avantgarde zu sein. Wir erheben nicht den Anspruch, unter unserer zapatistischen Fahne alle aufrichtigen Mexikaner zu ver­einen. Wir bieten unsere Fahne an, doch es gibt eine größere, umfassendere, mächtigere Fahne, die uns alle zusam­menführen kann. Die Fahne einer revolu­tionären, nationalen Bewegung, welche die diversesten Tendenzen, die unter­schiedlichsten Denkrichtungen, die ver­schiedenen Arten zu kämpfen zusammen­führen würde, unter der es jedoch nur ein Anliegen und ein Ziel gäbe: Freiheit, De­mokratie, Gerechtigkeit” (Kommuniqué der Comandancia General des EZLN vom 20. Januar).
Konsequenterweise weigern sich die Za­patistas daher auch, einen ausformulierten Programmkatalog vorzulegen, was nur Aufgabe aller Organisationen und Comu­nidades sei. Ihre Forderungen nach “Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit” bilden kein inhaltliches Programm. Sie richten sich auf Formalia und juristische Aspekte wie die Anerkennung als krieg­führende Partei und die Einhaltung der Verfassung – Formalia allerdings, deren Durchsetzung das bestehende politische System Mexikos zum sofortigen Einsturz bringen würde: “saubere” Wahlen auf al­len Ebenen, Auflösung oligarchischer Machtstrukturen, Abwahl von Kaziken, Chancengleichheit für alle MexikanerIn­nen im Wirtschafts-, Bildungs- und Ge­sundheitssektor sind unvereinbar mit den Herrschaftsprinzipien der “institutionali­sierten Revolution”.

Wiedereintritt in die Geschichte

Schon Anfang Januar haben die Zapati­sten die chiapanekische und mexikanische Zivilgesellschaft aufgefordert, den mit bewaffneten Mitteln gewonnenen Frei­raum zu nutzen und ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Auch wenn es ihnen (noch) nicht gelungen ist, die ver­schiedenen nicht-militärischen Organisa­tionen am “Dialog” in San Cristóbal direkt zu beteiligen, hat der Appell des EZLN an die Indígena- und Campesino-Organisa­tionen Mexikos einen von Sonora bis Yu­catán reichenden Sturm der Basismobili­sierung ausgelöst.
Als erstes sind die chiapanekischen Dorf­gemeinden dieser Aufforderung nachge­kommen. In einem auch für die fünfhun­dertjährige Tradition lokaler und regiona­ler Widerstandsformen einmaligen Um­fang haben sich ca. 280 verschiedenste Organisationen aus Comunidades des gan­zen Bundesstaates schon am 24. Ja­nuar zu einem losen Dachverband, dem Consejo Estatal de Organizaciones Indí­genas y Campesinas de Chiapas (CEOIC, “Landesrat der Indígena- und Campesino-Organisationen von Chiapas”) zusammen­geschlossen. Obwohl die Gründung des Rates auf eine Initiative regierungsnaher Kreise zurückgeht – ein letzter verzwei­felter Versuch, die Zapatisten von ihrer Basis zu isolieren -, setzten sich die unab­hängigen Gruppen durch, bis sich schließ­lich auch die Vertreter der PRI-nahen Campesino-Organisation CNC dem For­derungskatalog der Mehrheit anschlossen: Anerkennung des CEOIC als Verhand­lungspartner, Absetzung der korrupten Lokal- und Regionalpolitiker, vollständige Revision der Landreform unter maßgebli­cher Beteiligung der Campesino-Organi­sationen sowie Umsetzung der ILO-Kon­vention 169, die eine Territorialautonomie und die verfassungsmäßige Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte der indige­nen Völker beinhaltet.
Eine derart umfassende Plattform von Basisorganisationen, die ihren politischen Willen jenseits der üblichen staatlich-kor­porativen Kanalisation artikuliert, läutet eine vollkommen neue Beziehung ein zwischen dem “fiktiven” und dem “tiefen Mexiko”, zwischen Staat und Gesell­schaft, wie Mario Landeros von der Organisation Xi’ Nich’ aus Palenque er­klärt:
“Wir haben gemerkt, daß wir selbst die Regierung als solche darstellen müssen, daß wir unsere Regierungsform suchen müssen… Wir beginnen langsam zu reifen, um eine politische Führung für unsere so­zialen Organisationen aufzubauen. Es geht nicht mehr um PRI, PAN, PRD oder was auch immer für eine Partei. Wir sind dabei, Vereinbarungen zu treffen, die dann nicht von einer bestimmten Organi­sation, sondern von der gesamten Gesell­schaft umgesetzt werden. Das ist die Strategie zu reifen, und so den politischen Wechsel zu erreichen”.
Daß EZLN und CEOIC das regionale Mächtesystem grundlegend verändert ha­ben, zeigen nicht nur die zahlreichen Ab­setzungen korrupter, PRI-höriger Kaziken und Kommunalpolitiker im Hochland von Chiapas sowie die Besetzungen von bis­lang 1.500 Hektar Land auf Latifundien, deren Auflösung und Verteilung jahr­zehntelang von Campesino-Organisatio­nen auf dem Behördenweg eingefordert worden war. Auch die herrschenden Oligarchien reagieren, indem sie ihre Privatarmeen aufrüsten. Besitzer illegaler Latifundien ließen im Februar die Campesino-Anfüh­rer Mariano Pérez aus Simojovel und Pe­dro Méndez aus Yajalón ermorden. Gleichzeitig werden mit tatkräftiger Un­terstützung der politischen Polizei die sog. Defensas Rurales wiederbelebt, ein noch aus den nach­revolutionären Wirren stam­mendes para­militärisch organisiertes Spionage­netz. Und eine von der lokalen Händler-Elite getragene “Bürgerfront von San Cristóbal gegen die Destabilisierer” (Frente Cívico Coleto Contra los Dese­stabilizadores) agitiert unterdessen nicht nur für eine Be­endigung jeglicher Ver­handlungen mit den Zapatisten, sondern ganz besonders auch für eine Vertreibung des Bischofs Samuel Ruiz aus der Stadt.

Ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann

Chiapas ist Mexiko; der zapatistische Kampf ist keineswegs lokal begrenzt, wie Salinas gegenüber dem irritierten Aus­landskapital glauben machen wollte. Auch im Bundesstaat Morelos, der Heimat von Emiliano Zapata, hat sich ähnlich wie in Chiapas eine gemeinsame Plattform, die Unión de Comunidades Indígenas de Mo­relos (Vereinigung der Indígena-Gemein­den von Morelos), gebildet. Sie begrüßte schon am 5. Januar die Rückkehr des mythischen Revolutionärs in Gestalt der chiapanekischen Aufständischen, wie Prä­sidiumsmitglied Arturo Dimas aus Hua­zulco betont:
“Wir in Morelos sagen: Das Volk ist die Regierung. Daher hat das Zapatistische Befreiungsheer den Namen Zapatas ganz und gar nicht beschmutzt, wie von offi­zieller Seite behauptet wurde. Nein, es weist ihm den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt”.
Die Solidarisierungskundgebungen rei­chen von den Maya der Halbinsel Yucatán über die Nahua aus Veracruz, die Otomí aus Querétaro und die Chontales aus Ta­basco bis zu den Yaqui und Mayo in dem an die USA angrenzenden Bundesstaat Sonora. Dort gelingt es dem Regional­Kommittee der Confederación Nacional Indígena (CNI), einer PRI-Unterorganisa­tion, zum ersten Mal, die Bevormundung durch die örtliche PRI-Spitze abzuwehren: Nach einer wochenlangen Besetzung von Regierungsgebäuden und einem “Zapati­stischen Marsch” muß die Landes­regie­rung den unabhängigen Wunschkan­dida­ten als neuen CNI-Vorsitzenden ak­zep­tieren.
Während in Sonora das korporative Machtsystem der Staatspartei und ihres Paternalismus gegenüber den Indígenas erst zu bröckeln beginnt, existieren in konfliktreicheren Bundesstaaten wie Guerrero, Oaxaca und Michoacán, die auf eine lange Tradition indianischen Wider­stands zurückblicken, bereits unabhän­gige, eigenständige Organisationen. In Guerrero sind dies der Consejo de Pueblos Nahuas del Alto Balsas und der Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia In­dígena: Der Balsas-Rat ist ein Zusammen­schluß von extrem marginalisierten Dorf­gemeinden, deren physische Existenz durch den Bau eines hydroelektrischen Großprojektes bedroht ist: “Wir haben über Jahre hinweg mit der Regierung ver­handelt, und nichts hat es gebracht. Was wird geschehen, wenn es wie in Chiapas keine Lösungen gibt? Unsere Geduld geht zu Ende…” (Alfredo Ramírez & Eustaquio Celestino, Verhandlungsbeauftragte des Rates).
Der Consejo Guerrerense ist 1991 im Zu­sammenhang mit Protest-Veranstaltungen gegen die offiziellen Kolumbus-Jubelfei­ern entstanden; er verhandelt im Auftrag von mehr als 400 Dorfgemeinden aus Guerrero mit offiziellen Stellen über die Freilassung von gefangenen Campesinos, die Anerkennung kommunaler Land­rechte, die Finanzierung von lokal initi­ierten Entwicklungsprojekten, die Abtre­tung von Selbstverwaltungskompetenzen an die Dorfversammlungen und über die Anpassung der Infrastrukturmaßnahmen an die regionalen Bedürfnisse. Ende Fe­bruar hat der Rat einen Marsch auf Mexiko-Stadt durchgeführt, um den Kampf des EZLN zu unterstützen und die verschiedensten Forderungen zusammen­zutragen:
“Zapatistische Brüder: Ihr seid nicht al­lein! Wir sind Abertausende, in deren ehrlichen Herzen Ihr die Wut der Würde entzündet habt, in unseren Herzen, in un­seren Völkern. Deshalb haben wir be­schlossen, diesen Marsch für den Frieden und die Würde der Indígena-Völker unter dem Motto “Ihr seid nicht allein” durch­zuführen. Wir marschieren nach Mexiko-Stadt, um ein für alle Mal unsere Forde­rungen durchzusetzen, die wir am 13. Oktober 1992 dem Herrn Präsidenten Carlos Salinas de Gortari höchstpersön­lich in seinem Regierungspalast Los Pinos vorgelegt haben. Damals sind wir von Chilpancingo bis zur Hauptstadt hunderte von Kilometern gewandert, um uns Gehör zu verschaffen. Und was bekamen wir dafür? Nichts als Blasen an unseren nackten Füßen und Überdruß in unseren Herzen und Hoffnungen, die von so weit her kommen… Deswegen sagen wir, wie unsere zapatistischen Brüder in Chiapas: Das Schweigen der Indígenas ist zu Ende – Basta Ya!”
Auch in dem an Chiapas angrenzenden Bundesstaat Oaxaca hat eine neugegrün­dete Koalition von zapotecos und chinantecos ihr Recht auf lokale und re­gionale Selbstbestimmung und ihre Unter­stützung des Kampfes des EZLN bekräf­tigt. Während einer eigentlich als Wahl­kampfveranstaltung der PRI gedachten Versammlung und in Anwesenheit des in­zwischen ermordeten Präsidentschafts­kandidaten Luis Donaldo Colosio erklärte der Dorfvorsteher von Guelatao, Víctor García:
“Unsere Forderungen nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Selbstbestimmung müssen verstanden werden als Antwort auf eine politische Praxis, die gekennzeichnet ist von Zentralisierung, Marginalisierung, Korruption, Wahlbetrug und Aufzwingung illegitimer Repräsentanten und Pro­gramme, die nichts zu tun haben mit unse­rer Kultur. All dies hat unsere Dörfer dazu veranlaßt, praktische und manchmal gewaltsame Lösungen zu wählen, um un­ser Überleben zu ermöglichen. Von die­sem Ort aus erneuern wir unsere Aner­kennung für verzweifelte Aktionsformen, wie diejenigen in unserem Bruderstaat Chiapas. Wir betonen, daß für uns Frie­den ausschließlich die Respektierung des Rechtes des Anderen bedeutet. Wir wün­schen Ihnen, Herr Kandidat, daß Ihr Auf­enthalt in Guelatao Ihnen Anlaß gibt zu tiefer Nachdenklichkeit und ehrlicher So­lidarität mit der mexikanischen Nation und besonders seinen Indígena-Völkern”.
Und schließlich haben die Purhépecha des Bundesstaates Michoacán Ende Februar ihre über 50 Dorfgemeinden zu einem re­gionalen Treffen ins Hochland nach Pichátaro eingeladen. Die mehr als 200 von ihren Dorfversammlungen entsandten Vertreter haben jenseits von korporativen Banden, parteipolitischen Grenzen und alten Landkonflikten zwischen einzelnen Dörfern ein politisches Programm formu­liert, das die Beziehungen zwischen Indí­genas und Staat auf eine neue Grundlage stellen und den Zusammenhalt innerhalb der Region stärken soll. Gastgeber Abelardo Torres faßt zusammen:
“Statt Regierungshilfen anzuwerben, be­stand die Zielsetzung unserer Versamm­lung darin, die Einheit der Purhépecha um eine gemeinsame Plattform von Be­dürfnissen und Ansprüchen herum zu er­streben, die wir selbst formulieren und dann auch zusammen in lokalen Projekten verwirklichen. So isoliert wie bisher kön­nen wir nichts ausrichten. Es geht darum, die gleichen Wege auch gemeinsam zu ge­hen”.
Um die Erfahrungen, Forderungen, Stra­tegien und Aktionsformen dieser ver­schiedensten regionalen Treffen, Plattfor­men und Koordinationen zusammenzutra­gen, haben ca. 30 regionale und lokale Organisationen aus ganz Mexiko an­schließend zu einer Convención Nacional Electoral de los Pueblos Indígenas An­fang März in Mexiko-Stadt geladen. Ver­treterInnen von 40 Indígena-Völkern und 110 sozialen Organisationen und Initiati­ven erarbeiteten während dieser zweitägi­gen Wahlkonvention eine Charta für die am 21. August stattfindenden Präsident­schaftswahlen. Damit sollen zum einen die politischen Parteien dazu veranlaßt werden, das “tiefe Mexiko” in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen; zum anderen geht es aber vor allem darum, der Indígena- und Campesino-Be­völkerung eine nationale Artikulations­ebene zu verschaffen, von der aus das Projekt Mexiko revidiert werden soll.

Kein größeres Stück Torte – sondern ein neues Rezept

Ebenso wie die Haltung des EZLN bei den “Verhandlungen” in San Cristóbal sprengen auch die Hauptforderungen der Purhépecha, Nahua, Zapotecos, Chinante­cos etc. das assistentialistische Modell, mit dem bisher das “fiktive Mexiko” die marginalisierten Verlierer der Modernisie­rung durch punktuelle und an korporative Gefolgschaften gebundene staatliche Fürsorge- und Entwicklungsprogramme wie PRONASOL ruhigzustellen und so Protest zu kanalisieren versucht. In allen programmatischen Erklärungen sowohl der regionalen als auch der nationalen Treffen stehen nicht eine Erhöhung des PRONASOL-Etats oder eine “Verbesse­rung” der Entwicklungspro­gramme im Mittelpunkt, sondern die Ab­tretung von Souveränität. Gefragt wird nicht mehr, wer wieviel bekommt, son­dern wer nach welchen Kriterien verteilen darf. Diese Neukonzeption des Verhält­nisses des Na­tionalstaates zu den Indí­gena-Völkern be­trifft die gesamte Zivilge­sellschaft, wie das “Kommunalstatut” der Triqui von Chi­cahuaxtla aus Oaxaca ver­deutlicht:
“Die Gemeinde von San Andrés Chicahu­axtla definiert ihre Souveränität als das Recht, frei zu leben auf dem Land, das sie seit Menschengedenken bewohnt und de­ren Grenzen vom mexikanischen Staat und von unseren Nachbargemeinden aner­kannt worden sind. Statt im Widerspruch zur Souveränität des mexikanischen Staa­tes zu stehen, trägt die Souveränität des Triqui-Volkes von San Andrés Chicahu­axtla, wie auch die der anderen Völker und Kulturen, die die mexikanische Ge­sellschaft bilden, dazu bei, sie zu bereichern und zu stärken und ihr histori­schen und sozialen Gehalt zu verleihen. Statt die mexikanische Verfassung und ihre Ausführungsgesetze gegen den Willen derjenigen Völker zu formulieren und durchzusetzen, die dieses Land ge­schaffen haben und es heute bilden, müs­sen Ver­fas­sung und Gesetze ausgehend von der voll­ständigen Anerkennung dieser Völker, ih­rer ureigenen Rechte, ihrer Tra­ditionen, Bräuche und Hoffnungen erlas­sen und an­gewandt werden”.
Ausgangspunkt der Autonomiebestrebun­gen ist immer die Dorfgemeinde als die historisch zentrale Instanz der Identitäts­stiftung: Nur die Comunidad konnte im Zuge eines fünfhundertjährigen Wider­standskampfes als Freiraum bewahrt wer­den. Auf dieser lokalen Ebene ist Selbst­bestimmung daher nicht eine Forderung nach Veränderung, sondern bloß nach ju­ristischer Anerkennung des Status Quo: Auch ohne offiziellen Verfassungsrang bildet die Comunidad als Versammlung aller Gemeindemitglieder die wichtigste Säule der direktdemokratischen Traditio­nen. Ihr Überleben als eigenständige poli­tische Instanz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten durch das Vordringen des Staates und den damit einhergenden Prak­tiken des Polarisierens und Spaltens gefährdet.

Kampf um kommunales Land

Die Verteidigung und Stärkung der Indí­gena-Gemeinde richtet sich vor allem auf die Rückgewinnung des Kommunallandes und der darauf befindlichen Naturressour­cen. Wie schon einmal Mitte des 19. Jahr­hunderts stellt die 1992 von Salinas im Zuge der NAFTA-Verhandlungen durch­gesetzte neoliberale Privatisierung des Ejido- und Kommunallands (Art. 27 der Verfassung) die materielle Basis der Co­munidad zur Disposition. In der Verteidi­gung des Landbesitzes zeigt sich die neue Qualität der Beziehungen zum Staat: Keine einzige Indígena-Organisation fordert eine Rückkehr zur alten Fassung des Artikel 27, in der das Ejido als korpo­rativ und hierarchisch kontrollierter Staatsbesitz den Vorrang hatte vor dem lokal und dezentral verwalteten Kommu­nalland. Mit ihrer Forderung nach territo­rialer Autonomie wollen die Indígenas daher nicht irgendeine Konzession oder weitere Reformen des Art.27 erhalten, sondern sich – wie es der legendäre Plan de Ayala von Emiliano Zapata 1911 vor­sah – einen Freiraum für eigene, lokale und regionale Entscheidungen sichern. Dieser Prozeß der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Ressourcen hat schon während der Diskussionen um die Abschaffung der kollektiven Besitzrechte begonnen. So setzt zum Beispiel das De­creto de la Nación Purhépecha von 1991 alle Verfassungsänderungen für ihr Terri­torium außer Kraft, die das Kommunal­land betreffen:
“Auf der Grundlage unseres historischen Rechtes, des Rechtes auf Souveränität und freie Selbstbestimmung über unsere Ge­genwart und unsere Zukunft, und ange­sichts der Tatsache, daß wir die legitimen Erben und Inhaber dieses Landes sind, haben wir, Mitglieder und Gemeinden der Purhépecha-Nation das folgende Dekret erlassen: 1) Wir setzen alle Reformen des Verfassungsartikels 27 und alle eventuel­len späteren Novellierungen derjenigen Artikel der mexikanischen Verfassung au­ßer Kraft, die die Indígena-Gemeinden, die Campesinos, die Arbeiter und das Volk im allgemeinen betreffen, wie die Artikel 3, 123 und 130. 2) Wir beanspru­chen die Unverjährbarkeit, die Unveräu­ßerlichkeit und die Nicht-Beschlagnahm­barkeit des Kommunal- und Ejido-Landes sowie ihre Definition als gesellschaftli­ches Eigentum. 3) Alle Kommunal- und Ejido-Bauern, die Parzellen oder Land ei­genmächtig verkaufen, werden aus den Gemeinden ausgestoßen. 4) Alle Anführer und Dorfautoritäten, die der Reform des Artikels 27 zugestimmt haben, ohne ihre Basis zu befragen, sind abgesetzt. Erlassen im Territorium der Purhépecha-Nation, am 5. Dezember 1991. Juchari Uinapikua! / Unsere Kraft! – Die Purhé­pecha-Gemeinden Michoacáns”.

Regionalautonomie und direkte Demokratie

Diese territorialen Souveränitätsansprüche münden gleichzeitig in eine politische Re­organisation des gesamten Staates. Gefor­dert wird nicht nur eine Dezentralisierung der Kompetenzen der Zentralregierung, sondern als erster Schritt eine Reform und Neuabgrenzung der Gebietskörperschaf­ten: In vielen Bundesstaaten führt die be­wußt künstliche Grenzziehung der Muni­cipio-Distrikte und der Wahlkreise dazu, daß eine Vielzahl von Indígena-Gemein­den einem mestizischen Distriktsvorort untergeordnet sind. Dadurch soll den In­dígenas der Zugang zu regionalen oder nationalen Ämtern und Mandaten syste­matisch erschwert werden, wie Margarito Ruiz, Tojolabal-Indígena aus Chiapas und ehemaliger Parlamentsabgeordneter der oppositionellen PRD, zeigt:
“Es ist historisch erwiesen, daß die Ein­teilung in Municipios und die verschie­denen anderen Gebietskörperschaften des Landes aufgrund von Interessenkonflik­ten zwischen Caudillos und anderen lo­kalen Kräften vollzogen worden ist. Die terri­toriale Gliederung Mexikos entspricht nicht Kriterien einer wirtschaftlichen, so­zialen oder kulturellen Regionalisierung. So kommt es, daß die Tojolabal, obwohl sie über ein geschlossenes Siedlungsgebiet verfügen, auf die Municipios Comitán, Las Margaritas, Altamirano und La Inde­pendencia aufgeteilt sind. Und die Tzotzil, die auch geschlossen siedeln, wurden in fünf verschiedene Municipios eingeteilt. Dies ist das vorherrschende Modell in fast allen Indígena-Regionen des Landes”.
Daher fordert die Wahlcharta der Natio­nalkonvention die Einführung pluriethni­scher Territorien mit jeweils eigener Re­präsentanz auf bundes- und zentralstaat­licher Ebene. An diese Regio­nen, die auch die innerhalb eines Indígena-Siedlungs­gebietes lebenden Mesti­zen umfassen und unabhängig von beste­henden Municipio-Grenzen eingerichtet werden sollen, müs­sen Municipios und Bundesstaaten Kom­petenzen im Sinne der territorialen Selbst­bestimmung abtreten.
Was die Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen betrifft, lehnt die ge­meinsame Charta der Nationalkonvention das herkömmliche Modell der repräsenta­tiven Parteiendemokratie als unzulänglich für die Vertretung der Indígena-Interessen ab. Da in den Comunidades Entscheidun­gen nicht nach Parteienmehrheit getroffen werden, soll für jede pluriethnische Re­gion ein spezieller Wahldistrikt geschaf­fen werden:
“Unter Berücksichtigung unserer Formen des Regierens und unserer Sozialorgani­sation sowie zur Gewährleistung der vollen Repräsentation der Indígena-Völ­ker innerhalb der staatlichen Strukturen werden die autonomen Regionen ihre in­ternen Mechanismen der Bestimmung ih­rer Vertreter jeweils eigenständig festle­gen”.

Völkerrechtliche Verträge statt mehr Almosen

Die staatliche Anerkennung der kommu­nalen und regionalen Souveränität in den Bereichen territoriale Autonomie und Ressourcenkontrolle, politische Reprä­sentationsformen, Anerkennung der Indí­gena-Sprachen und das Recht auf selbst­bestimmte Erziehungs- und Kulturinstitu­tionen soll durch eine Reform des Artikels 4 der Verfassung erfolgen. Dieser Artikel erkennt in seiner aktuellen Fassung höchst schwammig die “plurikulturelle Zusam­mensetzung der mexikanischen Nation” und die staatliche Verpflichtung zum “Schutz der Sprachen, Kulturen, Bräuche, Ressourcen und Organisationsformen der Indígena-Völker” an.
Wie weit der Weg noch ist, bis Staat und Regierungspartei tatsächlich bereit sein sollten, Kompetenzen an die Regionen und Völker Mexikos abzutreten, zeigt das letzte offizielle Zugeständnis von Salinas an die Autonomieforderungen der Indí­genas: Kaschiert als Teil des “Verhandlungsergebnisses” mit dem EZLN wurde im März eine Comisión Nacional de Desarrollo Integral y Justicia Social para los Pueblos Indígenas er­nannt, in der jedoch bezeichnenderweise kein einziger Indígena vertreten ist. Das altbewährte Konzept “Assistentialismus für Indígenas, aber ohne Indígenas” wird erneut angewandt. Und auch der Aufga­benbereich der Nationalen Kommission ist identisch mit dem bestehenden, bereits 1948 gegründeten und mittlerweile vom Notprogramm PRONASOL vollständig aufgesogenen Instituto Nacional Indigeni­sta, dessen endgültige Abschaffung aller­orts gefordert wird.
Das korporative politische System Mexi­kos scheint sich – trotz “Modernisierung”, “Rückzug des Staates”, “Deregulierung” und ähnlicher technokratischer Ideolo­geme – aus Gründen des Machterhaltes der Elite des “fiktiven Mexiko” von über­kommenen Mustern der Kanalisierung von Protest, der Integration mittels Kor­ruption sowie der Disziplinierung durch Parteikanäle nicht lösen zu können. Was tun? Der abtrünnige Entwicklungsplaner und heutige Graswurzelaktivist Gustavo Esteva empfiehlt Sterbehilfe:
“Der Kampf um die einzelnen Forderun­gen und um das Land als solches bewir­ken eine schnelle und intensive Politisie­rung des öffentlichen Lebens, wodurch das Absterben des herrschenden politi­schen Systems beschleunigt wird, eines Systems, das meiner Ansicht nach bereits im Sterben liegt. Die gegenwärtige Her­ausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um dem System einen würdi­gen Tod und ein ehrenhaftes Begräbnis zu bieten. Wenn wir diese Agonie oder sogar den Todesfall abstreiten oder zu verber­gen versuchen, wird der unbestattete Ka­daver schon sehr bald die übelsten Ge­rüche absondern”.
Das Tragische und Gefährliche liegt in der Ungleichzeitigkeit der Ereignisse und Akteure: Während sich der Apparat mitten in seiner Agonie gegenüber der Gesell­schaft weiterhin verhält wie vor vierzig Jahren, hat die Zivilgesellschaft selbst längst begonnen, der Aufforderung des Subcomandante Marcos von Mitte Januar zu folgen: Vorsichtig streift sie die ihr aufgezwungene Maske ab und erkennt langsam im noch ganz unbekannten, eige­nen Spiegelbild die Konturen des “tiefen Mexiko”.

Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Eine Antwort, kein Friedensver­trag

Manuel Camacho Solis:
1. und 2. Von den 34 Punkten des Forderungskata­loges sind die beiden, die sich auf die Demokratie auf nationaler Ebene bezie­hen, nicht Teil der Verhand­lungen, sind aber klar beantwortet wor­den. Statt die Konfrontation an einen Punkt voranzu­treiben, von wo aus es kei­nen Ausweg mehr gibt, sollten wir alle Teil eines Pro­zesses der institutionellen politischen Ver­änderungen sein, die in­nerhalb der Instan­zen der zivilen Gesell­schaft ausgehandelt werden müssen: in den politischen Par­teien, in den Organen des Zentralstaates und in der öf­fentlichen Meinung. Die Ankündigung, daß es mit Zustim­mung aller Parteien eine außeror­dentliche Kongreßperiode geben soll, um Reformen zu entwickeln, die die Unpar­teilichkeit der Wahlbehörden ga­rantieren und die Betei­ligung der Bürger, ist ein wichtiger Schritt auf einen demo­kratischen Wandel hin, der zum Frieden in Chiapas beiträgt.
3. Der Geist der politischen Verpflichtung für einen würdigen Frieden und die kon­krete Friedensübereinkunft in Chiapas ge­ben der EZLN volle Garantien und ge­währleisten denjenigen eine würdige und respektvolle Behandlung, die sich in die­sen Prozeß integrieren. Es wird bei der EZLN liegen, über die Art und Weise ih­rer zukünftigen sozialen und politischen Beteiligung zu entscheiden. Wenn man davon ausgeht, daß diese im Respekt ge­genüber der Verfassung der Republik er­folgt, wird die Regierung jede Form der legalen Registrierung erleichtern, die von der EZLN oder ihren Mitgliedern bean­tragt wird.
4. Den Forderungen der Gemeinden, die die politisch, wirtschaftlich und kulturell au­tonomen indianischen Kommunen bil­den werden, soll mit der Einsetzung eines “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinden” entsprochen werden. Die Gesetzesinitiative wird die traditionellen Institutionen, Autoritäten und Organisationen der indianischen Ge­meinden und ihre Kontrollfunktion als gültig im Sinne der Rechtssprechung an­erkennen. Das gleiche gilt für die Schritte auf dem Weg zur Annahme dieses Geset­zes, wenn es um indigene Gewohnheits­rechte, Bräuche und Traditionen, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen, den inneren Handel, die Sanktion von Fehl­verhalten, Fragen des Grundbesitzes und der landwirtschaftlichen Nutzung ihrer Güter geht. Dies gilt auch für die Gestal­tung der traditionellen Organe selbst, so­fern sie nicht gegen die fundamentalen Rechte ihrer Mitglieder oder die öffentli­che Ordnung verstoßen. Auch müssen sie mit den Festlegungen der Verfassung, der Erklärung der Universellen Menschen­rechte und der Internationalen Konvention über indigene Völker und Stämme über­einstimmen. Letzere wurde in Genf be­schlossen und von Mexiko im August 1990 unterzeichnet.
Das neue Gesetz wird das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache anerken­nen, sowohl im Bereich von Amtshandlun­gen, in Bildung, Kommuni­kation und in den Beziehungen zu Dritten. Beim Kon­takt mit kommunalen bundes­staatlichen oder regionalen Autoritäten muß Indí­genas ein Übersetzer zur Verfü­gung ge­stellt werden.
5. Im Bundesstaat Chiapas werden allge­meine Wahlen abgehalten, an denen alle politischen Kräfte der Region legal teil­nehmen können. Um die Transparenz die­ses Prozesses zu gewährleisten, wird ein neues Wahlgesetz geschaffen, das die er­forderlichen Maßnahmen enthält, um die Unparteilichkeit des Wahlprozesses zu ga­rantieren. Um die gleichmäßige Reprä­sentanz der Ethnien im Kongreß von Chiapas zu gewährleisten, werden die Wahlbezirke neu eingeteilt.
Sowohl die Verfassung des Bundesstaates Chiapas als auch das Gesetz über die kommunalen Organe werden reformiert, um auf dem gegenwärtigen Territorium von Ocosingo und Las Margaritas neue Kommunen zu bilden. Hiermit soll eine bessere Vertretung der Bevölkerung und eine größere Nähe zwischen den Autori­täten und dem Volk ermöglicht werden.
6. Die Programme zur Elektrifizierung der ländlichen Gemeinden sollen dop­pelt so schnell vorangehen wie bisher.
7. Binnen 90 Tagen wird eine sorgfältige Erhebung über die verschie­denen produk­tiven Aktivitäten in Chiapas vorliegen, insbesondere in Bezug auf die indiani­schen Kommunen. Von dieser Un­tersuchung ausgehend, werden unter Mit­wirkung der Kommunen Konzepte zur be­ruflichen Weiterbildung entwickelt, die produktive Aktivitäten und Beschäftigun­gen, Anpassungsprozesse und neue For­men der Vermarktung betreffen.
8. In Chiapas wurde der Prozeß der Agrarre­form der Mexikanischen Revolu­tion nicht voll realisiert. Es ist notwendig, eine Lö­sung für die zahlreichen Agrarkon­flikte zu finden, indem den Kleineigentü­mern Ga­rantien gegeben werden. Der Pro­zeß, um dies zu erreichen, ist mit der Dis­kussion, Verabschiedung und Bekannt­gabe des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinschaften” ver­bunden – einem Gesetz, das ausgehend von den Forderungen, Meinungen, Sorgen und der Zustimmung der indianischen Kommunen in Chiapas und anderen Tei­len des Landes, vorbereitet wird.
Dieses Gesetz wird beinhalten:
– Die Etablierung geeigneter Maßnah­men, Bräuche, Bestände und Bestim­mungen in Bezug auf Ländereien, Was­ser und Wälder.
– Die notwendigen Vorgänge für eine Aufteilung der Latifundien.
– Die Festlegung von Fällen, in denen die Enteignung und Besetzung von Privat­eigentum von öffentlichem Nutzen ist.
– Der Schutz des Eigentums und des Zu­sammenhaltes der gemeinschaftlichen Ländereien der indigenen Kommunen.
– Die Rückerstattung von Land mit Hilfe einer objektiven Schätzung, die sich der Ausplünderung von Ländereien und Gewässern entgegensetzt, welche den indianischen Völkern oder Kommunen zugesprochen werden sollen.
Dieser Prozeß soll in einem ständigen und direkten Dialog mit der EZLN und ande­ren sozialen Organisationen in Chiapas er­folgen.
Es wird eine Initiative für ein “Landwirtschaftliches Gesetz im Staat Chiapas” vorbereitet, das drei Haupt­aspekte enthalten soll:
Bei den Anstrengungen für eine Diversifi­zierung der Produktion werden die Maß­nahmen im Bereich der Infrastruktur und die langfristigen Finanzplanungen von be­sonderer Wichtigkeit sein, um die Kapita­lisierung der Kommunen und ejidos zu fördern.
9. Um die Probleme im Gesundheitsbe­reich zu bekämpfen, sollen da, wo Krankenhäu­ser vorhanden sind, diese so schnell wie möglich instandgesetzt und mit komplet­ten chirurgischen Abteilungen ausgestattet werden. In den Orten, wo keine Hospitäler oder Kliniken existieren, sollen Investitio­nen getätigt werden, die das Basisversor­gungsnetz stärken.
Im Zuge einer vollständigen Reorganisa­tion des Gesundheitssystems in Chiapas soll ein Notprogramm vorangetrieben werden. Die Gesundheitskampagnen sol­len neu organisiert werden, um die Be­treuung aller Kinder zu gewährleisten, in­klusive derjenigen, die in den entlegensten Teilen des Landes leben. Im März werden Kampagnen zur Bekämpfung von Mala­ria, Cholera und Infektionskrankheiten ge­startet.
10. Es wird die Erlaubnis erteilt, einen von der Regierung unabhängigen indigenen Sender einzurichten.
11. Es wird ein Spezial­programm gestar­tet, um den Bau und die Verbesserung von Wohnungen in den in­digenen Kommunen zu fördern, ebenso wie die Einrichtung ei­ner Basis­versorgung mit Elektrizität, Trinkwasser, Straßen und Kontrollstatio­nen im Umwelt­bereich. In diesem Pro­gramm werden ebenfalls Un­terstützungsmaßnahmen für Sport und Kultur enthalten sein.
12. Es soll eine unmittelbare Übereinkunft zwischen den Lehrern der verschiedenen öffentlichen Einrichtungen und ihren ge­werkschaftlichen Sektionen erreicht wer­den, um ein Programm zur Verbesserung der Qualität der öffentlichen Bildung in der Region zu schaffen. Die Entwicklung zweispra­chiger Bildungsmöglichkeiten im mittle­ren und höheren Bereich soll unter­stützt werden. Das gleiche gilt für den Bau von Grundschulen, Mittelschulen und techni­schen Schulen oder Vorbereitungs­kursen in den indigenen Kommunen.
Um den Zugang der Indí­genas zur mittle­ren und höheren Bildung zu erleichtern, wird ein System staatlicher Stipendien ge­schaffen, die aus öffentlichen und privaten Quellen finan­ziert werden. Dies beinhaltet auch die Unterstützung künstlerischen Schaffens und der wissenschaftlichen Entwicklung junger Talente in den indige­nen Kommunen.
13. Die zweisprachige Erziehung in den indi­genen Gemeinschaften wird in dem “Allgemeinen Gesetz über die Rechte der indigenen Gemeinschaften” verankert, in den staatlichen Gesetzen und im Erzie­hungs- und Bildungsprogramm des Bun­desstaates Chiapas.
14. Die Forderung nach einer Respektie­rung der Kultur und Tradition, der Rechte und der Würde der indigenen Völker ist das Rückgrat des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indigenen Gemeinschaf­ten”, und wird seinen kon­kreten Nieder­schlag in den verschiedenen Bereichen von Regierung, Verwaltung, Justiz und Kultur finden.
15. Um die Diskriminierung und Verach­tung der indigenen Völker zu vermeiden, ist der beste Weg eine Veränderung der Wertvorstellungen von Kindern und Ju­gendlichen. Daher mußder Erziehung in diesem Bereich eine besondere Aufmerk­samkeit geschenkt werden.
Es wird eine Gesetzesinitiative vorbe­reitet, um in unserem Rechtssystem erst­mals die Diskriminierung von Privatper­sonen gegenüber Indígenas unter Strafe zu stellen, und um die staatlichen Institutio­nen zu verpflichten, die gesetzliche Gleichheit effek­tiv umzusetzen. Dies be­inhaltet auch die Schaffung einer Staats­anwaltschaft zur Verteidigung der Rechte der Indígenas.
16. Dieser Punkt wird mit dem Allgemei­nen Gesetz über die Rechte der indiani­schen Kommunen, mit der Verfassungsre­form des Bundesstaates Chiapas, mit der neuen Wahlkreisaufteilung, mit den diver­sen Refor­men der Justizverwaltung, mit der Steuer­übereinkunft zwischen der Regie­rung und den Kommunen in Chiapas und mit der Schaffung neuer Gemeinden in­nerhalb der jetzigen Landkreise Oco­singo und Marga­ritas beantwortet.
17. Es werden Reformen der Verfassung von Chiapas vorangetrieben werden, Refor­men des Gesetzes, das die Organe der Rechtsprechung in Chiapas regelt, Refor­men der Landespolizei in Chiapas und an­dere Verordnungen mit dem Ziel:
– Gerichtsstandorte festzulegen, die mit der Gebietsaufteilung der indigenen Kommunen zusammenfallen. Ziel ist, daß die örtlichen Richter auf Vorschlag der Gemeinden selbst ausgewählt wer­den. Dadurch soll garantiert wer­den, daß die Richter Indígenas sein können, oder von ihnen respektierte Ju­risten, die die Gesetze und gleichzeitig die Ge­wohnheiten und Ge­bräuche kennen und diese bei ihrer Entscheidung mit einbe­ziehen.
– [Paralleles auch für öffentliche Dienste und Arbeitsgesetzebung]
– Es wird eine Verwaltung zur Verteidi­gung der Indígenas geben. [Indígena-Beauftragter] Deren Leitungsgremien müssen zweisprachig sein und die indi­genen Rechte genau kennen. Der Be­auftragte wird durch das Landesparla­ment von Chiapas auf Vorschlag der indigenen Kommunen gewählt.
– Es wird eine vollständige Überprü­fung der rechtlichen Situation jener Personen geben, die als Ergebnis sozi­aler Kon­flikte im Gefängnis einsitzen, ebenso in allen Fällen von Indígenas, deren rechtliche Situation eine baldige Frei­lassung ermöglicht.
18. Die Existenz würdiger Arbeitsplätze und gerechter Löhne hängt von der Verbesse­rung der Ausbildung ab, von den Investi­tionen zur Steigerung der Produkti­vität, der verbesserten Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer.
Ein ebenso wichtiger Faktor ist eine ver­besserte Organisation und Verteidigung der legitimen Rechte der Landarbeiter.
19. Es werden Entscheidungen getroffen, wie in den indigenen Kommunen teil­weise die Auswirkungen plötzlicher Ver­änderungen des Weltmarktpreises für landwirtschaftliche Produkte ausgeglichen werden können.
Dazu werden, ausgehend von den beste­henden Erfahrungen, Projekte nationaler und internationaler Vermarktung geför­dert, die den Zwischenhandel aus­schalten und in Form von Genossen­schaften die Vermarktung der chiapaneki­schen Agrar­produkte organisieren.
20. Für Chiapas, für Mexiko und für die inter­nationale Gemeinschaft ist die Verpflich­tung zum Schutz der natürlichen Ressour­cen der Region sehr bedeutsam.
Auf diese Pflicht werden die Bundesregie­rung und die internationalen Institutionen, Stiftungen und Ökologie-Gruppen mit ei­ner koordinierten Hilfsaktion zum Tech­nologie-Transfer, Projekten der nachhalti­gen Entwicklung und der Finanzierung des Umweltschutzes reagieren. Ausgangs­punkt ist die Pflege der Umwelt durch die indigenen Kommunen.
21. [Der Punkt ist nicht genau zu verstehen, ohne den Wortlaut der zapati­stischen For­derung Nr. 21 zu kennen. Es geht noch einmal um die Sicherung der Ar­beitsplätze, d.Ü.]
22. Zusammen mit den sozialen Organisatio­nen, den Gemeinden und der Regierung wird ein Programm durchge­führt werden, daß die Ernährungslage von Kindern bis sechs Jahren mit deutlichen Mangeler­scheinungen verbessert. Grund­lage ist die lokale Landwirtschaft. Mit der Verbesse­rung der Infrastruktur und des Transports von Waren durch die indige­nen Gemein­den selbst soll die Versorgung verbessert werden. Gemeinschaftliche Einkaufslä­den, die die Zwischenhan­delsmargen minimieren und daher ge­rechtere Preise anbieten können, werden gefördert.
23. Am Tage nach der Unterzeichnung ei­nes Friedensabkommens wird das Amnestie­gesetz in Kraft treten. Darunter fallen alle Personen, gegen die aufgrund des Kon­fliktes in Chiapas ein Strafverfah­ren er­öffnet wurde. Es werden alle not­wendigen Maßnahmen getroffen, um die betroffenen Personen innerhalb einer Wo­che nach In­krafttreten des Gesetzes auf freien Fuß zu setzen.
Des weiteren wird eine Kommission eine vollständige Überprüfung der Fälle aller Indígenas und Bauernführer vornehmen, die sich in Haft befinden und nicht unter das Amnestiegesetz fallen. Sie wird die rechtlichen Schritte empfehlen, um die Fälle zu lösen, deren rechtliche Situation eine baldige Freilassung erlaubt.
24. [Bezugnahme auf vorangegangene Punkte zur Durchsetzung allgemeiner Rechte der Indígenas]
25. Als Teil der Friedensvereinbarungen wer­den die Opfer, die Witwen und Wai­sen, die der Konflikt hinterlassen hat, finan­zielle Unterstützung erhalten.
26. [Hierzu sagt Camacho nur, die Forde­rung Nr. 26 sei durch alle anderen angespro­chenen Punkte erledigt, d.Ü.]
27. Der derzeitige Strafkatalog des Bundes­staates Chiapas wird aufgehoben. Es wird ein neuer ausgearbeitet, dessen Zielset­zung der Respekt vor den individu­ellen und politischen Rechten ist, und der zu ih­rer Ausübung volle Rechtssicherheit bie­tet.
28. In das neue Strafrecht wird die Vertrei­bung von Indígenas aus ihren Ge­meinden aufgenommen werden. Durch schnellen und effektiven Dialog oder durch die An­wendung des Rechtes werden neue Ver­treibungen verhindert werden.
29. Eine der wichtigsten Impulse, die heute aus Chiapas kommen, ist, die Situa­tion der Bäuerinnen und Indígena-Frauen zu verbessern. Von der Situation in der Familie und bei der Arbeit bis zur Be­teiligung an der Gemeinschaft und der kulturellen Entwicklung.
A Kliniken im Rahmen des schon vorge­stellten Gesundheitsprogrammes
B Mit den Kommunen zusammen werden Kindergrippen aufgebaut werden.
C [Lebensmittelprogramm]
D [Einrichtung von Volksküchen]
E [Aufbau von Mühlen und Backöfen]
F [Förderung der Kleintierzucht]
G [Kleine Bäckereien]
H [Förderung des Kunsthandwerks]
I [Technische Ausbildung der Indígena-Frauen]
J [Bau von Vorschulen]
K [Förderung des Transportwesens und damit der Selbstorganisation der Frauen]
30. Mit diesen Übereinkünften sollen die ent­standenen Spannungen überwunden wer­den. Der Geist des Friedens und der Ver­ständigung soll alle Chiapaneken bei der Lösung politischer Fragen einbezie­hen.
31. Mit dem Friedensabkommen, den in die­sem Angebot enthaltenen Entscheidun­gen und dem Amnestiegesetz wird nicht nur das Leben der Mitglieder der EZLN re­spektiert, sondern es wird auch garan­tiert, daß es keine Strafprozesse oder repressi­ven Aktionen gegen EZLN-Mit­glieder, Kämpfer, Sympathisanten oder Kollabo­rateure geben wird.
32. [Betrifft die Menschenrechte:] Es ist meine Meinung, daß die Bildung der Na­tionalen Menschenrechtskommission (CNDH) in der Art, wie die Verfassung und die Gesetze sie vorsehen, ein wichti­ges Instrument für die Verteidigung der Rechte gewesen ist.
Weitergehende Fortschritte bei der Einbe­ziehung der Zivilgesellschaft in der CNDH oder in anderen Modalitäten zum Schutz der Menschenrechte werden Teil eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses ab Dezember 1994 sein.
33. Unter noch festzulegenden Bedingun­gen wird die Regierung die Bildung einer “Nationalen Kommission für einen ge­rechten und würdigen Frieden” unterstüt­zen. Diese Kommission wird eine Schlüs­selrolle spielen und die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachen.
34. Humanitäre Hilfe für die Opfer des Kon­fliktes wird über die Vertreter der indige­nen Kommunen verteilt werden.

Nachtrag:
A: Zur Bearbeitung ähnlicher Forderun­gen aus anderen indigenen Regionen des Landes wird die “Nationale Kommission für die integrale Entwicklung und die so­ziale Gerechtigkeit der Indigenen Völker” in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Bundesstaaten und den betroffenen Kommunen ähnliche Programme ausar­beiten.
B: Die bundesstaatlichen und kommuna­len Regierungen werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit die indige­nen Kommunen in grundlegender Weise an der Definition der sie betreffenden Entwicklungsprogramme teilnehmen kön­nen. Bei der Überwachung der ihnen zu­gedachten Ressourcen sollen soziale Kontrollorgane geschaffen werden, die von den Betroffenen kontrolliert werden.
C: Für die Erfüllung der Übereinkünfte, die sich auf die regionalen Entwicklungs­projekte beziehen, wird durch eine Verfü­gung des Prä­sidenten eine dezentrale und autonome öf­fentliche Institution geschaf­fen.
Diese Institution wird über ein Regie­rungsorgan verfügen, das sich aus den Vertretern der indianischen Kommunen zusammensetzt, Vertretern der Bundesre­gierung und aus Bürgern von anerkanntem moralischem Prestige und erwiesenem Engagement in der Arbeit mit indiani­schen und ländlichen Kommunen.

Anti – Lula verzweifelt gesucht

Die Nummer 1 der Bürgerlichen, Fer­nando Henrique Cardoso, allgemein als FHC ab­gekürzt, war bisher Wirt­schaftsminister und hat jetzt seine Kandi­datur offen ver­kündet. In einem anderen, längst vergan­genen Leben war FHC ein leibhaftiger Vordenker der Dependenz­theorie und scharfer Kriti­ker des brasilia­nischen Kapitalismus. Heute jedenfalls ist er die erste Wahl bei der Besetzung der Rolle des “Anti-Lulas”. Er kandidiert für die PSDB, die Partei in Brasilien, die sich am inten­sivsten um ein “modernes” und “sozialdemokratisches” Image bemüht und die für viele in der PT als der wichtigste potentielle Bündnispartner angesehen wird. Im Augenblick bahnt sich allerdings ein ganz anderes Bünd­nis an. Die PFL (“Partei der liberalen Front”) biedert sich recht unverblümt an. Ein problematischer Bündnispart­ner für das moderne Image der PSDB, denn das inhaltliche Profil der PFL ist schwer auszumachen. Als Ab­spaltung der Partei der Militärs wurde sie erst 1985 gegründet, so daß sie rechtzeitig den Absprung schaffte, um mit der dama­ligen Opposition 1985 die erste zivile Re­gierung zu übernehmen. Architekt des un­erwarteten Bündnisses ist der Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes, ein wahrer Überlebenskünstler der brasiliani­schen Politik. Noch 1992 ge­hörte er zu den letzten, die den korrupten Collor im Amt halten wollten.
Die Avancen der PFL werfen ein Schlag­licht auf die politische Situation Brasi­liens. Sie sind Ausdruck dafür, wie schwierig es für das rechte Lager ist, einen populären Kandidaten ins Rennen zu schicken. Alle Umfragen deuten darauf hin, daß kein Kandidat, der klar dem kon­servativen Lager zuzuordnen ist, in einem wahr­scheinlich notwendi­gen zweiten Wahl­gang eine Chance gegen Lula hätte. Die PFL will an­scheinend auch eine Lehre aus dem Desaster von 1989 ziehen. Da­mals hatte die Zer­strittenheit des bürgerli­chen Lagers dazu geführt, daß sich nur noch der linke Lula und der “newcomer” Collor als Alternative stellten. Lula ist also nur mit ei­nem Kandi­daten zu schla­gen, der in den zweifelhaf­ten politischen Zuord­nungen zumindest imagemäßig das Mitte-Links Spektrum repräsentiert.
Dafür ist FHC ideal. Ein jovialer Intel­lektueller mit linker Vergan­genheit, ein erfahrener Politiker und be­sonnener Ver­mittler, eben ein “concilador” (“Ver­söh­ner”); beliebt bei der Presse, den Unter­nehmerInnen und weiten Teilen der Mit­telschicht. Das große Pro­blem FHCs ist, daß sich mit diesem Image zwar Sympa­thie, aber kein Wahl­kampf gewinnen läßt. Das war die deutliche Lehre von 1989 für die PSDB. Über die Aussichten FHCs wird letzlich nur eins entscheiden: der Er­folg des Wirtschaftsplanes (vgl. LN 237), der seinen Namen trägt. Gelingt es dem Nachfolger FHCs im Amt des Wirt­schaftsministers, mit Hilfe des Plans die Inflation zu senken, ohne das Land in eine schwere Wirtschaftskrise zu stür­zen und ohne allzu drastische Einkommensver-luste, dann hat FHC sehr gute Chancen, Lula zu schlagen. Doch sollte der Plan ins Schlingern geraten, ist der hoffnungs-vollste “Anti-Lula” erledigt und damit wohl auch die Chancen des bürgerlichen Lagers, den Wahlsieg Lulas zu ver­hindern.
Die entscheidende Phase des Wirt­schaftsplans beginnt im Mai, wenn aus der an den Dollar gebundenen Rech­nungseinheit URV die neue Währung Brasiliens werden soll. Im Grunde läuft der Plan auf eine abgefederte Dollari­sierung hinaus. Er wird, und das unter­scheidet ihn von der Situation in Argenti­nien, von einer Regierung durchgeführt, die sich in den letzten Monaten ihrer Amtszeit befindet, der ein schwacher und unentschlossener Präsident vorsteht, und deren wichtigste personelle Stütze nun in den Wahl­kampf zieht. Die Gefahren für den Plan sind also insbesondere politi­scher Natur. Gegenwind im Parlament würde der Plan nicht überleben. Die of­fene Unterstützung von Präsident Itamar Franco für Cardoso macht die Sache nicht einfacher: Die Regierung steht im Wahl­kampf und braucht gleichzeitig politische Unterstützung. Nun wird auch klar, warum die PSDB das Angebot der PFL kaum ablehnen kann: Ohne schlag­kräftige Unter­stützung aus dem rechten Lager hat der Wirtschaftsplan (und damit die Kandi­datur von Fernando Henrique Cardoso) wenig Chancen. Problema­tisch ist aller­dings für die PSDB, daß damit ihr “mo­dernes” Image erheblich angekratzt wird und ein Teil der Partei wohl diese Kehrt­wende nicht mit­macht. Immerhin, alle an­deren Kandi­daten haben große Chancen, über­haupt kein Risiko für Lula zu werden.

Nr. 2 und 3: Die Problemkinder

Die PMDB, hervorgegangen aus der MDB, der legalen und offiziösen Opposi­tionspartei zu Zeiten der Mili­tärdiktatur, ist nach wie vor die größte politische Par­tei Brasiliens. Aber aus einer Bewegung, die einst auch große Teile der linken Op­position vereinte, ist inzwischen ein kon­turloser Wahl­verein geworden, der aber noch in vielen Teilen des Landes die lo­kalen Eliten organisiert. Es ist nur na­türlich, daß die größte Partei Brasiliens einen eigenen Kandidaten präsentiert. Und sie hat einen Politiker, der mit aller Macht Kandidat der Partei sein will: Orestes Quercia, Ex-Gouverneur von Sao Paulo. Und Quercia ist das große Problem der PMDB. Er ist vielleicht der geschickteste Politiker Brasiliens, sicherlich aber einer der skrupellose­sten und korruptesten. Galt er nach seiner recht populären Amtszeit in Sao Paulo als absolutes Schwergewicht in der brasilianischen Politik, so machen ihm seit zwei Jahren nachträgliche Enthüllun­gen der Presse das Leben schwer. Insbe­sondere hängt ihm ein Waffengeschäft mit Israel nach, bei dem für hunderte von Millionen US-Dollar überteuerte Waffen für die Polizei von Sao Paulo gekauft wurden.
Aber Quercia ist zäh und beherrscht große Teile des Apparates der PMDB. Nur ist seine Kandidatur in Zeiten, in denen nach den traumatischen Erfah­rungen mit Collor Politiker gefragt sind, die nicht korrupt sind, äußerst verwundbar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die PMDB sich wieder einmal selbst im Wege steht: Der Machiavellist Quercia hat große Chancen, sich in der Partei durchzusetzen, aber nicht beim Wahl­volk. Außer­dem ist klar, daß eine Kandidatur Quercias die Partei spalten würde, da der “progressive” Flügel wohl eher FHC als Quercia unterstützen würde.
Dabei könnte gerade dieser Flügel der Partei den idealen “Anti-Lula” auf­bieten: Antonio Britto, der als Arbeitsminister der jetzigen Regierung einen ausgezeichneten Eindruck machte, liegt bei den meisten Umfra­gen schon auf Platz zwei hinter Lula. Viele halten eine Liste FHC/Britto für unschlagbar. Und Britto hätte den Vorteil, ungefähr das gleiche Image zu verkörpern wie FHC, ohne aber so stark von dem Erfolg des Planes ab­hängig zu sein. Einziger Haken: Er ist nicht Kandi­dat und hätte es wohl auch schwer, sich in der PMDB gegen Quercia durchzusetzen. Der schießt auch schon mit hartem Kali­ber ge­gen Britto, bezeichnet ihn als Gau­ner und ließ ermitteln, Britto sei als fünfzehnjähri­ger(!) wegen eines angebli­chen Dieb­stahls von der Schule geflogen. Britto selbst will anscheinend lieber Gouver­neur in einem Bundesstaat werden, als sich auf das Abenteuer Präsident­schaftswahlkampf einzulassen. Geriete aber FHC frühzeitig ins Schlingern, könnte er doch noch als Joker des “Mitte-Links Lagers” ins Ren­nen ge­schickt wer­den.
Ein anderer hingegen zweifelt nicht und ist Kandidat. Paulo Maluf, Bür­germeister von Sao Paulo und starker Mann der PPR, die aus der Partei der Militärs hervorge­gangen ist. Er reprä­sentiert den rechten Flügel des bürger­lichen Lagers und profi­liert sich durch einen lautstarken “law and order”-Dis­kurs. Er ist sicherlich die unerfreulich­ste Erscheinung im Wahl­kampf, und glücklicherweise reicht seine Populari­tät kaum über Sao Paulo hinaus. Aber wenn es ihm gelingt, die Wahlen mit Hilfe des Themas “Innere Sicherheit” zu polarisieren, könnten seine Wahlchancen doch noch steigen. Die Strategen im bür­gerlichen Lager befürchten allerdings, daß Maluf im zweiten Wahlgang die allerwe­nigsten Chancen gegen Lula hätte.

Die PT: Streits und Hetze

Es kann nicht verwundern, daß das bür­gerliche Lager mit schweren Ge­schützen auf Lula schießt. Ein Gewerkschafter, Ar­beiterführer und Chef einer Partei, die sich zum Sozia­lismus bekennt, als künfti­ger Präsident Brasiliens?! Nachdem eine Schmutz­kampagne gegen den der PT naheste­henden Gewerkschaftsverband CUT – ein Mord wegen persönlicher Aus­einandersetzungen sollte der PT in die Schuhe geschoben werden – nicht recht greifen wollte, schwenkt die Presse auf eine andere Linie ein. Lula, der als Super­star dargestellt wird (Luis Ignacio “Sinatra” da Silva), ist zwar po­litisch un­erfahren (kein administratives Amt bis­her), aber eigentlich ein guter Kerl. Böse hingegen sind die Radika­len in der PT, die “Schiiten”, welche die Partei beherrschen und Lula dominie­ren wollen. Die inner­parteilichen Aus­einandersetzungen, die es in der PT zweifelsohne gibt, werden von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet.
Dem hat die PT auch durch nutzlose Streitigkeiten Vorschub gelei­stet. Zuerst ging es um die Frage der Bündnisse, vor allem mit der PSDB. Der “rechte” Flügel der Partei wollte unbedingt schon im er­sten Wahlgang eine Allianz mit dem bür­gerlichen La­ger eingehen, die aber schon aus man­gelndem Interesse der anderen Seite gar nicht zur Debatte stand. Zum an­deren wollte die Parlamentsfraktion der PT unbedingt an der Verfassungsre­form mitwirken, die die Partei boykot­tiert. Re­sultat: ein endloses Gezerre zwischen Fraktion und Parteivorstand, ein gefun­denes Fressen für die Presse.
Die Hauptlinie aber zeichnet sich schon ab: Die PT soll als Partei eines archai­schen und gescheiterten Sozia­lismus er­scheinen, deren Machtergrei­fung ein Abenteuer wäre, das Brasilien auf jeden Fall erspart werden müßte. Und die PT reagiert da bisher eher negativ: Insbeson­dere Lula (“Lula 94”) versucht sich als se­riös und moderat zu verkaufen: Die Suche nach der Mehr­hit bestimmt die Politik.

Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten

Bisher war mehr von Image- und Design­fragen die Rede als von Inhal­ten. Nicht ohne Grund. Tatsächlich sind inhaltliche Differenzen im bürger­lichen Lager in den großen Fragen kaum noch auszumachen. Der Präsi­dent der PFL, Jorge Bornhausen (Ex-Minister unter den Militärs und Col­lor) beschreibt die programmatischen Grundlagen seiner Partei folgender­maßen: “Wir wollen die Verkleinerung des Staa­tes. Wir wollen die Privatisie­rung. Wir wollen einen modernen Staat, in dem der Bürger respektiert wird, und der sich um Erziehung, Ge­sundheit und Sicherheit kümmert.” Hinter diesem Mainstream­motto steht wohl das gesamte bür­gerliche Lager. Die relativ beliebi­gen Bündnisse zeigen schon die fehlenden inhaltlichen Konturen. Zerstritten bleibt das bürgerli­che Lager, aber dabei geht es eben darum, Macht und Einfluß zu sichern, und nicht um gesellschaftliche Grundkon­zepte.
Aus diesem Schema bricht – trotz al­lem – die PT deutlich heraus. Sie be­müht sich um eine breite programma­tische Diskus­sion innerhalb der Partei und sucht ernst­haft nach ein Konzept für linke Politik heute in Brasilien. Sie hat deshalb mehr verdient als süffisante Randbemerkungen. Zum 1. Mai wird auf einem Parteitag der PT das Regie­rungsprogramm des Kandi­daten Lula diskutiert und verabschiedet werden.

Von Einigkeit weit entfernt

Der folgende Artikel stellt die internen Gegensätze dar, die die haitianische De­mokratiebewegung seit Jahren kennzeich­nen. Wir haben den Beitrag in leichtge­kürzter Fassung der US-amerika­nischen Wochenzeitschrift NACLA (Reports on the Americas) vom Januar/Februar dieses Jahres entnommen.
An einem kalten Wochenende im vergan­genen Oktober scharten sich die Führungspersönlichkeiten der haitiani­schen Basisbewegungen um den exilierten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, um eine Bestandsaufnahme ihrer Bewegung zu machen. Ihre Überlegungen mündeten in durchaus unterschiedliche Einschätzun­gen. Einerseits war es durch ihre Wider­stand und Mobilisierungskraft gelungen, daß die Wiederherstellung der Demokratie in Haiti auch noch zwei Jahre nach dem Staatsstreich an der Spitze der internatio­nalen Tagesordnung steht. Doch wie be­grenzt die Stärke der Bewegung ist, kann andererseits daraus abgelesen werden, daß die Militärjunta nach wie vor die Macht in den Händen hält, eine Welle brutaler Un­terdrückung die Volksorganisationen vollkommen in den Untergrund zu drän­gen droht und alle Strategien zur Lösung der Krise ohne die Beteiligung der Basis in Konferenzsälen ausgearbeitet werden.

Die Anfänge der Lavalas-Bewegung

Ein häufig zitiertes haitianisches Sprich­wort sagt: “Hinter diesem Berg liegen noch mehr Berge.” Dieses Sprichwort spiegelt die Geschichte der haitianischen Volksbewegung wider. Aus dreißig Jahren des Terrorregimes Duvalier ging die Be­wegung mit einem geringen Organisa­tionsgrad hervor und kämpft auch heute noch gegen ein als schier unüberwindbar erscheinendes Vermächtnis der Marginali­sierung an. Die Bewegung entstand aus Zusammenschlüssen basiskirchlicher Gruppen, bäuerlicher Organisationen, Gewerkschaften, studentischen Interes­senvertretungen und Nachbarschaftsverei­nigungen. Die Mobilisierung der Massen wurde stets als Mittel angesehen, um re­volutionäre Veränderungen herbeizufüh­ren und eine wahrhaft partizipative De­mokratie durchzusetzen. Mit Hilfe von Demonstrationen, Streiks, Landnahmen, geschriebenen und audio-visuellen Publi­kationen sowie dem gelegentlichen Ge­brauch der “Volksgerechtigkeit” haben die Basisorganisationen Forderungen vertre­ten, die von einer Landreform bis zur Autonomie der Universitäten reichen.
Die Wirksamkeit der Bewegung wurde durch eine Mischung aus direkter Verfol­gung, chronischer Geldnot und politi­schem Opportunismus geschwächt. Hinzu kommt die Strategie der USA zur Verein­nahmung von Führungspersönlichkeiten der Basisbewegungen und das Fehlen einer politischen Partei oder Organisation, die notwendig wäre, um die Forderungen in eine gezielte Strategie umzusetzen.
Neben diesen Hindernissen leidet die haitianische Basisbewegung unter der Auseinandersetzung mit dem reformi­stisch orientierten Teil der breiter ange­legten “demokratischen” Bewegung in Haiti. Dem Lager der ReformistInnen, das aus PolitikerInnen, Intellektuellen und Mitgliedern der wirtschaftlichen Elite be­steht, geht es vor allem darum, eine Formaldemokratie im Zuge von Wahlen und oberflächlichen Reformen durch­zusetzen. Obwohl die ReformistInnen sich der Duvalier-Diktatur widersetzten, teilen sie doch nicht die langfristig auf radikale Veränderungen ausgerichtete Vision des neuen Haitis, wie sie von der Basis ver­treten wird.
Nach Monaten unverminderter Massen­mobilisierung setzte sich am 7. Februar 1986 Jean-Claude “Baby Doc” Duvalier in einem US-Jet nach Frankreich ab. Erneut strömten die Massen auf die Straßen – die­ses Mal, um zu feiern. Das gemeinsame Fest drückte die Mannigfaltigkeit der aus taktischen Gründen geschlossenen Allianz gegen die Diktatur aus. Landlose Bäuerin­nen und Bauern tanzten an der Seite von Großgrundbesitzern, und BewohnerInnen von Armenvierteln feierten neben Indu­striellen.
Nach dem Sturz der Diktatur schien alles möglich. Der Geschmack nach Freiheit steigerte den Appetit auf Gerechtigkeit und den Wunsch, gemeinsam für grundle­gende Veränderungen zu sorgen. Zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren fanden die Forderungen der verarmten Bevölke­rungsmehrheit Widerhall in einer Fülle von Basisorganisationen, die neu gegrün­det wurden oder aber aus dem Untergrund kamen. Um den Einfluß der verhaßten AnhängerInnen Duvaliers zu brechen, wurde ein Zusammenschluß über alle ideologischen und sozialen Schranken hinweg angestrebt.

Das Erbe der Duvalier-Diktatur

Selbstverständlich endete die Diktatur nicht mit der Flucht Duvaliers. Baby Doc hatte den Stab an den “Duvalieristischen Nationalen Regierungsrat” (CNG) weiter­gegeben, einer sechsköpfigen Junta unter der Leitung des Generals Henri Namphy. Noch immer regierten lokale Militär­machthaber in ländlichen Gebieten, ohne juristisch für ihr Terrorregime belangbar zu sein. Die öffentliche Verwaltung war durchsetzt mit korrupten zivilen Ange­stellten, und die paramilitärischen tontons macoutes verfügten nach wie vor über Schlüsselpositionen in der Regierung. Fritz, ein bekannter Kämpfer während der vergangenen zwanzig Jahre, erklärt: “Wir alle wurden Zeugen von Duvaliers Ab­gang. Theoretisch war dies das Ende von Diktatur und Gewaltherrschaft. Doch dann bemerkten wir, daß Duvalier nur die Spitze des Eisberges gewesen war und daß wir in allen Bereichen mit der Mobilisie­rung fortfahren mußten.”
Eines der Instrumente in dieser Mobilisie­rung war Dechoukaj. Wörtlich übersetzt heißt das “entwurzeln” und wird oft gleichgesetzt mit der sogenannten “Halskrause”, der Hinrichtung durch einen brennenden Autoreifen. Dechoukaj bein­haltete mehr als die Volksjustiz in den Straßen. Tatsächlich war sein wichtigster Aspekt politischer Natur. Bauern und Bäuerinnen schlossen sich zusammen, um die Gewaltherrschaft der Militärs in den ländlichen Gebieten zu beenden. Stu­dentInnen kämpften darum, den staatli­chen Einfluß auf die Universitäten zu bre­chen. Die Bevölkerungsmassen strömten nicht nur zusammen, um die tontons macoutes zu beseitigen, sondern auch die politische Maschinerie, die diese genährt hatte.
Die Mitglieder der Volksbewegungen wa­ren davon überzeugt, daß Dechoukaj helfen könnte, die reale Macht den An­hängerInnen Duvaliers, sowie den Eliten des Landes zu entreißen. Tatsächlich waren es diese Überlegungen, die das re­formistische Lager am meisten ver­schreckten. Dessen SympathisantInnen zogen aus dem damaligen status quo ihren Nutzen und fürchteten, von der militante­ren Basis zur Rechenschaft gezogen zu werden, sollte sich Dechoukaj als politi­sches Instrument durchsetzen. Im Verein mit den von Duvalier ernannten Bischöfen begannen die ReformistInnen mit einer Öffentlichkeitskampagne, in der sie vor allem den Aspekt der Straßen-Justiz un­terstrichen und zu nationaler Versöhnung aufriefen. Bevorteilt durch die Verfü­gungsgewalt über größere Ressourcen und durch die Kontrolle der Medien ver­mochten sie es, Dechoukaj zur Mitte des Jahres 1986 zum Halten zu bringen. “Immer wenn die Leute mobilisiert wa­ren”, beklagt sich Fritz, “waren diese Ty­pen eher dazu bereit, hinter verschlosse­nen Türen mit den Militärs zu verhandeln, anstatt unmißverständlich zur Tat aufzuru­fen. Anstelle von Aufrufen an das Volk, weiterhin Druck mit ihren Forderungen auszuüben, gaben sie versöhnliche Erklä­rungen ab. Manchmal hatten wir den Ein­druck, sie würden in uns größere Feinde als die Macoutes sehen.”
Demokratisches Kleinbürgertum gegen sozialrevolutionäre For­derungen
Eine haitianische Volksweisheit warnt davor, daß ein leckes Haus zwar die Sonne, jedoch nicht den Regen betrügen könne. Anfang 1987, ein knappes Jahr nach dem Sturz Duvaliers, wurden die Gegensätze zwischen den revolutionären Idealen des militanten Lagers und den kleinbürgerlichen Tendenzen der Refor­mistInnen offenbar. Während Einigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer neuen Landesverfassung und von Neu­wahlen bestand, wurde darüber gestritten, ob diese Schritte auch unter dem repressi­ven Klima der noch unter Duvalier eingesetzten Militärjunta unternommen werden sollten.
Im Januar 1987 wurde ein breites Spek­trum demokratischer Gruppen zur Teil­nahme am Kongreß der “Demokratischen Bewegung Haitis” (KONAKOM) eingela­den. Dieser Kongreß, der den Grundstein für eine politische Mitte-Links-Partei legte, erarbeitete eine Plattform, in der eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung gefordert wurde. Der militante Teil der Volksbewegung war skeptisch und erkannte in den Forderungen nach einer neuen Verfassung und nach Neu­wahlen ein Manöver, um grundlegende Veränderungen zu verhindern. Im März rief die kurz zuvor gegründete “Nationale Volksversammlung” (APN) zum Boykott der Wahlen und der Volksabstimmung über die neue Landesverfassung auf. Andere Gruppen, wie beispielsweise die “Bewegung der Bauern von Papay”, be­fürworteten die neue Verfassung trotz all ihrer Schwächen.
Nachdem die neue Verfassung im März verabschiedet worden war, drehte sich die interne Auseinandersetzung um die für den November vorgesehenen Wahlen. Selbst diejenigen, die sich für die Wahlen aussprachen, zweifelten an der Aufrich­tigkeit der Militärjunta. Das Massaker an über dreihundert für eine Landreform streitenden Bäuerinnen und Bauern aus Jean Rabel im Juli bestätigte dieses Mißtrauen und verstärkte die Forderungen nach einem völligen Boykott des Wahl­prozesses. Kirchliche Basisgemeinden aus Port-au-Prince forderten die Menschen dazu auf, “weiterhin gegen die Wahlen mobilisiert zu bleiben, deren Ergebnisse niemals die grundlegenden Probleme des Volks lösen werden.” Doch je näher der Wahltermin rückte, desto mehr veränderte sich diese Haltung, bis dazu aufgerufen wurde, mit den AnhängerInnen der Dik­tatur durch Wahlen aufzuräumen.

Armee erstickt Wahlen im Kugelhagel

Die Armee reagierte mit ihrer ganz spe­ziellen Art des Aufräumens, indem sie WählerInnen massakrierte, die ihre Wahl­scheine abholen wollten. Während die Volksbewegung kurzfristig zurückwei­chen mußte, brachte der Abbruch des Wahlprozesses die Volksbewegung in ihrem langfristigen Kampf voran, denn nur allzu deutlich wurden die Grenzen der reformistischen Strategie in der Auseinan­dersetzung mit den AnhängerInnen der Duvalier-Diktatur. “Die Reformisten brauchen die Mobilisierung auf den Straßen immer dann, wenn sie unter Druck stehen”, sagt Fritz. “Doch sobald sie den Rücken frei von den Macoutes haben, suchen sie den Schulterschluß mit der Bourgeoisie, um jeden tiefergehenden Wandel zu blockieren. Immer sagen sie Dir, daß es nicht darum gehe, Dich zu bremsen. Sie sagen, Du seist unrealistisch, ein Extremist, ein Purist. Aber wenn die Macoutes wieder auftauchen, schreien sie ganz schnell nach Hilfe.”
Zwei Militärstreiche und eine gefälschte Wahl hatten stattgefunden, ehe die Volks­bewegung im März 1990 die Straßen er­neut eroberte und den damaligen Macht­haber General Prosper Avril aus dem Amt jagte. Doch wiederum war der Sieg nur von kurzer Dauer. Die entstandenen poli­tischen Freiräume wurden von den Re­formistInnen besetzt, die eine unheilige Allianz mit der Interims-Präsidentin Ertha Pascal-Trouillot, einer Duvalieristin, eingingen.
“Nachdem wir uns den Kugeln der Mili­tärs ausgesetzt hatten und der Aufruhr Avril gekippt hatte, nahmen diese Schlips- und Anzugtypen das Steuer in die Hand”, erklärt Calixte, eine Führungspersönlich­keit der “Koordinierung der Volksorgani­sationen”. “Sie teilten uns mit, daß unsere Teilnahme im Demokratisierungsprozeß beendet sei und die Sache von nun an in klimatisierten Räumen verhandelt werde, in denen wir nicht willkommen seien.” Ein zwölfköpfiger vorübergehender Staatsrat, der gemeinsam mit Trouillot re­gierte, wurde gegründet, um Wahlen vor­zubereiten. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, den Forderungen der Bevölkerungsmehr­heit zu entsprechen, verlor diese Regie­rung sehr schnell jegliches Vertrauen.
Nach all den gesammelten Erfahrungen trug diese neue Erfahrung zur weiteren Radikalisierung der Volksbewegung bei. Da die politischen Eliten in erster Linie damit beschäftigt waren, sich für die Zeit nach den Wahlen einzurichten, ließ sich die Bevölkerungsmehrheit nicht ködern und verhielt sich gleichgültig gegenüber den Wahlen.

Aristides Kandidatur verleiht Volksbewegung neuen Schwung

Als Aristide in letzter Minute das Rennen um die Präsidentschaft aufnahm, änderte sich diese Haltung. Nur sieben Monate zuvor hatten sich die ReformistInnen noch geweigert, den populären Geistlichen zum Kandidaten zu machen. Angesichts der Rückkehr des exilierten Duvalier-Hardli­ners Roger Lafontant und der mit Geld aus den USA finanzierten Wahlkampagne des ehemaligen Weltbankmitarbeiters Marc Bazin griffen die ReformistInnen nun auf Aristide zurück. Diese Entschei­dung erwies sich als brillanter Schachzug, denn die Zahl der registrierten WählerIn­nen stieg mit über einer Million sprung­haft um das Doppelte an.
Dies war die Geburtsstunde der “Operation Lavalas”, die von Anfang an ein Zweckbündnis zwischen der Volks­bewegung, aus der Aristide kam, und den gegen die tontons macoutes gerichteten Eliten war. Die wichtigste Organisation dieser Eliten war die “Nationale Front für Wandel und Demokratie” (FNCD), deren legalen Status Aristide auf seinem Weg zur Präsidentschaft benutzte. “Was zählt”, so Aristide bei der Verkündigung seiner Kandidatur, “ist zu wissen, wann die Stunde zu einer taktischen Übereinkunft gekommen ist, um den tontons macoutes Einhalt zu gebieten.”
Es überraschte nicht, daß innerhalb der Lavalas-Allianz sehr bald erste Spannun­gen auftraten. Der ursprünglich von der FNCD vorgesehene Kandidat, Victor Benoit von der “Demokratischen Bewe­gung Haitis”, kritisierte Aristide wegen dessen angeblichen “politischen Abenteu­rertums” und rief die Parteimitglieder dazu auf, sich aus dem Vorbereitungspro­zeß für die Wahlen zurückzuziehen. Die­ses Mal behielt jedoch das militante Lager die Oberhand. Mit einem legitimierten Vertreter der Volksmassen, der in die politische Debatte eingriff, war es den Re­formistInnen nicht länger möglich, die Vorgehensweise der Allianz zu bestim­men. Während die FNCD danach trach­tete, eigene KandidatInnen im Wind­schatten Aristides in öffentlichen Ämtern unterzubringen, sahen die Volksorganisa­tionen den Urnengang als ein Vehikel zur Mobilisierung an und ließen keinen Zwei­fel an ihrer Bereitschaft, die Wahlen im Zweifelsfall zu boykottieren. “Entweder werden wir auf ganzer Linie siegen, oder aber die Wahlen kategorisch ablehnen”, warnte Aristide.

Formaler Bruch mit dem Klein­bürgertum

Am 4. Februar 1991 – drei Tage vor seiner Amtseinführung – kündigte Aristide den Übergang von der “Operation Lavalas” zur “Organisation Lavalas” an. Seine Ab­sicht war deutlich: der Aufbau einer unab­hängigen politischen Struktur aus der Massenmobilisierung des Volkes heraus. Dies bedeutete den Bruch mit der FNCD, die nun der Gefahr ausgesetzt war, ihren Einfluß an eine konkurrierende Partei zu verlieren, die den Wahlerfolg sich alleine zuschreiben würde. Da die Führungsper­sönlichkeiten der reformistischen FNCD die Geschicke des Bündnisses nicht länger bestimmen konnten, verwandelten sie sich in erbitterte GegnerInnen Aristides, und hatten maßgeblichen Anteil an der Desta­bilisierung der neuen Regierung.
Nach dem Amtsantritt der ersten demo­kratisch gewählten Volksregierung Haitis war die Zeit reif Strukturen der Basisor­ganisationen zu stärken. Ben Dupuy, stellvertretender Direktor der Wochenzeit­schrift Haïti Progrès und Gründungsmit­glied der “Nationalen Volksversammlung” (APN) erklärt: “Unter Aristides Präsident­schaft bestand das Ziel der APN darin, den Menschen bewußt zu machen, daß obwohl wir formal die Macht errungen hatten, die fortschrittsfeindlichen Kräfte noch immer stark waren, und daß es keine Garantie für den Bestand der damaligen Situation gab. Die Menschen mußten also die neugewonnenen Freiräume tatsächlich nutzen, anstatt nach schnellen Lösungen zu suchen oder persönliche Ziele zu ver­folgen.” Trotz des Vorteils, den Präsiden­ten zu stellen, stand die Bewegung bald neuen Schwierigkeiten gegenüber. Ver­führt von persönlicher Eitelkeit oder Geld, verließen verschiedene Führungspersön­lichkeiten die Volksbewegung, um Posten im Regierungsapparat zu übernehmen. Obwohl immer mehr Basisorganisationen entstanden, mangelte es vielen, insbeson­dere in der Hauptstadt, an einem tatsächli­chen Rückhalt in der Bevölkerung. Viel­fach wurden sie von OpportunistInnen geleitet, denen in erster Linie an Macht und Status gelegen war.

Putsch verbannt die Massen aus der politischen Arena

Der Staatsstreich vom September 1991 kam gnadenlos. Sein wichtigstes Ziel bestand darin, die Volksbewegung zu zer­schlagen und die Massen aus der politi­schen Arena zu verbannen. Um der Re­pression zu trotzen, griff das haitianische Volk auf die marronage zurück, eine Form des Widerstands aus dem Untergrund heraus, die tief in den geschichtlichen Wurzeln des Kampfes gegen die Sklaverei verwurzelt ist. Nach der Exilierung des Präsidenten, der damit den Kontakt zur Basis verlor, beherrschten die reformisti­schen Strömungen innerhalb der Lavalas-Bewegung zusehends die politischen Geschicke. Sie setzten nahezu ausschließ­lich auf international vermittelte Ver­handlungen zur Bewältigung der Krise. Viele innerhalb der Volksbewegungen waren sehr argwöhnisch gegenüber dieser Strategie. Ein Sprecher der Bewegung der Landbevölkerung, Chavannes Jean-Baptiste unterstreicht: “Nur die Hitze der massenhaften Mobilisierung wird den Topf der internationalen Verhandlungen zum Kochen bringen.” Nathan, ein Stu­dent aus Petit Grove, erklärt resigniert: “Immer dann, wenn wir bereit waren los­zuschlagen, verstärkte die internationale Gemeinschaft ihre Verhandlungsbe­mühungen, und wir alle wurden zurück in den Untergrund geschickt, um abzuwar­ten. Wenn es nicht gerade irgendwelche Sanktionen waren, wurde eine Beobach­terdelegation der Vereinten Nationen oder der Organisation der Amerikanischen Staaten entsandt, und das Spiel des Ab­wartens begann aufs Neue.”

Kritik an Aristides Verhand­lungsführung

Als die internationale Diplomatie Aristide zu immer weiteren Zugeständnissen drängte, wuchs auch die Kritik an dessen Verhandlungsführung. Die Volksbewe­gungen empfanden vor allem das Schwei­gen der ReformistInnen zu Plänen einer internationalen militärischen Intervention als bedrohlich. Als das Abkommen von Governor’s Island unterzeichnet wurde, das den Rücktritt der Anführer des Staats­streiches sowie die Rückkehr des exilier­ten Präsidenten vorsah, drückte die Volksbewegung einerseits ihre Unter­stützung für Aristide aus. Andererseits kritisierte sie das Abkommen und bezwei­felte die Bereitschaft des haitianischen Militärs und der internationalen Staatengemeinschaft, den Vertrag auch tatsächlich zu erfüllen.
Das Scheitern des Abkommens bestärkte die Überzeugung der Volksbewegung, daß es unmöglich sei, auf Hilfe von außen zu warten, anstatt die eigenen Kräfte zum Sturz des Militärregimes zu mobilisieren. Diskussionen über neue Formen des Kampfes und einen aktiveren Widerstand spielen eine immer gewichtigere Rolle bei der Suche nach Möglichkeiten, Resigna­tion in die Bereitschaft zum entschlosse­nen Vorgehen zu verwandeln, um auch die internationale Solidarität neu zu bele­ben. Die ReformistInnen stehen nun vor dem Dilemma, entweder mit einer vor allem eigene Interessen verfolgenden in­ternationalen Gemeinschaft zu paktieren, oder aber ein taktisches Bündnis mit den Volksbewegungen einzugehen, die sich immer mehr radikalisieren. Während die ReformistInnen in früheren Zeiten immer wieder die Massen dazu benutzten, die Macht zu erobern, schrecken sie heute vor dem Rückgriff auf diese Strategie zurück. Sie spüren, daß die beiden Jahre des Widerstands die militanten Kräfte inner­halb der Lavalas-Bewegung gestärkt haben und befürchten, die Forderungen nach tiefgreifendem Wandel nach dem Sturz des Militärregimes nicht unter Kon­trolle halten zu können.
Der Gegensatz zwischen den beiden großen Tendenzen innerhalb der Lavalas-Bewegung dauert fort. Es ist jedoch die Volksbewegung, die an Stärke gewinnt. Ein Bauernführer drückt es so aus: “Mit zunehmender Repression nimmt auch unser Kampf unterschiedliche Formen an – je nach den entsprechenden Umständen. Sollte die Straße dornenreich sein, wissen wir, welche Schuhe zu tragen sind. Gelan­gen wir an einen Fluß, sind wir bereit zu schwimmen. Aber vor allem werden wir den Kampf nicht aufgeben, denn er ist unsere einzige Chance auf eine bessere Zukunft.”

“Auf jeden Fall gewinnen”

Im Juli 1993 hatte eine “Gruppe der 29” in der sandinistischen Partei gefordert: “Die FSLN muß den Kampf des Volkes in klarer Distanzierung von dieser Regierung anführen.” Damals war das inoffizielle “Mitregieren” der FSLN in eine Krise geraten, weil die Regierung in Fragen der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu keinen Zugeständnissen bereit war. In der FSLN wurde diskutiert, ob sie die Führung bei den sozialen und gewerkschaftlichen Protesten übernehmen sollte, oder ob eine Reform des Staatsapparates einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise eröffnen würde, und sich damit gleichzeitig größere Chancen für eine Regierungsübernahme der FSLN bieten könnten. Die Parteiführungsgremien trafen keine prinzipielle Entscheidung.
Und sie verfolgen unterschiedlichen Linien: Die FSLN-Fraktion unter Führung von Sergio Ramirez, unterstützt von einem Teil der Nationalleitung, näherte sich an die Teile der zerfallenden U.N.O.-Parteienallianz an, die dazu bereit waren. Ziel: Sicherung der notwendigen Stimmen für eine Reform der Verfassung – gegen eine Verfassungsgebende Versammlung, die alles komplett neu formulieren würde. Obwohl die beabsichtigten Reformen mit einer gewissen Distanzierung von der Regierung verbunden zu sein scheinen – deren Kompetenzen beschnitten werden sollen -, ist die Parteilinke doch hellhörig geworden angesichts einiger Äußerungen des FSLN-Fraktionsvorsitzenden Sergio Ramirez bezüglich der verfassungsrechtlichen Regelungen zur Wahl des Präsidenten. In einem Abkommen, daß im November vergangenen Jahres mit der U.N.O. geschlossen wurde, heißt es nämlich zur Frage der Wiederwahl des Präsidenten, dieser könne nach “einmaligem Aussetzen” durchaus wieder kandidieren. Und gerade diese Passus wertete Ramirez lediglich als “Bezugspunkt”. Damit löste er Spekulationen aus, er wolle Daniel Ortega – der ja gerade eine Präsidentschaftsperiode “aussetzt” – aus dem KanditatInnenkreis ausschließen und eine mögliche eigene Kandidatur oder die Antonio Lacayos im Rahmen einer bürgerlich-fortschrittlichen Wahlallianz begünstigen.
Auf der anderen Seite profilierte sich FSLN-Generalsekretär Daniel Ortega als Fürsprecher der sozialen Bewegungen und sandinistischen Gewerkschaften. Ortegas Prestige ist eng mit den wenigen Erfolgen und vielen Niederlagen der sozialen Protestbewegung verbunden. Die für Sergio Ramirez äußerst günstigen und für Daniel Ortega nicht gerade hervorragenden Ergebnisse der letzten Beliebtheitsumfragen spiegeln dies wider.
In der FSLN scheint sich jedoch die Meinung durchzusetzen, daß eine Kandidatendiskussion jetzt schädliche Auswirkungen auf die gesamte Partei haben würde. FSLN-Nationalleitungsmitglied Tomás Borge warnte davor, mögliche Kandidaten durch eine verfrühte Personaldebatte zu verheizen. Zunächst müsse geklärt werden, mit welchen programmatischen Aussagen die FSLN sich den WählerInnen präsentieren will, um dann zu entscheiden, welcher Kandidat sie glaubwürdig vertreten kann. Alle Meinungsströmungen in der FSLN erklären, die FSLN müsse bei den nächsten Wahlen wieder die Regierung übernehmen. Denn “sonst bleibt überhaupt nichts mehr von dem übrig, was in zehn Jahren sandinistischer Regierung geschaffen wurde”, erklärte José Pasos, Mitglied der Gruppe der 29 und dienstältester Funktionär der FSLN-Auslandsabteilung DRI. Laut Pasos müßte man sich notfalls auch mit der “halben” Macht begnügen, das heißt die Regierungsgewalt mit anderen politischen Kräften teilen und bei der Kandidatenwahl Rücksicht auf mögliche Koalitionspartner nehmen. Darin sind sich wohl rechte wie linke SandinistInnen einig.
Allgemeiner Usus einer parlamentarischen Opposition ist, als Präsidentschaftskandidaten entweder den Fraktionsführer oder ein Vorstandsmitglied aufzustellen. So gewinnt die Frage der neuen Führungsgremien der FSLN zusätzlich zur innerparteilichen Demokratisierung an Bedeutung. Sogar der FSLN-Nationalleitung selbst ist klar, daß dieses Organ durch eine neue Führungsstruktur ersetzt werden muß. Wie die aber aussehen soll, ist noch offen. FSLN-Nationalleitungsmitglied Luis Carrión, Leiter der Kongreß-Statuten-Kommission, schlug die Wahl eines “Nationalen Rates” mit bis zu 25 Mitgliedern vor, der seinerseits jährlich ein “Exekutivkomitee” wählen sollte. Vor allem die linke Meinungsströmung ist mit dieser indirekten Wahl des Exekutivkomitees nicht einverstanden und setzt sich für dessen direkte und geheime Wahl auf dem Kongreß ein.
Alle FSLN-Flügel erklären, die inhaltlichen Fragen, also Programm und Statut, müßten den Vorrang vor personellen Entscheidungen haben. Aber angesichts der pragmatischen Politik der FSLN seit 1990 haben zwei Personen Fakten geschaffen. Was heute diskutiert wird, ist im wesentlichen eine Synthese dessen, was die Caudillos Daniel Ortega und Sergio Ramirez vertreten, gemeinsam oder gegeneinander.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

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