1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den bewaffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfälschung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Antwort der Indígena-Völker in verschiedenen Gegenden des Bundesstaates Chiapas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zivilen Ungehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregierung soll ihre verfassungsmäßigen Pflichten erfüllen. Damit vertieft sich der chiapanekische Konflikt, er wird zur nationalen Angelegenheit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehorsam ist bekanntermaßen ein Bündel von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze übertreten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Ungehorsams dessen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und friedlichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapanekischen Bevölkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedlichen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Politik der Zentralregierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundesstaat aufzwingen will. Sie organisieren den wichtigsten zivilen Ungehorsam in der Geschichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unserem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Ausnahmefällen. Daher gewinnt die Entscheidung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wurden blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung aufzuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Präsidentschaftswahlen 1988 hat der damalige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wahlen am 6. Juli von seiner Parteispitze gestoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art versucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wieder dazu, diese Maßnahmen aufzugeben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Politiker vor den diesjährigen Wahlen bekräftigt, sie würden Aktionen zivilen Widerstands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wahlen am 21. August wurde deutlich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentralmacht alle Rechte vorenthalten haben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstverständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Regierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Landbesetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Autonomie tritt jetzt die Forderung, denjenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dachverbandes unabhängiger Bauernorganisationen Coordinadora Estatal de Organizaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Gemeinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauernverbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Partido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäuser von Simojovel, Huitupan und Soyaló besetzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, demokratischer Weise eine Regierung heraus, die während ihrer gesamten sechsjährigen Amtszeit die soziale Realität in unserem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderungen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort besprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im Innern nie zu tun pflegt. Da sich Don Claudio X. zur Zeit nicht auf mexikanischem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu erklären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investitionsprojektes zu lösen. Ähnlich wie verschiedene indianische Verwaltungen in den USA plane die mexikanische Regierung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er erläuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen würden irgendwann auch die Indígenas profitieren, da sie ja Aktien erwerben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Angesichts der Sprachlosigkeit der Reporter bat der Unternehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chiapaneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokratisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Erklärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Menschenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zweischneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nachzukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig saubere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Ausmaßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzusetzen, einen Helfershelfer früherer Regierungen und einen Büttel der Großgrundbesitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden verkündet und gleichzeitig die umfangreichste Kriegsmaschinerie der mexikanischen Geschichte in einem einzigen Bundesstaat zusammengezogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitätsferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unterhändler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen einzigen Zapatista auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beobachtungs-Camps in der Nähe der Militärsperren behauptete Madrazo, einen Beitrag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegenteil hindeutet. Die abtretende Regierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerproteste und des Drucks der Weltöffentlichkeit von ihrer Vernichtungspolitik ablassen, verfolgt jedoch weiterhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu widersetzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazikentum zu konsolidieren, die Sozialausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdölvorkommen – den multinationalen Konzernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlösung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indígena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Autonomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Regierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Optimismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurzsichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositionskandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Interessen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächtigen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapanekischen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen eingesetzten, unabhängigen Wahlprüfungsgerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas werden muß, um den Prozeß des demokratischen Übergangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und einiger PRD-Politiker – keiner Verhandlungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deutliche Schlußfolgerungen ziehen. Der soziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln begonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Deshalb sind wir verpflichtet, ihnen zu antworten. Und ihnen zu antworten bedeutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kollektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Konvention (CND) Mexikos.
Der diskrete Charme des Neoliberalismus
Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letzten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entscheidende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswahlen entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirtschaftsminister ausgearbeitet und als Kandidat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflationsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produkten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für brasilianische Verhältnisse schon wundersame Stabilisierung entschied offensichtlich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform eingeleitet, sondern ein Schauspiel zu Wahlkampfzwecken aufgezogen, lief offensichtlich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancierung des Plano Real ist wohl ein Lehrstück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht werden kann, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von den Segnungen des Realkapitalismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance verwehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offensichtlich die Wirkung des Planes unterschätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unterstützt wurde Cardoso massiv von den Medien, allen voran dem mächtigen Fernsehsender Globo, und der derzeitigen Regierung, die neue Zuversicht im Lande verbreiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahlkampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelligenter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung erhielt. So erklärten die Ikonen der brasilianischen Musik Caetano Veloso und Gilberto Gil ihre Präferenz für Cardoso, lediglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bürgerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kandidaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, vertritt dennoch den Anspruch, die sozialdemokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapitalismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisierung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont vielmehr, daß die aktive Rolle eines effektiven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitsprogramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhältnisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg ermöglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der liberalen Front”), der zweitgrößten Partei Brasiliens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs formiert hatte. Die PFL ist weniger eine politische Partei mit programmatischen Aussagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensichtlich selbst keinen eigenen Kandidaten aufstellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit geschickter und flexibler als die anderen bürgerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kandidaten und die Unterstützung in den wirtschaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefährdete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Modernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen keineswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klientilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glaubenssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzustände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr gewählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabilisierungsplanes vor den Wahlen war sicherlich der Hauptgrund für die Niederlage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regierung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen gegen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeitsmigrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und administrative Erfahrungen, das sei kein Typ für das Präsidentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annähernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzettel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich vereinigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Einzelkandidatur bestritt, erreichte überraschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität waren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das politische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerlichen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT gerade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hierzulande genannt werden), die angeblich die Partei beherrschen, haben eine größere Akzeptanz Lulas verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zuweisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundesdeutschen Presse über die Auseinandersetzungen innerhalb der BündnisGrünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Linken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokratische Fahrwasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist entstanden und gewachsen als eine Formierung jenseits und gegen sozialdemokratische und orthodox-kommunistische Strömungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotzkisten, über Ökosozialisten bis hin zu sozialdemokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Widersprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Brasilien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grundpositionen ausmachen: für die Parteilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grundsätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Brasilien und dem vom IWF oktroierten neoliberalen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als konsequente Reformkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Verteilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivilegierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Orthodoxie beherrscht, die es ihnen zum Beispiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminalisierung der Abtreibung aus dem Programm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Positionen innerhalb der Partei verteidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasilien ratsamer als gegenseitige Schuldzuweisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Präsidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorInnen wählen (bisher 1), und in drei Bundesstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem sozialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens beeinflussen kann. Mit einer gestärkten Parlamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konsequente Oppositionspolitik gegen das neoliberale Modernisierungsprojekt zu organisieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zuletzt an den starken sozialen Bewegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organisiertes Widerstandspotential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im organisierten Sektor der Gesellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Integrationskraft für die brasilianische Gesellschaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenzten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwikkelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen politische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren lassen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits erwähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsidenten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Widerstand gegen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio gewählt, kennzeichnete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative Inkompetenz, explodierende Gewalt und ein zu lange durchgehaltenes Bündnis mit dem unsäglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Diskurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernsehsender Globo und den IWF gerieten immer mehr zur Politfolklore. Überraschenderweise hat aber seine Partei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis erzielt. In Paraná wurde der populäre Exbürgermeister von Curtiba, Jaime Lermer, bereits im ersten Wahlgang zum Gouverneur gewählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem gewann die PDT in Mato Grosso (in einem breiten Bündnis, das auch die PT einschloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahlgang. Der Kandidat in Sâo Paulo ist ein wüster Demagoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandidaten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat realistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilianischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine pragmatische Opposition zu Cardoso weiter zu einer möglichen Alternative bei dessen Scheitern zu entwickeln. Garotinho wenigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Brasiliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durchgang gescheitert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird immer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken degenerieren, ohne nationale Kraft.
Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)
Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sektoren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahlkampagne gelang es nicht, ein realisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozialpolitik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und Inflationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsentiert und waren unfähig, der konkreten Existenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne gemacht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”
Kasten 2
Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbesondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbeiten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Partei haben. Dasselbe gilt für die Unternehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampagne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommunalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodoxen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”
Kasten 3
Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Opposition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit gefunden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten heraus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.
“Eine große Lähmung ist spürbar”
Hinnerk Berlekamp: An schlechten Nachrichten aus Kuba herrscht derzeit kein Mangel. Wo bleibt das Positive?
Bert Hoffmann: Wenigstens eine gute Neuigkeit habe ich mitgebracht: Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit ist der Dollarkurs auf dem Schwarzmarkt nicht im Steigen, sondern er stagniert bei 1:80 bis 1:100. Das ist zwar noch immer katastrophal, für einen Monatslohn kann man ganze drei Dollar eintauschen, aber die Abwärtstendenz ist erstmals durchbrochen worden – ein Ergebnis der Sparprogramme und der Sanierungsmaßnahmen der Regierung. Nun ist fraglich, ob dieses psychologische Signal Bestand haben kann, wenn durch Clintons neueste Maßnahmen aus dem Ausland keine Dollars mehr überwiesen werden dürfen und entsprechend weniger Dollar in Kuba zirkulieren. Trotzdem: Der stabilere Wechselkurs ist ein bemerkenswerter Erfolg…
…und gleichzeitig liefern sich am 5. August Polizei und DemonstrantInnen in Havanna die erste Straßenschlacht seit dem Sieg der Revolution. Ist die vielzitierte “letzte Stunde Castros” angebrochen?
Diese letzte Stunde Fidel Castros wird immer wieder beschworen und zieht sich seit Jahren endlos hin. Die Unruhen vom 5. Ausgust und die anschließende Massenflucht sind ganz sicher eine enorme Belastungsprobe für die Regierung in Havanna. Paradoxerweise haben sie aber kurzfristig eher zu einer Stabilisierung des Systems geführt.
Andererseits hat aber der 5. August die lange aufgestaute Unzufriedenheit der KubanerInnen in bisher nicht dagewesener Weise sichtbar gemacht. Ist er also doch eine Zäsur?
Auf jeden Fall markiert dieser Tag in Kuba politisch einen Bruch. Die Reaktionen auf den Aufruhr – vor allem die Massenflucht – haben das noch einmal unterstrichen. Außerdem gibt es mit dem 5. August jetzt zum ersten Mal ein Datum, von dem die Leute sprechen. Die “Ereignisse vom 5. August” haben sich als Begriff eingeprägt, das Datum ist in gewisser Weise zum Symbol geworden.
Ich habe den Eindruck, daß dieser 5. August aber auch einen Schock in der Bevölkerung hinterlassen hat, der sich in die Formel pressen läßt: Alles – aber bloß keine Gewalt, bloß kein Bürgerkrieg.
Ja, die Unruhen waren ein Schock, und die Gesellschaft verdaut daran noch. Der 5. August hat gezeigt, was viele bisher nur ahnten: daß nämlich die latenten Konflikte in Kuba durchaus sehr gewaltsam ausgetragen werden können. Hinzu kommt, daß fast jedeR in der eigenen Familie Leute kennt, die bei einer Konfrontation wie der an jenem Freitag auf der einen und auf der anderen Seite stehen würden. Bisher funktionierte wunderbar diese Taktik, daß jede Familie möglichst ihren Draht zum Schwarzmarkt hatte und auch ihren Draht in die “offiziellen Systeme” wie etwa die Partei, und beides zusammen ergab eine Art Überlebensstrategie für die Familie. Jetzt aber haben sich diese verschiedenen Elemente zum Teil mit Knüppeln und Steinen gegenübergestanden.
Hat der 5. August die kubanische Gesellschaft polarisiert, hat er sie in zwei Lager gespalten?
Nein, vielmehr hat er die schon vorher vorhandene Spaltung deutlich gemacht und verfestigt. Noch ist es allerdings nicht soweit, daß sich die Menschen entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen. Man geht zur Arbeit und, wenn die Massenorganisationen rufen, auch auf die Plaza; man wurstelt sich weiter durch. Was am 5. August kurzzeitig sichtbar wurde, ist erst einmal wieder unter der Decke des Alltags verschwunden. Statt dessen ist eine große Lähmung spürbar.
Das Problem der Gewalt ist damit aber nicht vom Tisch.
Gerade für diejenigen, die auf mehr Toleranz in Kuba, auf eine wie auch immer geartete Öffnung oder Demokratisierung gesetzt haben, hat der 5. August eine erschreckende Erkenntnis gebracht: daß nämlich die Regierung auf die Sprache der Gewalt reagiert. Die Unruhen haben schlagartig zu einer deutlichen Änderung der Politik geführt. Sie waren der Auslöser dafür, daß die Grenzen geöffnet wurden. Sie haben auch – ähnlich wie die viel verstreuteren Ausschreitungen im August 1993 – zu einer sofortigen Aufhebung der Stromsperren zumindest im Zentrum von Havanna geführt. Wochenlang gab es ohne Unterbrechung Licht, zum erstenmal seit über einem Jahr sind wieder Fleischrationen verteilt worden. Auf den Gewaltausbruch von unten hat die Regierung mit der Peitsche, aber eben auch mit dem Zuckerbrot reagiert. Doch wenn man immer wieder Lektionen erhält, wie unwahrscheinlich wenig sich auf friedlichem Wege bewegen läßt in Kuba, ist diese Lehre, daß man mit Gewalt Dinge verändern kann, umso schrecklicher.
Machen sich die Castro-Gegner jetzt Hoffnungen, mit neuen Gewaltaktionen könnte die Regierung zu “kippen” sein?
Ich weiß es nicht. Die meisten derer, die einen Systemwechsel wollen, verspüren wenig Lust, für dieses Ziel die Rolle des Märtyrers zu übernehmen. Viele warten auf irgend etwas, von dem sie aber nicht wissen, woher es kommen könnte und wie es aussehen sollte. So tun sie auch nichts Konkretes in irgendeiner Richtung, weil sie auch nicht wissen, was sie eigentlich tun sollten. Ich würde von einer “Eindimensionalität der Regierung” sprechen. Gerade das aber hat das Gefühl einer furchtbaren Ausweglosigkeit zur Folge, die zu der jetzt spürbaren “Rette-sich-wer-kann-Stimmung” führt. Das ist auch das Fatale an der Strategie der USA: Sie setzen einzig und allein auf das Schüren der Krise, darauf, daß die Situation unkontrollierbar wird, ein Volksaufstand ausbricht…
…und was tatsächlich passiert, ist zunächst eine Massenflucht.
Eine soziale Explosion ist keine Perspektive, die die Leute für sich akzeptieren. Niemand will die Rolle der Toten spielen. Also gehen sie lieber raus, steigen auf die Flöße. Da bleibt ein Risiko, aber wenigstens hat man damit die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg.
Ich will nicht die Verzweiflung der “balseros”, der Bootsflüchtlinge, kleinreden oder mir ein Urteil über ihre Motive anmaßen. Aber ist nicht eine Portion Hysterie mit im Spiel, wenn Leute, die nie auch nur versucht haben, schwimmen zu lernen, sich plötzlich in einen Autoreifen setzen und hoffen, bis Florida paddeln zu können?
Ich stimme Dir soweit zu, daß da eine Dynamik am Wirken ist, ein Sog, der dazu geführt hat, daß junge Männer zwischen 17 und 35 fast schon eine Erklärung brauchen, warum sie zu “feige” sind, um auch zu gehen.
In Havanna?
In Havanna und auch in den kleineren Orten an der Nordküste von Mariel bis Matanzas; Ortschaften wie etwa Guanabo oder Cojímar sind schon halb “entleert”. Es geht also nicht allein um ein Phänomen der Großstadt, sondern zumindest jener Bereiche, die eine geographische Nähe zum Golfstrom haben, der die Flöße in Richtung Florida treibt.
Ich würde aber behaupten wollen, daß der von Dir beschriebene Sog im Rest des Landes entschieden schwächer ausfällt.
Dazu kann ich aus erster Hand nichts sagen, aber sicher ist die Lage in den Provinzen weniger kraß als in und um die Hauptstadt.
Glaubst Du, daß die Fluchtwelle in absehbarer Zeit abebben wird?
Die Fluchtbewegung wird tendenziell abebben, und zwar aus mehreren Gründen. Diejenigen, die am dringendsten das Bedürfnis hatten, zu gehen, sind gegangen. Zweitens wird es immer schwieriger, Flöße zu bauen. Immerhin sind gegenwärtig schon 30.000 Leute losgefahren, und so leicht ist es ja nun auch nicht auf der Insel, immer neue LKW-Schläuche zu beschaffen. Die Preise für Fahrzeuge und Zubehör sind erheblich gestiegen. Es werden “schwarz” Überfahrten auf Booten organisiert und verkauft, aber zu Preisen von bis zu fünf- oder zehntausend Dollar. Und wer erst einmal so viel Geld hat, der braucht auch gar nicht raus aus dem Land, sondern lebt auch in Kuba schon relativ bequem in den dortigen Dollarwelten. Auch die US-Politik wird natürlich dazu beitragen, da゚ die Fluchtwelle abebbt. Die drohende Internierung auf hoher See aufgegriffener Flüchtlinge in der US-Flottenbasis Guantánamo hat bereits etliche abgeschreckt.
Hinzu kommt, daß sich eine Alternative anbahnt: In New York verhandeln gegenwärtig die USA und Kuba über eine neue jährliche Einwanderungsquote, die 20.000 oder auch mehr KubanerInnen eine Chance zur legalen Übersiedlung nach Miami geben könnte.
Ein völliges Ende des Flüchtlingsstroms ist auch mit einer großzügigeren Gewährung von Einreisevisa für die USA fürs erste nicht zu erwarten. Es herrscht zuviel Mißtrauen, daß man überhaupt nicht an ein Visum herankommt und daß die ersten Visa an die in Guantánamo Festsitzenden gehen werden, womit die Quote schon ausgeschöpft wäre. An vielen Stellen begegnet man einem Gefühl von Klaustrophobie: Wir kommen hier nicht raus.
Die Ereignisse vom 5. August haben primär dazu geführt, daß sich ein Ventil geöffnet hat; daß durch die Fluchtwelle Druck abgelassen werden konnte. Wie wird es weitergehen, wer wird profitieren können von dieser Situation: Die Reformer innerhalb der Führung: “Wir müssen endlich schnellere Veränderungen durchführen, ehe der Kessel explodiert?” Oder die Konservativen beziehungsweise Orthodoxen: “Jetzt haben wir ja gesehen, wohin die Liberalisierung führt”?
Zunächst ist die Situation für alle Seiten bedrohlich. Personen mit recht guten Kontakten zu höheren Regierungskreisen haben mir sinngemäß gesagt: Die Krise ist in der Beziehung sehr gefährlich, daß der soziale Konsens in der Bevölkerung verlorengeht. Zwar redet die offizielle Rhetorik weiterhin von ein paar asozialen Elementen und Kriminellen, doch es wird sehr wohl wahrgenommen, daß man es nur mit der Spitze eines Eisbergs zu tun hat. Die Unzufriedenheit hat mittlerweile auch breite Teile der Bevölkerung erfaßt, die traditionell die Revolution mitgetragen haben und es zum Teil heute noch tun, wenn auch inzwischen in gebrochener Form. Und insofern, denke ich, wird die jetzige Krise zwei Konsequenzen haben. Erstens wird die Argumentation der Reformer gestärkt, die sagen: Wir müssen zuallererst die Nahrungsmittelproduktion ankurbeln. Dazu sind Veränderungen nötig, zumal die Nahrungsmittelernte dieses Jahr so schlecht war wie nie zuvor.
Heißt das, die freien Bauernmärkte kommen wieder, auf denen die Einzelbauern ihre Überschüsse zu selbstgewählten Preisen anbieten konnten, bis Fidel Castro 1986 die Märkte höchstpersönlich dichtmachte?
Es ist davon die Rede, daß in absehbarer Zeit eine leicht abgeänderte Form von Agrarmärkten eingeführt werden soll, auf denen dann zumindest ein Teil der Produkte wieder frei gehandelt werden wird – zu Preisen, die weit über denen der subventionierten Rationierungskarte, aber unter denen des Schwarzmarktes liegen dürften. Andere Maßnahmen werden folgen. Ich denke aber, sie werden sich alle in einem engen, von der Vorsicht diktierten Rahmen bewegen. Einen tatsächlich freien Bauernmarkt wird es kaum geben, der Staat wird in der Rolle des Zwischenhändlers bleiben, die Preise kontrollieren und dirigieren, Mengen festsetzen und dergleichen.
Und die zweite Konsequenz?
Zweitens wird für die Regierung neben vorsichtigen Reformschritten auch die im Zweifelsfall repressive Absicherung der Macht notwendiger, sei es über die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR), sei es über die “Brigaden der schnellen Antwort” oder die Staatssicherheit, die in den letzten Wochen ständig in Alarmbereitschaft waren. Der 5. August und die folgende Massenflucht können also zu einer politischen Verhärtung und gleichzeitig zu einer wirtschaftlichen Reformöffnung führen. Im Falle eines Falles weiß man jetzt, daß man hart reagieren muß. Aber parallel dazu wird man wohl versuchen, die Unzufriedenheit halbwegs im Zaume zu halten und die wirtschaftliche Situation durch Reformen zu verbessern.
Mit welcher Politik der USA gegenüber Kuba rechnest Du für die nächsten Monate?
Ich denke, die Konfrontationspolitik Washingtons, die Fortführung und Verschärfung der Embargobestimmungen hat eine mögliche Lösung des kubanischen Dilemmas erheblich erschwert. Trotzdem scheint mir wahrscheinlich, daß zumindest über die Auswanderungsfragen ein Abkommen erzielt wird.
Aber an ein Umdenken bei Clinton nach den Kongreß- und Gouverneurswahlen Anfang November, an eine plötzliche Aufhebung der Blockade glaubst auch Du nicht?
Es wird schon schwer genug sein, Clinton zur Rücknahme der von ihm auf dem Höhepunkt der Krise zusätzlich verhängten Maßnahmen zu bringen: das Verbot von Geldüberweisungen aus dem Ausland, die Reduzierung der Flüge zwischen Miami und Havanna. Und damit bleibt die Situation verfahrener denn je. Vielleicht wird es pragmatischer zugehen nach den November-Wahlen. Eine echte Tendenz zu einer Lockerung oder Aufhebung des Embargos würde ich zwar wünschen, ich sehe sie aber nicht. Es gibt in den USA Kräfte, die in dieser Richtung arbeiten. Ich schätze sie aber als noch nicht stark genug ein, um die jetzige Politik grundsätzlich umzustoßen.
Eine Tragikomödie
“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Hauptdarsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestempelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu bezeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen einsichtig und akzeptiert noch in der Wahlnacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeobachterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millionen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerkschaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahltischen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tintenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Listen auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinstituts (IFE) durch die Akten der Stimmabgabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der überprüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwischen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stimmen.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlinstituts versuchte, die Angriffe zu entkräften und seinerseits die Akten zu überprüfen. Nachdem zwei von drei Wahlunterlagen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexikanischen Medienstationen mit der Empfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergangenen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Protestaktionen von PRD und PAN, Demonstrationen, Straßenblockaden und Besetzungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen stattfanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Ländereien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrinken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Regierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten informierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jahren mehrmals auf Bundesstaatsebene angewendet wurde: eine Übergangsregierung, die im Laufe der nächsten 18 Monate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundesstaaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN ergab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauhtémoc Cárdenas rief die militante Basis seiner Partei auf, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich handelt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säubern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentieren, noch bevor der neue Kongress am 1. November seine Arbeit aufnimmt. Eine neugegründete Kommission der Wahrheitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persönlichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlagwort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – darauf, den Oppositionsparteien alle Wahlunterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzunehmen. Es gibt Gruppen im Land, bewaffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politische System mit einem Gang zur Wahlurne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar bedeutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Ernesto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Prozent der Stimmen”, meint Jorge Castañeda, renommierter mexikanischer Politikwissenschaftler. Er ist nicht allein mit der Auffassung, daß es für die politische Zukunft des Landes gesünder gewesen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hinzuarbeiten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Zedillo Grund gibt, die Reformen durchzuführen, die er während seines Wahlkampfes versprach: Demokratisierung und tiefgreifende Reformen seiner Partei.
Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce
Während “Nación Purhépecha”, eine regionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang symbolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirtschaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bauern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdigen. Nur in einigen, besonders kämpferischen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenistischen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeindekommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhalten Kälber als Geschenk, und die BewohnerInnen des vor ein paar Jahren entstandenen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Unregelmäßigkeiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Duplikate anzufertigen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Rubio, der Frau des Kaziken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenkooperative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand auszuliefern – gegen das Versprechen, Kredite für sie zu beantragen. Angesichts dieser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsversprechen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute befürchten, daß sich die Wahlsituation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Opposition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha tröstet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbeobachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kandidaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr morgens bilden sich Schlangen vor den Urnen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufinden, die drei Stimmzettel – für die Präsidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszufüllen und abzugeben und schließlich ihren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vorstand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirklich lebende Purhépecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Besitz eines Wahlausweises nicht im Verzeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region verspricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlkabine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvorständen gelingt es, die Stimmenauszählung ganz ohne ZeugInnen durchzuführen, fast überall bilden sich Menschentrauben um die Urnen, um zu verhindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Sekretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereitstehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Distrikthauptstadt bekannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Region – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regierungspartei 7 Stimmen errungen hat, versucht eine Patrouille der politischen Polizei, die Urne zu entwenden. Die DorfbewohnerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Patrouille sich geschlagen gibt. Viele verbringen die Nacht in Gruppen um Fernseher versammelt, um die ersten Hochrechnungen abzuwarten. Zweifel und Befürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informationstechnischen Gründen” keine Hochrechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentlichung von Hochrechnungen der Nichtregierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regierungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demokratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Provinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet daraufhin zum ersten Mal in zehn Jahren unzensierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden angehalten., – “um Cárdenas in den Nationalpalast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regierungsinstanzen werden gestürmt. Die Beamten werden “in den Urlaub nach Acapulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Militärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotografieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings angesichts der aufgebrachten BewohnerInnen für die Militärs lebensgefährlich, sie fliegen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán bereiten die BlockiererInnen ihren Besuchern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrauber so lange beschossen, bis er hinter der Vulkankette verschwindet. Eine Versammlung wird einberufen. Was soll geschehen? Bloß vor den Fernsehern hocken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommunalen Landrechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was würdest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lächerliche PRI-Stimme ein Bett im Krankenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaffnen und ihre Wagen verbrennen? Der besonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Zapatistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zukkerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Regen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber erzielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Hauptplatzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt einzusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Genüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…
Cardoso auf dem Weg ins Präsidentenamt
Plano Real als Königsmacher
Die Antwort ist relativ einfach: Der Erfolg des neuen Wirtschaftsplans ist die primäre Ursache für den Aufstieg von Fernando Henrique Cardoso oder FHC, wie er in Brasilien häufig genannt wird. Dessen Karriere als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat begann im Oktober 1993 als Wirtschaftsminister in der Regierung Itamar. In diesem Amt legte er die Grundlagen für einen neuen Stabilisierungsplan, der die zuletzt bei 45 Prozent pro Monat liegende Inflation eindämmen sollte. Aber diesmal war es kein über Nacht erlassener Schockplan, sondern ein transparentes, ausgehandeltes Vorgehen ohne Überraschungen. Cardoso konnte als Wirtschaftsminister nur die Grundlagen für diesen Plan legen, aber dies reichte schon aus, um ihn in den Augen vieler als einzige realistische Alternative zu Lula erscheinen zu lassen. Im April 1994 mußte FHC aufgrund der brasilianischen Wahlgesetze sein Amt niederlegen, um offiziell seine Kandidatur für die PSDB – die sich gern als sozialdemokratische Partei Brasiliens sehen würde – anzumelden. Die Exekution des Planes blieb seinem Nachfolger, dem Karrierediplomaten Recupero vorbehalten. Am 1. Juli, während der Fußball-WM, trat der Plan in seine entscheidende Phase. Die neue Währung Real ersetzte den maroden Cruzeiro. Währungsreformen sind in Brasilien allerdings keine Neuigkeit. Der Real ist die siebte Währung Brasiliens seit 1987. Diesmal wurden zwar nicht nur wie sonst lediglich drei Nullen gestrichen und der Name geändert. Die neue Währung ist an den US-Dollar gekoppelt und die Zentralbank garantiert, daß ein Real nicht weniger als ein Dollar wert sein kann. Diese Umstellung einer Wirtschaft, die weit weniger “dollarisiert” war als etwa die argentinische vor einer ähnlichen Operation, wurde durch die Einführung einer Rechnungseinheit (ein URV = ein Dollar) vorbereitet. Damit sollten die BrasilianerInnen an ein neues und stabiles Preisniveau gewöhnt werden. Am 1. Juli wurde schließich die größte Währungsumstellung in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, so die brasilianische Presse. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde die alte Währung aus dem Verkehr gezogen und durch die neuen “Reais” ersetzt. Verständlicherweise kam es am Anfang zu einigen Umstellungsschwierigkeiten. Hilflos standen die BrasilianerInnen an den ersten Tagen des Planes vor den neuen Preisen in den Supermärkten und versuchten mit Tabellen und Taschenrechnern zu ermitteln, wieviel denn etwa 53 centavos für eine Dose Erbsen seien. Der am letzten Tag des Junis fixierte Umtauschkurs zum Cruzeiro von 1:2750 erleichterte die Rechnerei nicht gerade. Ungewohnt war auch der Umgang mit Münzen, die aufgrund der hohen Inflation fast vollkommen aus dem Gebrauch gekommen waren. Insgesamt vollzog sich nach diesen Anfangsschwierigkeiten die Umstellung aber erstaunlich reibungslos.
Stabile Preise =
Steigende Popularität
Nach zwei Monaten kann nun ein erstes Fazit gezogen werden. Der Wirtschaftsplan hat in den von seinen Schöpfern vorgegebenen Koordinaten funktioniert. Praktisch alle Preise, mit denen die NormalbürgerInnen alltäglich konfrontiert werden, sind seit Inkrafttreten der neuen Währung stabil geblieben. Die Preise für Brot und Reis sind sogar gesunken. Währungsstabilität ohne Preisstop, das ist schon ein kleines Wunder in Brasilien. Allerdings wurden die Preise in der Regel auf einem sehr hohen Niveau in den Real umgewandelt, während für die Löhne ein Mittelwert von vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Am Anfang hielten sich die Klagen über hohe Preise und die Zufriedenheit mit der Stabilität die Waage. Begünstigt wurde der Plan durch einen international schwachen Dollar und steigende Kaffeepreise. Überraschend fiel der Dollarkurs auf 0,89 Real, also weit unter der von der Zentralbank garantierten Parität. Aufgrund des hohen internen Zinsniveaus besteht weiterhin eine hohe Nachfrage auch internationaler AnlegerInnen nach dem Real, was zu dem Verfall des Dollarkurses führte. Zudem explodierten die Börsenkurse sobald sich der Aufstieg Cardosos in den Umfragen abzeichnete. Unruhe machte sich allerdings in der Regierung breit, da der offizielle Inflationsindex noch für August einen Wert von 5,5 Prozent anzeigt. Seitdem ist ein Streit um die verschiedenen Indices entbrannt, die alle andere Inflationsraten im Spektrum von von 0 bis 8 Prozent angeben. Die Regierung argumentiert, ihr Index spiegele noch die Inflation in Cruzeiro wieder, die Inflation sei also “residual” und nicht aktuell. Tatsächlich nähern sich Indices, die nur die Verbraucherpreise nach Einführung des Reals berücksichtigen, der 0 Prozent Marke. Lediglich saison-bedingtes Ansteigen der Obst- und Gemüsepreise wirken sich hier negativ aus.
Der Plano Real erweist sich bisher als ein technisch recht solider Stabilisierungsplan ohne soziale Komponente. Er ist bewußt nicht mit einem Kaufkraftanstieg oder einer Lohnsteigerung verknüpft, um nicht durch eine “Konsumexplosion” die Preisstabilität zu gefährden. Auf der anderen Seite erweist sich der Plan bisher nicht als rezessiv. Das brasilianische Bruttosozialprodukt wird dieses Jahr wohl um 3 bis 4 Prozent wachsen. Die Anpassung der Preise auf hohem Niveau dürfte für die unteren Einkommensgruppen durch den Wegfall der Inflationsverluste zumindest annähernd kompensiert werden, zumal der Mindestlohn zum 1. September von 64 auf 70 Real anstieg. Längerfristige Strukturschwierigkeiten, die vor allem mit dem Problem der internen Verschuldung zu tun haben, werden sich wohl erst nach den Wahlen einstellen. Auch ist zu fragen, wie lange eine Wirtschaft ein so hohes Realzinsniveau (etwa 20 Prozent pro Jahr) durchhalten kann. Hier bleibt Brasilien ein Sonderfall einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie, die fast ohne Kredit funktioniert.
Ein neuer Optimismus
im Land der Weltmeister
Fernando Henrique Cardosos Popularität wuchs mit und aufgrund des Planes. Dessen bescheidene und zunächst kurzfristige Stabilisierungseffekte haben das Land zwar nicht wie zu den Zeiten des Cruzados in Euphorie versetzt, aber neuen Optimismus wachsen lassen. Da paßte der Gewinn der Fußball-WM gut in die Landschaft. Die Regierungspropaganda versucht dies auch direkt auszuschlachten: “Wir haben in der WM gesiegt. Nun werden wir die Inflation besiegen”, verkünden riesige Plakate allerorten. Der Sieg von Romário und Co. hat das alte Gespenst besiegt, daß dieses Land einfach zur Erfolgslosigkeit verurteilt sei. Und wie der Erfolg im Fußball nicht den Glanz der Zeiten Pelés wiederbelebte, so ist man in der Politik mit einem Plan zufrieden, der zwar nicht alle Probleme des Landes löst, aber doch ein Stückchen Stabilität bringt. Fernando Henrique versucht mit jeder Faser seines Körpers, insbesondere aber mit seinem Gebiß, diesen neuen Optimismus in Szene zu setzen. Ein lachender und heiterer Kandidat, kaum einmal agressiv gegen seine Gegner, eher mild mitleidig. So präsentiert sich der alte Dependenztheortiker heute als Protagonist eines breiten Bündnisses, das inzwischen einen guten Teil des Rechten Lagers absorbiert hat. “Er übermittelt die Idee von Sieg, Größe, Glück und Essen im Magen. Der andere (Lula), verkörpert die schmerzhafte Wunde, das Bild des Hungers. Lula ist hervorragend in seiner Analyse. Aber das Volk will keine Analysen hören. Es will Lösungen spüren, an die es glaubt.” So charakterisiert der Politologe Gaudencio Torquato den Gegensatz zwischen Lula und FHC.
Im Land des real existierenden Hungers scheint tatsächlich die schwammige Idee eines neuen Aufschwungs eine ausreichende Grundlage zu geben, um einen Präsidenten zu wählen. Oder wie es der Filmemacher Caca Diegues (“Bye, Bye Brasil”) formulierte: “Wir lernen wieder Brasilien zu mögen.” Gegen das Siegerimage von Cardoso ist Lula immerhin überhaupt noch der einzige Kandidat, der ernsthaft Widerstand leistet. Alle anderen, wie Brizola oder Quercia, dümpeln aussichtslos bei der 5 Prozent Marke herum, genauso wie der erzreaktionäre Politikclown Eneas mit dem Hauptslogan: “Mein Name ist Eneas”.
Die Antwort der PT:
Klagen und Kampf
Der plötzliche Aufstieg des Fernando Henrique hat Lula und seine Arbeiterpartei (PT) auf falschem Fuße erwischt. Im Mai hatte die PT noch Hoffnungen gehegt, bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen, und unter den Anhänger machte sich eine siegessichere Stimmung breit. Auf der Suche nach den Ursachen für den Niedergang beschuldigt die PT vorwiegend die Medien, allen voran den dominierenden Fernsehsender Globo, massiv FHC zu unterstützen. Ebenso kritisiert sie, daß der Regierungsapparat durch die Propaganda für den Plan mehr oder weniger offen in den Wahlkampf eingreife. Die Kritik am Plano Real scheint jedoch einfach nicht zu greifen. Zwar rechnen die PT-Ökonomen vor, daß der Plan drastische Lohneinbußen gebracht habe, aber die Linke scheint zu unterschätzen, daß Stabilisierungserfolge durchaus “Opferbereitschaft” mobilisieren können. Und gegen den oben beschriebenen diffusen Optimismus läßt sich anscheinend nur schwer gegenargumentieren.
Noch gibt die PT allerdings die Schlacht nicht verloren. Die Anhängerschaft der Partei (“Militancia”) soll nun verstärkt auf der Straße den Wahlkampf führen. Ziel ist es, wenigstens einen zweiten Durchgang zu ermöglichen um so nach einer ersten Ernüchterung über die Effekte das Planes das Blatt wenden zu können. Der Einsatz der Aktivisten wird allerdings dadurch erschwert, daß am 3. Oktober auch die Gouverneure sowie Landtags- und Bundesparlamentsabgeordenete gewählt werden. Aufgrund des brasilianischen Wahlsystems sind auch diese Wahlen in höchstem Grade personalisiert, so daß ein großer Teil der AktivistInnen von dem Wahlkampf für seinen/ihren Abgeordneten absorbiert ist. Jedenfalls will der Schwung und Einsatz, der den Wahlkampf Lulas 1989 charakaterisierte, noch nicht recht aufkommen. Die PT wird es schwer haben, einen Wahlsieg Cardosos zu verhindern, wenn nicht noch Unvorhergesehenes passiert. Was in Brasilien schließlich keine Seltenheit wäre.
Kasten:
Wirtschaftsminister verplappert sich!
“Ich habe keine Skrupel. Was gut ist, stellen wir heraus, was schlecht ist, verbergen wir,” sagte kein geringerer als Wirtschaftminister Recupero. Zustande kam diese Äußerung hinsichtlich des Wirtschaftsplans im vertrauten Gespräch vor einem Interview mit einem Globo Reporter. Was beide nicht ahnten: Die Satellitenübertragung zwischen Brasilia und Rio, nur für den internen Gebrauch von Globo bestimmt, wurde von einigen Parabolantennenbesitzern empfangen und aufgezeichnet. Der Skandal war perfekt. Ricupero gab offen zu, den Regierungsapparat in Unterstützung für Fernando Henrique einzusetzen und bestätigte somit alle Beschuldigungen der PT. Als der gesamte Wortlaut des Gesprächs bekannt wurde, zögerte Präsident Itamar nicht: Recupero wurde entlassen. Die Überraschung in der brasilianischen öffentlichkeit war besonders groß, da sich Recupero als gelernter Diplomat in der Öffentlichkeit immer mit betonter Bescheidenheit in Szene setzte und gut das Image des ehrlichen Katholiken verkaufen konnte. Sein Ausspruch “ich habe keine Skrupel” bestätigt geradezu symbolhaft alle negative Voreingenommenheit gegen brasilianische Politiker. Zudem legte Recupero eine unglaubliche Arroganz an den Tag: “Die Regierung braucht mich mehr als ich die Regierung.” Für die PT erschien die Indiskretion des Ministers als ein Geschenk des Himmels und Anfang des Niedergangs von Fernando Henrique. Sie fordert gar die Annulierung dessen Kandidatur wegen verbotener Parteinahme der Regierung für einen Kandidaten. Es bleibt aber abzuwarten, ob der Fall Recupero mehr als eine Episode sein wird. Die Börse reagierte mit einem drastischen Kurssturz.
Nachfolger Recuperos wurde am 8. September Ciro Gomes, Parteigenosse von Fernado Henrique und populärer Gouverneur von Ceará. Diese Wahl könnte nach ersten Turbulenzen durchaus die Position Fernando Henriques stärken. Ciro Gomes ist angesehen, gilt als effektiv und nicht korrupt, hat als Gouverneur in Ceará ein gutes Bild gemacht und verstärkt eher die Verbindung zwischen Plano Real und der Kandidatur Cardosos.
Es riecht ein bißchen nach Krieg
Bei allen vorherigen Interventionen in Südamerika hatte sich das Weiße Haus an die von US-Präsident James Monroe 1823 verkündete Doktrin gehalten: “Amerika den Amerikanern”. Was im eigenen Hinterhof geschieht, hielt man in Washington für eine familiäre Angelegenheit, die den Rest der Welt nichts anging. Nun aber fragte man erst im New Yorker Glaspalast nach, und der UN-Sicherheitsrat gab sein Plazet – mit einer Begründung, die eine Intervention wohl in mehr als der Hälfte der Staaten der Welt rechtfertigen würde. Gibt es denn in Algerien nicht auch eine Militärdiktatur, die in keiner Weise demokratisch legitimiert ist? Gibt es denn im Iran nicht auch Folter, Mord und Totschlag? Und Birma? Und Nigeria? Und Syrien? Und und und.
Der UN-Beschluß – Zeichen politischer Doppelmoral
In völkerrechtlicher Hinsicht ist die UN-Resolution, die die USA zur Intervention in Haiti ermächtigt, höchst problematisch. Von Port-au-Prince geht keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Das Militär des Karibikstaates hat keine erkennbaren Absichten, einen anderen Staat anzugreifen oder auch nur zu bedrohen. Die Armee mit 7.000 Soldaten, einem halben Dutzend veralteten Panzern und zwei verrosteten Flugzeugen wäre wohl auch nicht in der Lage dazu. – Und seit wann sind diktatorische Verhältnisse in einem immerhin souveränen Staat ein Grund für eine internationale Invasion? Von einem Völkermord, den im übrigen die UN-Charta nicht als Grund für eine Intervention vorsieht, kann in Haiti nicht die Rede sein. Seit dem Sturz Aristides vor drei Jahren sind zwar an die 3.000 AnhängerInnen des Präsidenten ermordet worden – im Durchschnitt täglich drei, ein zwanzigstel Prozent der Bevölkerungs. Die Zahl der Todesopfer ist hoch, im Vergleich mit Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt jedoch so ganz unüblich nicht.
Trotzdem: Vor Haitis Küste steht ein US-amerikanischer Flottenverband von 14 Schiffen mit Kampfhubschraubern und Transportmaschinen bereit. Wochenlang haben Marineinfanteristen der US-Armee im nahen Puerto Rico Landeoperationen geprobt. 10.000 bis 12.000 Soldaten warten auf den Befehl, unter ihnen lediglich 266 ohne US-Paß, die als internationales Feigenblatt einer Invasion der Vereinigten Staaten dienen sollen. US-Außenminister Christopher kündigte jüngst an: “So oder so, die Regierung in Haiti wird gehen. Ihre Tage sind gezählt.” Der stellvertretende Verteidigungsminister John Deutch war sogar noch weiter gegangen und hatte eine Invasion auch für den Fall eines Rücktritts der haitianischen Militärmachthaber angekündigt.
Alltag im Ausnahmezustand
Die Machthaber in Port-au-Prince haben inzwischen im Zentrum der Hauptstadt große Spruchbänder anbringen lassen, auf denen sie mit einem schlichten “NON”, “nein”, kundtun, daß sie gegen eine Invasion und gegen das Embargo sind. Auf den Zufahrtsstraßen zum blütenweißen Palast der Regierung liegen bereits Sandsäcke, die aber nicht einmal den alten Schrottautos, die das Straßenbild bestimmen, den Weg ernsthaft zu versperren vermögen. Über das Dach der US-Botschaft huschen schwer bewaffnete Gestalten. Es riecht ein bißchen nach Krieg.
Aber was kümmert all das die Leute? Zu staatlich organisierten Demonstrationen gegen eine Invasion kommen in der Zweimillionenmetropole in der Regel knapp tausend Menschen zusammen, vorwiegend Angestellte der Ministerien, die wohl auch fürs Gegenteil auf die Straße gingen, wenn es nur angeordnet würde. Nein, die Sorgen der Menschen drehen sich um anderes, vor allem um die Preise, die das Wirtschaftsembargo beinahe täglich ein Stück weiter in die Höhe treibt. Für immer mehr wird das Leben zum täglichen Überlebenskampf. Apathie und Resignation haben sich bei einer Bevölkerung breitgemacht, die vor drei Jahren noch auf “Lavalas” (kreolisch für “Erdrutsch”, Sturzflut) setzte, die Bewegung, die Aristide an die Macht gespült hat, die Bewegung, die mit dem Alten aufzuräumen und eine neue Welt zu bringen versprach.
Zwischen Agonie und verhaltener Hoffnung
Heute spricht man selbst in Cité Soleil, dem mit vielleicht 200.000 EinwohnerInnen größten Slum von Port-au-Prince, einer Hochburg der Aristide-AnhängerInnen, nicht mehr laut vom gestürzten Präsidenten. Man ist vorsichtig geworden. Es gibt hier immerhin drei Kasernen, wie die Stützpunkte der Attachés, der bewaffneten zivilen Helfer der Militärs, genannt werden. Die “Ti Legliz”, die haitianische Basiskirche, wirkt hier faktisch weitgehend in der Illegalität. Man trifft sich heimlich, zu viele schon sind ermordet worden. Das Demonstrieren hat man sich längst abgewöhnt.
Willkürherrschaft der “mächtigen Männer”
Die FRAPH, die Partei der Ex-Duvalieristen und Attachés, kontrolliert das Viertel, und sie kriegt sogar Zulauf. Hier, wo es weder Toiletten noch fließendes Wasser gibt, wo die Menschen in Blechverschlägen auf engstem Raum unter unbeschreiblichen Verhältnissen leben, oft nur mehr dahinvegetieren, ohne Aussicht, daß an ihrem Dasein sich je etwas ändern wird, hier gibt es genügend Leute, die sich kaufen lassen oder die eben einfach – pure Überlebensstrategie – sich auf die Seite des Stärkeren schlagen.
Der Stärkere, das ist auf dem Land wieder der “Chef de section”, der lokale Armeechef, im Volksmund “Gwo Neg” – kreolisch für “gros negre”, “großer Schwarzer”, “mächtiger Mann”. Er ist Polizeichef, Richter und Steuereintreiber in einer Person, und oft hat er in seinem Dorf sogar sein eigenes, ganz privat betriebenes Gefängnis. Zu Diensten stehen ihm die “Chouket Lawouze”, die die Drecksarbeit erledigen. Viele von ihnen sind alte “Tontons Macoutes”, Angehörige der aufgelösten Privatmiliz der Duvaliers. Der Staat bezahlt sie nicht, weil es sie offiziell gar nicht gibt. Und so holen sie sich ihren Lohn eben auf eigene Faust, mit der Waffe in der Hand. Während der siebenmonatigen Regierungszeit Aristides sind die “Chefs de section” aus den Dörfern verschwunden, doch nach dem Putsch vom September 1991 waren sie sofort wieder da.
Jetzt sind die anderen verschwunden: die Aktivisten von “Lavalas”. Bei den Lokalwahlen haben sich in den örtlichen Verwaltungen vielerorts Anhänger Aristides durchgesetzt. Nur höchst selten findet man auf dem Land einen Bürgermeister, da die meisten abgetaucht sind. An die 300.000 Menschen, so schätzt die “Kommission für Gerechtigkeit und Frieden” der katholischen Kirche, haben ihr Zuhause verlassen und halten sich irgendwo im Land versteckt. Sie sind in anderen Provinzen – außerhalb der Reichweite ihres “Chefs de section” – bei Verwandten untergekommen oder schlagen sich in der Hauptstadt durch.
“Changement” – Hoffnung auf den “Wechsel”
Für den Fremden ist es schwierig, auf dem Land etwas in Erfahrung zu bringen. Nur die wenigsten sprechen französisch, und Übersetzern aus der Hauptstadt mißtrauen die Leute grundsätzlich. Wenn dann doch ein Gespräch zustandekommt, wird dieses in der Regel schon nach wenigen Sätzen unter einem billigen Vorwand abgebrochen. “Sie werden uns nachher ausfragen”, entschuldigen sich die Mutigeren. Wer sich mit AusländerInnen unterhält, macht sich verdächtig, hat nachher nur Ärger. Doch die wenigen Sätze reichen, um mitzuteilen, daß man für das “changement”, also für den “Wechsel”, die “Veränderung” ist.
“Changement” ist zum Synonym für Aristide geworden, dessen Namen man nicht mehr in den Mund zu nehmen wagt. “Changement” hört sich unverdächtiger an. Manchmal kann das Wort auch mit “Invasion” übersetzt werden. Die meisten Menschen auf dem Land würden wohl eine militärische Intervention begrüßen. Sie würde Aristide zurückbringen und dem Terror der verhaßten “Chefs de section” ein Ende setzen.
Auch in Port-au-Prince, wo es einfacher ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ist die Hoffnung auf die US-Amerikaner überall zu spüren. Nach einer Invasion würde ja auch das Embargo aufgehoben, das die Mittelschichten in die Armut, die Armen ins Elend und die Ärmsten an den Rand des Hungertodes gestürzt hat. Vor allem in Salines und Cité Soleil, den Elendsvierteln der Hauptstadt, wo Aristide jahrelang als salesianischer Priester wirkte und später als Präsident immense Hoffnungen weckte, würde die Mehrheit eine militärische Intervention zweifellos begrüßen. Den AktivistInnen der Basisorganisationen und der “Ti Legliz” fällt es da schwer, die Menschen von den Gefahren einer Invasion zu überzeugen.
US-Marines als künftiges Bollwerk gegen “Lavalas”?
Während regimenahe Intellektuelle davor warnen, daß eine Invasion zu einer antiimperialistischen Mobilisierung breiter Massen und letztlich zu einem langwierigen Bürgerkrieg führen würde, befürchtet man in den Kreisen der politischen Linken, die ideologisch die Basisorganisationen in den Elendsvierteln dominieren, etwas ganz anderes: Wenn die Marines mal da seien, würden sie – anders als im Fall Grenada oder auch Panama – erst mal ein paar Jahre bleiben. Letztlich gehe es der US-Regierung nicht darum, für demokratische Verhältnisse zu sorgen, sondern darum, die Massen zu kontrollieren und “Lavalas”, die Sturzflut, eine revolutionäre Entwicklung, aufzuhalten.
Gewiß müßten die US-Truppen in Haiti länger bleiben als in Panama oder in Grenada, wenn sie verhindern wollen, daß nach ihrem Abzug die alten Verhältnisse wieder zurückkehren. Gewiß würden sie nach einer Entmachtung der haitianischen Militärkamarilla zwangsläufig Ordnungsfunktionen, gegebenenfalls auch gegenüber spontanen Massenbewegungen, wahrnehmen.
Trotzdem scheint das eigentliche Problem der US-Regierung nicht eine revolutionäre Bewegung in Haiti zu sein. Aristide, der im übrigen heute viel moderatere Positionen vertritt als bei seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren, wird schon allein aufgrund der wirtschaftlichen Zerrüttung Haitis mit der Oberschicht seines Landes und auch den USA Kompromisse eingehen müssen, will er seine soziale Basis, die verarmten Massen, nicht noch mehr dem Elend preisgeben. Nein, neben den Wahlen zum Repräsentantenhaus im kommenden November besteht das eigentliche Problem Bill Clintons in den derzeitigen Verhältnissen auf der Karibikinsel. Allerdings nicht, weil sie undemokratisch sind, sondern weil ihnen immer mehr HaitianerInnen in selbstgezimmerten Booten entfliehen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA.
Die permanente Invasion
Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti authorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig berühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht eingehalten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zogen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünktlich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staaten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Präsidentschaft, bis er 1985 durch einen weiteren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte verletzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bisherigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerechnet er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergangenheit mit den Duvaliers so gut auskamen. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cédras, wie alle Diktator-Lehrlinge Lateinamerikas, auf einer nordamerikanischen Militärakademie ausgebildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich dramatisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängigkeitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser historischen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land Lateinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlustes, den jede ihrer Interventionen in anderen Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für jeden ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder jener Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dichter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Gedicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nachdrücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Invasion in Haiti Begleitung haben. Die Formel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumindest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiastische Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Reaktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um während der Pinochet-Diktatur in Chile zu intervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, welches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel vergessen, das 1990 gegenüber Panama angewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lästig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewechselt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschuldige Zivilisten zu töten und nebenbei einige Viertel der Hauptstadt Panamas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die abstoßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die angekündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Medien zu schwerfällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein repressives Regime perfekt in die niederträchtigsten Traditionen der Duvalier-Dynastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte Interventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen Lateinamerikas das geringste Vertrauen einflößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für opportun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Balaguer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämenderweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Invasion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vorteil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen gelingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispielsweise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation notwendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Vereinigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten aufkommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie führen die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperialismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern finanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Amerikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Kolonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsministerium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Möglichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist gefragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten Augusthälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonferenz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern beteiligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine anständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikanischen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen angesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.
Am Vorabend der Militärintervention
Zunächst ist festzuhalten, daß die Putschisten in Haiti einem wirksamen internationalen Embargo unmittelbar nach dem Putsch nur wenige Wochen standgehalten hätten. So löchrig, wie es aber bis zum Mai 1994 angewandt wurde, diente es nur dazu, daß die de-facto-Machthaber sich besser einrichten und sich vor allem am Schmuggel, Schwarzmarkt und Drogenhandel enorm bereichern konnten. Daher wurde dieses Embargo zu Recht von vielen BeobachterInnen kritisiert.
Gleichwohl ging die Forderung nach Aufhebung der Blockade immer in die falsche Richtung. Denn zum einen hatte die Handelssperre nie die massiven tödlichen Folgen, die damit in Verbindung gebracht wurden. Diese waren vielmehr die Merkmale eines völlig verarmten Landes. Zum anderen wurden mit der Forderung nach Aufhebung der Blockade gewollt oder ungewollt die Putschisten unterstützt. Die Volksorganisationen in Haiti hatten sich nämlich für ein wirksames Embargo als möglichst gewaltfreien Weg zum Sturz der Putschisten ausgesprochen.
Der Zickzack-Kurs der USA
Mächtige Kreise in den Vereinigten Staaten waren und sind für das Hintertreiben der wirksamen Anwendung des UN-Embargos verantwortlich. Kein Wunder, gelten doch CIA und Pentagon als offene Gegner einer Rückkehr von Präsident Aristide nach Haiti. Ex-Präsident George Bush sprach sich noch im August 1994 dafür aus, Aristide endlich fallenzulassen, da er zu unberechenbar sei. – Gab es etwas unberechenbareres als die US-Politik gegenüber Haiti in den vergangenen Jahren?
Aber auch die neue US-Administration hat ihre Dunkelmänner: Präsident Clintons Wirtschaftsminister R. Brown war in den achtziger Jahren ein bezahlter Lobbyist für den Diktator Duvalier. In diesem innenpolitischen Kontext bremste Clinton bis zum April 1994 die Forderungen Frankreichs und Kanadas nach schärferen Sanktionen gegen die Machthaber. Erst ein plötzlicher Flüchtlingsstrom nach neuen Massakern der haitianischen Armee zwang die Clinton-Regierung zum Handeln. Hinzu kommt, daß im November in den USA Kongreß- und Gouverneurswahlen stattfinden – unter anderem im Bundesstaat Florida, dem ersten Zielort der boat-people.
Nach Meinungsumfragen in den USA ist nur eine Minderheit für eine militärische Intervention in Haiti, wenn das Ziel die Rückkehr zur Demokratie ist. Wenn aber das Hauptziel der Intervention ist, die haitianischen Flüchtlingszahlen zu senken, befürwortet eine Mehrheit diesen Schritt. Wenn ein militärischer Eingriff der USA Ende September, Anfang Oktober stattfände, könnte dies das Negativimage des Präsidenten in außenpolitischen Fragen aufbessern und sich in Stimmen für die Demokratische Partei ummünzen lassen. Wichtig ist, daß die Intervention so knapp vor den Wahlen erfolgt, daß sich die negativen Auswirkungen noch nicht in den Medien niederschlagen.
Wähnt sich das haitianische
Regime in Sicherheit?
Viele Beobachter behaupten, daß die haitianische Militärspitze sehr clever sei und rechtzeitig vor einer Intervention abtreten würde. An dieser Einschätzung sind einige Zweifel angebracht: Cédras hat von dem Abenteuer mit der Harlan County gelernt, jenem Schiff der US-Navy, welches die UN-Blauhelme am 11. Oktober 1993 nach Haiti bringen sollte. Eine Bande von bewaffneten Zivilisten im Hafen genügte als Abschreckung und das Schiff drehte ab. Damit war die schon ausgehandelte Rückkehr Aristides für den 30. Oktober gescheitert. Cédras glaubt inzwischen, daß er weiter so mit den Vertretern der internationalen Organisationen umspringen kann.
Die haitianische Armee beginnt mit Zwangsrekrutierung und Bewaffnung vieler Leute. Hinzu kommen andere Gruppen, die sich in den letzten Monaten und Wochen sehr schnell bewaffnet haben, darunter ist FRAPH die bekannteste Gruppe. Außerdem haben sich die “Tontons Macoutes” reorganisiert. Von diesen zum großen Teil zwangsrekrutierten Waffenträgern wird kaum einer überzeugt sein, für die richtige Sache zu kämpfen. Die meisten werden beim ersten Schuß die Waffen wegwerfen. Die ultra-nationalistische Vernebelung durch die gleichgeschalteten Medien wird aber auch nicht folgenlos bleiben: Je länger die Intervention auf sich warten läßt, umso blutiger wird sie sein.
Gibt es jetzt noch Alternativen zur Militärintervention?
In Haiti selbst ist Widerstand unmöglich. Die Repression von Seiten der Armee ist schon häufig beschrieben worden. Die Ermordung des Priesters Jean Marie Vincent am 29. August macht deutlich, daß auf der Insel niemand mehr sicher ist. Es gibt wohl kein Land, in dem die flächendeckende Kontrolle durch das System der Attachés und “Chefs de section” so gründlich durchorganisiert ist.
Die HaitianerInnen stehen vor einer schwierigen Situation: Zum einen sind sie geprägt durch die Geschichte der Selbstbefreiung von der Sklaverei und vom Kolonialismus. Daher gibt es starke nationale und unabhängige Tendenzen. Auf der anderen Seite sehen viele gegenwärtig nicht, wie die Armee anders als durch eine ausländische militärische Intervention von der Macht verdrängt werden könnte.
Viele Volksorganisationen und Basisgemeinden haben sich noch in den vergangenen Wochen gegen eine Invasion ausgesprochen. Die Argumentation war weitgehend bestimmt von den Erfahrungen der Interventionen der USA im karibischen Raum in diesem Jahrhundert und von der Einschätzung, daß die USA selbst in den Putsch gegen Aristide verwickelt sind. Daher können sie sich nicht vorstellen, daß die Vereinigten Staaten heute andere Interessen in Haiti verfolgen als vor drei Jahren. Alternativen zur militärischen Intervention werden in keiner Erklärung angeboten.
Auch die haitianische Bischofskonferenz hat – mit Ausnahme des fortschrittlichen Bischofs Willy Romélus – eine Erklärung gegen die Intervention verabschiedet. Darin wird aber nur an die Leiden während der US-Besatzungszeit von 1915 bis 1934 erinnert. Kein Wort über die Verbrechen der de-facto-Machthaber, der Militärs seit dem Putsch. Kein Wort über den Verfassungsbruch von Cédras und der putschistischen Parlamentarier. Die Diktion der bischöflichen Erklärung ist diktiert von der ultra-nationalistischen Propaganda der Militärs, deren Verbrechen mit keinem Wort verurteilt werden. Für die Menschen in Haiti haben die katholischen Bischöfe damit ihre Seele verkauft.
“Freie Hand” für die USA
Die Resolution 940 gibt den USA “freie Hand”. Sie haben den militärischen Oberbefehl über die internationale Interventionstruppe. Hier zeigt sich ein Problem, daß die UN mit diesem Instrument zur Zeit haben: Es gibt keine Truppen, die unter UN-Kommando stehen und “friedensschaffende Maßnahmen” durchführen könnten. Die USA sind nicht bereit, sich an einer solchen von Boutros Ghali geforderten Eingreiftruppe zu beteiligen. Die US-Besatzungszeit in Haiti von 1915 bis 1934 macht das Widersprüchliche dieser Situation deutlich. Dabei wäre das enge Interesse Frankreichs, Kanadas und Venezuelas an der Lösung der haitianischen Krise eine Möglichkeit, die militärische Intervention auf eine breitere Basis zu stellen. Die Teilnahme von vier karibischen Staaten, Großbritanniens und Argentiniens sind nur ein Feigenblatt, um die klare US-Dominanz zu verschleiern.
Was kommt nach der Intervention?
Die vielfachen Forderungen nach dem militärischen Eingreifen in Haiti übersehen, daß die entscheidenden Fragen nach den Zielen der militärischen Intervention nicht geklärt sind:
a) Ist es das Ziel, die Rückkehr zur Demokratie nach Haiti zu fördern? Wann wird das Datum für die Rückkehr des legitimen Präsidenten Aristide festgesetzt und veröffentlicht?
b) Wird die legitime Regierung überhaupt handlungsfähig sein? Oder wird sie vollständig den Anweisungen aus Washington und dem UN-Hauptquartier gehorchen müssen? Wie sieht es mit einer Mandatsverlängerung Aristides aus, dessen offizielle Amtszeit Ende 95 ausläuft?
c) Was wird mit der haitianischen Armee? Wird es nur einige “kosmetische” Veränderungen geben, um diese in ihrer repressiven Funktion zu erhalten? In den USA ist diese Frage nicht geklärt: Clintons Sonderbotschafter für Haiti, William Gray, forderte die Abschaffung der haitianischen Armee, da sie nur eine Mafia-ähnliche Bande sei. Gray stieß aber auf großen Widerstand in der US-Regierung und mußte seine Forderung sofort zurücknehmen.
Wenn im Zuge der militärischen Intervention die Putschisten nicht aus der Macht verdrängt werden, sondern nur die bekannten Führer, die Generäle R. Cédras und P. Biamby sowie Oberst M. Francois, abgelöst werden, bleibt die Armee in ihrer repressiven Struktur erhalten und wird die Demokratisierungsbemühungen des haitianischen Volks weiter bekämpfen.
Voraussetzungen für die
Demokratisierung Haitis
Eine Voraussetzung für den Übergang zu Demokratie und innerer Stabilität in Haiti ist, daß militärischen Befehlshaber der haitianischen Armee verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in den vergangenen 30 Monaten angeklagt werden. Eine Amnestie für die Menschenrechtsverletzungen werden die haitianischen Militärs als Einladung verstehen, immer dann wieder zu putschen, wenn sie es für opportun erachten.
Die haitianische Armee ist zu entwaffnen und die Verantwortlichen für die schweren Menschenrechtsverletzungen sind aus der Armee auszuschließen.
Es ist sofort mit dem Aufbau einer zivilen Polizei zu beginnen, der die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Lande übertragen wird. Dabei dürfen nur solche Angehörige der bisherigen Polizei übernommen werden, die sich keiner Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben. Es ist ein Prüfungsverfahren wie in El Salvador anzuwenden. In gleicher Anzahl sind Polizisten aus den Reihen der Lavalasanhänger zu rekrutieren. Der Aufbau der zivilen Polizei liegt in der Verantwortung der MINUHA, der im Abkommen von Governors Island vorgesehen UN-Polizei- und Militärmission für Haiti.
Abseitsverdächtig
Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kommen. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Insofern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorentscheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konfliktpotential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. Inmitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” praktiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ihnen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren möglicherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politischer Ebene drohen könnte.
Die Karikaturen der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spezialtruppe für innere Unruhen, aufgefordert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beobachter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und deswegen vom Großteil der Mexikaner unbemerkt- überraschte Präsident Carlos Salinas de Gortari mit einer in der Geschichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regierungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, welcher Partei er angehört.” Politische Beobachter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Zedillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzeptiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsidentschaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von offizieller Seite mehrfach zugegeben worden. Umfragen zufolge erwarten 40 Prozent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Menschen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerabdruck erstmals auch das Foto des Stimmberechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Dafür wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte erleben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug befürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschaftskandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unregelmäßigkeiten im Wahlregister nachzuweisen. Die Vorwürfe wurden sogar einziges Thema einer landesweit übertragenen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen stehen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Angaben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legendären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Ergebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcomputer stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsident des nationalen Wahlinstituts, entsprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungünstigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer eingetroffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahltouristen) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beobachter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwürdige Wahlen konnte in den letzten Junitagen nur knapp verhindert werden. Innenminister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Aufstandes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schiedsrichter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Menschenrechtsbeauftragte und Generalstaatsanwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf angegriffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Unparteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Monate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” geworden. Das politische System ist so verwundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) sämtliche Regierungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern votierten grundsätzlich dafür, den bewaffneten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend abgelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbesondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chiapas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blindheit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weigerung, dem demokratischen Druck nachzugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla jedoch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem erklärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Urwalds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaften Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschlagen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Camacho Solis zurück, der Chiapas-Unterhändler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Camacho mehrfach für das Scheitern der Friedensgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich selbst für den geeigneteren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Regierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsident Salinas einen neuen Chiapas-Beauftragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission jedoch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armeeübergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワbergangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewinner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Prozent erhalten. Sogar das bislang Undenkbare scheint möglich: ein Sieg der Opposition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechtskonservativen Partei der nationalen Aktion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsidenten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bislang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnissen zwischen 74 und 92 Prozent gewonnen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint möglich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlieren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabilität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten gekidnappt; eine von der Drogenmafia deponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.
Kasten:
Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunikationsmittel spielen im Konflikt in Chiapas eine Schlüsselrolle. Wer Nachrichten und Bilddokumente produzieren und verbreiten kann, nimmt entscheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt umsomehr, seitdem die Waffen erfreulicherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegenüber der Regierung ist die Einrichtung einer unabhängigen Radiostation der Indígenas, die von ihnen selbst betrieben werden soll, um das Recht auf wahrheitsgetreue Information über lokale, regionale, nationale und internationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Lizenzvergabe in Aussicht gestellt. Damit diese mögliche Radiostation jedoch eines Tages wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinheiten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksreporterinnen und -reporter”. Und natürlich braucht es Radiogeräte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bildern festzuhalten. Eine eigene Videoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereignisse jenseits pressekonjunkturellen Interesses festhalten zu können, als auch um die Möglichkeit zur Verifizierung möglicher strittiger Vorfälle durch Bilddokumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die meisten kulturellen Aktivitäten eines Kommunikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Plattenspieler, die wiederum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrollierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaffungen getätigt werden können.
Spenden unter dem Stichwort “Medienfonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiroamt Köln (BLZ 370 100 50) überweisen. (Stichwort nicht vergessen!)
Verhandlungspoker zwischen Zapatisten und Regierung
Gila: Was haltet Ihr von der Zurückweisung des Regierungsangebotes?
Carlos Rodriguez: Die Zapatisten (EZLN) handelten sehr vernünftig, den Dialog mit der Regierung zu suchen und als ersten Verhandlungspunkt die ökonomische Situation auf die Tagesordnung zu setzen. Denn hier zeigte die Regierung die größte Handlungsbereitschaft. Wären die Gespräche gleich zu Beginn gescheitert, dann wären weitere Verhandlungen völlig unsinnig gewesen. Diese Ausgangssituation ermöglichte dann einen breiteren Dialog mit der Regierung.
Warum hat die Mehrheit der Dorfgemeinschaften den gesamten Vorschlag abgelehnt?
Es geht der Zivilbevölkerung in Chiapas nicht darum, generell Angebote, die die Regierung macht, von vornherein abzulehnen. Aber dieses Angebot war nicht ausreichend. Zu Anfang richteten sich die Hoffnungen der Zapatisten auf eine lokale Demokratisierung. Aber darüber wollte die Regierung nicht verhandeln. Die EZLN akzeptierte bei den Verhandlungen dennoch, daß es dabei lediglich um Dienstleistungen, wirtschaftliche Fragen, Zufahrtswege und Lebensmittelhilfe ging, aber nur aus taktischen Gründen, um die Verhandlungen nicht abbrechen zu lassen. Alle Themen von nationaler Reichweite wurden von der Regierung vom Tisch gefegt. Von den 34 Forderungen der EZLN wurden zwar 32 erfüllt, aber die beiden wichtigsten wurden ausgelassen: Bei den zentralen Forderungen nach lokaler Demokratisierung und kultureller Unabhängigkeit machte die Regierung keine Zugeständnisse.
War es für Euch überraschend, daß das Angebot abgelehnt wurde?
Nein. Das hat uns nicht überrascht. Wir befinden uns gerade in der Phase vor den Wahlen. Das heißt, daß Verhandlungen, die noch vor der Wahl zu Ende geführt würden, zu frustrierenden Ergebnissen geführt hätten. Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die Verhandlungen noch nicht zu Ende sind. Aber die EZLN beobachtet die Wahlen und prüft, ob die Regierung ihr Wahlversprechen, saubere Wahlen durchzuführen, einhält. Ist dies nicht der Fall, greifen die Zapatisten möglicherweise erneut zu den Waffen.
Die Zapatisten haben die Mehrheit der indianischen Gemeinschaften befragt, ob sie trotz der schwierigen Situation ihre Forderungen aufrechterhalten wollen, ` denn es wäre ja möglich, daß sie sich mit den Ereignissen zufrieden gegeben hätten.
Niemand ist mit der jetzigen Situation zufrieden. Wenn die Leute dem staatlichen Angebot zugestimmt hätten, hätte das einen Rückschritt in den Verhandlungen bedeutet. Aus der Zeitperspektive der Indigenas ging alles aber sehr schnell.
Die Zapatistische Bewegung gibt es seit vielen Jahren, und sie hat immer für die Emanzipation gekämpft. Aber sie kam nicht bis nach Chiapas. Dort wurden die Campesinos in der Revolution 1910-1919 als Kanonenfutter für die Landbesitzer benutzt. Die Revolution hat in Chiapas dazu geführt, daß die Landbesitzer noch mehr Land bekamen und die Indigenas mit ihrem Leben bezahlen mußten. Das ist der Grund für die Rückständigkeit der Region.
Die Regierung drückte ihre westliche Zeitvorstellung gegen die der chiapanekischen Bauern durch. Die Regierung legte fest, wann und wie verhandelt wird. Doch die Verhandlungen müssen nach dem Zeitplan durchgeführt werden, den die Indigenas bestimmen. Der Dialog zwischen der Regierung und der EZLN ist also im Moment nicht unterbrochen, sondern die Indigenas setzen ihre Zeitvorstellungen um. Bisher war es immer so, daß die Regierung Angebote machte. Aber es waren immer Vorschläge, die nie gleichberechtigt von beiden Seiten kamen. Die Mehrheit der Indigenas ist für den Dialog, den sie selbst zeitlich bestimmen will. Es gibt auch eine Minderheit, die für den bewaffneten Kampf ist, und etwa zwei Prozent sind für den Plan der Regierung. Bei den Verhandlungen muß darauf geachtet werden, daß alle Meinungen berücksichtigt werden.
Was muß die Regierung anbieten?
Es gibt zwei elementare Forderungen: erstens saubere Wahlen und zweitens eine geordnete Landaufteilung. Alle Großgrundbesitzer müssen ihre Besitzverhältnisse klar offenlegen, und zwar nicht nur in Chiapas, sondern in jedem Bundesstaat. Es muß einen Zensus für landbesitzende Familien geben, damit die getarnten Latifundien entdeckt werden. Sonst ist es möglich, daß jemand in einem Bundesstaat seinen Besitz verkauft, aber noch Land in einem anderen hat. Es muß für die kommenden Wahlen Wahlbeobachtungen durch die eigene Bevölkerung geben, die dafür in besonderen Kursen ausgebildet werden muß, in Zusammenhang mit den Vereinten Nationen. In Mexiko muß es außerdem einen Volksentscheid über eine neue Verfassung geben, über einen neuen Sozialpakt. Diese Verantwortung kommt auf die neue Regierung zu.
Wie stark sind die Verhandlungspositionen und welche Druckmittel hat die ELZN?
Die Verhandlungen haben einen nationalen Charakter, das heißt, alle Forderungen beziehen sich auf das ganze Land. Druck kann nur durch die aktive Teilnahme der Bevölkerung ausgeübt werden. Nach dem Mord an dem PRI-Präsidentschaftskandidaten Colosio war die Bewegung wie gelähmt. Alles geriet aus den Fugen. Noch einmal wäre eine solche Situation verhängnisvoll. Der andere Weg, Druck auszuüben, muß in einer Annäherung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräften des Landes bestehen. Das Ergebnis hängt hier in Chiapas sehr von dem Engagement der Bevölkerung ab. Dabei brauchen wir auch Hilfe von außen – internationale Hilfe.
Wie kann das Problem des Hungers gelöst werden, und was machen die bewaffneten KämpferInnen zur Zeit?
Das was sie am Anfang auch gemacht haben: Sie leben immer noch bewaffnet. Was die Lebensmittel angeht: Es gibt drei Millionen Einwohner in Chiapas, davon sind 90 Prozent Indigenas. Hier herrscht das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen des gesamten Landes. Was wir brauchen, ist humanitäre Hilfe und veränderte Handelsbedingungen. Den Bauern in Chiapas müßte es ermöglicht werden, von direkten Einnahmen zu leben. Alles spricht von Dritter Welt, aber für uns ist es die vierte Hölle. Wenn wir von dem Konzept ausgehen, daß hier (in Deutschland) die Erste Welt ist und von hier aus Pflanzen nach Lateinamerika kamen, muß diese Erste Welt auch zu Lösungen beitragen.
Gibt es eine Gefahr durch das mexikanische Militär?
Es gibt ständig Truppenbewegungen, aber keine Informationen darüber, warum das geschieht. Die Anzahl der Soldaten ist nicht genau bekannt, aber man spricht von 15.000. Die Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung ist groß.
Wer hat als Kandidat im kommenden Wahlkampf die besten Aussichten?
Die wichtigste Kraft ist die Zivilbevölkerung. Zwei Kandidaten haben jedoch die stärkste Unterstützung durch die Presse: der PRI- und der PAN-Kandidat. In den Reihen der Oppositionsparteien gibt es auch charismatische Köpfe, die den politischen Forderungen der breiten Bevölkerung näher stehen. Aber sie tauchen so gut wie nie in den Massenmedien auf.
Also weitere sechs Jahre PRIRegierung?
Sicher. Die Frage bleibt, welche Bündnisse die verschiedenen politischen Kräfte im Parlament schließen, um zu einer Mehrparteienlösung zu kommen. Möglicherweise ändert sich hier einiges, aber es ist für die Bevölkerung undurchsichtig. Wir Indigenas haben nicht teil am parlamentarischen System. Die PRI dominiert alles. Es ist sehr schwierig, in dieses Parlament zu gelangen.
Notmaßnahmen und Putschgerüchte
Die Einführung der Devisenbewirtschaftung durch Präsident Caldera ist der verzweifelte Versuch, die schwere Finanzkrise unter Kontrolle zu bekommen, die Venezuela seit Anfang des Jahres erfaßt hat. Das Vertrauen in das nationale Bankensystem ist zusammengebrochen, die Devisenreserven sind durch Kapitalflucht geplündert. Die venezolanische Währung, der Bolívar, hat seit Anfang des Jahres rapide an Außenwert verloren. Entsprachen im Januar einem US-Dollar noch 90 Bolívares, mußten am 23. Juni schon 200 Bolívares für einen Dollar hingelegt werden. Gleichzeitig hat auch der Binnenwert infolge der kräftig anziehenden Inflation von inzwischen etwa 70 Prozent stark gelitten. Alle Stabilisierungsversuche ohne Devisenkontrolle schlugen fehl, weshalb nun zur Devisenbewirtschaftung gegriffen wurde.
Die ansteigende soziale und politische Unruhe untergrub die Stabilität der Regierung. Es war erneut die Rede von Militärputsch, immer häufiger kam es zu StudentInnenunruhen und anderen Protestaktionen. Das erleichterte Aufatmen nach dem Wahlsieg Calderas im Dezember und die stumme Hoffnung auf eine zwar langsame, aber sichere Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die die Bevölkerung auf diesen alten und bewährten Politiker gesetzt hatte, ist in steigenden Zorn und Ungeduld umgeschlagen. Die erwarteten mutigen Reformen sind nicht eingetreten, wobei die Regierung keine rechte Klarheit darüber herstellte, in welcher Weise sie vorgenommen werden sollten, da die traditionellen Machtinteressen in ihr stärker vertreten sind, als das wohl der Wunsch der WählerInnen gewesen ist.
Immer im Mittelpunkt: die Ölindustrie
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Druck zur Öffnung der nationalen Wirtschaft gegenüber den internationalen Märkten haben in Venezuela einen besonderen Stellenwert. Das Land lebt von der Ausbeutung großer Rohstoff-Lagerstätten, vor allem dem Erdöl, daneben Eisenerz und Aluminium, neuerdings kommt Kohle hinzu. Die Erdöl-Exporte sind trotz der gesunkenen Preise weiterhin die wichtigste Devisenquelle und auch die wichtigste Einnahmequelle für den Staatshaushalt, wenn auch die relative Bedeutung abgenommen hat. Daher ist die Stellung der Ölindustrie in der nationalen Wirtschaft erneut eine zentrale politische Frage.
Seit der Nationalisierung von 1975 ist die Ölindustrie in einer großen Staatsholding, PDVSA, zusammengefaßt, als oberste Verwaltungsinstanz der verschiedenen Nachfolgegesellschaften der großen ausländischen Unternehmen (Lagoven (Esso), Maraven (Shell) etc.). Die Übernahme der schon existierenden Strukturen der Ölkonzerne erleichterte den Übergang in die staatliche Verwaltung und stützte sich auf die venezolanischen Techniker und Angestellten mit anerkannt sehr hohem Qualifikationsniveau. PDVSA ist also das Unternehmen, das den venezolanischen Staat in der Ölindustrie vertritt. Allerdings besteht daneben weiterhin das Ministerium für Energie und Bergbau, das als eigentliche Regierungsinstanz die Kontrollfunktion innehat.
Ölmärkte: Strategische Planungen
PDVSA verfolgte in den vergangenen Jahren eine Politik der “Internationalisierung”, der strategischen Ausdehnung der venezolanischen Industrie in die ausländischen Konsumentenmärkte durch den Aufkauf oder die Beteiligung an Vermarktungsorganisationen für Erdölprodukte in den USA, Kanada und Europa (Citgo, Veba etc.). Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, daß die neue Situation auf dem Erdölmarkt mehr auf die Sicherung von Märkten auszurichten ist als auf die Strategie der hohen Preise. Eine weitere Überlegung venezolanischer WirtschaftsplanerInnen läuft darauf hinaus, daß der Konsum von Erdöl als Energieträger in den nächsten Jahren eher stagnieren oder sogar sinken werde, so daß es “sich nicht lohnt”, das ganze Erdöl im Boden zu lassen und auf höhere Preise zu warten, sondern es besser ist, jetzt größere Mengen abzusetzen, solange es noch wirtschaftlich interessant ist.
Eine weitere wichtige Überlegung von PDVSA geht dahin, daß die bisher erschlossenen Erdöllagerstätten bald erschöpft sein werden und es daher notwendig ist, die Industrie mit kräftigen Neuinvestitionen auf den modernsten technischen Stand zu bringen. Im Bewußtsein der venezolanischen Regierungen und der Bevölkerung ist die Ölindustrie im wesentlichen als eine Einnahmequelle für Devisen präsent, kaum aber als integraler Bestandteil der venezolanischen Industrie, so daß viele WirtschaftheoretikerInnen immer noch die Öleinnahmen und die hinter ihr stehenden Industrieinvestitionen als “nicht-nationale Wirtschaft” einstufen.
So entstand der Konflikt zwischen PDVSA und der Regierung dadurch, daß die Konzernführung beanspruchte, auch in Sachen Besteuerung wie eine ganz normale Industrie behandelt zu werden, um weiterhin adäquat funktionieren zu können. Die Ölindustrie wird traditionell mit einem besonderen Steuersatz belegt: Während die “normalen” Unternehmen maximal 34 Prozent Steuern bezahlen, erhebt der Staat bei im Erdölsektor tätigen Betrieben 67 Prozent. Diese Aufspaltung stützt sich darauf, daß die Erdölindustrie besonders hohe Gewinne machen kann, weil die Preise für ihre Produkte im Ausland durch die spezielle Form der Preisbildung (Renten) besonders hohe Gewinnspannen ermöglichen. Die Abschöpfung dieser hohen Gewinne, die man als nationales Eigentum und nicht als Privatgewinn des Unternehmens betrachtet, werden über ein historisch entwickeltes System von Produktionssteuern (royalty von mindestens 16,6 Prozent des Produktionswertes) und Einkommensteuern vorgenommen. Die Einkommensteuerregelung, seit 1943 als flexible Maßnahme in Händen der Regierung gegen die ausländischen Unternehmen eingeführt, blieb nach der Nationalisierung bestehen. Der Staat hat seitdem auch noch stets weitere Zugriffe auf das Geldvermögen des Konzerns unternommen, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten geriet. PDVSA behauptet nun, dies habe zu einer unzureichenden Kapitaldecke geführt, die die Eigenfinanzierung der Investitionen zur Modernisierung und Ausdehnung der Produktionskapazitäten unmöglich mache.
Abbau von Errungenschaften
Dagegen entwickelte sie zwei Strategien: die Forderung nach Abschaffung des besonderen Steuersatzes für Erdöl und die strategische Verbindung mit ausländischen Unternehmen, die neueste Technologien beherrschen und mit ihr in joint ventures bestimmte Lagerstätten und Erdöltypen (superschweres Öl sowie Bitumen, die sogenannte orimulsión) sowie Erdgas ausbeuten sollen. Das erste Projekt unter dem Namen Cristóbal Colón wurde bereits vertraglich fest vereinbart, ohne allerdings umgesetzt worden zu sein.
Als sehr bedenklich wird von BeobachterInnen kritisiert, daß die Verträge mit dem ausländischen Unternehmen wesentliche Errungenschaften der venezolanischen Ölpolitik dieses Jahrhunderts über Bord geworfen haben. Zum einen versichert Lagoven in einer Sonderklausel als untergeordnetes Unternehmen von PDVSA, daß alle im Vertrag festgelegten Zahlungen fest bestehen bleiben und keine weiteren hinzukommen dürfen. Sollte die Zentralregierung, die Landesregierung oder die Gemeinde durch irgendwelche Steuern oder Abgabenveränderungen höhere Lasten beschließen, müsse Lagoven (also der venezolanische Staat) den ausländischen Partner dafür entschädigen. Dies schränkt die venezolanische Steuerhoheit ein, die 1943 gegen die Ölkonzerne erkämpft werden konnte. Außerdem sieht der Vertrag die Schlichtung von Streitigkeiten vor internationalen Instanzen vor, auf jeden Fall nicht vor venezolanischen Gerichten, was wiederum einen schweren Rückschritt für die venezolanische Souveränität bedeutet, die seit dem Beginn der Ölausbeutung Anfang des Jahrhunderts die venezolanische Justiz zuständig bleiben ließ. Ferner wurde für die PartnerInnen der “normale” Höchststeuersatz von 34 Prozent festgelegt, also auf diese Weise für sie die Ölsteuer abgeschafft, während der Partner Lagoven weiterhin den erhöhten Satz von 67 Prozent zahlen muß. Alle späteren Veränderungen über Steuern etc. müßten also an das ausländische Unternehmen zurückbezahlt werden und zwar nach Maßgabe internationaler Gerichtsbarkeit.
Der Cristobal Colón-Vertrag wurde unter der Regierung von Ramón J. Velázquez, dem Interimspräsidenten, und unter Ausübung von vom Parlament erteilten präsidentiellen Ausnahmerechten unterzeichnet. Es gab zwar heftige Kritik von Seiten der KennerInnen der Ölproblematik, aber ihre Kritiken fanden weder bei der Regierung noch in der Öffentlichkeit Gehör: Die Regierung und der Kongreß verlassen sich auf die hohen PDVSA-Funktionäre, während die Abgeordneten meist nichts von der Materie verstehen und sich durch Reisen und sonstige Einladungen leicht Sand in die Augen streuen lassen.
Der erwähnte Vertrag hat eine tiefe Bresche in die venezolanische nationalistische Gesetzgebung geschlagen und gilt nun als Modell für weitere Assoziationsprojekte. Von Seiten der internationalen Ölindustrie, von PDVSA und von der “Camara Venezolana del Petróleo”, der Sprecherin der privaten Erdölinteressen im Land, wird heftiger Druck ausgeübt, um rasch die Reform der Ölgesetzgebung zu erreichen. Ziel ist, die Ölindustrie auf allen Ebenen zu privatisieren und die Steuersätze zu senken.
Ächzen und Knirschen im Finanzsystem
Das venezolanische Finanzsystem geriet seit Anfang 1994 in den Strudel der Kapitalflucht, der Abwertung und der Bankenzusammenbrüche, Folgen der andauernden Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Die Zentralbank wendete den Abwertungsmechanismus des crawling peg an, durch den der Bolívar gegenüber dem US-Dollar täglich zu einem vorab festgelegten Prozentsatz abgewertet wurde, um den AkteurInnen Planungssicherheit bezüglich des zukünftigen Wechselkurses zu geben. Mit einer über der Abwertungsrate liegenden Verzinsung sollte eine weitere Kapitalflucht vermieden werden. Über die Ausgabe von speziellen Staatsanleihen, den sogenanten Zerobonds, sollte die umlaufende Geldmenge reduziert werden.
Was monatelang gut ging, stellte sich schließlich als struktureller Sprengstoff heraus: Die bis auf 80 Prozent steigende Zinsrate verteuerte die Kreditaufnahme, so daß die Investitionen in die produzierende Industrie stetig zurückgingen. Die wirtschaftliche Stagnation mit gleichzeitig steigender Investition in nicht-produktives Sachvermögen erhöhte ständig das spekulative Finanzkapital, und die Banken konnten ihre Zinszahlungen an die EinlegerInnen immer weniger bedienen, da sie nur aus spekulativen Bewegungen Einnahmen bekamen.
Die Lawine ins Rollen brachte jedoch die politische Seite. Noch vor dem Antritt der neugewählten Regierung Caldera beschloß die Regierung Velázquez im Januar, die drittgrößte Bank des Landes, die Banco Latino, unter dem Vorwurf schweren Betrugs und der Zahlungsunfähigkeit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als politisch wurde dieser Schritt angesehen, weil die Banco Latino des verstorbenen Ex-Finanzministers Pedro Tinoco einer der Standpfeiler des abgesetzten Präsidenten Carlos Andrés Pérez war, der trotz des gegen ihn laufenden Prozesses und seiner Entmachtung noch weiterhin aktiv am politischen Spiel teilnahm. Die führenden Manager der Bank und einer Reihe angeschlossener Banken wurden per Haftbefehl gesucht und flohen teilweise ins Ausland. Die Schließung der Bank während mehr als einem Monat sorgte in manchen Orten, in denen sie die wichtigste lokale Bankniederlassung gewesen war, dafür, daß die Wirtschaft ins Stocken geriet. Viele alte Menschen, denen man besonders hohe Zinsen angeboten hatte, sahen ihre Ersparnisse und somit den Unterhalt für ihren Lebensabend gefährdet.
Flucht in den Dollar
Um die Folgen dieser Intervention zu mildern, wurden die Ersparnisse und kleineren Guthaben garantiert und nach und nach voll ausbezahlt. Sogar Inhaber gut gefüllter Konten erhielten bis zu 10 Millionen Bolívares (ca. 100.000 DM) ausbezahlt, was darüber ging, wurde als Anteil kapitalisiert. Die Bank wurde unter staatlicher Regie wieder eröffnet, und der Präsident rief wiederholt die Bürger zu Vertrauen auf. Die große Gefahr schien nun zu sein, daß ein Vertrauensverlust gegenüber der nationalen Währung die Dollarisierung in Gang bringen würde und viele versuchen würden, noch schnell alles Geld in Devisen zu tauschen und aus dem Land zu schaffen. Da mit der Banco Latino auch die Schwäche der meisten anderen mittleren Banken bekannt wurde, begann die Regierung mittels einer Bankenstützung, den wackligen Instituten wachsende Zuschüsse zu geben, um ihr Funktionieren aufrechtzuerhalten. Die dazu verwendeten Mittel beliefen sich zuletzt auf etwa die Hälfte des gesamten Staatshaushalts von 1994 und waren letzten Endes nur durch Geldschöpfung der Zentralbank aufzubringen.
Als die noch unter Carlos Andrés Pérez ernannte Präsidentin der Zentralbank, Ruth de Crivoy, Anfang April ihren Rücktritt erklärte, führte dieser Schritt zu einer Welle von Kapitalflucht und einem dramatischen Absinken der Devisenreserven. Grund für den Rücktritt de Crivoys war, daß sie die Absicht der Regierung, den Mechanismus des crawling peg aufzugeben, die Zinsen zu senken und die Zero-Bonds durch konventionelle Staatsanleihen zu ersetzen, als eine unzulässige Einschränkung der Hoheit der Zentralbank ansah. Alle Versuche der Regierung, das Vertrauen der KapitalbesitzerInnen wiederzugewinnen, blieben erfolglos. Auch die Entlassung aller MinisterInnen, die den Privatisierungen, der neuen Erdölpolitik und der grenzenlosen Stützung der Banken ablehnend gegenüberstanden, half nichts. Als dann im Juni weitere acht Banken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden und die verbliebenen Banken nicht mehr aus der Gerüchteküche herauskamen, stieg der Dollar auf über 200 Bolívares, und die Regierung entschloß sich zu dem zu Anfang erwähnten drastischen Schritt.
Mit Küchenschaben
an die Macht
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen verschiedener Armee-Fraktionen 1992 war es schließlich ein Prozeß wegen Korruption im Amt, der Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP) Mitte 1993 aus dem Amt entfernte. Dabei spielte der Oberste Staatsanwalt Ramón Escobar Salóm die Rolle des Anklägers, der Oberste Gerichtshof gab der Klage statt, der Nationalkongreß, in dem CAP die Unterstützung seiner eigenen Partei verloren hatte, ersetzte ihn durch den Senator und Geschichtsprofessor Ramón J. Velázquez, ein altes Kongreßmitglied der sozialdemokratischen Pérez-Partei AD, mit dem Auftrag, die Regierungsgeschäfte solange zu verwalten, bis am 5.Dezember ein neuer Präsident gewählt sein würde.
Schon vor der Absetzung von Pérez hatte sich der Zerfall der Vertrauensbasis der traditionellen Parteien gezeigt: Die AD verlor viele AnhängerInnen und stellte einen intern durch Fraktionskämpfe geschwächten Kandidaten auf; Die christdemokratische Oppositionspartei COPEI spaltete sich durch die Kandidatur ihres Gründers Rafael Caldera gegen den offiziellen Parteikandidaten Osvaldo Alvarez Paz, dem Landeschef des Bundesstaats Zulia (Maracaibo). Caldera baute erfolgreich auf sein durch seine klare Haltung gegenüber dem Staatsstreich vom 4. Februar 1992 erworbenes Charisma, nahm eine Minderheit von COPEI-Mitgliedern in seiner kleinen Partei “Convergencia” auf und fand Unterstützung bei den kleinen linken Parteien MAS, MEP, PCV, URD und wie sie sonst alle heißen. Seiner Bewegung trug dies den Namen “El Chiripero” ein, den sie mit Stolz als Wahlpropaganda aufnahm (chiripas sind kleine Küchenschaben, die man nachts beim Lichtmachen als nach allen Richtungen davonrennendes Gewimmel überrascht).
Als vierte wichtige Partei hatte sich bereits seit den Gouverneurswahlen im Vorjahr die Causa R mit ihrem Kandidaten Andrés Velázquez (nicht zu verwechseln mit Ramón J. Velázquez!) profiliert. Aus der Gewerkschaftsbewegung der Stahlarbeiter hervorgegangen besitzt sie ihre regionale Basis im Osten des Landes im Bundesstaat Bolívar. Nach ihrem Wahlsieg im Herzen von Caracas trat die Partei als die eigentliche Alternative zu den alten Parteien auf, gegen BürokratInnen und korrupte PolitikerInnen. Andrés Velázquez gab sich sehr siegesgewiß, aber er überzog etwas sein Image gegenüber den WählerInnen aus den Mittelschichten. Außerdem mußte er in anderen Regionen mit KandidatInnen antreten, die nicht seiner eigenen Partei entstammten, sondern oft als politiqueros, als auf ihren eigenen Vorteil bedachte OpportunistInnen, unangenehm bekannt waren.
In den Wahlkampf griff auch der neue Verteidigungsminister General Rafael Muñoz León massiv ein, dem später vorgeworfen wurde, einen Putsch vorbereitet zu haben. Er nahm mit forschen Reden offen Partei gegen Caldera und vor allem gegen die Causa R und ihren Sprecher in Caracas, Pablo Medina, den er sogar unter dem Vorwand von Waffenbesitz aus früheren Putschversuchen zu verhaften versuchte.
Caldera: 78-jähriger Präsident ohne Mehrheit
Es spricht für die politische Stabilität des Landes, daß trotz allem die Wahlen abgehalten werden konnten. Trotz vieler Anschuldigungen wegen Wahlfälschung wurden die Ergebnisse einschließlich vieler Neuauszählungen akzeptiert. Der Gewinner war Rafael Caldera, der mit seinen 78 Jahren die Rolle des vermittelnden, weisen und doch bestimmten Politikers mit sozialer Rücksichtnahme spielte. Im Parlament jedoch besitzt er keine Mehrheit: Dort fanden sich die beiden Parteien COPEI und AD als Mehrheitsallianz zusammen, während dem chiripero die Fraktionsqualität abgeschlagen wurde, so daß alle Ausschußvorsitzenden den drei großen Parteien AD, COPEI und Causa R angehören. Einerseits hat Caldera damit weitgehend freie Hand gegenüber seinen so ungleichen Gefolgsleuten, muß aber seine gesetzlichen Initiativen mit den beiden Großen abstimmen. Daher wurde von Anfang an von einem möglichen fujimorazo gesprochen, also der Ausschaltung des Kongresses durch den Präsidenten. Die Causa R verlangte sofort die Auflösung des Parlaments, die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung.
Bis zur Amtsübergabe am 2. Februar 1994 regierte Ramón J. Velázquez mit seinen Ministern mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes. Ein neues Bankengesetz wurde auf diesem Weg erlassen, nach dem ausländische Banken in Venezuela direkt zugelassen werden können, die verhaßte Mehrwertsteuer wurde eingeführt, und das Projekt Cristóbal Colón wurde ebenso durchgesetzt wie die staatliche Kontrolle über die Banco Latino. Skandale umwittern das Ende seiner Interimspräsidentschaft: Nur ein Beispiel dafür ist die angeblich durch einen Trick gegen sein Wissen erreichte Unterschrift zur Begnadigung eines hohen kolumbianischen Drogenhändlers.
Vermißt: klare politische Linie
Seit ihrem Amtsantritt am 2. Februar hat die Regierung Caldera im wesentlichen die VenezolanerInnen enttäuscht. Mit der Finanzkrise, dem Rückgang der produktiven Investitionen und der Inflation hat die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Die Zahl der im informellen Sektor außerhalb des erst 1991 in Kraft getretenen neuen, von Caldera durchgesetzten fortschrittlichen, schützenden Arbeitsrechts Tätigen, hat stark zugenommen. Die Sozialversicherung leidet durch Mißwirtschaft an chronischer Geldknappheit, und es gibt immer wieder Demonstrationen der RentnerInnen um ihre Zahlungen.
Statt der erwarteten regulierenden Eingriffe in den Markt zum Schutz der VerbraucherInnen und sozial schwachen Schichten, statt der energischen Lösung der Finanzkrise und des Steuerproblems befaßte sich die Regierung damit, die Folgeprobleme des Eingriffes in die Banco Latino zu lösen, ohne den beteiligten mächtigen Finanzsektoren weh zu tun. Die Mehrwertsteuer auf KonsumentInnen-ebene wurde zwar wieder aufgehoben, aber verschiedene Minister traten immer wieder für ihre Notwendigkeit ein. Die Abwertung der Währung beschleunigte die Inflation, und die Dollarknappheit führte zu Versorgungsproblemen. Die neue Maßnahme der Devisenkontrolle und das Einfrieren der KonsumentInnenpreise finden daher unter der Mehrheit der Bevölkerung großen Anklang.
Ein weiteres offenes Problem ist die Frage der Außenverschuldung. Man hoffte, Caldera werde ein Schuldenmoratorium erreichen, da er immer von der ungerechten Einseitigkeit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gesprochen hatte. Bisher sah es jedoch so aus, als wenn die Unterwerfung unter die Regeln des IWF weitergehen würde. Mit Spannung wird zu verfolgen sein, ob die jüngsten Maßnahmen, die mit den Vorgaben des IWF kaum vereinbar sind, zu einer Neuorientierung des Verhältnisses Venezuelas zum IWF führen wird.
Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen
Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basiskomitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstritten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit PolitkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratInnen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte angedroht, seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stundenlangen Debatten und zahlreichen gescheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Vázquez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchgebracht: Nin Novoa, Mitglied der regierenden Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident Lacalle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos aufgibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Mariano Arana, ein Architekt und Stadtplaner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fortschrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnisses, wie zum Beispiel die MLN-Tupamaros und die UNIR, wehrten sich mit Händen und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen innerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Verhandlungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Führungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnispolitik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politische Bündnisse, in denen man sich engagieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis heraus”. In seiner Abschlußrede stellte Vázquez dann Themen wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidarität und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Eindringlich verlangte er Geschlossenheit und erinnerte an die Geschichte dieser Organisation, die stets eng mit ihren Persönlichkeiten verbunden gewesen sei – wie zum Beispiel dem Gründer der MLN-Tupamaros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Vázquez unter großem Beifall den Delegierten zu. Einige der anwesenden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errichtete die Frente in mehreren Arbeitsgruppen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte beschloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politischer Organisationen, zusammenzuarbeiten. Auslandseinsätze uruguayischer Soldaten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klären.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mercosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegiertenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schuldendienstes und ein machtvoller Zusammenschluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß innerhalb der Frente gerne mit “kritischer Unterstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argentinien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und möglicher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Delegierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mercosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vizepräsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Hauptstadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.
Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel
Als die zehnjährige Sarah in ihrem Versteck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttelreime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem benachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Patenonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr eigener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Janvier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vorfall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben getränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Untergebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unterschicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tätigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Kloster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaffen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wagen sich die Mädchen wieder ans Tageslicht. Die zurückgewonnene Bewegungsfreiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” verdichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szenario des Alltags in einem totalitären System. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Personen gehen einher mit subtileren Einschüchterungs- und Erpressungsversuchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Verhängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Moment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragische Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entsprechend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zusammenzufügen. Die zehnjährige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spielfilm, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach einer Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes der progressive Priester Jean-Bertrand Aristide als Sieger hervor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsident sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitungen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzustellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträchtigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südamerika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multikulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Version von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspektive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur beschloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.
Editorial Ausgabe 240 – Juni 1994
Wäre Rubén Blades neuer Präsident Panamas geworden, dann hätte das in der Redaktion Grabenkämpfe ausgelöst: Kommt der Fußballer aufs Titelbild oder der Musiker? Die Sportler hätten ihren populär-proletarischen Touch ins Feld geführt und die Blades-AnhängerInnen dessen populär-intellektuellen Anspruch dagegengesetzt: Er war es, der Mitte der 70er Jahre die “komplizierten” sozialkritischen Texte einführte, als die Salsa gerade in der New Yorker Einheitssoße untergehen wollte. Außerdem ist sein Regierungsprogramm wie auf uns als Zielgruppe zugeschnitten: Schwerpunkte Umwelt, Frauen, Minderheiten und Basisdemokratie. Und wer ist nicht hingerissen von seinem “Pedro Navaja”, dem lateinamerikanischen Mackie Messer, dem glitzernden Gauner in der Welt der kleinen Leute?
Gewonnen hat in Panama die wirkliche Partei der kleinen Leute und der großen Gauner: die hierarchisch organisierte PRD mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Ernesto Perez Balladares, genannt der Stier. Blades ist ehrlich, unverbraucht und nicht korrupt – das war seine große Chance. Haben dennoch Balladares Eier den Ausschlag gegeben, gegenüber einem Blades, der auch mal über die Frau in sich singt? Oder bestätigt der Sieg der PRD, was sich bei fast allen Wahlen in Lateinamerika wiederholt: Die Regierung wird abgewählt, die beständigste Opposition gewinnt. Die PRD und Rubén Blades Partei Papa Egoró hatten als Einzige schon vor Monaten ihren Kandidaten präsentiert. Doch Blades Partei spaltete sich im letzten Jahr zweimal und zeigte, daß ein paar SoziologInnen noch keine Basisdemokratie machen. Aber auch die Erklärung “Regierung wird auf jeden Fall abgewählt” stimmt nicht ganz: Zweiter wurde nämlich nicht Rubén Blades (18 Prozent), sondern Mireya Moscoso de Gruber (28 Prozent) von der Partei des Präsidenten Guillermo Endara, der 1989 nach der Militärintervention der USA die Regierung übernommen hatte und sich auch danach völlig profillos gezeigt hatte. Die Enttäuschung über die Regierung Endara war in den den letzten beiden Jahren so groß geworden, daß der Grund für Moscosos gutes Abschneiden woanders gesucht werden muß: Wahrscheinlich konnte sie an das Andenken ihres verstorbenen Mannes anknüpfen, den rechtspopulistischen Caudillo Arnulfo Arías. So entsteht eine Interpretation nach der anderen.
In europäischen Zeitungen wurde recht viel über diese Wahlen berichtet. Ein Musiker, der Präsident werden will, inspiriert ungemein, und sei es nur zu netten Überschriften wie “Salsa-Star tanzt auf politischem Parkett”. Und das in den ersten Wahlen nach der US-Intervention wegen Noriegas Drogenhandel. Die Mischung aus Militärs, Musik und Drogen reicht dann, um Wahlen in einer lateinamerikanischen Bananenrepublik irgendwie wichtig zu finden. Problematisch wird das alles, wenn man über die Aufhänger nicht hinauskommt. Wichtig wäre eine Einschätzung gewesen, was die Wahlen für die Menschen in Panama bedeutet haben. Interessiert hätte uns beispielsweise die Zahl der Wahlenthaltungen, die in Umfragen vor der Wahl bei 60 Prozent gelegen hatte. Oder die Wahlkampfthemen, oder die Kanalfrage… Unser Problem: Für viele Länder haben wir unsere Infrastruktur aufgebaut: persönliche Kontakte oder alternative Informationsquellen, aus denen wir solche Einschätzungen bekommen. Für Panama gibt es das alles nicht, und so wären wir über unseren alten immer gültigen Wahlergebnistitel: “Wahlen, die nichts ändern” nicht hinausgekommen. Den aber haben wir schon längst auf den Index gesetzt. Also kein Artikel.
Dennoch: Wäre Rubén Blades Präsident geworden, dann wäre jetzt natürlich das Cover der legendären Platte “Metiendo Mano” auf dem Titelbild. Darauf hält Willie Colón Blades geballte Faust in die Höhe, wie der Schiedsrichter beim Boxkampf. Schade eigentlich, Vielleicht das nächste Mal.
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