Der zivile Widerstand in Chiapas

1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den be­waffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfäl­schung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Ant­wort der Indígena-Völker in verschie­denen Gegenden des Bundesstaates Chia­pas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zi­vilen Un­gehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregie­rung soll ihre verfassungsmäßigen Pflich­ten erfüllen. Da­mit vertieft sich der chia­panekische Kon­flikt, er wird zur nationa­len Angelegen­heit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehor­sam ist bekanntermaßen ein Bün­del von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze über­treten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Unge­horsams des­sen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und fried­lichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapa­nekischen Be­völkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedli­chen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Po­litik der Zentral­regierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundes­staat auf­zwingen will. Sie organi­sieren den wich­tigsten zivilen Ungehor­sam in der Ge­schichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unse­rem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Aus­nahmefällen. Daher gewinnt die Entschei­dung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wur­den blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung auf­zuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Prä­sidentschaftswahlen 1988 hat der dama­lige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wah­len am 6. Juli von seiner Parteispitze ge­stoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art ver­sucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wie­der dazu, diese Maßnahmen aufzu­geben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Poli­tiker vor den diesjäh­rigen Wahlen bekräf­tigt, sie würden Aktionen zivilen Wider­stands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wah­len am 21. August wurde deut­lich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentral­macht alle Rechte vorenthalten ha­ben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstver­ständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Re­gierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Land­besetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Au­tonomie tritt jetzt die Forderung, den­jenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dach­verbandes unabhängiger Bauernorganisa­tionen Coordinadora Estatal de Organi­zaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Ge­meinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauern­verbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Par­tido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäu­ser von Simojovel, Huitupan und Soyaló be­setzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, de­mokratischer Weise eine Regierung her­aus, die während ihrer gesamten sechsjäh­rigen Amtszeit die soziale Realität in un­serem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderun­gen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort be­sprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im In­nern nie zu tun pflegt. Da sich Don Clau­dio X. zur Zeit nicht auf mexikani­schem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu er­klären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investiti­onsprojektes zu lösen. Ähnlich wie ver­schiedene indianische Verwaltun­gen in den USA plane die mexikanische Regie­rung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er er­läuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen wür­den irgendwann auch die Indígenas profitie­ren, da sie ja Aktien er­werben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Ange­sichts der Sprachlo­sigkeit der Reporter bat der Unter­nehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chia­paneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokra­tisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Er­klärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Men­schenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zwei­schneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nach­zukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig sau­bere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Aus­maßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzu­setzen, einen Helfershelfer früherer Regie­rungen und einen Büttel der Großgrund­besitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden ver­kündet und gleich­zeitig die umfangreichste Kriegsmaschi­nerie der mexikanischen Ge­schichte in einem einzi­gen Bundesstaat zusammenge­zogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitäts­ferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unter­händler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen ein­zigen Zapati­sta auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beob­achtungs-Camps in der Nähe der Militär­sperren behauptete Madrazo, einen Bei­trag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegen­teil hindeutet. Die abtretende Re­gierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerpro­teste und des Drucks der Weltöffentlich­keit von ihrer Vernich­tungspolitik ablas­sen, verfolgt jedoch wei­terhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu wider­setzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazi­kentum zu konsolidie­ren, die Sozial­ausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdöl­vorkommen – den multinationalen Kon­zernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlö­sung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indí­gena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Auto­nomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Re­gierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Opti­mismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurz­sichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositions­kandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Inter­essen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächti­gen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapaneki­schen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen einge­setzten, unabhängi­gen Wahlprü­fungs­gerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas wer­den muß, um den Prozeß des demokrati­schen Über­gangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und eini­ger PRD-Politiker – keiner Verhand­lungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deut­liche Schlußfolgerungen ziehen. Der so­ziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln be­gonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Des­halb sind wir verpflichtet, ihnen zu ant­worten. Und ihnen zu antworten be­deutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kol­lektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Kon­vention (CND) Mexikos.

Der diskrete Charme des Neoliberalismus

Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letz­ten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entschei­dende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswah­len entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirt­schaftsminister ausgearbeitet und als Kan­didat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflati­onsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produk­ten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für bra­si­lianische Verhältnisse schon wun­der­same Stabilisierung entschied offen­sicht­lich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform ein­ge­leitet, sondern ein Schauspiel zu Wahl­kampf­zwecken aufgezogen, lief offen­sicht­lich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancie­rung des Plano Real ist wohl ein Lehr­stück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht wer­den kann, in dem die Mehrheit der Be­völke­rung von den Segnungen des Real­kapita­lismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance ver­wehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offen­sichtlich die Wirkung des Planes unter­schätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unter­stützt wurde Cardoso massiv von den Me­dien, allen voran dem mächtigen Fernseh­sender Globo, und der derzeitigen Regie­rung, die neue Zuversicht im Lande ver­breiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahl­kampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelli­genter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung er­hielt. So erklärten die Ikonen der brasilia­nischen Musik Caetano Veloso und Gil­berto Gil ihre Präferenz für Cardoso, le­diglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bür­gerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kan­didaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, ver­tritt dennoch den Anspruch, die sozialde­mokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapi­talismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisie­rung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont viel­mehr, daß die aktive Rolle eines effekti­ven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Unge­rechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitspro­gramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhält­nisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg er­möglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der libera­len Front”), der zweitgrößten Partei Brasi­liens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs for­miert hatte. Die PFL ist weniger eine po­litische Partei mit programmatischen Aus­sagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensicht­lich selbst keinen eigenen Kandidaten auf­stellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit ge­schickter und flexibler als die anderen bür­gerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kan­didaten und die Unterstützung in den wirt­schaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefähr­dete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Mo­dernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen kei­neswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klien­tilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glau­benssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzu­stände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr ge­wählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabili­sierungsplanes vor den Wahlen war si­cherlich der Hauptgrund für die Nieder­lage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regie­rung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen ge­gen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeits­migrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und admini­stra­tive Er­fahrungen, das sei kein Typ für das Prä­si­dentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annä­hernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzet­tel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich verei­nigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Ein­zel­kandidatur bestritt, erreichte über­raschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität wa­ren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das po­litische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerli­chen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT ge­rade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hier­zulande genannt werden), die angeblich die Partei beherr­schen, haben eine größere Akzep­tanz Lu­las verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zu­weisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundes­deutschen Presse über die Ausein­ander­setzungen innerhalb der Bündnis­Grünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Lin­ken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokrati­sche Fahr­wasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist ent­standen und gewachsen als eine Formie­rung jenseits und gegen sozialdemokrati­sche und orthodox-kommunistische Strö­mungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotz­kis­ten, über Ökoso­zialisten bis hin zu sozial­demokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Wider­sprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Bra­silien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grund­positionen ausmachen: für die Par­teilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grund­sätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Bra­si­lien und dem vom IWF oktroierten neo­libe­ralen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als kon­sequente Re­formkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Ver­teilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivi­le­gierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Ortho­doxie beherrscht, die es ihnen zum Bei­spiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminali­sierung der Abtreibung aus dem Pro­gramm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Po­sitio­nen innerhalb der Partei ver­teidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasi­lien ratsamer als gegen­seitige Schuldzu­weisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Prä­sidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorIn­nen wählen (bisher 1), und in drei Bun­desstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem so­zialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens be­einflussen kann. Mit einer gestärkten Par­lamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konse­quente Oppositionspolitik gegen das neo­li­berale Modernisierungsprojekt zu or­ga­ni­sieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zu­letzt an den starken sozialen Be­wegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organi­siertes Wider­stands­potential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im or­ganisierten Sektor der Ge­sellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Inte­grationskraft für die brasilianische Gesell­schaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenz­ten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwik­kelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen po­litische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren las­sen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits er­wähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsi­denten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Wider­stand ge­gen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio ge­wählt, kennzeich­nete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative In­kom­pe­tenz, explodie­rende Gewalt und ein zu lange durchge­haltenes Bündnis mit dem un­säglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Dis­kurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernseh­sender Globo und den IWF ge­rieten im­mer mehr zur Politfolklore. Über­raschen­derweise hat aber seine Par­tei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis er­zielt. In Paraná wurde der populäre Ex­bür­ger­mei­ster von Curtiba, Jaime Lermer, be­reits im ersten Wahlgang zum Gouverneur ge­wählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem ge­wann die PDT in Mato Grosso (in einem brei­ten Bündnis, das auch die PT ein­schloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahl­gang. Der Kan­didat in Sâo Paulo ist ein wüster De­magoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandida­ten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat re­alistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilia­nischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine prag­matische Op­position zu Cardoso wei­ter zu ei­ner mögli­chen Alternative bei des­sen Scheitern zu entwickeln. Garotinho we­nigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Bra­siliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durch­gang geschei­tert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird im­mer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken de­generieren, ohne nationale Kraft.

Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)

Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sek­toren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahl­kampagne gelang es nicht, ein re­alisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozial­politik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und In­flationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsen­tiert und waren unfähig, der konkreten Exi­stenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne ge­macht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”

Kasten 2

Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbe­sondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbei­ten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Par­tei haben. Dasselbe gilt für die Unter­nehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampa­gne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommu­nalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodo­xen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”

Kasten 3

Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Oppo­sition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit ge­funden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten her­aus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.

“Eine große Lähmung ist spürbar”

Hinnerk Berlekamp: An schlechten Nachrichten aus Kuba herrscht derzeit kein Mangel. Wo bleibt das Positive?
Bert Hoffmann: Wenigstens eine gute Neuigkeit habe ich mitgebracht: Zum er­sten Mal seit einer halben Ewigkeit ist der Dollarkurs auf dem Schwarzmarkt nicht im Steigen, sondern er stagniert bei 1:80 bis 1:100. Das ist zwar noch immer kata­strophal, für einen Monatslohn kann man ganze drei Dollar eintauschen, aber die Abwärtstendenz ist erstmals durchbrochen worden – ein Ergebnis der Sparprogramme und der Sanierungsmaßnahmen der Regie­rung. Nun ist fraglich, ob dieses psycho­logische Signal Bestand haben kann, wenn durch Clintons neueste Maßnahmen aus dem Ausland keine Dollars mehr überwie­sen werden dürfen und entsprechend we­niger Dollar in Kuba zirkulieren. Trotz­dem: Der stabilere Wechselkurs ist ein bemerkenswerter Erfolg…
…und gleichzeitig liefern sich am 5. Au­gust Polizei und DemonstrantInnen in Havanna die erste Straßenschlacht seit dem Sieg der Revolution. Ist die vielzi­tierte “letzte Stunde Castros” ange­brochen?
Diese letzte Stunde Fidel Castros wird immer wieder beschworen und zieht sich seit Jahren endlos hin. Die Unruhen vom 5. Ausgust und die anschließende Massen­flucht sind ganz sicher eine enorme Bela­stungsprobe für die Regierung in Havanna. Paradoxerweise haben sie aber kurzfristig eher zu einer Stabilisierung des Systems geführt.
Andererseits hat aber der 5. August die lange aufgestaute Unzufriedenheit der KubanerInnen in bisher nicht dagewese­ner Weise sichtbar gemacht. Ist er also doch eine Zäsur?
Auf jeden Fall markiert dieser Tag in Kuba politisch einen Bruch. Die Reaktio­nen auf den Aufruhr – vor allem die Mas­senflucht – haben das noch einmal unter­strichen. Außerdem gibt es mit dem 5. August jetzt zum ersten Mal ein Datum, von dem die Leute sprechen. Die “Ereignisse vom 5. August” haben sich als Begriff eingeprägt, das Datum ist in ge­wisser Weise zum Symbol geworden.
Ich habe den Eindruck, daß dieser 5. August aber auch einen Schock in der Bevölkerung hinterlassen hat, der sich in die Formel pressen läßt: Alles – aber bloß keine Gewalt, bloß kein Bürgerkrieg.
Ja, die Unruhen waren ein Schock, und die Gesellschaft verdaut daran noch. Der 5. August hat gezeigt, was viele bisher nur ahnten: daß nämlich die latenten Konflikte in Kuba durchaus sehr gewaltsam ausge­tragen werden kön­nen. Hinzu kommt, daß fast jedeR in der eigenen Familie Leute kennt, die bei einer Konfrontation wie der an jenem Freitag auf der einen und auf der anderen Seite stehen würden. Bisher fun­ktionierte wunderbar diese Taktik, daß jede Familie möglichst ihren Draht zum Schwarzmarkt hatte und auch ihren Draht in die “offiziellen Systeme” wie etwa die Partei, und beides zusammen ergab eine Art Überlebensstrategie für die Familie. Jetzt aber haben sich diese verschiedenen Ele­mente zum Teil mit Knüppeln und Steinen gegenübergestanden.
Hat der 5. August die kubanische Gesell­schaft polarisiert, hat er sie in zwei Lager gespalten?
Nein, vielmehr hat er die schon vorher vorhandene Spaltung deutlich gemacht und verfestigt. Noch ist es allerdings nicht soweit, daß sich die Menschen entschei­den müssen, auf welcher Seite sie stehen. Man geht zur Arbeit und, wenn die Mas­senorganisationen rufen, auch auf die Plaza; man wurstelt sich weiter durch. Was am 5. August kurzzeitig sichtbar wurde, ist erst einmal wieder unter der Decke des Alltags verschwunden. Statt dessen ist eine große Lähmung spür­bar.
Das Problem der Gewalt ist damit aber nicht vom Tisch.
Gerade für diejenigen, die auf mehr Tole­ranz in Kuba, auf eine wie auch immer geartete Öffnung oder Demokratisierung gesetzt haben, hat der 5. August eine er­schreckende Erkenntnis gebracht: daß nämlich die Regierung auf die Sprache der Gewalt reagiert. Die Unruhen haben schlagartig zu einer deutlichen Änderung der Politik geführt. Sie waren der Auslöser dafür, daß die Grenzen geöffnet wurden. Sie haben auch – ähnlich wie die viel ver­streuteren Ausschreitungen im August 1993 – zu einer sofortigen Aufhebung der Stromsperren zumindest im Zentrum von Havanna geführt. Wochenlang gab es ohne Unterbrechung Licht, zum erstenmal seit über einem Jahr sind wieder Fleischrationen verteilt worden. Auf den Gewaltausbruch von unten hat die Regie­rung mit der Peitsche, aber eben auch mit dem Zuckerbrot reagiert. Doch wenn man immer wieder Lektionen erhält, wie un­wahrscheinlich wenig sich auf friedlichem Wege bewegen läßt in Kuba, ist diese Lehre, daß man mit Gewalt Dinge verän­dern kann, umso schrecklicher.
Machen sich die Castro-Gegner jetzt Hoffnungen, mit neuen Gewaltaktionen könnte die Regierung zu “kippen” sein?
Ich weiß es nicht. Die meisten derer, die einen Systemwechsel wollen, verspüren wenig Lust, für dieses Ziel die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Viele warten auf irgend etwas, von dem sie aber nicht wissen, woher es kommen könnte und wie es aussehen sollte. So tun sie auch nichts Konkretes in irgendeiner Richtung, weil sie auch nicht wissen, was sie eigentlich tun sollten. Ich würde von einer “Eindimensionalität der Regierung” spre­chen. Gerade das aber hat das Gefühl ei­ner furchtbaren Ausweglosigkeit zur Folge, die zu der jetzt spürbaren “Rette-sich-wer-kann-Stimmung” führt. Das ist auch das Fatale an der Strategie der USA: Sie setzen einzig und allein auf das Schü­ren der Krise, darauf, daß die Situation unkontrollierbar wird, ein Volksaufstand ausbricht…
…und was tatsächlich passiert, ist zunächst eine Massenflucht.
Eine soziale Explosion ist keine Perspek­tive, die die Leute für sich akzeptieren. Niemand will die Rolle der Toten spielen. Also gehen sie lieber raus, steigen auf die Flöße. Da bleibt ein Risiko, aber wenig­stens hat man damit die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg.
Ich will nicht die Verzweiflung der “balseros”, der Bootsflüchtlinge, klein­reden oder mir ein Urteil über ihre Mo­tive anmaßen. Aber ist nicht eine Portion Hysterie mit im Spiel, wenn Leute, die nie auch nur versucht haben, schwim­men zu lernen, sich plötzlich in einen Autoreifen setzen und hoffen, bis Florida paddeln zu können?
Ich stimme Dir soweit zu, daß da eine Dynamik am Wirken ist, ein Sog, der dazu geführt hat, daß junge Männer zwischen 17 und 35 fast schon eine Erklärung brau­chen, warum sie zu “feige” sind, um auch zu gehen.
In Havanna?
In Havanna und auch in den kleineren Orten an der Nordküste von Mariel bis Matanzas; Ortschaften wie etwa Guanabo oder Cojímar sind schon halb “entleert”. Es geht also nicht allein um ein Phänomen der Großstadt, sondern zumindest jener Bereiche, die eine geographische Nähe zum Golfstrom haben, der die Flöße in Richtung Florida treibt.
Ich würde aber behaupten wollen, daß der von Dir beschriebene Sog im Rest des Landes entschieden schwächer ausfällt.
Dazu kann ich aus erster Hand nichts sa­gen, aber sicher ist die Lage in den Pro­vinzen weniger kraß als in und um die Hauptstadt.
Glaubst Du, daß die Fluchtwelle in ab­sehbarer Zeit abebben wird?
Die Fluchtbewegung wird tendenziell abebben, und zwar aus mehreren Grün­den. Diejenigen, die am dringendsten das Bedürfnis hatten, zu gehen, sind gegan­gen. Zweitens wird es immer schwieriger, Flöße zu bauen. Immerhin sind gegen­wärtig schon 30.000 Leute losgefahren, und so leicht ist es ja nun auch nicht auf der Insel, immer neue LKW-Schläuche zu beschaffen. Die Preise für Fahrzeuge und Zubehör sind erheblich gestiegen. Es wer­den “schwarz” Überfahrten auf Booten or­ganisiert und verkauft, aber zu Preisen von bis zu fünf- oder zehntausend Dollar. Und wer erst einmal so viel Geld hat, der braucht auch gar nicht raus aus dem Land, sondern lebt auch in Kuba schon relativ bequem in den dortigen Dollarwelten. Auch die US-Politik wird natürlich dazu beitragen, da゚ die Fluchtwelle abebbt. Die drohende Internierung auf hoher See auf­gegriffener Flüchtlinge in der US-Flotten­basis Guantánamo hat bereits etli­che ab­geschreckt.
Hinzu kommt, daß sich eine Alternative anbahnt: In New York verhandeln ge­genwärtig die USA und Kuba über eine neue jährliche Einwanderungsquote, die 20.000 oder auch mehr KubanerInnen eine Chance zur legalen Übersiedlung nach Miami geben könnte.
Ein völliges Ende des Flüchtlingsstroms ist auch mit einer großzügigeren Gewäh­rung von Einreisevisa für die USA fürs er­ste nicht zu erwarten. Es herrscht zuviel Mißtrauen, daß man überhaupt nicht an ein Visum herankommt und daß die ersten Visa an die in Guantánamo Festsitzenden gehen werden, womit die Quote schon ausgeschöpft wäre. An vielen Stellen be­gegnet man einem Gefühl von Klaustro­phobie: Wir kommen hier nicht raus.
Die Ereignisse vom 5. August haben primär dazu geführt, daß sich ein Ventil geöffnet hat; daß durch die Fluchtwelle Druck abgelassen werden konnte. Wie wird es weitergehen, wer wird profitieren können von dieser Situation: Die Refor­mer innerhalb der Führung: “Wir müs­sen endlich schnellere Veränderungen durchführen, ehe der Kessel explodiert?” Oder die Konservativen beziehungsweise Orthodoxen: “Jetzt haben wir ja gese­hen, wohin die Liberalisierung führt”?
Zunächst ist die Situation für alle Seiten bedrohlich. Personen mit recht guten Kontakten zu höheren Regierungskreisen haben mir sinngemäß gesagt: Die Krise ist in der Beziehung sehr gefährlich, daß der soziale Konsens in der Bevölkerung verlo­rengeht. Zwar redet die offizielle Rhetorik weiterhin von ein paar asozialen Elemen­ten und Kriminellen, doch es wird sehr wohl wahrgenommen, daß man es nur mit der Spitze eines Eisbergs zu tun hat. Die Unzufriedenheit hat mittlerweile auch breite Teile der Bevölkerung erfaßt, die traditionell die Revolution mitgetragen haben und es zum Teil heute noch tun, wenn auch inzwischen in gebrochener Form. Und insofern, denke ich, wird die jetzige Krise zwei Konsequenzen haben. Erstens wird die Argumentation der Re­former gestärkt, die sagen: Wir müssen zuallererst die Nahrungsmittelproduktion ankurbeln. Dazu sind Veränderungen nö­tig, zumal die Nahrungsmittelernte dieses Jahr so schlecht war wie nie zuvor.
Heißt das, die freien Bauernmärkte kommen wieder, auf denen die Einzel­bauern ihre Überschüsse zu selbstge­wählten Preisen anbieten konnten, bis Fidel Castro 1986 die Märkte höchstper­sönlich dichtmachte?
Es ist davon die Rede, daß in absehbarer Zeit eine leicht abgeänderte Form von Agrarmärkten eingeführt werden soll, auf denen dann zumindest ein Teil der Pro­dukte wieder frei gehandelt werden wird – zu Preisen, die weit über denen der sub­ventionierten Rationierungskarte, aber unter denen des Schwarzmarktes liegen dürften. Andere Maßnahmen werden fol­gen. Ich denke aber, sie werden sich alle in einem engen, von der Vorsicht diktier­ten Rahmen bewegen. Einen tatsächlich freien Bauernmarkt wird es kaum geben, der Staat wird in der Rolle des Zwischen­händlers bleiben, die Preise kontrollieren und dirigieren, Mengen festsetzen und dergleichen.
Und die zweite Konsequenz?
Zweitens wird für die Regierung neben vorsichtigen Reformschritten auch die im Zweifelsfall repressive Absicherung der Macht notwendiger, sei es über die Ko­mitees zur Verteidigung der Revolution (CDR), sei es über die “Brigaden der schnellen Antwort” oder die Staatssicher­heit, die in den letzten Wochen ständig in Alarmbereitschaft waren. Der 5. August und die folgende Massenflucht können also zu einer politischen Verhärtung und gleichzeitig zu einer wirtschaftlichen Re­formöffnung führen. Im Falle eines Falles weiß man jetzt, daß man hart reagieren muß. Aber parallel dazu wird man wohl versuchen, die Unzufriedenheit halbwegs im Zaume zu halten und die wirtschaftli­che Situation durch Reformen zu verbes­sern.
Mit welcher Politik der USA gegenüber Kuba rechnest Du für die nächsten Mo­nate?
Ich denke, die Konfrontationspolitik Washingtons, die Fortführung und Ver­schärfung der Embargobestimmungen hat eine mögliche Lösung des kubanischen Dilemmas erheblich erschwert. Trotzdem scheint mir wahrscheinlich, daß zumindest über die Auswanderungsfragen ein Ab­kommen erzielt wird.
Aber an ein Umdenken bei Clinton nach den Kongreß- und Gouverneurswahlen Anfang November, an eine plötzliche Aufhebung der Blockade glaubst auch Du nicht?
Es wird schon schwer genug sein, Clinton zur Rücknahme der von ihm auf dem Hö­hepunkt der Krise zusätzlich verhängten Maßnahmen zu bringen: das Verbot von Geldüberweisungen aus dem Ausland, die Reduzierung der Flüge zwischen Miami und Havanna. Und damit bleibt die Situa­tion verfahrener denn je. Vielleicht wird es pragmatischer zugehen nach den No­vember-Wahlen. Eine echte Tendenz zu einer Lockerung oder Aufhebung des Em­bargos würde ich zwar wünschen, ich sehe sie aber nicht. Es gibt in den USA Kräfte, die in dieser Richtung arbeiten. Ich schätze sie aber als noch nicht stark genug ein, um die jetzige Politik grundsätzlich umzustoßen.

Eine Tragikomödie

“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Par­tei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Haupt­darsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestem­pelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu be­zeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen ein­sichtig und akzeptiert noch in der Wahl­nacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Er­gebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeob­achterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millio­nen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerk­schaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahlti­schen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tin­tenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Li­sten auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinsti­tuts (IFE) durch die Akten der Stimmab­gabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der über­prüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwi­schen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stim­men.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlin­stituts versuchte, die Angriffe zu entkräf­ten und seinerseits die Akten zu überprü­fen. Nachdem zwei von drei Wahlunterla­gen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexi­kanischen Medienstationen mit der Em­pfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergange­nen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Pro­testaktionen von PRD und PAN, Demon­strationen, Straßenblockaden und Beset­zungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen statt­fanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Lände­reien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrin­ken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Re­gierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten in­formierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jah­ren mehrmals auf Bundesstaatsebene an­gewendet wurde: eine Übergangsregie­rung, die im Laufe der nächsten 18 Mo­nate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundes­staaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN er­gab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauh­témoc Cárdenas rief die militante Basis sei­ner Partei auf, einen kühlen Kopf zu be­wahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich han­delt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säu­bern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentie­ren, noch bevor der neue Kongress am 1. No­vember seine Arbeit aufnimmt. Eine neu­gegründete Kommission der Wahr­heitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persön­lichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlag­wort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – dar­auf, den Oppositionsparteien alle Wahl­unterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzu­nehmen. Es gibt Gruppen im Land, be­waffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politi­sche System mit einem Gang zur Wahl­urne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar be­deutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Prä­si­dent­schafts­wahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Er­ne­sto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Pro­zent der Stimmen”, meint Jorge Casta­ñeda, re­nommierter mexikanischer Politikwissen­schaftler. Er ist nicht allein mit der Auf­fassung, daß es für die politi­sche Zukunft des Landes gesünder gewe­sen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hin­zu­ar­bei­ten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Ze­dillo Grund gibt, die Reformen durch­zu­füh­ren, die er während seines Wahl­kamp­fes versprach: Demokratisierung und tief­grei­fende Reformen seiner Partei.

Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce

Während “Nación Purhépecha”, eine re­gionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang sym­bolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirt­schaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bau­ern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdi­gen. Nur in einigen, besonders kämpferi­schen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenisti­schen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeinde­kommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhal­ten Kälber als Geschenk, und die Bewoh­nerInnen des vor ein paar Jahren entstan­denen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Un­regel­mäßig­keiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Du­plikate anzuferti­gen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Ru­bio, der Frau des Kazi­ken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenko­operative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand aus­zuliefern – gegen das Versprechen, Kre­dite für sie zu beantra­gen. Angesichts die­ser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsverspre­chen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute be­fürchten, daß sich die Wahl­situation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Oppo­sition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha trö­stet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbe­obachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kan­didaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr mor­gens bilden sich Schlangen vor den Ur­nen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufin­den, die drei Stimmzettel – für die Prä­sidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszu­füllen und abzugeben und schließlich ih­ren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vor­stand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirk­lich lebende Purhé­pecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Be­sitz eines Wahlaus­weises nicht im Ver­zeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region ver­spricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlka­bine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvor­ständen gelingt es, die Stimmenauszäh­lung ganz ohne ZeugInnen durch­zuführen, fast überall bilden sich Men­schentrauben um die Urnen, um zu ver­hindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Se­kretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereit­stehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Di­strikthauptstadt be­kannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Re­gion – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regie­rungspartei 7 Stimmen errungen hat, ver­sucht eine Patrouille der politischen Poli­zei, die Urne zu entwenden. Die Dorfbewoh­nerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Pa­trouille sich geschlagen gibt. Viele ver­bringen die Nacht in Gruppen um Fernse­her versammelt, um die ersten Hochrech­nungen abzuwarten. Zweifel und Be­fürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informati­onstechnischen Gründen” keine Hoch­rechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentli­chung von Hochrechnungen der Nichtre­gierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regie­rungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demo­kratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Pro­vinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet darauf­hin zum ersten Mal in zehn Jahren unzen­sierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden ange­halten., – “um Cárdenas in den National­palast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regie­rungsinstanzen werden gestürmt. Die Be­amten werden “in den Urlaub nach Aca­pulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Mili­tärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotogra­fieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings ange­sichts der auf­gebrachten BewohnerInnen für die Mili­tärs lebensgefährlich, sie flie­gen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán be­reiten die BlockiererInnen ihren Besu­chern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrau­ber so lange beschossen, bis er hinter der Vul­kankette verschwindet. Eine Versamm­lung wird einberufen. Was soll gesche­hen? Bloß vor den Fernsehern hoc­ken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommuna­len Land­rechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was wür­dest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lä­cherliche PRI-Stimme ein Bett im Kran­kenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaff­nen und ihre Wagen verbrennen? Der be­sonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Za­patistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zuk­kerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Re­gen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber er­zielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Haupt­platzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt ein­zusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Ge­nüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…

Cardoso auf dem Weg ins Präsidentenamt

Plano Real als Königsmacher
Die Antwort ist relativ einfach: Der Erfolg des neuen Wirtschaftsplans ist die primäre Ursache für den Aufstieg von Fernando Henrique Cardoso oder FHC, wie er in Brasilien häufig genannt wird. Dessen Karriere als aussichtsreicher Präsident­schaftskandidat begann im Oktober 1993 als Wirtschaftsminister in der Regierung Itamar. In diesem Amt legte er die Grundlagen für einen neuen Stabilisie­rungsplan, der die zuletzt bei 45 Prozent pro Monat liegende Inflation eindämmen sollte. Aber diesmal war es kein über Nacht erlassener Schockplan, sondern ein transparentes, ausgehandeltes Vorgehen ohne Überraschungen. Cardoso konnte als Wirtschaftsminister nur die Grundlagen für diesen Plan legen, aber dies reichte schon aus, um ihn in den Augen vieler als einzige realistische Alternative zu Lula er­scheinen zu lassen. Im April 1994 mußte FHC aufgrund der brasilianischen Wahl­gesetze sein Amt niederlegen, um offiziell seine Kandidatur für die PSDB – die sich gern als sozialdemokratische Partei Brasi­liens sehen würde – anzumelden. Die Exe­kution des Planes blieb seinem Nachfolger, dem Karrierediplomaten Re­cupero vorbehalten. Am 1. Juli, während der Fußball-WM, trat der Plan in seine entscheidende Phase. Die neue Währung Real ersetzte den maroden Cruzeiro. Wäh­rungsreformen sind in Brasilien allerdings keine Neuigkeit. Der Real ist die siebte Währung Brasiliens seit 1987. Diesmal wurden zwar nicht nur wie sonst lediglich drei Nullen gestrichen und der Name ge­ändert. Die neue Währung ist an den US-Dollar gekoppelt und die Zentralbank ga­rantiert, daß ein Real nicht weniger als ein Dollar wert sein kann. Diese Umstellung einer Wirtschaft, die weit weniger “dollarisiert” war als etwa die argentini­sche vor einer ähnlichen Operation, wurde durch die Einführung einer Rechnungs­einheit (ein URV = ein Dollar) vorberei­tet. Damit sollten die BrasilianerInnen an ein neues und stabiles Preisniveau ge­wöhnt werden. Am 1. Juli wurde schließ­ich die größte Währungsumstellung in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, so die brasilianische Presse. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde die alte Währung aus dem Verkehr gezogen und durch die neuen “Reais” ersetzt. Verständlicher­weise kam es am Anfang zu einigen Um­stellungsschwierigkeiten. Hilflos standen die BrasilianerInnen an den ersten Tagen des Planes vor den neuen Preisen in den Supermärkten und versuchten mit Tabellen und Taschen­rechnern zu ermit­teln, wieviel denn etwa 53 centavos für eine Dose Erbsen seien. Der am letzten Tag des Junis fixierte Umtauschkurs zum Cruzeiro von 1:2750 erleichterte die Rechnerei nicht gerade. Ungewohnt war auch der Umgang mit Münzen, die auf­grund der hohen Inflation fast vollkom­men aus dem Gebrauch ge­kommen waren. Insgesamt vollzog sich nach diesen An­fangsschwierigkeiten die Umstellung aber erstaunlich reibungslos.
Stabile Preise =
Steigende Popularität
Nach zwei Monaten kann nun ein erstes Fazit gezogen werden. Der Wirtschafts­plan hat in den von seinen Schöpfern vor­gegebenen Koordinaten funktioniert. Praktisch alle Preise, mit denen die Nor­malbürgerInnen alltäglich konfrontiert werden, sind seit Inkrafttreten der neuen Währung stabil geblieben. Die Preise für Brot und Reis sind sogar gesunken. Wäh­rungsstabilität ohne Preisstop, das ist schon ein kleines Wunder in Brasilien. Aller­dings wurden die Preise in der Regel auf einem sehr hohen Niveau in den Real um­gewandelt, während für die Löhne ein Mittelwert von vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Am Anfang hielten sich die Klagen über hohe Preise und die Zufrie­denheit mit der Stabilität die Waage. Be­günstigt wurde der Plan durch einen inter­national schwachen Dollar und steigende Kaffeepreise. Überraschend fiel der Dol­larkurs auf 0,89 Real, also weit unter der von der Zentralbank garantierten Parität. Aufgrund des hohen internen Zinsniveaus besteht weiterhin eine hohe Nachfrage auch internationaler AnlegerInnen nach dem Real, was zu dem Verfall des Dollar­kurses führte. Zudem explodierten die Börsenkurse sobald sich der Aufstieg Cardosos in den Umfragen abzeichnete. Unruhe machte sich allerdings in der Re­gierung breit, da der offizielle Inflations­index noch für August einen Wert von 5,5 Prozent anzeigt. Seitdem ist ein Streit um die verschiedenen Indices entbrannt, die alle andere Inflationsraten im Spektrum von von 0 bis 8 Prozent angeben. Die Re­gierung ar­gumentiert, ihr Index spiegele noch die In­flation in Cruzeiro wieder, die Inflation sei also “residual” und nicht ak­tuell. Tatsäch­lich nähern sich Indices, die nur die Ver­braucherpreise nach Einfüh­rung des Reals berücksichtigen, der 0 Pro­zent Marke. Lediglich saison-bedingtes Ansteigen der Obst- und Gemüsepreise wirken sich hier negativ aus.
Der Plano Real erweist sich bisher als ein technisch recht solider Stabilisierungsplan ohne soziale Komponente. Er ist bewußt nicht mit einem Kaufkraftanstieg oder ei­ner Lohnsteigerung verknüpft, um nicht durch eine “Konsumexplosion” die Preis­stabilität zu gefährden. Auf der anderen Seite erweist sich der Plan bisher nicht als rezessiv. Das brasilianische Bruttosozial­produkt wird dieses Jahr wohl um 3 bis 4 Prozent wachsen. Die Anpassung der Preise auf hohem Niveau dürfte für die unteren Einkommensgruppen durch den Wegfall der Inflationsverluste zumindest annä­hernd kompensiert werden, zumal der Mindestlohn zum 1. September von 64 auf 70 Real anstieg. Längerfristige Struktur­schwierigkeiten, die vor allem mit dem Problem der internen Verschuldung zu tun haben, werden sich wohl erst nach den Wahlen einstellen. Auch ist zu fragen, wie lange eine Wirtschaft ein so hohes Real­zinsniveau (etwa 20 Prozent pro Jahr) durch­halten kann. Hier bleibt Brasilien ein Son­derfall einer entwickelten kapitalisti­schen Ökonomie, die fast ohne Kredit funktio­niert.
Ein neuer Optimismus
im Land der Weltmeister
Fernando Henrique Cardosos Popularität wuchs mit und aufgrund des Planes. Des­sen bescheidene und zunächst kurzfri­stige Stabilisierungseffekte haben das Land zwar nicht wie zu den Zeiten des Cruzados in Euphorie versetzt, aber neuen Optimismus wachsen lassen. Da paßte der Gewinn der Fußball-WM gut in die Land­schaft. Die Regierungspropaganda ver­sucht dies auch direkt auszuschlachten: “Wir haben in der WM gesiegt. Nun wer­den wir die Inflation besiegen”, verkünden riesige Plakate allerorten. Der Sieg von Romário und Co. hat das alte Gespenst be­siegt, daß dieses Land einfach zur Er­folgslosigkeit verurteilt sei. Und wie der Erfolg im Fußball nicht den Glanz der Zeiten Pelés wiederbelebte, so ist man in der Politik mit einem Plan zufrieden, der zwar nicht alle Probleme des Landes löst, aber doch ein Stückchen Stabilität bringt. Fernando Henrique versucht mit jeder Fa­ser seines Körpers, insbesondere aber mit seinem Gebiß, diesen neuen Optimismus in Szene zu setzen. Ein lachender und heiterer Kandidat, kaum einmal agressiv gegen seine Gegner, eher mild mitleidig. So präsentiert sich der alte Dependenz­theortiker heute als Protagonist eines breiten Bündnisses, das inzwischen einen guten Teil des Rechten Lagers absorbiert hat. “Er übermittelt die Idee von Sieg, Größe, Glück und Essen im Magen. Der andere (Lula), verkörpert die schmerzhafte Wunde, das Bild des Hungers. Lula ist hervorragend in seiner Analyse. Aber das Volk will keine Analysen hören. Es will Lösungen spüren, an die es glaubt.” So charakterisiert der Politologe Gaudencio Torquato den Gegensatz zwischen Lula und FHC.
Im Land des real existierenden Hungers scheint tatsächlich die schwam­mige Idee eines neuen Aufschwungs eine ausrei­chende Grundlage zu geben, um einen Präsidenten zu wählen. Oder wie es der Filmemacher Caca Diegues (“Bye, Bye Brasil”) formulierte: “Wir lernen wieder Brasilien zu mögen.” Gegen das Sieger­image von Cardoso ist Lula immer­hin überhaupt noch der einzige Kandidat, der ernsthaft Widerstand leistet. Alle anderen, wie Brizola oder Quercia, düm­peln aus­sichtslos bei der 5 Prozent Marke herum, genauso wie der erzreaktionäre Po­li­tik­clown Eneas mit dem Hauptslogan: “Mein Name ist Eneas”.
Die Antwort der PT:
Klagen und Kampf
Der plötzliche Aufstieg des Fernando Henrique hat Lula und seine Arbeiterpar­tei (PT) auf falschem Fuße erwischt. Im Mai hatte die PT noch Hoffnungen ge­hegt, bereits im ersten Wahlgang zu ge­winnen, und unter den Anhänger machte sich eine siegessichere Stimmung breit. Auf der Suche nach den Ursachen für den Niedergang beschuldigt die PT vorwie­gend die Medien, allen voran den dominieren­den Fernsehsender Globo, massiv FHC zu unterstützen. Ebenso kriti­siert sie, daß der Regierungsapparat durch die Propaganda für den Plan mehr oder weniger offen in den Wahlkampf ein­greife. Die Kritik am Plano Real scheint jedoch einfach nicht zu greifen. Zwar rechnen die PT-Ökonomen vor, daß der Plan drastische Lohneinbußen gebracht habe, aber die Linke scheint zu unter­schätzen, daß Stabilisierungserfolge durchaus “Opferbereitschaft” mobilisieren können. Und gegen den oben beschriebe­nen diffusen Optimismus läßt sich an­scheinend nur schwer gegenargumentie­ren.
Noch gibt die PT allerdings die Schlacht nicht verloren. Die Anhängerschaft der Partei (“Militancia”) soll nun verstärkt auf der Straße den Wahlkampf führen. Ziel ist es, wenigstens einen zweiten Durchgang zu ermöglichen um so nach einer ersten Ernüchterung über die Effekte das Planes das Blatt wenden zu können. Der Einsatz der Aktivisten wird allerdings dadurch er­schwert, daß am 3. Oktober auch die Gouverneure sowie Landtags- und Bun­desparlamentsabgeordenete gewählt wer­den. Aufgrund des brasilianischen Wahl­systems sind auch diese Wahlen in höchstem Grade personalisiert, so daß ein großer Teil der AktivistInnen von dem Wahlkampf für seinen/ihren Abgeord­ne­ten absorbiert ist. Jedenfalls will der Schwung und Einsatz, der den Wahlkampf Lulas 1989 charakaterisierte, noch nicht recht aufkommen. Die PT wird es schwer ha­ben, einen Wahlsieg Cardosos zu verhin­dern, wenn nicht noch Unvorher­gesehenes passiert. Was in Bra­silien schließlich keine Seltenheit wäre.

Kasten:

Wirtschaftsminister verplappert sich!

“Ich habe keine Skrupel. Was gut ist, stellen wir heraus, was schlecht ist, verbergen wir,” sagte kein geringerer als Wirtschaftminister Recupero. Zustande kam diese Äu­ßerung hinsichtlich des Wirtschaftsplans im vertrauten Gespräch vor einem Interview mit einem Globo Reporter. Was beide nicht ahnten: Die Satellitenübertragung zwi­schen Brasilia und Rio, nur für den internen Gebrauch von Globo bestimmt, wurde von einigen Parabolantennenbesitzern empfangen und aufgezeichnet. Der Skandal war perfekt. Ricupero gab offen zu, den Regierungsapparat in Unterstützung für Fernando Henrique einzusetzen und bestätigte somit alle Beschuldigungen der PT. Als der ge­samte Wortlaut des Gesprächs bekannt wurde, zögerte Präsident Itamar nicht: Recu­pero wurde entlassen. Die Überraschung in der brasilianischen öffentlichkeit war be­sonders groß, da sich Recupero als gelernter Diplomat in der Öffentlichkeit immer mit betonter Bescheidenheit in Szene setzte und gut das Image des ehrlichen Katholiken verkaufen konnte. Sein Ausspruch “ich habe keine Skrupel” bestätigt geradezu sym­bolhaft alle negative Voreingenommenheit gegen brasilianische Politiker. Zudem legte Recupero eine unglaubliche Arroganz an den Tag: “Die Regierung braucht mich mehr als ich die Regierung.” Für die PT erschien die Indiskretion des Ministers als ein Ge­schenk des Himmels und Anfang des Niedergangs von Fernando Henrique. Sie fordert gar die Annulierung dessen Kandidatur wegen verbotener Parteinahme der Regierung für einen Kandidaten. Es bleibt aber abzuwarten, ob der Fall Recupero mehr als eine Episode sein wird. Die Börse reagierte mit einem drastischen Kurssturz.
Nachfolger Recuperos wurde am 8. September Ciro Gomes, Parteigenosse von Fer­nado Henrique und populärer Gouverneur von Ceará. Diese Wahl könnte nach ersten Turbulenzen durchaus die Position Fernando Henriques stärken. Ciro Gomes ist ange­sehen, gilt als effektiv und nicht korrupt, hat als Gouverneur in Ceará ein gutes Bild gemacht und verstärkt eher die Verbindung zwischen Plano Real und der Kandidatur Cardosos.

Es riecht ein bißchen nach Krieg

Bei allen vorherigen Interventionen in Südamerika hatte sich das Weiße Haus an die von US-Präsident James Monroe 1823 verkündete Doktrin gehalten: “Amerika den Amerikanern”. Was im eigenen Hin­terhof geschieht, hielt man in Washington für eine familiäre Angelegenheit, die den Rest der Welt nichts anging. Nun aber fragte man erst im New Yorker Glaspalast nach, und der UN-Sicherheitsrat gab sein Plazet – mit einer Begründung, die eine Intervention wohl in mehr als der Hälfte der Staaten der Welt rechtfertigen würde. Gibt es denn in Algerien nicht auch eine Militärdiktatur, die in keiner Weise demo­kratisch legitimiert ist? Gibt es denn im Iran nicht auch Folter, Mord und Tot­schlag? Und Birma? Und Nigeria? Und Syrien? Und und und.
Der UN-Beschluß – Zeichen politischer Doppelmoral
In völkerrechtlicher Hinsicht ist die UN-Resolution, die die USA zur Intervention in Haiti ermächtigt, höchst problematisch. Von Port-au-Prince geht keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Das Militär des Ka­ribikstaates hat keine erkennbaren Ab­sichten, einen anderen Staat anzugreifen oder auch nur zu bedrohen. Die Armee mit 7.000 Soldaten, einem halben Dutzend veralteten Panzern und zwei verrosteten Flugzeugen wäre wohl auch nicht in der Lage dazu. – Und seit wann sind diktatori­sche Verhältnisse in einem immerhin sou­veränen Staat ein Grund für eine interna­tionale Invasion? Von einem Völkermord, den im übrigen die UN-Charta nicht als Grund für eine Intervention vorsieht, kann in Haiti nicht die Rede sein. Seit dem Sturz Aristides vor drei Jahren sind zwar an die 3.000 AnhängerInnen des Präsi­denten ermordet worden – im Durchschnitt täglich drei, ein zwanzigstel Prozent der Bevölkerungs. Die Zahl der Todesopfer ist hoch, im Vergleich mit Menschenrechts­verletzungen in anderen Teilen der Welt jedoch so ganz unüblich nicht.
Trotzdem: Vor Haitis Küste steht ein US-amerikanischer Flottenverband von 14 Schiffen mit Kampfhubschraubern und Transportmaschinen bereit. Wochenlang haben Marineinfanteristen der US-Armee im nahen Puerto Rico Landeoperationen geprobt. 10.000 bis 12.000 Soldaten war­ten auf den Befehl, unter ihnen lediglich 266 ohne US-Paß, die als internationales Feigenblatt einer Invasion der Vereinigten Staaten dienen sollen. US-Außenminister Christopher kündigte jüngst an: “So oder so, die Regierung in Haiti wird gehen. Ihre Tage sind gezählt.” Der stellvertre­tende Verteidigungsminister John Deutch war sogar noch weiter gegangen und hatte eine Invasion auch für den Fall eines Rücktritts der haitianischen Militärmacht­haber angekündigt.
Alltag im Ausnahmezustand
Die Machthaber in Port-au-Prince haben inzwischen im Zentrum der Hauptstadt große Spruchbänder anbringen lassen, auf denen sie mit einem schlichten “NON”, “nein”, kundtun, daß sie gegen eine Inva­sion und gegen das Embargo sind. Auf den Zufahrtsstraßen zum blütenweißen Palast der Regierung liegen bereits Sand­säcke, die aber nicht einmal den alten Schrottautos, die das Straßenbild bestim­men, den Weg ernsthaft zu versperren vermögen. Über das Dach der US-Bot­schaft huschen schwer bewaffnete Ge­stalten. Es riecht ein bißchen nach Krieg.
Aber was kümmert all das die Leute? Zu staatlich organisierten Demonstrationen gegen eine Invasion kommen in der Zweimillionenmetropole in der Regel knapp tausend Menschen zusammen, vorwiegend Angestellte der Ministerien, die wohl auch fürs Gegenteil auf die Straße gingen, wenn es nur angeordnet würde. Nein, die Sorgen der Menschen drehen sich um anderes, vor allem um die Preise, die das Wirtschaftsembargo beinahe täglich ein Stück weiter in die Höhe treibt. Für immer mehr wird das Le­ben zum täglichen Überlebenskampf. Apathie und Resignation haben sich bei einer Bevölkerung breitgemacht, die vor drei Jahren noch auf “Lavalas” (kreolisch für “Erdrutsch”, Sturzflut) setzte, die Be­wegung, die Aristide an die Macht gespült hat, die Bewegung, die mit dem Alten aufzuräumen und eine neue Welt zu brin­gen versprach.
Zwischen Agonie und verhaltener Hoffnung
Heute spricht man selbst in Cité Soleil, dem mit vielleicht 200.000 EinwohnerIn­nen größten Slum von Port-au-Prince, ei­ner Hochburg der Aristide-AnhängerInnen, nicht mehr laut vom ge­stürzten Präsidenten. Man ist vorsichtig geworden. Es gibt hier immerhin drei Ka­sernen, wie die Stützpunkte der Attachés, der bewaffneten zivilen Helfer der Mili­tärs, genannt werden. Die “Ti Legliz”, die haitianische Basiskirche, wirkt hier fak­tisch weitgehend in der Illegalität. Man trifft sich heimlich, zu viele schon sind ermordet worden. Das Demonstrieren hat man sich längst abgewöhnt.
Willkürherrschaft der “mächtigen Män­ner”
Die FRAPH, die Partei der Ex-Duvalie­risten und Attachés, kontrolliert das Vier­tel, und sie kriegt sogar Zulauf. Hier, wo es weder Toiletten noch fließendes Was­ser gibt, wo die Menschen in Blechver­schlägen auf engstem Raum unter unbe­schreiblichen Verhältnissen leben, oft nur mehr dahinvegetieren, ohne Aussicht, daß an ihrem Dasein sich je etwas ändern wird, hier gibt es genügend Leute, die sich kaufen lassen oder die eben einfach – pure Überlebensstrategie – sich auf die Seite des Stärkeren schlagen.
Der Stärkere, das ist auf dem Land wieder der “Chef de section”, der lokale Armee­chef, im Volksmund “Gwo Neg” – kreo­lisch für “gros negre”, “großer Schwar­zer”, “mächtiger Mann”. Er ist Polizei­chef, Richter und Steuereintreiber in einer Person, und oft hat er in seinem Dorf so­gar sein eigenes, ganz privat betriebenes Gefängnis. Zu Diensten stehen ihm die “Chouket Lawouze”, die die Drecksarbeit erledigen. Viele von ihnen sind alte “Tontons Macoutes”, Angehörige der auf­gelösten Privatmiliz der Duvaliers. Der Staat bezahlt sie nicht, weil es sie offiziell gar nicht gibt. Und so holen sie sich ihren Lohn eben auf eigene Faust, mit der Waffe in der Hand. Während der sieben­monatigen Regierungszeit Aristides sind die “Chefs de section” aus den Dörfern verschwunden, doch nach dem Putsch vom September 1991 waren sie sofort wieder da.
Jetzt sind die anderen verschwunden: die Aktivisten von “Lavalas”. Bei den Lo­kalwahlen haben sich in den örtlichen Verwaltungen vielerorts Anhänger Aristi­des durchgesetzt. Nur höchst selten findet man auf dem Land einen Bürgermeister, da die meisten abgetaucht sind. An die 300.000 Menschen, so schätzt die “Kommission für Gerechtigkeit und Frie­den” der katholischen Kirche, haben ihr Zuhause verlassen und halten sich ir­gendwo im Land versteckt. Sie sind in an­deren Provinzen – außerhalb der Reich­weite ihres “Chefs de section” – bei Ver­wandten untergekommen oder schlagen sich in der Hauptstadt durch.
“Changement” – Hoffnung auf den “Wechsel”
Für den Fremden ist es schwierig, auf dem Land etwas in Erfahrung zu bringen. Nur die wenigsten sprechen französisch, und Übersetzern aus der Hauptstadt mißtrauen die Leute grundsätzlich. Wenn dann doch ein Gespräch zustandekommt, wird dieses in der Regel schon nach wenigen Sätzen unter einem billigen Vorwand abgebro­chen. “Sie werden uns nachher ausfragen”, entschuldigen sich die Mutigeren. Wer sich mit AusländerInnen unterhält, macht sich verdächtig, hat nachher nur Ärger. Doch die wenigen Sätze reichen, um mit­zuteilen, daß man für das “changement”, also für den “Wechsel”, die “Ver­ände­rung” ist.
“Changement” ist zum Synonym für Ari­stide geworden, dessen Namen man nicht mehr in den Mund zu nehmen wagt. “Changement” hört sich unverdächtiger an. Manchmal kann das Wort auch mit “Invasion” übersetzt werden. Die meisten Menschen auf dem Land würden wohl eine militärische Intervention begrüßen. Sie würde Aristide zurückbringen und dem Terror der verhaßten “Chefs de sec­tion” ein Ende setzen.
Auch in Port-au-Prince, wo es einfacher ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ist die Hoffnung auf die US-Amerikaner überall zu spüren. Nach einer Invasion würde ja auch das Embargo auf­gehoben, das die Mittelschichten in die Armut, die Armen ins Elend und die Ärm­sten an den Rand des Hungertodes ge­stürzt hat. Vor allem in Salines und Cité Soleil, den Elendsvierteln der Hauptstadt, wo Aristide jahrelang als salesianischer Priester wirkte und später als Präsident immense Hoffnungen weckte, würde die Mehrheit eine militärische Intervention zweifellos begrüßen. Den AktivistInnen der Basisorganisationen und der “Ti Legliz” fällt es da schwer, die Menschen von den Gefahren einer Invasion zu über­zeugen.
US-Marines als künftiges Boll­werk gegen “Lavalas”?
Während regimenahe Intellektuelle davor warnen, daß eine Invasion zu einer anti­imperialistischen Mobilisierung breiter Massen und letztlich zu einem langwieri­gen Bürgerkrieg führen würde, befürchtet man in den Kreisen der politischen Lin­ken, die ideologisch die Basisorganisatio­nen in den Elendsvierteln dominieren, et­was ganz anderes: Wenn die Marines mal da seien, würden sie – anders als im Fall Grenada oder auch Panama – erst mal ein paar Jahre bleiben. Letztlich gehe es der US-Regierung nicht darum, für demokra­tische Verhältnisse zu sorgen, sondern darum, die Massen zu kontrollieren und “Lavalas”, die Sturzflut, eine revolutio­näre Entwicklung, aufzuhalten.
Gewiß müßten die US-Truppen in Haiti länger bleiben als in Panama oder in Gre­nada, wenn sie verhindern wollen, daß nach ihrem Abzug die alten Verhältnisse wieder zurückkehren. Gewiß würden sie nach einer Entmachtung der haitianischen Militärkamarilla zwangsläufig Ordnungs­funktionen, gegebenenfalls auch gegen­über spontanen Massenbewegungen, wahrnehmen.
Trotzdem scheint das eigentliche Problem der US-Regierung nicht eine revolutionäre Bewegung in Haiti zu sein. Aristide, der im übrigen heute viel moderatere Positio­nen vertritt als bei seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren, wird schon allein auf­grund der wirtschaftlichen Zerrüttung Haitis mit der Oberschicht seines Landes und auch den USA Kompromisse einge­hen müssen, will er seine soziale Basis, die verarmten Massen, nicht noch mehr dem Elend preisgeben. Nein, neben den Wahlen zum Repräsentantenhaus im kommenden November besteht das ei­gentliche Problem Bill Clintons in den derzeitigen Verhältnissen auf der Karibi­kinsel. Allerdings nicht, weil sie undemo­kratisch sind, sondern weil ihnen immer mehr HaitianerInnen in selbstgezimmerten Booten entfliehen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA.

Die permanente Invasion

Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti au­thorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig be­rühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht einge­halten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zo­gen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünkt­lich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staa­ten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Prä­sidentschaft, bis er 1985 durch einen wei­teren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte ver­letzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bishe­rigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerech­net er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergan­genheit mit den Duvaliers so gut auska­men. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cé­dras, wie alle Diktator-Lehrlinge Latein­amerikas, auf einer nord­amerikanischen Militärakademie ausge­bildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich drama­tisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängig­keitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser histori­schen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land La­teinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlu­stes, den jede ihrer Interventionen in ande­ren Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für je­den ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder je­ner Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dich­ter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Ge­dicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nach­drücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Inva­sion in Haiti Begleitung haben. Die For­mel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumin­dest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiasti­sche Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Re­aktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um wäh­rend der Pinochet-Diktatur in Chile zu in­tervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, wel­ches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel ver­gessen, das 1990 gegenüber Panama an­gewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lä­stig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewech­selt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschul­dige Zivilisten zu töten und ne­benbei ei­nige Viertel der Hauptstadt Pa­namas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die absto­ßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die ange­kündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Me­dien zu schwer­fällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein re­pressives Regime perfekt in die nieder­trächtigsten Traditionen der Duvalier-Dy­nastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte In­terventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen La­teinamerikas das geringste Vertrauen ein­flößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für op­portun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Bala­guer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämen­derweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Inva­sion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vor­teil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen ge­lingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispiels­weise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation not­wendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Ver­einigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten auf­kommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie füh­ren die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperia­lismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern fi­nanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Ame­rikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Ko­lonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsmini­sterium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Mög­lichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist ge­fragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten August­hälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonfe­renz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern betei­ligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine an­ständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikani­schen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen an­gesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.

Am Vorabend der Militärintervention

Zunächst ist festzuhalten, daß die Putschi­sten in Haiti einem wirksamen internatio­nalen Embargo unmittelbar nach dem Putsch nur wenige Wochen standgehalten hätten. So löchrig, wie es aber bis zum Mai 1994 angewandt wurde, diente es nur dazu, daß die de-facto-Machthaber sich besser einrichten und sich vor allem am Schmuggel, Schwarzmarkt und Drogen­handel enorm bereichern konnten. Daher wurde dieses Embargo zu Recht von vielen BeobachterInnen kritisiert.
Gleichwohl ging die Forderung nach Auf­hebung der Blockade immer in die falsche Richtung. Denn zum einen hatte die Han­delssperre nie die massiven tödlichen Fol­gen, die damit in Verbindung gebracht wurden. Diese waren vielmehr die Merk­male eines völlig verarmten Landes. Zum anderen wurden mit der Forderung nach Aufhebung der Blockade gewollt oder un­gewollt die Putschisten unterstützt. Die Volksorganisationen in Haiti hatten sich nämlich für ein wirksames Embargo als möglichst gewaltfreien Weg zum Sturz der Putschisten ausgesprochen.
Der Zickzack-Kurs der USA
Mächtige Kreise in den Vereinigten Staa­ten waren und sind für das Hintertreiben der wirksamen Anwendung des UN-Em­bargos verantwortlich. Kein Wunder, gel­ten doch CIA und Pentagon als offene Gegner einer Rück­kehr von Präsident Ari­stide nach Haiti. Ex-Präsident George Bush sprach sich noch im August 1994 dafür aus, Aristide endlich fallenzulassen, da er zu unbere­chenbar sei. – Gab es etwas unberechenba­reres als die US-Politik ge­genüber Haiti in den vergangenen Jahren?
Aber auch die neue US-Administration hat ihre Dunkelmänner: Präsident Clin­tons Wirtschaftsminister R. Brown war in den achtziger Jahren ein bezahlter Lob­byist für den Diktator Duvalier. In diesem in­nenpolitischen Kontext bremste Clinton bis zum April 1994 die Forderungen Frankreichs und Kanadas nach schärferen Sanktionen gegen die Machthaber. Erst ein plötzlicher Flüchtlingsstrom nach neuen Massakern der haitianischen Armee zwang die Clinton-Regierung zum Han­deln. Hinzu kommt, daß im November in den USA Kongreß- und Gouverneurs­wahlen stattfinden – unter anderem im Bundesstaat Florida, dem ersten Zielort der boat-people.
Nach Meinungsumfragen in den USA ist nur eine Minderheit für eine militärische Intervention in Haiti, wenn das Ziel die Rückkehr zur Demokratie ist. Wenn aber das Hauptziel der Intervention ist, die haitianischen Flüchtlingszahlen zu senken, befürwortet eine Mehrheit diesen Schritt. Wenn ein militärischer Eingriff der USA Ende September, Anfang Oktober statt­fände, könnte dies das Negativimage des Präsidenten in außenpolitischen Fragen aufbessern und sich in Stimmen für die Demokratische Partei ummünzen lassen. Wichtig ist, daß die Intervention so knapp vor den Wahlen erfolgt, daß sich die ne­gativen Auswirkungen noch nicht in den Medien niederschlagen.
Wähnt sich das haitianische
Regime in Sicherheit?
Viele Beobachter behaupten, daß die haitianische Militärspitze sehr clever sei und rechtzeitig vor einer Intervention ab­treten würde. An dieser Einschätzung sind einige Zweifel angebracht: Cédras hat von dem Abenteuer mit der Harlan County gelernt, jenem Schiff der US-Navy, wel­ches die UN-Blauhelme am 11. Oktober 1993 nach Haiti bringen sollte. Eine Bande von bewaffneten Zivilisten im Ha­fen genügte als Abschreckung und das Schiff drehte ab. Damit war die schon ausgehandelte Rückkehr Aristides für den 30. Oktober gescheitert. Cédras glaubt in­zwischen, daß er weiter so mit den Ver­tretern der internationalen Organisationen umspringen kann.
Die haitianische Armee beginnt mit Zwangsrekrutierung und Bewaffnung vieler Leute. Hinzu kommen andere Gruppen, die sich in den letzten Monaten und Wochen sehr schnell bewaffnet ha­ben, darunter ist FRAPH die bekannteste Gruppe. Außerdem haben sich die “Tontons Macoutes” reorganisiert. Von diesen zum großen Teil zwangsrekrutier­ten Waffenträgern wird kaum einer über­zeugt sein, für die richtige Sache zu kämp­fen. Die meisten werden beim ersten Schuß die Waffen wegwerfen. Die ultra-nationalistische Vernebelung durch die gleichgeschalteten Medien wird aber auch nicht folgenlos bleiben: Je länger die In­tervention auf sich warten läßt, umso blu­tiger wird sie sein.
Gibt es jetzt noch Alternativen zur Militärintervention?
In Haiti selbst ist Widerstand unmöglich. Die Repression von Seiten der Armee ist schon häufig beschrieben worden. Die Ermordung des Priesters Jean Marie Vin­cent am 29. August macht deutlich, daß auf der Insel niemand mehr sicher ist. Es gibt wohl kein Land, in dem die flächen­deckende Kontrolle durch das Sy­stem der Attachés und “Chefs de section” so gründlich durchorganisiert ist.
Die HaitianerInnen stehen vor einer schwierigen Situation: Zum einen sind sie geprägt durch die Geschichte der Selbst­befreiung von der Sklaverei und vom Kolonialismus. Daher gibt es starke natio­nale und unabhängige Tendenzen. Auf der anderen Seite sehen viele gegenwärtig nicht, wie die Armee anders als durch eine ausländische militärische Intervention von der Macht verdrängt werden könnte.
Viele Volksorganisationen und Basisge­meinden haben sich noch in den vergan­genen Wochen gegen eine Invasion aus­gesprochen. Die Argumentation war weit­gehend bestimmt von den Erfahrungen der Interventionen der USA im karibischen Raum in diesem Jahrhundert und von der Einschätzung, daß die USA selbst in den Putsch gegen Aristide verwickelt sind. Daher können sie sich nicht vorstellen, daß die Vereinigten Staaten heute andere Interessen in Haiti verfolgen als vor drei Jahren. Alternativen zur militärischen In­tervention werden in keiner Erklärung an­geboten.
Auch die haitianische Bischofskonferenz hat – mit Ausnahme des fortschrittlichen Bischofs Willy Romélus – eine Erklärung gegen die Intervention verabschiedet. Darin wird aber nur an die Leiden wäh­rend der US-Besatzungszeit von 1915 bis 1934 erinnert. Kein Wort über die Verbre­chen der de-facto-Machthaber, der Mili­tärs seit dem Putsch. Kein Wort über den Verfassungsbruch von Cédras und der putschistischen Parlamentarier. Die Dik­tion der bischöflichen Erklärung ist dik­tiert von der ultra-nationalistischen Propa­ganda der Militärs, deren Verbrechen mit keinem Wort verurteilt werden. Für die Menschen in Haiti haben die katholischen Bischöfe damit ihre Seele verkauft.
“Freie Hand” für die USA
Die Resolution 940 gibt den USA “freie Hand”. Sie haben den militärischen Ober­befehl über die internationale Interventi­onstruppe. Hier zeigt sich ein Problem, daß die UN mit diesem Instrument zur Zeit haben: Es gibt keine Truppen, die unter UN-Kommando stehen und “friedensschaffende Maßnahmen” durch­führen könnten. Die USA sind nicht be­reit, sich an einer solchen von Boutros Ghali geforderten Eingreiftruppe zu betei­ligen. Die US-Besatzungszeit in Haiti von 1915 bis 1934 macht das Widersprüchli­che dieser Situation deutlich. Dabei wäre das enge Interesse Frankreichs, Kanadas und Venezuelas an der Lösung der haitia­nischen Krise eine Möglichkeit, die mili­tärische Intervention auf eine breitere Ba­sis zu stellen. Die Teilnahme von vier ka­ribischen Staaten, Großbritanniens und Argentiniens sind nur ein Feigenblatt, um die klare US-Dominanz zu verschleiern.
Was kommt nach der Intervention?
Die vielfachen Forderungen nach dem militärischen Eingreifen in Haiti überse­hen, daß die entscheidenden Fragen nach den Zielen der militärischen Intervention nicht geklärt sind:
a) Ist es das Ziel, die Rückkehr zur De­mokratie nach Haiti zu fördern? Wann wird das Datum für die Rückkehr des le­gitimen Präsidenten Aristide festgesetzt und veröffentlicht?
b) Wird die legitime Regierung überhaupt handlungsfähig sein? Oder wird sie voll­ständig den Anweisungen aus Washington und dem UN-Hauptquartier gehorchen müs­sen? Wie sieht es mit einer Mandats­verlängerung Aristides aus, dessen offi­zielle Amtszeit Ende 95 ausläuft?
c) Was wird mit der haitianischen Armee? Wird es nur einige “kosmetische” Verän­derungen geben, um diese in ihrer repres­siven Funktion zu erhalten? In den USA ist diese Frage nicht geklärt: Clintons Sonder­botschafter für Haiti, William Gray, forderte die Abschaffung der haitia­nischen Armee, da sie nur eine Mafia-ähnliche Bande sei. Gray stieß aber auf großen Widerstand in der US-Regierung und mußte seine Forderung sofort zurück­nehmen.
Wenn im Zuge der militärischen Interven­tion die Putschisten nicht aus der Macht verdrängt werden, sondern nur die be­kannten Führer, die Generäle R. Cédras und P. Biamby sowie Oberst M. Francois, abgelöst werden, bleibt die Armee in ihrer repressiven Struktur erhalten und wird die Demokratisierungsbemühungen des hai­ti­a­nischen Volks weiter bekämpfen.
Voraussetzungen für die
Demokratisierung Haitis
Eine Voraussetzung für den Übergang zu Demokratie und innerer Stabilität in Haiti ist, daß militärischen Befehlshaber der haitianischen Armee verhaftet, vor Ge­richt gestellt und wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in den ver­gangenen 30 Monaten angeklagt werden. Eine Amnestie für die Menschenrechts­verletzungen werden die haitianischen Mi­litärs als Einladung verstehen, immer dann wie­der zu putschen, wenn sie es für op­portun erachten.
Die haitianische Armee ist zu entwaffnen und die Verantwortlichen für die schwe­ren Menschenrechtsverletzungen sind aus der Armee auszuschließen.
Es ist sofort mit dem Aufbau einer zivilen Polizei zu beginnen, der die Aufrechter­haltung der öffentlichen Ordnung im Lande übertragen wird. Dabei dürfen nur solche Angehörige der bisherigen Polizei übernommen werden, die sich keiner Menschenrechtsverletzungen schuldig ge­macht haben. Es ist ein Prüfungsverfah­ren wie in El Salvador anzuwenden. In glei­cher Anzahl sind Polizisten aus den Rei­hen der Lavalasanhänger zu rekrutie­ren. Der Aufbau der zivilen Polizei liegt in der Ver­antwortung der MINUHA, der im Ab­kommen von Governors Island vorge­se­hen UN-Polizei- und Militärmission für Haiti.

Abseitsverdächtig

Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kom­men. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Inso­fern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorent­scheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konflikt­potential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. In­mitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” prak­tiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ih­nen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren mögli­cherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politi­scher Ebene drohen könnte.
Die Karikatu­ren der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spe­zialtruppe für innere Unruhen, aufgefor­dert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beob­achter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und des­wegen vom Großteil der Mexikaner un­bemerkt- überraschte Präsident Carlos Sa­linas de Gortari mit einer in der Ge­schichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regie­rungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, wel­cher Partei er angehört.” Politische Beob­achter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Ze­dillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzep­tiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsident­schaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von of­fizieller Seite mehrfach zugegeben wor­den. Umfragen zufolge erwarten 40 Pro­zent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Men­schen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerab­druck erstmals auch das Foto des Stimm­berechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Da­für wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte er­leben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug be­fürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschafts­kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unre­gelmäßigkeiten im Wahlregister nachzu­weisen. Die Vorwürfe wurden sogar ein­ziges Thema einer landesweit übertrage­nen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen ste­hen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Anga­ben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legen­dären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Er­gebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcom­puter stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsi­dent des nationalen Wahlinstituts, ent­sprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungün­stigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer einge­troffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahl­tou­risten) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beob­achter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwür­dige Wahlen konnte in den letzten Junita­gen nur knapp verhindert werden. Innen­minister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Auf­standes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schieds­richter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Men­schenrechtsbeauftragte und Generalstaats­anwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf ange­griffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Un­parteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Mo­nate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” gewor­den. Das politische System ist so ver­wundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Be­freiungsarmee (EZLN) sämtliche Regie­rungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern vo­tierten grundsätzlich dafür, den bewaff­neten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend ab­gelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbe­sondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chia­pas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blind­heit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weige­rung, dem demokratischen Druck nach­zugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla je­doch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem er­klärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Ur­walds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaf­ten Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschla­gen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Cama­cho Solis zurück, der Chiapas-Unter­händler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Cama­cho mehrfach für das Scheitern der Frie­densgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus ge­macht, daß er sich selbst für den geeigne­teren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Re­gierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsi­dent Salinas einen neuen Chiapas-Beauf­tragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission je­doch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armee­übergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワber­gangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewin­ner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Pro­zent erhalten. Sogar das bislang Undenk­bare scheint möglich: ein Sieg der Oppo­sition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechts­konservativen Partei der nationalen Ak­tion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsi­denten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bis­lang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnis­sen zwischen 74 und 92 Prozent gewon­nen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint mög­lich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlie­ren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabi­lität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten ge­kidnappt; eine von der Drogenmafia de­ponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.

Kasten:

Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunika­tionsmittel spielen im Kon­flikt in Chiapas eine Schlüssel­rolle. Wer Nachrichten und Bilddoku­mente produ­zieren und verbreiten kann, nimmt ent­scheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt um­somehr, seitdem die Waffen erfreuli­cherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegen­über der Regierung ist die Ein­richtung ei­ner unabhängigen Radiosta­tion der Indí­genas, die von ihnen selbst betrieben wer­den soll, um das Recht auf wahrheitsge­treue Information über lokale, regionale, nationale und inter­nationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Li­zenzvergabe in Aussicht ge­stellt. Da­mit diese mögliche Radiostation je­doch eines Ta­ges wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinhei­ten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksrepor­terinnen und -re­porter”. Und natürlich braucht es Radioge­räte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bil­dern festzuhalten. Eine eigene Vi­deoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereig­nisse jenseits presse­konjunktu­rellen Interesses fest­halten zu können, als auch um die Möglich­keit zur Verifizie­rung mögli­cher stritti­ger Vorfälle durch Bilddo­kumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die mei­sten kulturellen Aktivitäten eines Kom­munikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Platten­spieler, die wie­derum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrol­lierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaf­fungen getätigt werden kön­nen.
Spenden unter dem Stichwort “Medien­fonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiro­amt Köln (BLZ 370 100 50) überwei­sen. (Stichwort nicht vergessen!)

Verhandlungspoker zwischen Zapatisten und Regierung

Gila: Was haltet Ihr von der Zurück­weisung des Regierungsangebotes?
Carlos Rodriguez: Die Zapatisten (EZLN) handelten sehr vernünftig, den Dialog mit der Regierung zu suchen und als ersten Verhandlungspunkt die ökono­mische Situation auf die Tagesordnung zu setzen. Denn hier zeigte die Regierung die größte Handlungsbereitschaft. Wären die Gespräche gleich zu Beginn gescheitert, dann wären weitere Verhandlungen völlig unsinnig gewesen. Diese Ausgangssitua­tion ermöglichte dann einen breiteren Dialog mit der Regierung.
Warum hat die Mehrheit der Dorfge­meinschaften den gesamten Vorschlag abgelehnt?
Es geht der Zivilbevölkerung in Chiapas nicht darum, generell Angebote, die die Regierung macht, von vornherein abzu­lehnen. Aber dieses Angebot war nicht ausreichend. Zu Anfang richteten sich die Hoffnungen der Zapatisten auf eine lokale Demokratisierung. Aber darüber wollte die Regierung nicht verhandeln. Die EZLN akzeptierte bei den Verhandlungen dennoch, daß es dabei lediglich um Dienstleistungen, wirtschaftliche Fragen, Zufahrtswege und Lebensmittelhilfe ging, aber nur aus taktischen Gründen, um die Verhandlungen nicht abbrechen zu lassen. Alle Themen von nationaler Reichweite wurden von der Regierung vom Tisch gefegt. Von den 34 Forderungen der EZLN wurden zwar 32 erfüllt, aber die beiden wichtigsten wurden ausgelassen: Bei den zentralen Forderungen nach lo­kaler Demokratisierung und kultureller Unabhängigkeit machte die Regierung keine Zugeständnisse.
War es für Euch überraschend, daß das Angebot abgelehnt wurde?
Nein. Das hat uns nicht überrascht. Wir be­finden uns gerade in der Phase vor den Wahlen. Das heißt, daß Verhandlungen, die noch vor der Wahl zu Ende geführt würden, zu frustrierenden Ergebnissen ge­führt hätten. Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die Verhandlungen noch nicht zu Ende sind. Aber die EZLN beob­achtet die Wahlen und prüft, ob die Regie­rung ihr Wahlversprechen, saubere Wah­len durchzuführen, einhält. Ist dies nicht der Fall, greifen die Zapatisten mögli­cherweise erneut zu den Waffen.
Die Zapatisten haben die Mehrheit der indianischen Gemeinschaften befragt, ob sie trotz der schwierigen Situation ihre Forderungen aufrechterhalten wollen, ` denn es wäre ja möglich, daß sie sich mit den Ereignissen zufrieden gegeben hätten.
Niemand ist mit der jetzigen Situation zu­frieden. Wenn die Leute dem staatlichen Angebot zugestimmt hätten, hätte das einen Rückschritt in den Verhandlungen bedeutet. Aus der Zeitperspektive der In­digenas ging alles aber sehr schnell.
Die Zapatistische Bewegung gibt es seit vielen Jahren, und sie hat immer für die Emanzipation gekämpft. Aber sie kam nicht bis nach Chiapas. Dort wurden die Campesinos in der Revolution 1910-1919 als Kanonenfutter für die Landbesitzer benutzt. Die Revolution hat in Chiapas dazu geführt, daß die Landbesitzer noch mehr Land bekamen und die Indigenas mit ihrem Leben bezahlen mußten. Das ist der Grund für die Rückständigkeit der Region.
Die Regierung drückte ihre westliche Zeitvorstellung gegen die der chiapaneki­schen Bauern durch. Die Re­gierung legte fest, wann und wie verhandelt wird. Doch die Verhandlungen müssen nach dem Zeitplan durchgeführt werden, den die In­digenas bestimmen. Der Dialog zwischen der Regierung und der EZLN ist also im Moment nicht unter­brochen, sondern die Indigenas setzen ihre Zeitvorstellungen um. Bisher war es im­mer so, daß die Re­gierung Angebote machte. Aber es waren immer Vorschläge, die nie gleich­berechtigt von beiden Seiten kamen. Die Mehrheit der Indigenas ist für den Dialog, den sie selbst zeitlich be­stimmen will. Es gibt auch eine Minder­heit, die für den bewaffneten Kampf ist, und etwa zwei Prozent sind für den Plan der Regierung. Bei den Verhandlungen muß darauf ge­achtet werden, daß alle Meinungen be­rücksichtigt werden.
Was muß die Regierung anbieten?
Es gibt zwei elementare Forderungen: er­stens saubere Wahlen und zweitens eine geordnete Landaufteilung. Alle Groß­grundbesitzer müssen ihre Besitzverhält­nisse klar offenlegen, und zwar nicht nur in Chiapas, sondern in jedem Bundesstaat. Es muß einen Zensus für landbesitzende Familien geben, damit die getarnten Latifundien entdeckt werden. Sonst ist es möglich, daß jemand in einem Bundes­staat seinen Besitz verkauft, aber noch Land in einem anderen hat. Es muß für die kommenden Wahlen Wahlbeobachtungen durch die eigene Be­völkerung geben, die dafür in besonderen Kursen ausgebildet werden muß, in Zusammenhang mit den Vereinten Nationen. In Mexiko muß es außerdem einen Volksentscheid über eine neue Verfassung geben, über einen neuen Sozialpakt. Diese Verantwortung kommt auf die neue Regierung zu.
Wie stark sind die Verhandlungsposi­tionen und welche Druckmittel hat die ELZN?
Die Verhandlungen haben einen nationa­len Charakter, das heißt, alle Forderungen beziehen sich auf das ganze Land. Druck kann nur durch die aktive Teilnahme der Bevölkerung ausgeübt werden. Nach dem Mord an dem PRI-Präsidentschaftskandi­daten Colosio war die Bewegung wie ge­lähmt. Alles geriet aus den Fugen. Noch einmal wäre eine solche Situation ver­hängnisvoll. Der andere Weg, Druck aus­zuüben, muß in einer Annäherung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräften des Landes bestehen. Das Ergeb­nis hängt hier in Chiapas sehr von dem Engagement der Bevölkerung ab. Dabei brauchen wir auch Hilfe von außen – in­ternationale Hilfe.
Wie kann das Problem des Hungers gelöst werden, und was machen die be­waffneten KämpferInnen zur Zeit?
Das was sie am Anfang auch gemacht ha­ben: Sie leben immer noch bewaffnet. Was die Lebensmittel angeht: Es gibt drei Millionen Einwohner in Chiapas, davon sind 90 Prozent Indigenas. Hier herrscht das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen des gesamten Landes. Was wir brauchen, ist humanitäre Hilfe und veränderte Han­delsbedingungen. Den Bauern in Chiapas müßte es ermöglicht werden, von direkten Einnahmen zu leben. Alles spricht von Dritter Welt, aber für uns ist es die vierte Hölle. Wenn wir von dem Konzept aus­gehen, daß hier (in Deutschland) die Erste Welt ist und von hier aus Pflanzen nach Lateinamerika ka­men, muß diese Erste Welt auch zu Lösungen beitragen.
Gibt es eine Gefahr durch das mexika­nische Militär?
Es gibt ständig Truppenbewegungen, aber keine Informationen darüber, warum das geschieht. Die Anzahl der Soldaten ist nicht genau bekannt, aber man spricht von 15.000. Die Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung ist groß.
Wer hat als Kandidat im kommenden Wahlkampf die besten Aussichten?
Die wichtigste Kraft ist die Zivilbevölke­rung. Zwei Kandidaten haben jedoch die stärkste Unterstützung durch die Presse: der PRI- und der PAN-Kandi­dat. In den Reihen der Oppositionsparteien gibt es auch charismatische Köpfe, die den politischen Forderungen der breiten Be­völkerung nä­her stehen. Aber sie tauchen so gut wie nie in den Massenmedien auf.
Also weitere sechs Jahre PRI­Regierung?
Sicher. Die Frage bleibt, welche Bünd­nisse die verschiedenen politischen Kräfte im Parlament schließen, um zu einer Mehrparteienlösung zu kommen. Mögli­cherweise ändert sich hier einiges, aber es ist für die Bevölkerung undurchsichtig. Wir Indi­genas haben nicht teil am parlamentarischen System. Die PRI dominiert alles. Es ist sehr schwierig, in dieses Parlament zu gelangen.

Notmaßnahmen und Putschgerüchte

Die Einführung der Devisenbewirtschaf­tung durch Präsident Caldera ist der ver­zweifelte Versuch, die schwere Finanz­krise unter Kontrolle zu bekommen, die Venezuela seit Anfang des Jahres erfaßt hat. Das Vertrauen in das nationale Ban­kensystem ist zusammengebrochen, die Devisenreserven sind durch Kapitalflucht geplündert. Die venezolanische Währung, der Bolívar, hat seit Anfang des Jahres ra­pide an Außenwert verloren. Entsprachen im Januar einem US-Dollar noch 90 Bolí­vares, mußten am 23. Juni schon 200 Bolí­vares für einen Dollar hingelegt werden. Gleichzeitig hat auch der Bin­nenwert in­folge der kräftig anzieh­enden Inflation von inzwischen etwa 70 Prozent stark ge­litten. Alle Stabilisierungs­versuche ohne Devisenkontrolle schlugen fehl, weshalb nun zur Devisenbewirt­schaftung gegriffen wurde.
Die ansteigende soziale und politische Unruhe untergrub die Stabilität der Regie­rung. Es war erneut die Rede von Militärputsch, immer häufiger kam es zu StudentInnenunruhen und anderen Protest­aktionen. Das erleichterte Aufatmen nach dem Wahlsieg Calderas im Dezem­ber und die stumme Hoffnung auf eine zwar langsame, aber sichere Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhält­nisse, die die Bevölkerung auf diesen al­ten und bewährten Politiker gesetzt hatte, ist in steigenden Zorn und Ungeduld um­geschlagen. Die erwarteten mutigen Re­formen sind nicht eingetreten, wobei die Regierung keine rechte Klarheit darüber herstellte, in welcher Weise sie vorge­nommen werden sollten, da die traditio­nellen Machtinteressen in ihr stärker ver­treten sind, als das wohl der Wunsch der WählerInnen gewesen ist.
Immer im Mittelpunkt: die Ölindustrie
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Druck zur Öffnung der nationalen Wirtschaft gegenüber den internationalen Märkten haben in Venezuela einen beson­deren Stellenwert. Das Land lebt von der Ausbeutung großer Rohstoff-Lagerstätten, vor allem dem Erdöl, daneben Eisenerz und Aluminium, neuerdings kommt Kohle hinzu. Die Erdöl-Exporte sind trotz der gesunkenen Preise weiterhin die wichtig­ste Devisenquelle und auch die wichtigste Einnahmequelle für den Staatshaushalt, wenn auch die relative Bedeutung abge­nommen hat. Daher ist die Stellung der Ölindustrie in der nationalen Wirtschaft erneut eine zentrale politische Frage.
Seit der Nationalisierung von 1975 ist die Ölindustrie in einer großen Staatsholding, PDVSA, zusammengefaßt, als oberste Verwaltungsinstanz der verschiedenen Nachfolgegesellschaften der großen aus­ländischen Unternehmen (Lagoven (Esso), Maraven (Shell) etc.). Die Übernahme der schon existierenden Strukturen der Ölkon­zerne erleichterte den Übergang in die staatliche Verwaltung und stützte sich auf die venezolanischen Techniker und Ange­stellten mit anerkannt sehr hohem Quali­fikationsniveau. PDVSA ist also das Un­ternehmen, das den venezolanischen Staat in der Ölindustrie vertritt. Allerdings be­steht daneben weiterhin das Ministerium für Energie und Bergbau, das als eigentli­che Regierungsinstanz die Kontrollfunk­tion innehat.
Ölmärkte: Strategische Planungen
PDVSA verfolgte in den vergangenen Jahren eine Politik der “Internationali­sierung”, der strategischen Ausdehnung der venezolanischen Indu­strie in die aus­ländischen Konsumenten­märkte durch den Aufkauf oder die Betei­ligung an Ver­marktungsorganisationen für Erdölpro­dukte in den USA, Kanada und Europa (Citgo, Veba etc.). Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, daß die neue Situation auf dem Erdölmarkt mehr auf die Sich­erung von Märkten auszurichten ist als auf die Strategie der hohen Preise. Eine wei­tere Überlegung venezolanischer Wirt­schaftsplanerInnen läuft darauf hin­aus, daß der Konsum von Erdöl als Ener­gie­träger in den nächsten Jahren eher sta­gnie­ren oder sogar sinken werde, so daß es “sich nicht lohnt”, das ganze Erdöl im Bo­den zu lassen und auf höhere Preise zu warten, sondern es besser ist, jetzt größere Mengen abzusetzen, solange es noch wirt­schaftlich interessant ist.
Eine weitere wichtige Überlegung von PDVSA geht dahin, daß die bisher er­schlossenen Erdöllagerstätten bald er­schöpft sein werden und es daher notwen­dig ist, die Industrie mit kräftigen Neuin­vestitionen auf den modernsten techni­schen Stand zu bringen. Im Bewußtsein der venezolanischen Regierungen und der Bevölkerung ist die Ölindustrie im we­sentlichen als eine Einnahmequelle für Devisen präsent, kaum aber als integraler Bestandteil der venezolanischen Industrie, so daß viele WirtschaftheoretikerInnen immer noch die Öleinnahmen und die hinter ihr stehenden Industrieinvestitionen als “nicht-nationale Wirtschaft” einstufen.
So entstand der Konflikt zwischen PDVSA und der Regierung dadurch, daß die Konzernführung beanspruchte, auch in Sachen Besteuerung wie eine ganz nor­male Industrie behandelt zu werden, um weiterhin adäquat funktionieren zu kön­nen. Die Ölindustrie wird traditionell mit einem besonderen Steuersatz belegt: Wäh­rend die “normalen” Unternehmen maxi­mal 34 Prozent Steuern bezahlen, erhebt der Staat bei im Erdölsektor tätigen Be­trieben 67 Prozent. Diese Aufspaltung stützt sich darauf, daß die Erdölindustrie besonders hohe Gewinne machen kann, weil die Preise für ihre Produkte im Aus­land durch die spezielle Form der Preis­bildung (Renten) besonders hohe Gewinn­spannen ermöglichen. Die Abschöpfung dieser hohen Gewinne, die man als natio­nales Eigentum und nicht als Privatge­winn des Unternehmens betrachtet, wer­den über ein historisch entwickeltes Sy­stem von Produktionssteuern (royalty von mindestens 16,6 Prozent des Produkti­onswertes) und Einkommensteuern vor­genommen. Die Einkommensteuerrege­lung, seit 1943 als flexible Maßnahme in Händen der Regierung gegen die auslän­dischen Unternehmen eingeführt, blieb nach der Nationalisierung bestehen. Der Staat hat seitdem auch noch stets weitere Zugriffe auf das Geldvermögen des Kon­zerns unternommen, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten geriet. PDVSA behauptet nun, dies habe zu einer unzureichenden Kapitaldecke geführt, die die Eigenfinan­zierung der Investitionen zur Modernisie­rung und Ausdehnung der Produktionska­pazitäten unmöglich mache.
Abbau von Errungenschaften
Dagegen entwickelte sie zwei Strategien: die Forderung nach Abschaffung des be­sonderen Steuersatzes für Erdöl und die strategische Verbindung mit ausländi­schen Unternehmen, die neueste Techno­logien beherrschen und mit ihr in joint ventures bestimmte Lagerstätten und Erdöltypen (superschweres Öl sowie Bi­tumen, die sogenannte orimulsión) so­wie Erdgas ausbeuten sollen. Das erste Projekt unter dem Namen Cristóbal Co­lón wurde bereits vertraglich fest verein­bart, ohne allerdings umgesetzt worden zu sein.
Als sehr bedenklich wird von Beobachter­Innen kritisiert, daß die Verträge mit dem ausländischen Unternehmen wesentliche Errungenschaften der venezolanischen Ölpolitik dieses Jahrhunderts über Bord geworfen haben. Zum einen versichert Lagoven in einer Sonderklausel als unter­geordnetes Unternehmen von PDVSA, daß alle im Vertrag festgelegten Zahlun­gen fest bestehen bleiben und keine weite­ren hinzukommen dürfen. Sollte die Zen­tralregierung, die Landesregierung oder die Gemeinde durch irgendwelche Steuern oder Abgabenveränderungen höhere La­sten beschließen, müsse Lagoven (also der venezolanische Staat) den ausländischen Partner dafür entschädigen. Dies schränkt die venezolanische Steuerhoheit ein, die 1943 gegen die Ölkonzerne erkämpft werden konnte. Außerdem sieht der Ver­trag die Schlichtung von Streitigkeiten vor internationalen Instanzen vor, auf jeden Fall nicht vor venezolanischen Gerichten, was wiederum einen schweren Rückschritt für die venezolanische Souveränität be­deutet, die seit dem Beginn der Ölaus­beutung Anfang des Jahrhunderts die ve­nezolanische Justiz zuständig bleiben ließ. Ferner wurde für die PartnerInnen der “normale” Höchststeuersatz von 34 Pro­zent festgelegt, also auf diese Weise für sie die Ölsteuer abgeschafft, während der Partner Lagoven weiterhin den erhöhten Satz von 67 Prozent zahlen muß. Alle späteren Veränderungen über Steuern etc. müßten also an das ausländische Unter­nehmen zurückbezahlt werden und zwar nach Maßgabe internationaler Gerichts­barkeit.
Der Cristobal Colón-Vertrag wurde unter der Regierung von Ramón J. Veláz­quez, dem Interimspräsidenten, und unter Ausübung von vom Parlament erteilten präsidentiellen Ausnahmerechten unter­zeichnet. Es gab zwar heftige Kritik von Seiten der KennerInnen der Ölproblema­tik, aber ihre Kritiken fanden weder bei der Regierung noch in der Öffentlichkeit Gehör: Die Regierung und der Kongreß verlassen sich auf die hohen PDVSA-Funktionäre, während die Abgeordneten meist nichts von der Materie verstehen und sich durch Reisen und sonstige Einla­dungen leicht Sand in die Augen streuen lassen.
Der erwähnte Vertrag hat eine tiefe Bre­sche in die venezolanische nationalistische Gesetzgebung geschlagen und gilt nun als Modell für weitere Assoziationsprojekte. Von Seiten der internationalen Ölindu­strie, von PDVSA und von der “Camara Venezolana del Petróleo”, der Sprecherin der privaten Erdölinteressen im Land, wird heftiger Druck ausgeübt, um rasch die Reform der Ölgesetzgebung zu errei­chen. Ziel ist, die Ölindustrie auf allen Ebenen zu privatisieren und die Steuer­sätze zu senken.
Ächzen und Knirschen im Finanzsystem
Das venezolanische Finanzsystem geriet seit Anfang 1994 in den Strudel der Ka­pitalflucht, der Abwertung und der Ban­kenzusammenbrüche, Folgen der andau­ernden Krise des wirtschaftlichen und po­litischen Systems. Die Zentralbank wen­dete den Abwertungsmechanismus des crawling peg an, durch den der Bolívar gegenüber dem US-Dollar täglich zu ei­nem vorab festgelegten Prozentsatz abge­wertet wurde, um den AkteurInnen Pla­nungssicherheit bezüglich des zukünftigen Wechselkurses zu geben. Mit einer über der Abwertungsrate liegenden Verzinsung sollte eine weitere Kapitalflucht vermie­den werden. Über die Ausgabe von spe­ziellen Staatsanleihen, den sogenanten Ze­robonds, sollte die umlaufende Geld­menge reduziert werden.
Was monatelang gut ging, stellte sich schließlich als struktureller Sprengstoff heraus: Die bis auf 80 Prozent steigende Zinsrate verteuerte die Kreditaufnahme, so daß die Investitionen in die produzie­rende Industrie stetig zurückgingen. Die wirtschaftliche Stagnation mit gleichzeitig steigender Investition in nicht-produktives Sachvermögen erhöhte ständig das spe­kulative Finanzkapital, und die Banken konnten ihre Zinszahlungen an die Einle­gerInnen immer weniger bedienen, da sie nur aus spekulativen Bewegungen Ein­nahmen bekamen.
Die Lawine ins Rollen brachte je­doch die politische Seite. Noch vor dem Antritt der neugewählten Regierung Caldera be­schloß die Regierung Veláz­quez im Janu­ar, die drittgrößte Bank des Landes, die Banco Latino, unter dem Vorwurf schwe­ren Betrugs und der Zah­lungsunfähigkeit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als politisch wurde dieser Schritt angesehen, weil die Banco Latino des verstorbenen Ex-Finanzmini­sters Pedro Tinoco einer der Standpfeiler des abgesetzten Präsidenten Carlos An­drés Pérez war, der trotz des gegen ihn laufenden Prozesses und seiner Entmach­tung noch weiterhin aktiv am politischen Spiel teilnahm. Die führenden Manager der Bank und einer Reihe angeschlossener Banken wurden per Haftbefehl gesucht und flohen teilweise ins Ausland. Die Schließung der Bank während mehr als einem Monat sorgte in manchen Orten, in denen sie die wichtigste lokale Banknie­derlassung gewesen war, dafür, daß die Wirtschaft ins Stocken geriet. Viele alte Menschen, denen man besonders hohe Zinsen angeboten hatte, sahen ihre Er­sparnisse und somit den Unterhalt für ih­ren Lebensabend gefährdet.
Flucht in den Dollar
Um die Folgen dieser Intervention zu mil­dern, wurden die Ersparnisse und kleine­ren Guthaben garantiert und nach und nach voll ausbezahlt. Sogar Inhaber gut gefüllter Konten erhielten bis zu 10 Mil­lionen Bolívares (ca. 100.000 DM) aus­bezahlt, was darüber ging, wurde als An­teil kapitalisiert. Die Bank wurde unter staatlicher Regie wieder eröffnet, und der Präsident rief wiederholt die Bürger zu Vertrauen auf. Die große Gefahr schien nun zu sein, daß ein Vertrauensverlust ge­genüber der nationalen Währung die Dol­larisierung in Gang bringen würde und viele versuchen würden, noch schnell alles Geld in Devisen zu tauschen und aus dem Land zu schaffen. Da mit der Banco La­tino auch die Schwäche der meisten ande­ren mittleren Banken bekannt wurde, be­gann die Regierung mittels einer Banken­stützung, den wackligen Instituten wach­sende Zuschüsse zu geben, um ihr Funk­tionieren aufrechtzuerhalten. Die dazu verwendeten Mittel beliefen sich zuletzt auf etwa die Hälfte des gesamten Staats­haushalts von 1994 und waren letzten En­des nur durch Geldschöpfung der Zentral­bank aufzubringen.
Als die noch unter Carlos Andrés Pérez ernannte Präsidentin der Zentralbank, Ruth de Crivoy, Anfang April ihren Rücktritt erklärte, führte dieser Schritt zu einer Welle von Kapitalflucht und einem dramatischen Absinken der Devisenreser­ven. Grund für den Rücktritt de Crivoys war, daß sie die Absicht der Regierung, den Mechanismus des crawling peg auf­zugeben, die Zinsen zu senken und die Zero-Bonds durch konventionelle Staats­anleihen zu ersetzen, als eine unzulässige Einschränkung der Hoheit der Zentralbank ansah. Alle Versuche der Regierung, das Vertrauen der KapitalbesitzerInnen wie­derzugewinnen, blieben erfolglos. Auch die Entlassung aller MinisterInnen, die den Privatisierungen, der neuen Erdölpo­litik und der grenzenlosen Stützung der Banken ablehnend gegenüberstanden, half nichts. Als dann im Juni weitere acht Banken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden und die verbliebenen Banken nicht mehr aus der Gerüchteküche heraus­kamen, stieg der Dollar auf über 200 Bo­lívares, und die Regierung entschloß sich zu dem zu Anfang erwähnten drastischen Schritt.
Mit Küchenschaben
an die Macht
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen verschiedener Armee-Fraktionen 1992 war es schließlich ein Prozeß wegen Kor­ruption im Amt, der Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP) Mitte 1993 aus dem Amt entfernte. Dabei spielte der Oberste Staatsanwalt Ramón Escobar Salóm die Rolle des Anklägers, der Oberste Ge­richtshof gab der Klage statt, der Natio­nalkongreß, in dem CAP die Unterstüt­zung seiner eigenen Partei verloren hatte, ersetzte ihn durch den Senator und Geschichtsprofessor Ramón J. Velázquez, ein altes Kongreßmitglied der sozialde­mokratischen Pérez-Partei AD, mit dem Auftrag, die Regierungsgeschäfte solange zu verwalten, bis am 5.Dezember ein neuer Präsident gewählt sein würde.
Schon vor der Absetzung von Pérez hatte sich der Zerfall der Vertrauensbasis der traditionellen Parteien gezeigt: Die AD verlor viele AnhängerInnen und stellte einen intern durch Fraktionskämpfe ge­schwächten Kandidaten auf; Die christ­demokratische Oppositionspartei COPEI spaltete sich durch die Kandidatur ihres Gründers Rafael Caldera gegen den offi­ziellen Parteikandidaten Osvaldo Alvarez Paz, dem Landeschef des Bundesstaats Zulia (Maracaibo). Caldera baute erfolg­reich auf sein durch seine klare Haltung gegenüber dem Staatsstreich vom 4. Fe­bruar 1992 erworbenes Charisma, nahm eine Minderheit von COPEI-Mitgliedern in seiner kleinen Partei “Convergencia” auf und fand Unterstützung bei den klei­nen linken Parteien MAS, MEP, PCV, URD und wie sie sonst alle heißen. Seiner Bewegung trug dies den Namen “El Chi­ripero” ein, den sie mit Stolz als Wahl­propaganda aufnahm (chiripas sind kleine Küchenschaben, die man nachts beim Lichtmachen als nach allen Richtun­gen davonrennendes Gewimmel über­rascht).
Als vierte wichtige Partei hatte sich be­reits seit den Gouverneurswahlen im Vorjahr die Causa R mit ihrem Kandida­ten Andrés Velázquez (nicht zu verwech­seln mit Ramón J. Velázquez!) profiliert. Aus der Gewerkschaftsbewegung der Stahlarbeiter hervorgegangen besitzt sie ihre regionale Basis im Osten des Landes im Bundesstaat Bolívar. Nach ihrem Wahlsieg im Herzen von Caracas trat die Partei als die eigentliche Alternative zu den alten Parteien auf, gegen Bürokra­tInnen und korrupte PolitikerInnen. An­drés Velázquez gab sich sehr siegesgewiß, aber er überzog etwas sein Image gegenüber den WählerInnen aus den Mittelschichten. Außerdem mußte er in anderen Regionen mit KandidatInnen an­treten, die nicht seiner eigenen Partei ent­stammten, sondern oft als politiqueros, als auf ihren eigenen Vorteil bedachte OpportunistInnen, unangenehm bekannt waren.
In den Wahlkampf griff auch der neue Verteidigungsminister General Rafael Muñoz León massiv ein, dem später vor­geworfen wurde, einen Putsch vorbereitet zu haben. Er nahm mit forschen Reden of­fen Partei gegen Caldera und vor allem gegen die Causa R und ihren Sprecher in Caracas, Pablo Medina, den er sogar unter dem Vorwand von Waffenbesitz aus frü­heren Putschversuchen zu verhaften ver­suchte.
Caldera: 78-jähriger Präsident ohne Mehrheit
Es spricht für die politische Stabilität des Landes, daß trotz allem die Wahlen abge­halten werden konnten. Trotz vieler An­schuldigungen wegen Wahlfälschung wurden die Ergebnisse einschließlich vieler Neuauszählungen akzeptiert. Der Gewinner war Rafael Caldera, der mit seinen 78 Jahren die Rolle des vermitteln­den, weisen und doch bestimmten Politi­kers mit sozialer Rücksichtnahme spielte. Im Parlament jedoch besitzt er keine Mehrheit: Dort fanden sich die beiden Parteien COPEI und AD als Mehrheitsal­lianz zusammen, während dem chiripero die Fraktionsqualität abgeschla­gen wurde, so daß alle Ausschußvorsit­zenden den drei großen Parteien AD, CO­PEI und Causa R angehören. Einerseits hat Caldera damit weitgehend freie Hand gegenüber seinen so ungleichen Gefolgs­leuten, muß aber seine gesetzlichen Initia­tiven mit den beiden Großen abstimmen. Daher wurde von Anfang an von einem möglichen fujimorazo gesprochen, also der Aus­schaltung des Kongresses durch den Prä­sidenten. Die Causa R verlangte sofort die Auflösung des Parlaments, die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen, demokrati­schen Verfassung.
Bis zur Amtsübergabe am 2. Februar 1994 regierte Ramón J. Velázquez mit seinen Ministern mit Hilfe eines Ermächtigungs­gesetzes. Ein neues Bankengesetz wurde auf diesem Weg erlassen, nach dem aus­ländische Banken in Venezuela direkt zu­gelassen werden können, die verhaßte Mehrwertsteuer wurde eingeführt, und das Projekt Cristóbal Colón wurde ebenso durchge­setzt wie die staatliche Kontrolle über die Banco Latino. Skandale umwittern das Ende seiner Interims­präsidentschaft: Nur ein Beispiel dafür ist die angeblich durch einen Trick gegen sein Wissen erreichte Unterschrift zur Begnadigung eines hohen kolumbiani­schen Drogenhändlers.
Vermißt: klare politische Linie
Seit ihrem Amtsantritt am 2. Februar hat die Regierung Caldera im wesentlichen die VenezolanerInnen enttäuscht. Mit der Finanzkrise, dem Rückgang der produkti­ven Investitionen und der Inflation hat die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Die Zahl der im informellen Sektor außerhalb des erst 1991 in Kraft getretenen neuen, von Caldera durchgesetzten fortschrittli­chen, schützenden Arbeitsrechts Tätigen, hat stark zugenommen. Die Sozialversi­cherung leidet durch Mißwirtschaft an chronischer Geldknappheit, und es gibt immer wieder Demonstrationen der Rent­nerInnen um ihre Zahlungen.
Statt der erwarteten regulierenden Ein­griffe in den Markt zum Schutz der Ver­braucherInnen und sozial schwachen Schichten, statt der energischen Lösung der Finanzkrise und des Steuerproblems befaßte sich die Regierung damit, die Fol­geprobleme des Eingriffes in die Banco Latino zu lösen, ohne den beteiligten mächtigen Finanzsektoren weh zu tun. Die Mehrwertsteuer auf KonsumentInnen-ebene wurde zwar wieder aufgehoben, aber verschiedene Minister traten immer wie­der für ihre Notwendigkeit ein. Die Ab­wertung der Währung beschleunigte die Inflation, und die Dollarknappheit führte zu Versorgungsproblemen. Die neue Maßnahme der Devisenkontrolle und das Einfrieren der KonsumentInnenpreise finden daher unter der Mehrheit der Be­völkerung großen Anklang.
Ein weiteres offenes Problem ist die Frage der Außenverschuldung. Man hoffte, Caldera werde ein Schuldenmoratorium erreichen, da er immer von der ungerech­ten Einseitigkeit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gesprochen hatte. Bisher sah es jedoch so aus, als wenn die Unterwerfung unter die Regeln des IWF weitergehen würde. Mit Spannung wird zu verfolgen sein, ob die jüngsten Maßnah­men, die mit den Vorgaben des IWF kaum vereinbar sind, zu einer Neuorientierung des Verhältnisses Venezuelas zum IWF führen wird.

Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen

Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basis­komitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstrit­ten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit Po­litkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratIn­nen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte ange­droht, seine Kandidatur für das Präsiden­tenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stun­denlangen Debatten und zahlreichen ge­scheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Váz­quez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchge­bracht: Nin Novoa, Mitglied der regieren­den Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident La­calle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos auf­gibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Ma­riano Arana, ein Architekt und Stadtpla­ner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fort­schrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnis­ses, wie zum Beispiel die MLN-Tupama­ros und die UNIR, wehrten sich mit Hän­den und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen in­nerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Ver­hand­lungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Füh­rungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnis­politik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politi­sche Bünd­nisse, in denen man sich enga­gieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis her­aus”. In seiner Abschlußrede stellte Váz­quez dann The­men wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidari­tät und soziale Ge­rechtigkeit in den Mit­telpunkt. Eindring­lich verlangte er Ge­schlossenheit und er­innerte an die Ge­schichte dieser Organi­sation, die stets eng mit ihren Persönlich­keiten verbunden ge­wesen sei – wie zum Beispiel dem Grün­der der MLN-Tupama­ros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Váz­quez unter großem Bei­fall den Delegierten zu. Einige der anwe­senden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errich­tete die Frente in mehreren Arbeitsgrup­pen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte be­schloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politi­scher Organisationen, zusammenzuarbei­ten. Auslandseinsätze uruguayischer Sol­daten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klä­ren.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mer­cosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegier­tenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und ande­rer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schulden­dienstes und ein machtvoller Zusammen­schluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß inner­halb der Frente gerne mit “kritischer Un­terstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argenti­nien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und mögli­cher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Dele­gierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Colora­dopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mer­cosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vize­präsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Haupt­stadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.

Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel

Als die zehnjährige Sarah in ihrem Ver­steck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttel­reime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem be­nachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Pate­nonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr ei­gener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Jan­vier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vor­fall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben ge­tränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinander­setzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Unte­rgebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unter­schicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tä­tigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Klo­ster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaf­fen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wa­gen sich die Mädchen wieder ans Tages­licht. Die zurückgewonnene Bewegungs­freiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” ver­dichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szena­rio des Alltags in einem totalitären Sy­stem. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Perso­nen gehen einher mit subtileren Ein­schüchterungs- und Erpressungsver­suchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Ver­hängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Mo­ment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragi­sche Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entspre­chend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Er­innerung zusammenzufügen. Die zehnjäh­rige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spiel­film, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach ei­ner Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Ge­schichte des Landes der progressive Prie­ster Jean-Bertrand Aristide als Sieger her­vor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsi­dent sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitun­gen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzu­stellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträch­tigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südame­rika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multi­kulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Ver­sion von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspek­tive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur be­schloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.

Editorial Ausgabe 240 – Juni 1994

Wäre Rubén Blades neuer Präsident Pa­namas geworden, dann hätte das in der Re­daktion Grabenkämpfe ausgelöst: Kommt der Fußballer aufs Titelbild oder der Musiker? Die Sportler hätten ihren populär-proletari­schen Touch ins Feld geführt und die Blades-AnhängerInnen dessen populär-intellektuellen Anspruch dagegengesetzt: Er war es, der Mitte der 70er Jahre die “komplizierten” sozialkriti­schen Texte einführte, als die Salsa ge­rade in der New Yorker Einheitssoße un­tergehen wollte. Außerdem ist sein Regie­rungsprogramm wie auf uns als Ziel­gruppe zugeschnitten: Schwerpunkte Um­welt, Frauen, Minderheiten und Basisde­mokratie. Und wer ist nicht hingerissen von seinem “Pedro Na­vaja”, dem latein­amerikanischen Mackie Mes­ser, dem glit­zernden Gauner in der Welt der kleinen Leute?
Gewonnen hat in Panama die wirkliche Par­tei der kleinen Leute und der großen Gauner: die hierarchisch organisierte PRD mit ihrem Präsidentschaftskandida­ten Ernesto Perez Balladares, genannt der Stier. Blades ist ehr­lich, unverbraucht und nicht korrupt – das war seine große Chance. Haben dennoch Balla­dares Eier den Ausschlag gegeben, gegenüber einem Blades, der auch mal über die Frau in sich singt? Oder bestätigt der Sieg der PRD, was sich bei fast allen Wahlen in Lateiname­rika wiederholt: Die Regierung wird abge­wählt, die beständigste Opposi­tion gewinnt. Die PRD und Rubén Blades Partei Papa Egoró hatten als Einzige schon vor Monaten ihren Kandidaten prä­sentiert. Doch Blades Partei spaltete sich im letzten Jahr zweimal und zeigte, daß ein paar SoziologInnen noch keine Basis­demokratie machen. Aber auch die Erklä­rung “Regierung wird auf jeden Fall ab­gewählt” stimmt nicht ganz: Zweiter wurde nämlich nicht Rubén Blades (18 Prozent), sondern Mireya Moscoso de Gruber (28 Pro­zent) von der Partei des Präsidenten Guil­lermo Endara, der 1989 nach der Militärin­tervention der USA die Regierung übernom­men hatte und sich auch danach völlig profil­los gezeigt hatte. Die Enttäuschung über die Re­gierung En­dara war in den den letzten bei­den Jahren so groß geworden, daß der Grund für Moscosos gutes Abschneiden woanders ge­sucht werden muß: Wahr­scheinlich konnte sie an das Andenken ihres verstor­benen Mannes anknüpfen, den rechtspo­pulistischen Caudillo Arnulfo Arías. So entsteht eine Interpretation nach der an­deren.
In europäischen Zeitungen wurde recht viel über diese Wahlen berichtet. Ein Mu­siker, der Präsident werden will, inspiriert ungemein, und sei es nur zu netten Überschriften wie “Salsa-Star tanzt auf politi­schem Parkett”. Und das in den er­sten Wahlen nach der US-Intervention wegen Noriegas Drogenhan­del. Die Mischung aus Militärs, Musik und Drogen reicht dann, um Wahlen in einer lateinameri­kanischen Ba­nanenrepublik irgendwie wichtig zu fin­den. Problema­tisch wird das alles, wenn man über die Aufhänger nicht hinaus­kommt. Wichtig wäre eine Ein­schätzung gewesen, was die Wahlen für die Men­schen in Pa­nama be­deutet haben. Interes­siert hätte uns bei­spielsweise die Zahl der Wahlent­haltungen, die in Umfragen vor der Wahl bei 60 Prozent gelegen hatte. Oder die Wahlkampfthemen, oder die Ka­nalfrage… Un­ser Problem: Für viele Län­der haben wir un­sere Infrastruktur aufge­baut: per­sönliche Kontakte oder alterna­tive Infor­mationsquellen, aus denen wir solche Ein­schätzungen bekommen. Für Panama gibt es das alles nicht, und so wären wir über un­seren alten immer gül­tigen Wahlergeb­nistitel: “Wahlen, die nichts ändern” nicht hinausge­kommen. Den aber haben wir schon längst auf den Index gesetzt. Also kein Artikel.
Dennoch: Wäre Rubén Blades Präsident ge­worden, dann wäre jetzt natürlich das Cover der legendären Platte “Metiendo Mano” auf dem Titelbild. Darauf hält Willie Colón Blades geballte Faust in die Höhe, wie der Schieds­richter beim Box­kampf. Schade eigentlich, Vielleicht das nächste Mal.

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