Basisbewegung und Demokratie in Chile

Anfänge der Basisbewegungen

Bereits um die Jahrhundertwende beginnen sich die Arbeiter, angeregt durch die Entwicklung in Europa, vor allem in den Städten und den entstehenden Industriezentren zu organisieren. Die Le­bensbedingungen der chilenischen ArbeiterInnen sind zu dieser Zeit unvorstellbar schlecht. Die Erschließung der Ressourcen des fast völlig auf den Rohstoffexport von Salpeter und Kupfer be­schränkten Landes ist nur durch eine menschenverachtende Ausbeutung der chilenischen Arbeite­rInnen möglich. Die aktive Bevölkerung beläuft sich zu dieser Zeit bei einer Gesamtzahl von 3,25 Millionen Einwohnern auf etwa 1,25 Millionen, von denen rund eine Million lohnabhängig be­schäftigt sind.
Verschiedene Arbeitskämpfe und Unruhen in Valparaíso (1903), Santiago (1905) und Iquique (1907) werden durch das brutale Vorgehen der Armee und ohne nennenswerte Erfolge für die Be­troffenen beendet. Allerdings sind diese Arbeitskämpfe Anzeichen einer zunehmenden Organisie­rung: In den Industriezentren werden erste Arbeitervereinigungen gebildet, aus denen später die unabhängigen Gewerkschaften entstehen. 1911 entsteht daraus der erste Arbeiterverband Chiles (FOCH).
Ebenfalls um die Jahrhundertwende entstehen die “juntas de vecinos” ( Nachbarschaftsräte), mit deren Entstehung der Versuch unternommen wird, die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Bildung und Gesundheit zu organisieren und soziale Strukturen und selbstbestimmte Stadtteilar­beit aufzubauen. Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Jahre 1912, die zehn Jahre später unter dem Einfluß der III. Internationalen in Kommunistische Partei Chiles (PC) um­benannt wird, übernimmt sie gemeinsam mit der 1923 gegründeten Sozialistischen Partei Chiles PS) die Organisierung der Arbeiterschaft.
Dennoch bleibt die nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterbewegung bis zum Jahr 1938 prä­sent. Durch ein politisches Bündnis zwischen dem 1936 gegründeten chilenischen Gewerkschafts­dachverband CTCh, der PS, der PC und einer der ältesten Parteien Chiles, der Radikalen Partei (PR) kommt es zur Volksfront-Regierung (“Frente Popular”) unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda. In dieser Phase werden das Sozialwesen und das Arbeitsrecht reformiert und die industri­elle wie strukturelle Entwicklung des Landes vorangetrieben.
Unter diesen Bedingungen setzt eine starke Landflucht in die sich entwicklenden städtischen Bal­lungszentren ein. Der Bevölkerungsanteil der LandarbeiterInnen nimmt zwischen 1940 und 1960 von 43% auf 27% ab, Santiago z.B. erreicht im Jahre 1940 die Millionen-Grenze. Doch für die neuen StädterInnen gibt es weder Arbeit noch Wohnungen, und so entstehen seit 1947 die sog. callam­pas oder poblaciones marginales, die Armenviertel rund um die größeren Städte, in denen die zuströmenden Menschen meist langfristig eine Bleibe finden. Die Arbeiterorganisatio­nen, Gewerkschaften und Linksparteien nehmen sich in der Folgezeit der Problematik der pobladores, der Bewohner dieser Slums an und werden zu ihrem Sprachrohr.

“La victoria” – erste Landbesetzungen

Dies ändert sich zumindest teilweise mit dem 30. Oktober 1957: Verzweifelt wegen des Woh­nungsmangels besetzen Hunderte von obdachlosen Arbeiterfamilien unbebauten Boden des Großgrundbesitzes La Feria am Rande von Santiago. Dies ist die erste Landbesetzung in Chile und Lateinamerika, es entsteht der Stadtteil La Victoria. Die BewohnerInnen beginnen, Ihr Zusammenleben selbständig zu organisieren; sie wählen als kollektive Leitung der Siedlung ein Kommando der pobladores. 1966 wird eine junta de vecinos gegründet, der neben der politischen Leitung die Aufgabe zufällt, die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu organisie­ren. Überwiegend in Eigenarbeit errichten die pobladores eine eigene Schule, eine Poliklinik sowie ein Strom- und Wasserleitungsnetz. Erst später und nach der Anerkennung ihrer Rechtstitel auf den Landbesitz erhalten sie von den christdemokratischen bzw. sozialistischen Regierungen Frei und Allende Unterstützung. La Victoria wird zum Vorbild späterer Landbesetzungen und der Selbstorganisation der pobladores, dieser Stadtteil ist berühmt für seine kämpferische Haltung bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach Selbstbestimmung der politischen Basis. Obwohl viele pobladores – ebenso wie die Siedlungsleitung – naturgemäß enge Bindungen zu den linken Parteien unterhalten, bleiben sie immer unabhängig. Überall in Chile erkämpfen sich nach dem Beispiel von La Victoria Basisgruppen neue Lebensräume. AdMapu beispielsweise, die größte Organisation der Mapuche, der ursprünglichen Bevölkerung des Landes, blickt heute auf einen über 30jährigen Kampf um die Rückerstattung des ihnen von Kolonisatoren, Groß­grundbesitzern und dem chilenischen Staat geraubten Landes. In den allwöchentlichen Vollver­sammlungen der organisierten Mapuches, die in sog. comunidades zusammenleben und nur in dieser Organisationsform bestimmte kollektive Sonderrechte in Anspruch nehmen können, wird über politische Fragen, neue Projekte und v.a. die Möglichkeiten,und v.a. die Möglichkeiten dis­kutiert, der allmählichen Aushöhlung des vor gut 100 Jahren erkämpften Sonderstatus zu begeg­nen
1965 schließlich wird die Bewegung der Revolutionären Linken, MIR, gegründet, die sich als Ver­treterin der Basisbewegung des Industrie- und Landarbeiterproletariats versteht. Nach eigener Darstellung wird der MIR von ehemaligen Parteimitgliedern der Kommunistischen (PC) und So­zialistischen (PS) Parteien Chiles zusammen mit pobladores ins Leben gerufen. Das Ziel seines po­litischen Kampfes ist die proletarische Revolution.

Movimiento Popular – Volksbewegung

Mit dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidenten Allende werden ab 1970 die bereits von seinem Vorgänger Eduardo Frei versprochenen und langersehnten Strukturreformen in der chilenischen Volkswirtschaft in Angriff genommen. Bis 1972 sind eine vollständige Landreform durchgeführt sowie die wichtigsten Industriezweige nationalisiert worden. Gleichzeitig mit den Reformen erhält auch die Basisbewegung massive Unterstützung; Allende versucht, die sozialen Bewegungen in seine Politik einzubinden, die seiner Regierung entscheidend zur Macht verholfen hatten.
Viele Landbesetzungen werden legalisiert, besetzte Stadtteile werden an die Wasser- und Strom­versorgung angeschlossen und bekommen vom Staat Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Die drei Jahre der Unidad-Popular-Regierung werden auch in den eigenen Reihen sehr unter­schiedlich eingeschätzt, wobei der innen- und außenpolitische Druck auf Allende zweifelsohne von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Ein totaler Wirtschaftsboykott der westlichen In­dustriestaaten verschärfte die Situation erheblich, so daß viele der gut gemeinten Reformen ohne die notwendigen strukturellen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt sind. So versucht Allende, der innenpolitisch zusätzlich durch die Opposition von Christdemokraten, Konservativen und Fa­schisten und den destabilisierenden Terror rechtsradikaler Gruppen behindert wird, die Probleme des Landes durch die Einbeziehung der Bevölkerung zu überwinden. Administrative Maßnahmen wie die Beschaffung und Verteilung der Güter des täglichen Bedarfs sollten die Basisorganisatio­nen in die politische Verantwortung einbinden und dadurch die Unidad-Popular-Regierung stüt­zen. Während des Streiks der chilenischen Unternehmerverbände 1972 müssen “kommunale Ar­beiterräte” die Aufrechterhaltung von Produktion und Versorgung und Produktion übernehmen, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern.
Als die Drohungen und der Terror der Rechten immer offener werden und im Juni 1973 in einem Putschversuch junger Offiziere gipfeln, fordert die Gewerkschaftsbasis zusammen mit anderen Ba­sisorganisationen und v.a. dem MIR die Bewaffnung der ArbeiterInnen. Die Errungenschaften der Volksregierung sollen verteidigt werden! Gegen die Institutionalisierung der Basisbewegung durch die Allende-Regierung regt sich allerdings auch Widerstand. Verschiedene Gruppen ma­chen einerseits durch konkrete Aktionen wie Fabrik- und Landbesetzungen und die Bildung von Selbstverteidigungskomitees Druck auf die Regierung, damit diese verstärkt der wachsenden in­nenpolitischen Gefahr von rechts begegnet, bedrängen aber andererseits die Regierung, indem sie in Eigeninitiative Reformmaßnahmen forcieren.

Friedhofsruhe

Am 11. September 1973 schließlich putscht das Militär unter Führung von General Pinochet gegen die sozialistische Regierung und alle sie unterstützenden Kräfte. Das Vorgehen ist dabei selbst für lateinamerikanische Verhältnisse äußerst brutal, wer vorher direkt oder indirekt die Politik Allen­des unterstützt hat, ist nun rücksichtsloser Verfolgung, Folter, Mord und Verbannung ausgesetzt. Sämtliche Organisationen der Volksmacht , von den Stadtteilkomitees bis hin zur gewählten Re­gierung werden zerschlagen, ihre Vertreter beseitigt oder aus dem Land geworfen. Durch den Mi­litärputsch wurden bestimmte Voraussetzungen geschaffen, die für das Verständnis der weiteren Entwicklung Chiles von Bedeutung sind und hier kurz genannt werden sollen:
1. Die Parteistrukturen der Arbeiterpartei sind zerschlagen; die Parteien selbst haben ihre führen­den Vertreter verloren.
2. Parteien und Gewerkschaften sind verboten, ebenso wie die Organisationen der Basisbewegung.
3. Die spätere Umstrukturierung der Wirtschaft nach monetaristischen Gesichtspunkten führt zum Konkurs vieler chilenischer Betriebe, mit der Folge einer extrem hohen Arbeitslosigkeit.
4. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung bedeutet dies nicht nur den Verlust ihrer Menschen­rechte, sondern auch Einbußen beim Lebensstandard.
5. Die produzierende Industrie wird zugunsten des Dienstleistungssektors verdrängt.
6. Die linke Kulturbewegung der Allendezeit und die neu entstehende Kultur des Widerstandes können nur im Untergrund arbeiten.
7. Der Bildungsbereich wird von der militärischen Doktrin dominiert, Offiziere der Armee werden als Universitätsrektoren “delegiert”.
8. Ökologische Gesichtspunkte haben im monetaristischen Wirtschaftsmodell keinen Platz.
9. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gerät durch die Abwesenheit vieler Männer (Verfolgung, Exil, Gefängnis und Mord an Funktionären der UP-Regierung) vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten ins Wanken. Die Frauen beginnen, in traditionellen Männer­domänen politische Arbeit zu leisten; dies soll jedoch nicht die tragende Rolle, welche Frauen schon vorher in der chilenischen Basisbewegung inne hatten, schmälern.

“Frauen sind am direktesten betroffen”

So sind es vorwiegend Frauen, die als erste nach dem Putsch wieder mit politischer Arbeit in der Öffentlichkeit beginnen. Dies entspringt aus der Notwendigkeit, die politische Linke neu zu orga­nisieren, die permanenten Menschenrechtsverletzungen vonseiten des Regimes ausgesetzt ist. Frauen sind von den neuen Lebensumständen am direktesten betroffen. Sie sind im besonders ho­hen Maße arbeitslos geworden, und innerhalb der Familien tragen sie die Hauptlast der neuen Armut. Denn gerade die Frauen erleben täglich hautnah die Schwierigkeit, ihre Familien sattzube­kommen. Bei den politisch verfolgten Frauen kommt in den KZs des Regimes zu den üblichen Foltermethoden noch die sexuelle Gewalt hinzu.
Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt 1977 bei ca. 20%, der Lohnindex sinkt gegenüber 1970 auf 62,9%. In den Elendsvierteln von Santiago erreicht die Arbeitslosigkeit teilweise 90%. Von dieser Situation sind im besonderen Maße die Kinder betroffen: “5.000 Säuglinge sind nach Aussagen chilenischer Kinderärzte infolge akuter Unterernährung von Hungertod bedroht. Sollten sie geret­tet werden, bleiben körperliche und geistige Schäden. 30-40% aller Kinder leiden an Unterernäh­rung, 350.000 leben von den Resten aus Mülltonnen.”
Grundnahrungsmittel, Gas, Wasser und Strom werden zu Luxusartikeln. In Anbetracht dieser Notlage ist das “Nationale Programm der Junta für die Frauen” an Zynismus und Sexismus kaum zu überbieten: “1. Solidarität mit der Junta; Frauen fühlen sich in Sicherheit und haben ihre Ruhe wiedergewonnen, obwohl sie wenig zu essen haben. 2. Die Frau soll Beispiel für ein tugendhaftes Leben sein. 3. Die Frauen müssen Arbeiten zuhause selber machen, um zu sparen. (…)” Wenn hier von “wiedergefundener Ruhe” die Rede ist, dann wohl nur von Friedhofsruhe: 22.000 Frauen sind durch den Putsch zu Witwen geworden. Frauen finden nur noch in der Grauzone des Dienstlei­stungsgewerbes Arbeit, die schlecht bezahlt ist. Viele Frauen müssen sich sogar prostituieren, um sich und ihre Familien durchzubringen. Vor diesem Hintergrund wird die Organisierung im Ge­fängnis und in den Elendsvierteln zur Notwendigkeit, um der alltäglichen Repression etwas ent­gegensetzen zu können. Viele Frauen tragen die Nachbarschaftshilfen, andere organisieren die Kinderbetreuung, damit sie überhaupt arbeiten gehen können.
Durch diese Erfahrungen schreiten Emanzipation und Selbstbestimmung der Frauen sowohl in­nerhalb der Familie als auch im Sozialgefüge der poblaciones voran. Zwar hatte schon die Unidad Popular den chilenischen Frauen zum Beispiel im Betriebs- und Arbeitsgesetz gleiche Möglichkei­ten, Rechte und Bezahlung eingeräumt, aber gleichzeitig auch die Doppelbelastung Familie/Arbeit verschärft. In den Jahren der Repression entsteht mit der Selbstorganisierung und den mitge­brachten Erfahrungen derjenigen Frauen, die aus dem europäischen und nordamerikanischen Exil zurückgekehrt sind, die Grundlage der heutigen chilenischen Frauenbewegung.

Der Kampf gegen die Repression

Nach den Menschenrechtsorganisationen der Anfangsjahre und parallel zur Organisierung in den Gefängnissen und KZs des Regimes gründen sich sogenannte wirtschaftliche Volksorganisationen zur Subsistenzsicherung der Bevölkerung. Mit der wachsenden Verelendung der städtischen Randbevölkerung wächst auch deren Organisationsgrad, was sich in der Entstehung von Volkskü­chen, Bildungseinrichtungen, Kindergruppen, Polikliniken, Kollektivwerkstätten und Selbstver­teidigungsgruppen niederschlägt. Die städtischen Basisorganisationen reagieren allerdings nicht nur in Form dieser strukturellen Maßnahmen auf diese Misere, sondern zunehmend auch mit De­monstrationen und offenem Widerstand. In diesen Jahren ist es besonders schwierig, zwischen den Interessen der sozialen Bewegung und der im Neuaufbau begriffenen Parteistrukturen von PC, PS, MIR, Gewerkschaften, Studentenvereinigungen, Basiskirche und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu unterscheiden.
In den 70er Jahren ist der Widerstand gegen die Diktatur relativ punktuell, Grabenkämpfe inner­halb der Opposition können größtenteils vermieden werden. Die Einigkeit stärkt die Arbeiterbe­wegung so weit, daß 1978 erste Streiks in den Kupferminen stattfinden. 1979 führt das Militärre­gime mit dem Plan Laboral eine restriktive Arbeitsgesetzgebung ein, die zwar einige Rechte der ArbeiterInnen aufnimmt, sie aber faktisch in wesentlichen Punkten beschneidet. Das Streikrecht wird dadurch ausgehöhlt, daß übergreifende Streiks verboten und jeder Ausstand per se auf 60 Tage beschränkt ist. Die Bildung von Dachgewerkschaften ist verboten, die Gewerkschaftsbewe­gung wird systematisch zersplittert.

Nationale Protesttage: Die Jahre 1983-86

Die Selbstorganisationen des Volkes gründen 1981 eine landesweite Koordination CODEPU, das “Komitee zur Verteidigung der Rechte des Volkes”. Die Selbsthilfegruppen integrierten bereits in den vergangenen Jahren zunehmend politische und kulturelle Themen in ihre Arbeit. Sie entwickeln stärkere Widerstandsformen, die ihren Ausdruck u.a. in den nationalen Protesttagen der Jahre 1983-86 finden. In diesen Jahren tragen vor allem die Basisgruppen den Protest aus den Armenvierteln heraus in die Stadtzentren. Mehrere nationale Protesttage werden mit Demonstrationen der pobladores eingeleitet und durch Streiks der ArbeiterInnen und Sabota­geaktionen in Fabriken und Versorgungstruktur (vor allem das Stromnetz wird in Mitleidenschaft gezogen…) unterstützt. Während die Pobladores der marginalen Viertel aus den Erfahrungen der Repression heraus, den tausendfachen Verschleppungen und Einsätzen der Armee auf Demon­strationen, schon seit 1973 Selbstverteidigungsgruppen gegründet haben, ruft seit 1984 die neue “Frente Patriótico Manuel Rodriguez” FPMR zum nationalen militanten Widerstand auf und be­ginnt die Aktionen der pobladores und ArbeiterInnen mit Sabotageakten zu unterstützen. Die Frente begründet ihr Eintreten in den politischen Kampf mit der unübersehbaren Institutionalisie­rung des Regimes, der zunehmenden Mobilisierung der Bevölkerung im Widerstand und der Notwendigkeit, diese Mobilisierung durch militärische Aktionen wirkungsvoll zu unterstützen.

Die Diktatur in der Krise

Diese Einschätzung der Frente Patriótico spiegelt in etwa auch die neue Haltung vieler Gruppen an der Basis wider. Vor allem Mitte 1986 kommt die Hoffnung auf, das Regime könne durch den Volkswiderstand in die Enge getrieben oder gar gekippt werden. Wenn auch die teilweise als avantgardistisch kritisierte Haltung der Frente nicht überall auf Gegenliebe stößt, so reflektieren deren Vorstellungen auf jeden Fall die kämpferische Stimmung der Jahre 1983-86, in deren Verlauf sich eine bedeutende Veränderung in der politischen Landschaft vollzieht. Diejenigen, die am mei­sten Angst vor einer unkontrollierten bzw. unkontrollierbaren Entwicklung des Widerstands im Land haben, die Parteien, können die von den ArbeiterInnen und pobladores erkämpften Frei­räume nutzen, um ihre Rückkehr auf die politische Bühne vorzubereiten. Dies gilt in besonderem Maße für die Christdemokratische Partei (DC), die sehr früh ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich so z.B. in der Gewerkschaftsbewegung etablieren konnte. Dieser Vorsprung ist bis heute in den Führungsgremien der Gewerkschaften zu spüren.
Zunehmend erheben Funktionäre der halblegal auftretenden linken Parteien den Führungsan­spruch innerhalb der Protesttage. Sie benützen die Aktionen in den Poblaciones, um ihre Presseer­klärungen und damit auch ihre Inhalte in der Öffentlichkeit zu lancieren und beginnen damit, ihre Parteienhegemonie der angeblichen “VolksvertreterInnen”, zu installieren. Auch hierüber sind die Meinungen vielfach geteilt, interne Kämpfe um die neuen Führungspositionen spalten die Par­teien. MIR zerfällt in ein halbes Dutzend Gruppierungen, welche Inhalte vom Festhalten am be­waffneten Kampf bis hin zur Einführung der Parteiendemokratie vertreten. Die Spaltungen betref­fen auch die sozialistische Partei Chiles. Die einen begrüßen den Rückgewinn des politischen Ter­rains, die anderen kritisieren daran, daß gerade das Einlassen auf die Plattform der Verfassung von 1980 über kurz oder lang zu Verhandlungen mit den Militärs führen muß; das bedeutet die Anerkennung der Militärs als politische Instanz – entgegen den Beteuerungen der 70er Jahre.

“Fahrplan in die Demokratie”

Tatsächlich verläßt die PDC 1986 auf dem Höhepunkt der Protesttage die Oppositionsplattform und beginnt Verhandlungen mit dem Regime. Den Verlockungen eines “Fahrplanes in die Demo­kratie”,, welcher das am 5. Oktober 1988 stattgefundene Plebiszit (das die Opposition mit ca. 55% Nein-Stimmen gegen Pinochet gewinnt) und die Parlamentswahlen für den 14. Dezember 1989 vorsieht, kann sich auf Dauer keine der “Volksparteien” entziehen… “Die von den Christ­demokraten angeführte gemäßigte Opposition ist generell gegenüber dem Militär verhandlungs- und kompromißbereit. Diese Haltung kommt klar zum Ausdruck in den beiden Grundsatzdokumenten “Acuerdo Nacional” von 1985 und “Bases de Sustentacion de un Regimen democratico” von 1986. So spricht sich hier die gemäßigte Opposition generell für eine nationale Versöhnung aus, erkennt in einer gemischten Wirt­schaftsordnung das Recht auf Privateigentum ausdrücklich an, will Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen nur in belegbaren Einzelfällen vornehmen und lehnt Kollektivverurteilungen (also Verurteilungen des Militärs als Institution) ab; sie akzeptiert, daß das Verfassungsgericht Parteien für verfassungswidrig erklärt, die sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten.”
Viele fragen sich, welche Spielregeln in einem Land gelten können, in dem die Militärs auf Jahre hinweg die Richter bestimmen, eine Verfassung von 1980 nur mit einer unmöglich zu erringenden Zweidrittelmehrheit in den Parlamenten zu ändern ist und Wahlgesetz und Verfassung den Mili­tärs immer eine überdimensionale Präsenz in den Parlamenten sichern. Bisher sind ebenfalls we­der die Geheimdienste noch die Militärs in irgendeiner Weise durch das Volk zu kontrollieren.
Die meisten Parteien sehen diesen Abschnitt als Redemokratisierung Chiles im Sinne einer parla­mentarischen Demokratie an. Tatsächlich beteiligen sich alle Linksparteien, von MIR renovado bis zu den Sozialisten Almeydas am Plebiszit. Viele Basisgruppen jedoch verbinden mit dem Plebiszit sehr viel weitergehende Forderungen: Sie verlangen, ihre in der Vergangenheit aufgestellten For­derungen in den Redemokratisierungsprozeß miteinzubeziehen, vor allem die Beteiligung der Ba­sis am politischen Geschehen. Diese ganzen Forderungen, wie nach einem “Nein zur Straffreiheit für die Militärs”, nach Gerechtigkeit für die Opfer des Regimes, nach der rückhaltlosen Aufklä­rung der begangenen Verbrechen, nach einem sozialistischen Wirtschaftsmodell, nach einer Auflö­sung der Militär- und Geheimdienststrukturen, nach dem Recht auf Ausbildung und Bildung (bei den Mapuche vor allem in ihrer eigenen Sprache, dem mapudungu), dem Recht auf Arbeit und Wohnung und nach Sozialstrukturen und nicht zuletzt nach Freilassung ALLER politischen Ge­fangenen, auch solcher aus militanten Organisationen, beinhaltet das “No – hasta vencer”.

“Keine Verhandlungen mit dem Regime!”

Gerade der Bedarf nach einer radikalen Umwandlung des privatmarktwirtschaftlichen Modells der Junta bedeutet für viele Pobladores die Umsetzung ihrer Forderungen nach sozialer Gerech­tigkeit in einem Land, in dem nach Einschätzungen von SozialarbeiterInnen 1989 ca. 5 Mio. Men­schen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben (bei insgesamt 14 Millionen Einwohnern Chiles), ca. 600.000 Kinder unter 14 Jahren obdachlos und ohne Familie sind und sich teilweise individuell oder für Kinderbanden prostituieren oder klauen gehen müssen, um zu überleben, mehrere hun­derttausend Kinder und Jugendliche drogenabhängig oder spielsüchtig sind. Forderungen, die al­lein mit einer Beteiligung am politischen System der Herrschenden Utopie bleiben müssen.
So kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Parteien. Das heißt nicht, daß die Basisgruppen allgemein die Arbeit der Parteien, der mit ihnen verbun­denen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und anderer parteilicher Strukturen ablehnen, zumal innerhalb der Gruppen viele Parteimitglieder mitarbeiten. Allerdings ist die Enttäuschung über die Funktionalisierung der Basisstrukturen nicht zu übersehen: “Merkst Du, wovon ich rede? Wir kämpfen, bauen eine Kraft auf, die den Pin8 an die Wand drückt und Sie verhandelt in unse­rem Namen, unsere Bewegung hinter sich. Arschlöcher! Erst das Plebiszit und dann in eineinhalb Jahren diese Wahl, die sie jetzt schon vorbereiten. Bald gibts wieder Abgeordnete und saftige Diäten, schicke Parteibüros haben wir jetzt schon. Politik wird wieder eine saubere Angelegenheit. Und wir bleiben die Angeschissenen in der gleichen Scheiße! An der Wirtschaftspolitik wird sich sowieso nichts ändern, auch nicht an der Bildungs- oder Gesundheitssituation.”
Diese Einschätzung teilen – wenngleich auch etwas weniger krass ausgedrückt – viele AktivistIn­nen der Poblaciónes. Eine Frau aus der chilenischen Frauenbewegung schreibt dazu: “Im Zuge der stärkeren Präsenz von Parteien seit 1987 absorbieren sie die sozialen Bewegungen (nicht nur der Frauen), oder sie gaben ihnen schlichtweg keine Partizipationsmöglichkeiten bei Verhandlungen, Verträgen der Ausarbeitung eines Regierungsprogramms und ebensowenig bei der Ernennung der Parlamentskandidaten. Einige Leiterinnen der sozialen Bewegung gaben der politischen Aktivität den Vorrang; so geschehen mit wichtigen Leiterinnen und aktiven Mitgliedern der Frauenbewe­gung, die sich auf Führungsebene der Bündnisparteien begaben oder dazu übergingen, sich an Kommissionen für ein Programm der nächsten Regierung zu beteiligen.” Bei der Institutionalisie­rung der Basisbewegung spielen ebenfalls die NGOs eine tragende Rolle, oft durch Parteistiftun­gen finanzierte Institutionen, welche verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen für alternative Forschungen bieten. So wird an diesen oft kritisiert, daß sie zwar die Folgen der Repression ausrei­chend dokumentiert haben, aber keine strukturelle Forschung zu Lösungsmöglichkeiten der Krise betreiben. Die Enttäuschung über die Parteistrukturen rührt also auch daher, daß Parteien in di­rekter politischer Konkurrenz zu den Basisgruppen aus diesen neue AktivistInnen anwerben, ver­lockend durch die gebotenen Arbeitsbedingungen: “Kaum tauchen in unseren Gruppen, ich meine den Basisorganisationen, fähige Kader auf, die wir in mühevoller Kleinarbeit geformt haben, denn es ist noch keiner vom Himmel gefallen, werden sie von der “cupula” (Spitze) der Parteien oder Gewerkschaften umworben, bekommen Unterstützung, werden vielleicht zum Studium ins Aus­land geschickt und weg sind sie und Du kannst sie getrost vergessen. Wer einmal aus seiner Pobla­ción entwurzelt wird, kommt selten wieder. Im besten Fall wird er einer unserer Genossen Partei­strategen, die im Trockenen sitzen und schön reden.”
In diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis der Parteien, sich zu etablieren und den durch viele Erfahrungen in der alltäglichen Konfrontation erstarkten und selbstbewußter auftretenden Basisgruppen wird sich die Politik der “Redemokratisierung” Chiles innerhalb der Linken abspie­len. Die Basisbewegung hat dabei viele gute Argumente auf ihrer Seite, vor allem was die Kämpfe der Jahre 1983-86 angeht. Sie können auf eine ganze Bandbreite gewachsener Strukturen zurück­greifen.

Die Krise der Linken

Dennoch: Die Linke Chiles insgesamt befindet sich in einer Krise, die der weltweiten ähnelt. Nach Jahren der Militärdiktatur wollen viele Menschen nichts mehr von Gewalt hören, auch nicht von revolutionärer. Der tägliche Kampf ums Brot läßt nicht viel Raum für Utopien. Aus dem solidari­schen Widerstand ist in den langen Jahren der Diktatur eine Ellenbogengesellschaft geworden, nach dem Motto: “Rette sich, wer kann”. Es ist schwierig für die Älteren, mit dem Trauma der er­littenen Niederlage umzugehen, genauso wie es für die in der Diktatur herangewachsene Genera­tion schwierig ist, aus den traumatischen Verhältnissen heraus an den Aufbau ihrer Zukunft zu gehen. Nicht umsonst beschäftigt sich in Chile eine für Lateinamerika bedeutende Anzahl von So­ziologInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen mit dem Thema der “traumatisierten Gesellschaft”.
Diese Legitimierungskrise trifft zuerst die etablierten linken Parteien: Bei den Parlamentswahlen schneiden sie schlecht ab. Es gelingt den Christdemokraten und den sozialdemokratischen Frak­tionen der SozialistInnen, die wichtigsten Ämter der neuen Regierung unter sich aufzuteilen, ob­wohl doch insgesamt 17 Mitte-Linksparteien in der “Konzertation für die Demokratie” zusam­mengeschlossen sind. Bei den kommunalen Neuwahlen zu den 1973-89 vom Pinochet-Regime als Disziplinierungsinstrument in den Poblaciones eingesetzten “juntas de Vecinos” treten zum ersten Mal wieder KandidatInnen der verschiedenen Links-Parteien an. Die Wahlbeteiligung der Pobla­dores liegt in vielen Stadtteilen allerdings nur bei ca. 30%.
Spätestens nach der Wahl 1989 muß sich die parlamentarische Linke fragen lassen, ob sie nicht die meisten ihrer politischen Prinzipien am Eingang zum Parlament wie einen zu schäbig gewordenen Mantel ablegt, ob sie nicht die Basisbewegung nur für ihren politischen Staffellauf in die Parla­mente funktionalisiert hat, hinter der Ziellinie aber ohne die anderen MitstreiterInnen aufs Sieger­treppchen treten will. Noch ist die Situation nicht ausweglos: Es kann viel dadurch gewonnen werden, über die Massenmobilisierung zu Brennpunkten hinaus die gewachsenen Strukturen der Pobladores, Landarbeiter und Mapuche als eine Stärke der Linken zu begreifen und als politische Kraft anzuerkennen. Nur so kann durch die Zusammenarbeit die Basis für einen Erhalt der er­kämpften Freiräume breiter werden. Wenn nicht, dann droht den Parteien der Verlust des Mo­mentes der radikalen Mobilisierung und ihr politisches Konzept wird zum Papiertiger: Von Rechts leicht zu kontrollieren?

Basisbewegungen wieder in der Opposition?

In diesem Sinne sehen sich viele der Basisgruppen heute als neue Opposition. Die aufgeworfenen Fragen verlangen jedoch nicht nur eine Antwort aus Chile, sondern auch von der Solibewegung in der BRD, die sich seit Jahren viel zu wenig um eigenständige Perspektiven einer selbstorganisier­ten, herrschaftsfreien Gesellschaft bemüht und Politik meist mehr als Forderung an irgendwelche Parteien versteht, denn als soziale Kämpfe: “Nun, erst einmal denke ich, solltet Ihr euch um Eure Dinge kümmern. Für hier nehmt Ihr Euch manchmal zu wichtig. Ihr seid uns erst glaubwürdig, wenn Ihr Euer eigenes politisches Projekt habt und nicht nur nach Chile kommt und uns erzählt, was wir tun können. Klar, Euer Geld wird immer willkommen sein. Egal, wem Ihr es anbietet. So­lidarisiert Euch aber mit den Teilen des chilenischen Volkes, die auch nach der offiziellen Einset­zung der Demokratie für einen grundsätzlichen Wandel kämpfen müssen, um eine Chance zu ha­ben, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen. Dann hört auf, die Gruppierungen und Parteien zu unterstützen, die das Projekt der Scheindemokratie propagieren. Informiert in Eu­ren Ländern über die Situation im Land, über die Armut, die Folter, das Morden, die Ungerechtig­keit und die Lügen der Demokratisierung. Und unterstützt solche Gruppen von Menschen, die an­gefangen haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Basisgruppen, die ein radi­kales politisches Projekt verfolgen, oder unterstützt die NGOs, die mit solchen Gruppen zusam­menarbeiten. Aber vor allem: Informiert in Euren Ländern über die Situation hier und bekämpft den Imperialismus dort, wo er herkommt. Da ist jede/r von Euch unentbehrlich.”

Der Demokratisierungsprozeß versandet

Gewerkschaftliche Tradition

In den 40er Jahren war der Gewerkschaftsdachverband von staatlicher Seite gegründet worden, also im Laufe eines florierenden Importsubstitutionsmodells und einer wachsenden nationalen Industrieproduktion. In dieser Zeit konnte der Staat grundlegende soziale Rechte zugestehen und das Lohnniveau erreichte beachtliche Höhen. In dieser Zeit bildete sich eine traditionelle Gewerkschafts­politik heraus, die als vertikalistisch und staatsfixiert bezeichnet werden muß. Gewerkschaftsführer sind in Argentinien in den wenigsten Fällen demokratisch legitimiert. Die Aufstellung von Einheitslisten, sofern Gewerkschaftswahlen überhaupt stattfinden, sichert der bestehenden Führung ihre Posten. Die Tatsa­che, daß im Rahmen der Importsubstitutionsphase der 40er und 50er Jahre die nationalen Industrieunternehmen durch Protektionismus von der Weltmarkt­konkurrenz abgeschirmt waren, ließ eine freie Preispolitik zu, dh. die nationalen Unternehmen konnten höhere Löhne nahezu beliebig über höhere Preise für ihre Produkte abwälzen. Während sich auf der einen Seite eine Interessenkoalition zwischen nationalem Unternehmertum und Gewerkschaften herausbildete, richteten sich die Forderungen der Gewerkschaften immer an den Staat, anstatt sich auf den Klassengegner zu konzentrieren. In den Jahren zwischen 1955, dem Jahr des Putsches gegen Perón, und 1976, dem bisher letzten Militärputsch, konnte das hegemoniale Machtpatt zwischen dieser Interessenkoalition und der liberalen Agrarbourgeoisie nicht überwunden werden. In dieser Situation versuchten die Militärs in wechselnden Allianzen mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ein hegemoniales Bündnis zu bilden. Die zahlreichen Militärputsche und die Tatsache, daß kein gewählter Präsident mehr sein Mandat beenden konnte, sprechen für die extreme politische Instabilität in diese Jahren. Die Militärjunta von 1976 hatte sich zum Ziel gesetzt, auf zweifache Weise diese Tradition zu durchbrechen. Durch ihre Wirtschaftspolitik führte sie eine extreme Deindu­striealisierung herbei und schwächte damit die Position der nationalen Indu­striebourgeoisie. Die brutale politische Verfolgung konzentrierte sich zudem auf kämpferische Gewerkschafter. In zweifacher Weise ging also die Gewerkschafts­bewegung geschwächt aus der Militärdiktatur hervor: ihre Mitgliederbasis hatte sich verschmälert (von 5 Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter 1975 auf 4 Millionen noch nach drei Jahren Demokratie) und die Repression hatte ge­rade die mittleren Gewerkschaftsfunktionäre getroffen, die zu Beginn der 70er Jahre in Opposition zu zahlreichen Gewerkschaftsführungen standen. Letz­tere hatten in den Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonis­mus nach Perons Tod 1974 gewerkschaftliche Oppositionelle sogar mit Todes­schwadronen bekämpfen lassen und während der letzten Diktatur mit der Junta kollaboriert. Auch nach 1983 nahmen sie wieder führende Positionen in der Gewerkschaftsbürokratie ein.

Kontinuität statt Erneuerung

Die Regierung Alfonsin sah sich bei Amtsantritt einer zersplitterten Gewerk­schaftsbewegung gegenüber, deren Führung jedoch nahezu ohne Ausnahme nicht demokratisch legitimiert war. Wir wollen hier die wichtigsten Gruppierun­gen kurz erwähnen:
– Die im Rahmen des “Neoperonismus” (des “Peronismus ohne Perón”) als sich der Führer der Bewegung im Exil befand, entstandenen 62 Organisationen, die nach wie vor durch die Metallergewerkschaft dominiert werden und auf das traditionelle peronistische Modell setzen.
– Die Gruppe der 15, die durch ihre kompromißhafte Haltung gegenüber der neoliberalistischen Politik der Militärs gekennzeichnet sind.
– Die Kommission der 25, die dem Erneuererflügel der Peronisten, den soge­nannten Renovadores nahestehen und für eine Demokratisierung gewerk­schaftlicher Strukturen eintreten. Sie haben jedoch nur auf wenige Gewerk­schaften wie die der Staatsangestellten, der Eisenbahner und Fernfahrer Einfluß.
– Eine unter dem neuen Führer des Gewerkschaftsdachverbandes Saul Ubaldini entstanden Strömung, die die Autonomie der CGT gegenüber der peronisti­schen Partei einklagte.
Wenige Tage nach ihrem Amtsantritt brachte die UCR-Regierung ein Gesetzesprojekt zur “gewerkschaftlichen Demokratisierung” ins Parlament ein. Es sah vor, Interventoren des Arbeitsministeriums einzusetzen, um zu freien Wah­len in den Gewerkschaften aufzurufen und Wahlverfahren einzuführen, die auch Minderheiten berücksichtigten. Dem Projekt war jedoch kein Erfolg beschieden, da die Vorgehensweise der Regierung die verschiedenen Gewerkschaftsblöcke vereinigte, die sich gemeinsam gegen die staatliche Intervention ihrer Organisa­tionen zur Wehr setzten. Das Scheitern der Gesetzesvorlage im Senat trug der Regierung schließlich ihre erste schwere Niederlage ein und führte zum Rück­tritt des Arbeitsministers. Die UCR mußte akzeptieren, daß die Gewerkschafts­bewegung, wenn auch geschwächt und uneinheitlich, peronistisch dominiert blieb und für die Durchsetzung korporatistischer Interessen zusammenstand. Während so die innere Erneuerung durch demokratische Wahlen in den Gewerkschaften nicht eingeleitet werden und sich in der Folgezeit bis auf wenige Ausnahmen die alte Gewerkschaftbürokratie durchsetzten konnte, ver­änderte die UCR-Regierung nun ihre Strategie. Sie stellte eine Allianz mit dem pragmatischsten Flügel der Gewerkschaftsbewegung her, der 15er-Gruppe. Der Chef der Energieunternehmensgewerkschaft, Alderete, wurde 1987 sogar zum Arbeitsminister ernannt. Während so die Verhandlungen über die Wiederher­stellung gewerkschaftlicher Grundrechte, wie auf Abschluß von Arbeitsverträ­gen, das Berufsverbändegesetz oder die Kontrolle über die ehemals gewerk­schaftseigenen Sozialeinrichtungen, die ihnen die Diktatur genommen und die Alfonsinregierung zunächst weiter vorenthalten hatte, um die eigene Verhand­lungsposition zu stärken, in Gang kamen, setzte die CGT-Führung auf frontale Opposition gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie organisierte allein zwischen 1984 und 1989 4000 Streiks, davon 15 Generalstreiks. In traditioneller Weise konzentrierten sich die Kämpfe der Gewerkschaften darauf, Lohnverbes­serungen bei der Regierung einzuklagen, als sich gegen den eigentlichen Klas­sengegner zu richten. Im Gegenteil, 1986 unterstützte die CGT sogar den Wider­stand der liberalen “Sociedad Rural”, der einflußreichen Organsation der Vieh­züchter und Agrarproduzenten, gegen die Regierung. Daß trotz der zahllosen Streiks keine wesentlichen materiellen Verbesserungen für die ArbeiterInnen erreicht werden konnten, verdeutlicht die Schwäche der Gewerkschaften.
Daß sich an traditioneller Politik der Gewerkschaftsbürokratie nichts geändert zu haben scheint, dafür war der Verlauf des sogenannten “Normalisierungskongreßes” im November 1986 beredtes Beispiel. Nach 1945 trafen sich zum ersten Mal wieder die Repräsentanten der argentinischen Gewerkschaften, insgesamt 1400 Funktionäre. Innerhalb von 45 Minuten wurde, anstatt eine Diskussion über die veränderte gesellschaftliche Lage und mögliche Reaktionen darauf zu führen, die neue CGT-Führung per Einheitsliste und Akklamation “gewählt”. Gewerkschaftliche Minderheiten waren schon zuvor aus­geschlossen worden, da nur die Mehrheitsvertreter zum Kongreß fuhren.
Seit 1989 sah für die Gewerkschaften die Lage anders aus. Sie hatten im Wahl­kampf den Peronisten Menem unterstützt. Nach dessen Regierungsübernahme schien es für einen Großteil der Gewerkschaftsbürokratie selbstverständlich, Ministerposten zu übernehmen und, wie sie meinten, die Politik der Regierung von innen heraus im Interesse der Arbeiter mitzubestimmen. Der Gewerk­schaftsdachverband CGT könne nicht gegen eine peronistische Regierung Kon­frontationspolitik betreiben. Während entsprechend dieser Logik Jorge Triaca, von der Gewerkschaft der Plastikarbeiter, und Hugo Barrionuevo, von der Gewerkschaft der Nahrungsmittelindustrie, das Arbeitsministerium und die Kontrolle über die gewerkschaftseigenen Sozialeinrichtungen übernahmen, setzte die CGT-Führung mit Unterstützung der 62 Organisationen auf Lohn­kampf. Zwar versuchte auch diese neue Fraktion lange durch die Vermittlung der Regierung den Bruch der Gewerkschaftsbewegung zu vermeiden. Je deutli­cher jedoch die Menem-Administration ihren liberalen Wirtschaftskurs in Inter­essenübereinstimmung mit dem Großkapital oder zu Beginn sogar unter direkter Leitung von Bunge und Born, dem einzigen argentinischen Multi, verfocht, um so unvermeidbarer wurde die Spaltung der CGT. (Siehe LN 187) Seit dem Gewerkschaftskongreß im Oktober 1989 bestehen zwei CGT-Führungen. Um die internen Demokratisierungsansätze von Seiten der 25er-Kommission dagegen ist es still geworden. Die aktuelle peronistische Regierung setzt zur Zeit knallhart gewerkschaftsfeindliche Gesetze durch. So die neuen Bestimmungen, die das Streikrecht der ArbeiterInnen drastisch einschränken.

Auf dem Weg ins Zweiparteiensystem?

Die parteipolitische Landschaft wurde seit den 40er Jahren durch zwei große Parteien bestimmt: Die bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründete “Radikale Bürgerunion” (UCR), die sich zu Beginn des Jahrhunderts in die wesentliche Interessenvertreterin der wachsenden argentinischen Mittel­klassen verwandelte und bis heute grundlegende demokratische Rechte insbe­sondere bereits 1912 das allgemeine Wahlrecht (allerdings zunächst nur für Männer) durchsetzte, und die in den 40er Jahren entstandene “Gerechtigkeitspartei” (JP) als politischer Arm der peronistischen Bewegung, deren Wirbelsäule (columna vertebral) allerdings immer die Gewerkschaftsbe­wegung blieb. Sie wurde zur Massenpartei der argentinischen Arbeiterklasse und unter der Leitung ihres legendären Führers Perón setzte sie materielle Verbesse­rungen und soziale Rechte für ArbeiterInnen und Marginalisierte durch.
Trotz der Dominanz zweier großer Parteien etablierte sich jedoch nicht – wie z.B. in Kolumbien – ein stabiles Zweiparteiensystem. Die politische Entwicklung nach 1955, dem Sturz Perons durch einen Militärputsch, war vielmehr durch den systematischen Ausschluß des Peronismus von Wahlen, sofern überhaupt welche stattfanden, gekennzeichnet. Achse allen politischen Handelns blieb über Jahr­zehnte hinweg der Antiperonismus. Die Bedeutung dieses Konfliktes scheint nach 1983, nachdem zum ersten Mal bei freien Wahlen die UCR und nicht die Peronisten siegreich war, geringer geworden zu sein, auch wenn sich die Kon­kurrenz der beiden dominierenden Parteien erhalten hat. Unter der Regierung Alfonsin erwies sich vielmehr, daß in kritischen Momenten auch über Partei­grenzen hinweg Führer beider Parteien, so während der Militärrevolte an Ostern 1987, gemeinsam für den Erhalt der demokratischen Institutionen eintraten.
Einzige bemerkenswerte Erscheinung im Parteienspektrum ist die erstmalige Etablierung einer rechtskonservativ-liberalen Partei, der UCéDé unter Führung des neoliberalen Wirtschaftstechnokraten Alsogaray, die als direkte Interessen­vertretung der herrschenden Klasse angesehen werden kann. Trotz ihres doch geringen Stimmanteils sah sich Menem veranlaßt, den bisher nur im Dienste von Militärregierungen stehenden Rechtsaußen zum Wirtschaftsberater zu machen. Der reale Einfluß der UCéDé auf die argentinische Politk ist somit wesentlich größer als ihr Stimmenpotential. Die Linkspateien dagegen spielen in Argenti­nien nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Mehrere Splitterparteien hatten sich in das Wahlbündnis Menems 1989 integrieren lassen. Die einzige Partei mit stär­kerem Zulauf in den letzten Monaten ist das trotzkistische “Movimiento al Socia­lismo” (MAS), die Ende letzten Jahres auf einem Parteikongreß beschloß, sich in eine Massenpartei umwandeln zu wollen. Zum 1.Mai konnte sie sogar 70 000 Menschen für einen Protest gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung mobilisieren. Fühlen sich nach dem Zusammen­bruch der sozialistischen Regime in Osteuropa die Trotzkisten in ihrer Politik bestätigt, so muß abgewartet werden, inwieweit es bei den übrigen Linkspar­teien, insbesondere der kommunistischen PC, zu einem Reorganisationsprozeß kommt.
Zurück zu den beiden großen Parteien: Die Regierungspartei UCR wurde intern völlig dominiert durch die Parteifraktion des Präsidenten “Erneuerung und Wandel” (Renovación y Cambio), die dieser 1968 mitbegründet hatte. Die parteiinterne Linke fügte sich nahezu bedingungslos allen Entscheidungen der Führungsspitze. Bis 1985 erfolgte die Regierungspolitik entsprechend den Grundsätzen des Parteipro­gramms. Zahlreiche Regierungsposten wurden von Alfonsin mit Parteifreunden besetzt und die Regierungspartei suchte die politische Auseinandersetzung im Parlament. Der politische Druck, der nach dem Scheitern der nachfrageorien­tierten Wirtschaftsstrategie unter Grinspun und verstärkt nach Fehlschlagen des Plan Austral 1987 (LN 140), sowie den Militärrevolten von Ostern 1987 und Januar 1988 auf der Regierung lastete, veranlaßte sie jedoch, verstärkt per Dekret zu regieren und verschiedene Posten, zumal den des Wirtschafts- und Verteidi­gungsministers neu zu besetzen. Je mehr die Wirtschaftspolitik Thema in der Öffentlichkeit wurde, umso mehr verlor die Regierung ihren Vertrauensvorschuß bei der Bevölkerung.
In der peronistischen Partei kam es nach der deutlichen Wahlniederlage 1983 zur Gründung einer neuen parteiinternen Strömung, den “Erneuerern” (Renovadores). Ihnen ging es zunächst um neue Organisationsformen und erst in zweiter Linie um programmatische Veränderungen. Die Gruppe von Dissiden­ten, an deren Spitze der ehemalige Wirtschaftsminister der Regierung Isabel Perón von 1975, Antonio Cafiero, stand, stellten sich nun der internen Ausein­andersetzung mit den sogenannten “Orthodoxen”, die noch die Kandidaturen für die Präsidentschaftswahlen 1983 dominiert hatten. Zwar kann keine detaillierte programmatische Abgrenzung zwischen “Renovadores” und “Orthodoxen” vor­genommen werden. Die “Orthodoxen” stehen jedoch in der korporativen Tradi­tion und hatten während der letzten Diktatur mit den Militärs kollaboriert. Die “Renovadores” hingegen versuchten, der Partei innerhalb der Bewegung mehr Gewicht zu geben und damit den Folgen des Deindustrialisierungsprozesses und der Schwächung der Gewerkschaften Rechnung zu tragen. Außerdem beabsich­tigten sie, die Partei zu demokratisieren. Nach der schweren Wahlniederlage bei den Parlamentsnachwahlen von 1985, in denen die UCR in fast allen Provinzen orthodoxe Peronisten aus dem Feld geschlagen hatte, begann der Aufstieg der Renovadores. Bei den zweiten Parlamentsnachwahlen im September 1987 wurde ihr Erfolg deutlich. Das Problem der Renovadores bestand jedoch in der Tatsa­che, daß sie in Annäherung an die UCR-Rethorik – um sich in den Demokratisie­rungsprozeß miteinzubringen – kein eigenes Profil gewinnen konnten. Zur Wirt­schaftspolitik der Regierungspartei schienen sie zudem keine Alternative zu haben. Daß es auch innerhalb der Renovadores unterschiedliche Zielvorstellun­gen gab, zeigte nicht zuletzt die parteininterne Auseinandersetzung zwischen zwei Begründern dieser parteiinternen Strömung um die Präsidentschaftskandi­datur, zwischen Antonio Cafiero und Carlos Saúl Menem.
Nachdem Menem die erstmals stattfindenden parteiinternen Wahlen für sich entscheiden konnte, kehrte er den demokratischen Ansätzen der Erneuerer den Rücken und profilierte sich alsbald als peronistischer Caudillo traditionellen Zuschnitts. Um die Erneuerer-Fraktion ist es seitdem sehr still geworden.

Schwere Niederlagen für die Menschenrechtsbewegung

Die Position der argentinischen Militärs, die ohnehin schon durch das Malvinen-Debakel 1982 und die danach sich häufenden Korruptionsskandale angeschlagen war, wurde durch die Empörung über die Menschenrechtsverletzungen weiter geschwächt. Die Übergangsregierung von Bignone mußte die Niederlage ihrer Politik eingestehen und bereitete den Weg in Richtung freier Wahlen. Der Druck der Menschenrechtsorganisationen, die zum Großteil ihre Arbeit schon zu Beginn der Militärdiktatur 1976 aufgenommen hatten, stürtzte zwar nicht die Diktatur, trug allerdings wesentlich zur Beschleunigung des Redemokratisie­rungsprozesses bei. Das Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung war eindeutig: Die Bestrafung der verantwortlichen Militärs und die Demokratisierung der Gesellschaft waren nun das Wichtigste. Entsprechend wurde Alfonsín mit dem Versprechen, eine vollständige Bestrafung der Militärs einzuleiten, von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt.
Die Menschenrechtspolitik des neugewählten Präsidenten war jedoch alles andere als die versprochene Abrechnung mit der Vergangenheit. Zwar setzte Alfonsín die “Sábato-Kommission” (CONADEP) zur Untersuchung der Men­schenrechtsverletzungen während der Diktatur ein, gab ihr allerdings nicht den Rang einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Dem Abschlußbericht “Nunca Más” von 1984 folgten jedoch aufgrund des mangelnden politischen Willens zunächst keine konkreten Maßnahmen. Vielmehr hatte Alfonsín den Oberbefehlshabern der Streitkräfte schon vor Beginn der Prozesse versprochen, alsbald einen Schlußstrich ziehen zu wollen. Gleichzeitig forderte er von der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen auf wenige Personen, vor allem auf die Juntas, zu beschränken. Konsequenterweise folgte im Dezember 1986 das Schlußpunktgesetz (“ley de punto final”), das vorsah, daß innerhalb einer Frist von zwei Monaten weitere Anklagen gegen Menschenrechtsverletzungen einge­reicht werden könnten. Nach Ablauf dieser Frist sollte die Angelegenheit ein für alle Mal abgeschlossen sein…
Das Ergebnis waren jedoch immer noch 400 Anklagen bis zum Februar 1987.Damit bahnte sich der offene Konflikt zwischen Militärs und ziviler Regie­rung an. Nicht nur, daß die angeklagten Militärs den Vorladungen vor Gericht oftmals nicht Folge leisteten und, wenn überhaupt, erst nach polizeilicher Fest­nahme vor Gericht erschienen. In der Osterwoche 1987 rebellierten einige Trup­peneinheiten unter der Führung von Oberstleutnant Aldo Rico offen gegen die Regierung. Während Alfonsín die von ihm initiierten Massendemonstrationen als “Sieg der Demokratie” feierte, beugten sich die Aufständischen erst nachdem sie wesentliche Zugeständisse von der Regierung erhalten hatten: die Entlassung unbeliebter, regierungsloyaler Generäle, die Einstellung eines Großteils der Pro­zesse und schließlich das im Mai 1987 erlassene “Gesetz des geschuldeten Befehlsgehorsams” (obediencia debida), welches die Menschenrechtsverletzun­gen auf einen “Befehlsnotstand” während der Diktatur abwälzte.
Während die Streitkräfte aus diesem Konflikt gestärkt hervorgingen, erlebte die Menschenrechtsbewegung eine harte Niederlage und starke Demobilisierung. Diese Tendenz wurde in den nachfolgenden beiden Militärrebellionen unter Oberst Seineldín (September 1987, Jahreswende 87/88) noch deutlicher. Gingen bei der ersten Militärrevolte noch die Massen auf die Straße, um die Demokratie zu verteidigen, so befolgten sie nun den Rat des Prä­sidenten: “Geht nach Hause und küßt Eure Kinder”. Das zu Beginn der Demo­kratisierung als wesentlich ausgewiesene Ziel der Strafverfolgung der Militärs endete somit für die zivile Gesellschaft in einer fatalen Niederlage.
Auch innerhalb des folgenden Wahlkampfes zu den Provinz- und Gouverneurs­wahlen spielte die Menschenrechtsfrage keine Rolle mehr. Die demokratische Regierung Alfonsín hatte es versäumt, mit Unterstützung breiter Kreise der Bevölkerung den Militärapparat einer grundlegenden Neustrukturierung und Unterordnung unter eine zivile Kontrolle zu unterwerfen. Die von Alfonsíns Nachfolger Menem Ende 1989 erlassene Amnestie für die wenigen tatsächlich verurteilten Militärs – unter ihnen nun auch die meisten Teilnehmer der Militär­rebellionen – bildete hierbei nur die konsequente Weiterführung der Nicht-Kon­frontationspolitik unter Alfonsín.
Der Angriff von einem Teil der Mitglieder der “Bewegung alle für das Vaterland” (MTP) auf die Kaserne von La Tablada im Januar 1989 stellte eine weitere Zäsur des Demokratisierungsprozesses in Argentinien dar. Nach eigenen Angaben wollten die Leute des MTP einen bevorstehenden Putsch am 23.01.89, der von dieser Kaserne ausgehen sollte, verhindern, indem sie die Kaserene besetzten und so bei der Bevölkerung Aufmerksamkeit erregten. (LN 179, 180, 181) Statt einer solchen harmlosen Besetzung entwickelt sich diese Aktion zu einer zweitägigen Schlacht zwischen Militär und AngreiferInnen, bei der das Militär die mit zum Tei uralten Schrotflinten bewaffneten AngreiferInnen mit schwerem Artilleriegeschütz und Phosphorbomben niederwalzte. Auch heute noch sind die tatsächlichen Motive dieses Angriffes und seine Hintergründe nicht geklärt. Viele Spekulationen deuten darauf hin, daß die Bewegung einer Falschmeldung durch die Geheimdienste aufgesessen und bewußt in diese Katastrophe hineingelenkt worden ist. Dieser Angriff macht allerdings deutlich, welche ohnmächtige Situa­tion innerhalb eines Teils der Linken nach der mißlungenen Menschenrechtspo­litik vorherrschte. Auf der anderen Seite schwächte die MTP durch diese Aktion die sozialen Bewegungen im allgemeinen, die sich in der Folge dieses Angriffes wachsender Repression ausgesetzt sahen. Die Verabschiedung eines Gesetzes , welches den Militärs erneut die Bekämpfung des “internen Feindes der Subver­sion” erlaubt, ist eine weitere direkte Folge diese Angriffes. Gleichzeitig brachte diese Aktion einen wachsenden Vertrauensverlust für linke Bewegungen innerhalb der Bevölkerung mit sich. Die in jahrelanger, mühseliger Kleinarbeit aufgebauten Strukturen der Selbstorganisation in den armen Provinzen und Stadträndern, die auch von einem anderen Flügel des MTP mitgetragen wurden, scheinen heute dahin.
Der Prozess gegen die AngreiferInnen von La Tablada spiegelt auf der rechtli­chen Ebene die nicht erfolgte Demokratisierung allzu deutlich wider. Der Prozeß verlief wie zu Zeiten der Diktatur unter der Regie der Militärs. Hierbei wur­den elementare Freiheitsrechte verletzt und demokratische Spielregeln in überhaupt nicht eingehalten. Letztlich wurden die Militärs durch die Aktion von La Tablada in ihrer Position weiter gestärkt und die Demokratie erlitt eine weitere entscheidende Niederlage.

Ungewisse Zukunft

Der Demokratisierungsprozeß in Argentinien ist nach allen anfänglichen Hoff­nungen ins Stocken geraten. Die ökonomischen Rahmenbedingungen, damit mußte gerechnet werden, haben sich nicht verbessert. Ganz im Gegenteil: Die unerbittliche Haltung des IWF wurde von der Regierung falsch eingeschätzt und hat das Ausmaß der ökonomischen Krise verschlimmert. Zudem jedoch vermied die Regierung Alfonsin die Konfrontation mit den ökonomischen Machtgruppen, die durch Spekulation, geringe Investitionsneigung und Kapitalflucht die entscheidende Entwicklungsblockade für das Land darstellen. Die unkontrollier­bare Inflation hat zusätzlich zur Delegitimierung der Regierung beigetragen. Nachdem die Wirtschaftspolitik im Wahlkampf 1983 kaum eine Rolle gespielt hatte und die Regierung trotz wirtschaftspolitischer Rückschläge noch 1985 einen Vertrauensvorschuß in der Bevölkerung genoß, schob sich langfristig die Wirt­schaftskrise in der öffentlichen Diskussion in den Vordergrund. Die ursprünglich wesentlichen Themen, wie die Menschenrechte und die Demokratisierung, spie­len heute in der politischen Diskussion keine Rolle mehr. Der UCR fehlte der politische Wille zu strukturellen, gesellschaftlichen Veränderungen. Aber auch die übrigen politischen Akteure neigten dazu, gesamtgesellschaftliche Interessen den kurzfristig korporatistischen unterzuordnen. Der größte Hoffnungsträger für den Demokratisierungsprozeß, die Menschenrechtsbewegung, verlor nicht nur durch den Machtzuwachs der Militärs und die ökonomische Krise, sondern auch durch ihre starren politischen Positionen an Bedeutung. Eine demokratische Alternative scheint für Argentinien in nächster Zeit nicht erreichbar. Nicht nur die derzeitige Regierung greift auf orthodoxe, undemokratische Strickmuster zurück. Auch in der Bevölkerung wächst die Neigung, autoritäre Lösungen zu bevorzugen.

Ach Matilde

“Yo te he nombrado reina “(Ich habe dich zur Königin ernannt, Pablo Neruda, Los versos del capitán)

Hinter jedem großen Mann steht eine Frau. Das wissen wir ja schon.Trotzdem werde ich wütend,wenn die Frau hinter dem Mann liebevoll und gerührt über das große Kind schreibt, das ihr die ganze Last des Alltags aufbürdet, denn er ist ja “el poeta”, “der Dichter”, Pablo Neruda.
Und wenn er eben (zunächst) anderweitig verheiratet ist und seiner Ehefrau nicht bescheidsagen will, ist es halt normal, monatelang, jahrelang in Warteposition zu verharren, die eigene Existenz, den Beruf aufzugeben, nach Santiago zu ziehen, ein Liebesnest aufzubauen und zu warten, warten, warten. Klassischerweise erfährt die Ehefrau durch einen entlassenen Dienstboten von der Nebenfrau (S. 175) und verzieht sich dann diskret ins Ausland.
Und dann später, als Neruda und Matilde zusammenleben, ist es nur natürlich, daß sie seine Manuskripte tippt, seine Freunde bewirtet, die riesigen Souvenirs, die Pablo liebt (Galionsfiguren, Statuen, einmal 14 Koffer und einen Hund, usw.) durch die Welt schleppt, während er, natürlich, wegen wichtiger Termine vorausjettet – und das sind nur ein paar Beispiele für all das, was sie selbstverständlich und gern für “das große Kind” auf sich nimmt.
Später dann ist sie “die Witwe” und auch das ist für Matilde ein Vollzeitjob, läßt ihr keinen Raum für eine eigenständige Existenz. Sie ist ganz dem Andenken an Pablo geweiht, auch die Diktatur geht relativ weit an ihrem Bewußtsein vorbei.
Ach Matilde, du warst der Anlaß für so wunderschöne Gedichte von Pablo Neruda, aber mußtest du wirklich so ein Frauchen sein, und mußtest du wirklich dieses Buch schreiben? Konntest du von keinen Konflikten berichten, weil Neruda ja tot und ein nationales Denkmal ist? Mußt du (auf S. 153) damit kokettieren, daß Neruda dich “als die politisch dümmste Frau einstufte, die er je kennengelernt hatte”?
Nun ja, vielleicht ist es ja gut, wenn du (ungewollt) den Dichter – zumindest für mich – von seinem Sockel holst und zeigst, was für ein fürchterlicher Macho er gewesen sein muß. Und hinter jedem Macho steht halt (mindestens) eine Frau.
Übrigens steht Matilde offenbar nicht einmal das Recht auf ihren eigenen Tod zu. Volodia Teitelboim, der derzeitige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles hat in seinem Buch Pablo Neruda (1984) alles bestätigt, was die Opferbereitschaft und Hingabe der Matilde betrifft, ihr Dasein als Witwe als nationale Aufgabe dargestellt und Matildes vorbildliche Haltung sehr gelobt. Über ihren Tod (1985) schreibt er: “Ein zwischen Liebenden wirkendes, schwer definierbares Gesetz war hier am Werk. Wie auch Pablo wurde sie rasch vom Krebs verschlungen.” (S. 658f.)
P.S. Übrigens, die Memoiren Nerudas, deren Veröffentlichung Matilde, wie sie beschreibt, nach seinem Tod mit so viel Liebe und Mühe besorgt hat, erwähnen Matilde durchaus auch, und sehr freundlich, in mehreren kleineren Passagen.

Matilde Urrutía, Mein Leben mit Pablo Neruda, deutsch von Ursula Roth, Aufbau Verlag o.O., o.J. (ca 1988).

Die Misere hat ein weibliches Gesicht

Der Feminismus, sagt Consuelo, ist in unserem Land sehr widersprüchlich. Wir haben uns die Straße erobert und wir haben das Recht, arbeiten gahen zu können, erkämpft, aber dafür versklaven wir unsere Hausangestellten. Ohne die Frauen, die in unseren Häusern arbeiten und an die wir uns gewöhnt haben, könnten wir die Doppelbelastung gar nicht schaffen. Deshalb kommen die lateinamerikanischen Feministinnen meistens aus der Mittel- oder Oberschicht. Auch die Befreiung der Mittelschichtsfrauen geht auf Kosten von Frauen.

Was heißt Doppelbelastung für eine politisch aktive Frau in Kolumbien?

Consuelo hat bis vor wenigen Wochen in Medellín gelebt. Ihr Mann war eine führende Persönlichkeit in der UP (Union patriótica -Bündnis linker Gruppierungen), bis er vor wenigen Monaten umgebracht wurde. Auch Consuelo ist in der UP aktiv gewesen, außerdem hatte sie unabhängig von der UP mit Frauengruppen und Frauenorganisationen in Medellin gearbeitet. Neben Beruf und politischer Arbeit war sie für den Haushalt zuständig. Sie hatte Hausangestellte -natürlich Frauen -aber für Einkauf und Organisation war eben doch sie und nicht ihr Mann verantwortlich. Sie erzählt, daß sie im Laufe ihrer Ehe versucht hätten, so etwas wie Arbeitsteilung einzuführen, aber immer kam etwas dazwischen, konnte er dann doch nicht. Wenn Männer sich an Hausarbeit beteiligen, sagt sie, tun sie es nie, weil sie sich auch für den Ablauf im Haus verantwortlich fühlen, sondern sie sehen es als “Hilfe” bei einer Aufgabe an, die der Frau zusteht.

Es gibt exzellente Gewerkschaftsführer, die die größten Machos sind

Eigentlich ist es keine Doppelbelastung, sagt Marta, sondern mindestens eine dreifache: Arbeit im Beruf, politische Arbeit und Hausarbeit. Und wenn sich eine Frau politisch engagiert, dann befreit sie das noch lange nicht von der Unterdrückung als Frau. Es gibt zum Beispiel exzellente Gewerkschaftsführer, die aber die größten Machos sind. Deshalb, meint sie, hat es keinen Sinn, den Machismo hinzunehmen, nur weil der Mann eine wichtige politische Funktion hat.

Was heißt es, als Frau in einem Land wie Kolumbien politisch aktiv zu sein?

Frauen wie Marta und Consuelo, die nicht nur einfache GewerkschaftsmitgliederInnen waren, sondern hohe Posten bekleideten, sind auch in Kolumbien die große Ausnahme. Beide arbeiteten als Lehrerinnen -auch in Kolumbien ein typischer Frauenberuf -,aber die Direktoren der Schulen sind -wie bei uns -Männer. Die Frauen gehören vielleicht der Gewerkschaft an, aber die Gewerkschaftsführer sind bis auf wenige Ausnahmen wieder Männer.
Und aktive Frauen müssen sich nicht nur in diesen Strukturen durchkämpfen, sie müssen sich außerdem damit auseinandersetzen, daß ihnen von der Gesellschaft und von ihren Männern Schuldkomplexe eingeredet werden. Männer, sagt Marta, können ihren Machismo immer rechtfertigen. Sie sagen, die Frau sei eine Schlampe, sie vernachlässige die Hausarbeit, sie sei eine Klatschtante oder sie könne nicht kochen. Und für die Frau ist es schwer, sich von den herrschenden Normen zu befreien, die fatalerweise auch von Frauen vertreten werden.
Die Männer haben so eine Doppelmoral, und sie sorgen für den Schuldkomplex der Frauen. Martas Mann hatte zum Beispiel in der Gewerkschaft einen niedrigeren Posten als sie. Und deshalb galt sie bei vielen als Hure, oder als schlechte Mutter, die die Kinder vernachlässig, als eine, die sich mehr um ihre Freunde kümmert als um die Kinder. Aber um Karriere zu machen, sagt sie, muß mensch . sich um Kontakte kümmern. Muß die Beziehungen zu anderen pflegen. Wenn Du das als Frau machst, bist Du eine Hure oder ein Mannweib. Wenn Männer das machen, ist es normal. Und die Mannweiber werden dann “Margaret Thatcher” genannt.

In Kolumbien hat man keine Zeit mehr, um die Toten zu trauern

Wir erzählen den Kolumbianerinnen von palästinensischen Frauen, die deutlich gemacht haben, daß in ihrer politischen Situation Feminismus einen anderen Stellenwert habe als in Europa. “Wie sollen wir gegen unsere Männer kämpfen, wenn die doch im Gefängnis sitzen?” Eine berechtigte Frage, finden wir. Wie ist das in Kolumbien?

Consuelo meint, in Kolumbien sei die Situation anders als in Palästina. Ihr Land befinde sich nicht im erklärten Krieg gegen eine fremde Besatzungsmacht, in Kolumbien herrsche der “schmutzige Krieg”. Wir kämpfen nicht gegen einen gemeinsamen äußeren Feind, sondern erleiden den Terror unseres eigenen Regierungssystems, den aber Männer und Frauen unterschiedlich erfahren. Wir Frauen haben seine “alltäglichen” Folgen auszubaden. Die Misere, sagt sie, hat ein weibliches Gesicht und die Gewalt auch.

Warum?

Sieh mal, sagt sie, man begräbt den Mann, der umgebracht wurde, in drei Stunden. Aber wer weiterleben muß, das ist die Witwe mit ihren Kindern. Und die bleibt für den Rest ihres Lebens Witwe. Die Frauen tragen die Last, die ganz all-tägliche Last des Krieges. Die Frauen kümmern sich um die Kinder, sie müssen weiterleben, sie müssen das Überleben in diesem Krieg organisieren. Und sie haben die Angst um die Männer.

Wir fragen: aber es werden doch auch Frauen umgebracht, die man in drei Stunden begräbt.

Ja, sagt sie, aber das ist erstens die Ausnahme. Weil die Männer in den hohen Posten sitzen, werden vor allem sie umgebracht. Und zweitens, wenn eine Frau umgebracht wird, was machen die Männer dann? Sie bringen die Kinder zu Großmutter oder Tante, und wieder kümmert sich eine Frau. Der Mann wird nicht sein ganzes Leben lang der Witwer sein.

Und auch das Medienereignis, das daraus gemacht wird, wenn eine Frau umgebracht wird… denk mal, neulich, als sie Cecilia umbrachten, das stand in allen Zeitungen, da wurde ein Riesenwirbel gemacht, aber warum? Da stand dann nicht, daß sie eine politische Kämpferin war, da stand auch nichts über sie, aber überall las man, daß diese Barbaren eine Frau und Mutter umgebracht haben, da stand: Wie konnten sie eine schwangere Frau umbringen mitsamt dem Fötus. Sie machen eine Sensationsgeschichte draus, weil es eine Ausnahme ist und reduzieren dich damit auf deine Mutterrolle.
Die Witwe hat nicht die Muße, sich mit ihrem eigenen weiteren Leben auseinanderzusetzen, denn kaum hat ihre Trauer begonnen, da wird schon der nächste Companero ermordet. Und so geht es immer weiter. Die alltäglichen Probleme bewältigen immer die Frauen. In Kolumbien hat man keine Zeit mehr, um die Toten zu trauern. Kaum ist einer tot, dann kommt der nächste Schlag.
Ich konnte nicht mehr, sagt Consuelo. Stell Dir vor, ich hatte gerade angefangen, eine neue Arbeit zu machen. Ich begann, die Arbeit mit Witwen zu organisieren. Wir haben eine Gruppe von Witwen gegründet. Und als das losging, da haben sie meinen Mann umgebracht. Wie sollte ich die Arbeit mit Witwen fortsetzen, als auch mein Mann tot war? Eine andere Frau hat dann die Arbeit fortgesetzt, weil ich nicht mehr konnte, aber auch deren Mann ist inzwischen tot.

Wir fragen Consuelo, ob sie mit dem Tod ihres Mannes gerechnet hat.

Niemals, antwortet sie und berichtet von einer Freundin, deren Mann bei dem fünften Attentatsversuch gegen ihn umkam. Sie hat damals gesagt, daß sie nie damit gerechnet hat, daß man ihn umbringen würde.

Sie reduzieren Dich auf Deine Mutterrolle…

Marta meint, das sei anders bei den Frauen, die die politische Arbeit ihrer Männer nicht teilten oder guthießen oder nicht genug darüber Bescheid wüßten. Diese Frauen leben in ständiger Panik und Erwartung eines schrecklichen Endes. Sie verstehen nicht, warum die Männer das Familienleben durch ihre politische Arbeit aufs Spiel setzen. Diese Frauen sitzen wütend zuhause, warten auf die Männer und haben Angst, während ihre Männer zu einem großen Teil außerhalb der Familie leben.
Die Frauen, die selber aktiv sind, haben es leichter. Die haben nicht so viel Todesangst, weil sie selbst aktiv sind und weil sie den Sinn der Arbeit einsehen.

Fragt frau sich eigentlich oft, ob sich der politische Einsatz überhaupt lohnt?

Consuelo hat sich das im Gegensatz zu Marta gefragt. Als ihr Mann umgebracht wurde, da wollte sie keine politische Arbeit mehr machen. Aber solange frau aktiv ist, sagt sie, ist es leichter. Niemand glaubt im Ernst, daß er oder sie urngebracht wird, deshalb empfindet frau es gar nicht als besonders heldenhaft, weiterzumachen.
Ihr zwölfjähriger Sohn beteiligt sich plötzlich an dem Gespräch. Er sagt, es war schon lange kein richtiges Leben mehr, auch nicht, als der Vater noch lebte. Wir konnten nicht mehr richtig auf die Straße gehen und spielen, bricht es aus ihm heraus, wir sollten immer aufpassen..Der Vater mußte jede Nacht woanders schlafen aus Sicherheitsgründen, es war gar keine richtige Familie mehr.

Aber das wollen sie doch nur, sagt Consuelo, daß alle ganz eingeschüchtert sind und entweder aufhören, aktiv zu sein, oder weggehen, so wie Marta und ich. Vor allem Marta. Sie mußte wegen wiederholter Morddrohungen das Land verlassen. Vorher war sie ein Zentrum in Medellin, sie war für uns Frauen ein Vorbild als Vorsitzende der LehrerInnengewerkschaft. Jetzt ist sie weg. Und wenn frau weg ist, verliert sie die Kontakte im Land, die Freunde. Aber das Leben verlieren, das ist auch keine Lösung. Das Exil ist eine Niederlage.
Marta und Consuelo sind hier zu Untätigkeit gezwungen, unerwünschte Ausländerinnen, die ihre gesamte Energie darauf verwenden müssen, Wohnung zu suchen und mit der neuen Umwelt und Sprache zurechtzukommen. Von ihren alten Zusammenhängen sind sie abgeschnitten.
Was ich nicht verstehe, sagt Consuelo, warum kämpfen die Frauen in Berlin nicht für mehr Kindergärten und tagesstätten? Es ist so ein reiches Land, es gibt so viel Geld hier. In Kolumbien bescheiden wir uns. Wir sagen, es ist ein armes Land. Aber hier? Wo es so viel Geld gibt?

Kasten:

Alltägliches Leben einer Frau mit vier Leibwächtern

Marta lebte fast zwei Jahre unter dem “Schutz” von vier Leibwächtern, die ihr 1 die Regierung verordnete, als sie nach Morddrohungen eine Garantie für ihr Leben forderte. Sie erzählt, was dies für eine Frau bedeutet:

1. Die Wachen haben mich immer beobachtet, nichts konnte ich ungestört machen. Wie sie mich ansahen: nicht als Politikerin, sondern als Frau. Sie haben mich angemacht. Weibliche Bodyguards gab es nicht.
2. Als Frau besaß ich weniger Autorität. Eine Frau kann noch so in und tüchtig sein, nie besitzt sie für Leibwächter die Autorität Mann. Der hat sie, nur weil er ein Mann ist. Leibwächte Probleme, sich einer Frau unterzuordnen.
3. Die Leibwächter haben die Gefahr unterschätzt und nicht so gut auf mich aufgepasst wie auf einen Mann. Sie denken, daß man eine Frau schon nicht umbringt.
4. Als Frau fühlte ich mich für die Männer verantwortlich. Ich ließ sie nicht draußen warten, wenn ich ins Restaurant oder Kino ging. Entweder bezahlte ich für sie mit oder ging gar nicht erst. Das würde Männern wahrscheinlich nicht einfallen.
5. Was sie über mich dachten: sie haben ja alles mitgekriegt, mit wem ich mich getroffen habe. Weil ich mich mit verschiedenen Männern traf, dachten sie, sie könnten mich auch kriegen.
6. Wenn sich eine Frau auf der Straße mit Bodyguards bewegt, fällt das sehr auf, das sieht man sehr selten. Die Leute schauen, fragen sich, was los ist, denken, Du bist eine Verbrecherin, weil so viele Bewaffnete um Dich herum sind.

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Chile-Gewalt gegen Frauen

“Ich bin nun 50 Jahre verheiratet und bis auf den heutigen Tag schlägt er mich. Sogar am 35. Hoch­zeitstag hat er mich so heftig geschlagen, daß sie mich blut­überströmt zum Sanitätsposten brach­ten. Trotzdem bleibe ich bei ihm, weil ich ihn mag, und es täte mir leid, ihn zu verlassen, vor allem jetzt, wo wir alt sind.” (Ester, 80 Jahre, Krankenschwester)
Täglich werden in Chile Hunderte von Frauen, Mädchen und Erwachsene vergewal­tigt, viele Frauen aus allen sozialen Schichten werden durch ihre Ehe­männer und Partner zuhause geschla­gen. Nur wenige dieser Fälle gelangen an die Öffentlichkeit. Meist schämen sich die Frauen über das, was ihnen angetan worden ist, oder haben Angst, den Täter bloßzustellen. Diejenigen, die schließlich die mühselige und demü­tigende Tortur einer Anzeige in Kauf nehmen, werden mit dem Unverständnis und den Vorurteilen der meist männlichen Polizeibe­amten und Richter kon­frontiert. Diese nehmen letztendlich ihre Geschlechtsge­nossen in Schutz und geben den Frauen die Schuld, durch ihr Verhalten die Männer zu dieser Tat provoziert zu haben, oder tun die Tat als Ka­valiersdelikt ab.
Das Institut der Frau in Santiago griff dieses lange Zeit tabuisierte und “heiße” Thema noch in der Zeit der Diktatur auf und organisierte wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1989 in seinen Räumen eine Diskussionsveran­staltung.
Das Interessante und bisher Einmalige an dieser Veranstaltung war zudem die Zusammensetzung des Podiums: Neben Expertinnen in Frauenfragen aus psychologi­scher, psychiatrischer und recht­licher Sicht war ein Vertreter von CA­VAS geladen, einer Anlauf- und Beratungsstelle der chileni­schen Polizei für Frauen, die ge­schlagen oder vergewaltigt worden waren.
Die Psychologin Rosario und die Psychiaterin Sofìa beleuchten in ihren einlei­tenden Ausführun­gen den sozialen Hintergrund dieses Problems. Schuld an der männlichen Gewalt ist das beste­hende Mann-Frau-Verhältnis. Die dominierende Rolle des Man­nes hat eine entsprechende Denk- und Verhaltensweise geprägt, die dem Mann selbstverständlich erscheinen läßt, daß die Frau sein Eigentum ist, über das er bestimmen kann. Ihre Entscheidungen, ihre Mei­nung sind nicht ge­fragt und nicht akzeptiert. Zum Beispiel brauchen viele Frauen die Er­laubnis ihres Mannes, um arbeiten zu gehen.
Ohne sich in platten Pauschalitäten verlieren zu wollen, sollen hier Grundstruktu­ren von Mann-Frau-Verhältnissen aufgezeigt werden, sozusagen als Erklärungsmu­ster, die selbstverständlich in­dividuell abweichen können. Männer, die der Erwar­tung der Gesellschaft nicht entsprechen, grei­fen nicht sel­ten zu Drogen, Alkohol oder sie werden gewalttätig. Ihre Aggression richtet sich gegen ihre “Untergebenen” – Frau und Kinder. Die höchste Form der Beherr­schung und Demütigung der Frau ist die sexuelle Gewalt. Manche Männer scheinen ihr mangelndes Wertgefühl nur dadurch aufbessern zu können, wenn sie ihre sexuelle Potenz unter Beweis stellen und eine Frau durch ge­waltvolle In­besitznahme demütigen. Die Frauen fügen sich in die ihnen vermeintlich zuste­hende Rolle. Sie ertragen die Situation, weil sie auf­grund ihrer Sozialisation so dressiert sind, verstehen alles – und vergeben letz­tendlich.
Wenn psychische und psychiatrische Beratung aufgrund von Gewalttätigkeit in An­spruch ge­nommen werden, dann von den Frauen. Dabei klagen sie oft nicht ihre Männer an, sondern bitten um Hilfe, um ihre Partnerschaftsprobleme be­wältigen zu können; einmal mehr ein Beweis, daß Frauen immer wieder zunächst die Schuld bei sich suchen.
Die Medien tragen einen erheblichen Teil zu dieser Situation bei. Sie vermitteln in Zeitschriften, Illustrierten, in Funk und Fernsehen das Bild des Mannes, der über die Frau herrscht und be­stimmt. Die Frau – ohne Meinung und Verstand – hat in dieser Vision keinerlei Rechte und defi­niert sich über den Mann. Die Frau glaubt, ohne den Mann nicht existieren zu können, ist ihm hö­rig, liegt ihm zu Füßen, all­zeit bereit. Der Mann hat jederzeit Zugriff auf die Frau und somit auch auf ihren Körper. Auch in der Werbung wird dem Mann die freie Verfügung über den Körper der Frau suggeriert und er ihm als Beigabe zum Rasierwasser oder Auto schmack­haft gemacht. Eine eigenständige Frau, die unabhängig von Männern weiß, was sie will und was sie nicht will, exi­stiert in diesem Frauenbild nicht. Ein Recht auf eigene Entscheidung wird ihr nicht zugestanden. Dem Mann jedoch obliegt das Recht, über sie und ihren Körper zu bestimmen und ihn jeder­zeit und jederorts zu “nehmen” oder zu züchtigen, wie es ihm gefällt; kann er sich doch immer wieder der (zumindest unterschwelligen) Anerkennung der Gesell­schaft oder dem Verständ­nis der männlichen Polizisten und Richter sicher sein.
Aus ihrer alltäglichen Erfahrung mit der Verteidigung von Frauen, die (sexuelle) Gewalt erlitten haben, berichtet die Rechtsanwältin Berta. Mit einem bekannten chilenischen Sprichwort drückt sie genau das aus, was Männer über Gewalttätig­keit gegenüber Frauen denken: “Kümmere dich nicht um die Frage, warum du deine Frau schlägst, sie weiß es ohnehin.” Die Frau wird geschlagen, aber sie als Opfer fühlt sich schuldig. Sie ist isoliert mit ihren Problemen, erfährt nur in den seltensten Fällen Solidarität von anderen Frauen, sondern sie wird mit den An­forderungen der Gesellschaft konfrontiert: Reize Deinen Mann nicht! Wider­sprich ihm nicht, sonst…! Gib nach!
Die Frau fühlt sich verantwortlich für die Stimmung in der Familie. Sie gibt also nach, damit Ruhe ist. Sie hat Angst, ihn anzuzeigen, um nicht seinem Zorn ausge­liefert zu sein. Sie hat auch Angst, ihn zu verlieren. Wenn sie sich schließ­lich doch durchringt, ihn anzuzeigen, kann es durchaus sein, daß sie einem Richter be­gegnet, der sie mit dem Rat abschiebt: “Gute Frau, benehmen Sie sich halt nicht so provozierend, daß er sie immer schlagen muß. Warum wollen sie ihn denn nicht be­dienen? Warum widersprechen sie ihm denn immer?” Und die Frau internalisiert das, fühlt sich schuldig und zeigt ihn das nächste Mal nicht an. Der Mann seinerseits fühlt sich in seinem Ver­halten bestärkt.
Aber dieser “Mythos vom schuldigen Opfer”, das seinen Täter provoziert, der von Männern immer wieder zur Rechtfertigung herangezogen wird, bricht letzt­endlich dann endgültig zusammen, wenn man sich die Beispiele aus der alltägli­chen Praxis an­sieht: Ein 8jähriges Mädchen wird von ihrem Vater vergewaltigt, ein Taxifahrer mißbraucht ein schlafendes Kind…
Nach dem beeindruckenden Beitrag von Berta stellt Elías Escaff von CAVAS seine Organisation und ihre Arbeit vor. CAVAS wurde vor zwei Jahren innerhalb der Kri­minalpolizei in Santiago ge­gründet. Es gibt zwar schon eine Reihe von staatlichen Stellen, die sich um Rehabilitation und Re­sozialisation von Tätern kümmern, aber es gibt bisher keine Instanz, die sich um “Gewalt gegen Frauen” und speziell um die betroffenen Opfer bemüht. CAVAS hat dieses Thema aufge­griffen und Strategien entwickelt, die Opfer zu betreuen. CAVAS dient nun als Anlaufinstanz für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlitten haben und bei der Polizei eine Anzeige erstatten wol­len. Die Pädagogen und Psychologen wirken unterstützend auf die Op­fer ein und betreuen sie, bevor die oft demüti­genden Verhöre durch Polizei und Gericht beginnen.
In Flugblättern, Plakaten und Zeitungsanzeigen ruft CAVAS die Frauen und Mäd­chen auf, über die erlebte Vergewaltigung und Gewalt nicht zu schweigen, sondern sie öffentlich zu machen. Als Erfolg ihrer Arbeit wertet CAVAS die Tat­sache, daß die Zahl der Anzeigen in den ersten zwei Mo­naten um über 40% ge­stiegen und demgegenüber die Dunkelziffer der Gewalttaten gegen Frauen ge­sunken sei.
Eine Plakataktion von CAVAS warnt Frauen vor möglichen sexuellen Übergrif­fen durch Männer und erteilt Ratschläge: Sie sollen jede gefährliche Situation vermei­den, keinen Minirock anziehen, und wenn, dann nur in Begleitung gehen, nicht trampen, nicht einsame Plätze aufsuchen, nicht abends ohne Begleitung ausgehen, nicht durch anzügliche Kleidung und leichtfertiges Verhalten Männer provozie­ren…lautet der Tenor. Nach der Einschätzung von CAVAS werden die sexuellen Übergriffe darüberhinaus ohnehin von sexuell gestörten Psychopathen begangen.
Die Ausführungen von Elías Escaff über die Arbeit von CAVAS und die Erfolge, die bereits er­reicht wurden, riefen Unruhe und Widerstand bei den anwesenden Frauen hervor und zogen eine erregte Diskussion nach sich. Die vorgetragenen Strategien und Arbeitsansätze von CAVAS wur­den in wesentlichen Punkten zerpflückt.
Unter den Anwesenden waren viele Expertinnen, die jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit ge­schlagenen und vergewaltigten Frauen haben. Ihnen erschien es an­maßend, daß Elías CAVAS als einzige Organisation präsentierte, die auf diesem Ge­biet arbeitet, und daß seit dem Beginn der Ar­beit von CAVAS die Zahl der Anzei­gen dermaßen gestiegen sein soll. Die Frauen stellten infrage, daß eine Organisa­tion, die obwohl sie vielleicht gute Ideen hat, erfolgreich ihre Arbeit re­alisieren kann, wenn sie innerhalb der Polizei angesiedelt ist; denn nach 16 Jah­ren Diktatur hat die chileni­sche Bevölkerung nicht viel Vertrauen in die Polizei, und es beste­hen viele Vorurteile und genü­gend schlimme Erfahrungen. Zudem wurde ihm vorge­worfen, daß bei CAVAS mit Ausnahme der Sekretärin aus­schließlich Männer tätig sind, die Frauen betreuen wollen, die Gewalt durch Männer erlitten haben.
Nach Auffassung von CAVAS sind die Täter bei sexuellen Übergriffen psychopathi­sche Männer. Die Frauen dagegen sind überzeugt, daß jeder Mann allein aufgrund der Tatsache, daß er männli­chen Geschlechts ist, ein potentieller Vergewaltiger ist. Die Einschätzung von Vergewaltigung als Problem von Psy­chopathen wird unter dem Hinweis als absurd abgetan, daß nur wenige der vielen Vergewaltigungen nachweis­lich von psychopathischen Tätern begangen wurden. Außer­dem, so dokumentieren auch Plakate an den Wänden im Ver­sammlungsraum des Fraueninstituts, sind 80% der Vergewaltiger dem Opfer vorher bekannt. So ist auch die Forderung von CAVAS un­sinnig, die Frauen und Mädchen sollen nur in Begleitung ausgehen, da sie gerade durch diese männliche Begleitung wiederum gefährdet sein können.
Ein anderer Kritikpunkt war die präventive Arbeit von CAVAS. Die Kampagne zur Verhinderung sexueller Übergriffe richtet sich an die Frauen und stellt eine mög­liche Vergewaltigung als ein in­dividuelles Problem jeder einzelnen Frau dar, das sie mit ihrem Benehmen, ihren Handlungen verursachen oder abwenden kann. Die Prä­ventionskampagnen beinhalten immer irgendeine Art der Ein­schränkung für die Frau. Es wird mit erhobenem Zeigefinger gearbeitet: Zieh’ keinen Mini­rock an, fahr’ nicht per Anhalter, mach nicht dies, mach nicht das! So hat CAVAS ein Poster mit ei­nem Mädchen herausgebracht, die auf der Straße steht und trampt: dies sei eine Situation von höchster Gefahr. Außerdem, so kriti­sieren die Expertinnen im Saale, richtet sich die Präventivar­beit dieser Organisa­tion der Polizei in keinster Weise an die Männer, die ja schließlich Täter und Ver­ursacher des sexuellen Übergriffs und der Gewalt sind.
Da die Gewalt gegen Frauen ein soziales Problem ist und als solches angegangen werden muß, werden Gesetze gefordert, die den Medien verbieten, ein Bild der Frau als Sexualobjekt darzustel­len und den Körper der Frau gewerblich zu be­nutzen.
Elías wurde gefragt, warum CAVAS niemals den Austausch mit den zahlreichen Frauengruppen gesucht hat, die in diesem Bereich arbeiten, um von der bereits existierenden Erfahrung zu profi­tieren und diese auszubauen. Der Vertreter von CAVAS wirkte konsterniert angesichts der Vor­würfe und Argumente und ver­suchte, die Einschränkungen und Schwierigkeiten in seiner Arbeit offenzulegen. Er zeigte sich sehr interessiert an einem weiteren Treffen zu diesem Thema und be­tonte, daß er den Austausch und die Diskussion mit den Expertinnen suche, um letztendlich eine bessere Arbeit mit größerem Erfolg für die betroffenen Frauen erreichen zu können. Man trennte sich an diesem Abend mit dem festen Vorhaben, weitere Tref­fen dieser Art zu organisieren, um dieses wichtige Thema nicht wieder in Verges­senheit geraten zu lassen.
Das Bemerkenswerte an dieser Diskussion war, mitzuerleben, wie vehement die Frauen im Saal auftraten und das Problem der sexuellen Gewalt öffentlich machten. Die Frauen machten keinen Hehl aus ihrem Mißtrauen und Unmut ge­genüber der Diktatur und der chilenischen Polizei. Viel­leicht war es die Aussicht auf die bal­dige Demokratie, die die Frauen ermutigte. Von der Demo­kratie erhof­fen sie sich unter anderem, daß sich ihre Situation als Frau in der chilenischen Gesell­schaft ändern wird… und damit nicht zuletzt auch das leidige Problem der (sexuellen) Ge­walt ge­gen Frauen.
Doch das Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen wird sich solange nicht än­dern, wie das bis­herige Mann-Frau-Machtverhältnis bestehen bleibt. Es wird sich auch nichts ändern, wenn sexu­elle Gewalt weiterhin als privates Problem abge­tan und in seiner politischen Dimension nicht nur nicht ernst genommen, son­dern durch staatliche Gewalt auch noch legitimiert wird.

Folter gegen Frauen in El Salvador

Ein Besuch im Frauengefängnis in Ilopango

Nachdem ich am Eingang des Gefängnisses meinen Paß abgegeben und die Durchsu­chung überstanden hatte, konnte ich ins Frauengefängnis durchgehen. Zuerst kommt frau zu den “Comunes”, den allgemeinen Gefangenen, wo wie immer Sonntagnach­mittags ein buntes Treiben war, denn viele Frauen hatten Besuch von ihren Fami­lien bekommen. Ein paar Schritte weiter konnte man auf der linken Seite schon von weitem die Fahnen der FMLN und Transparente von COPPES, dem Komitee der poli­tischen Gefangenen in Salvador, sehen und die Transparente wiesen den Weg zu den politischen Gefangenen unter den Frauen. Diese sind in einem extra Trakt un­tergebracht und – da ihr Haus durch das Erdbeben beschädigt worden war und noch nicht wieder repariert ist – sind die Frauen auf einem freien Gelände etwas abseits in Zelten vom Roten Kreuz untergebracht. Zur Zeit meines Besuchs lebten 13 Frauen und zwei Kinder da. Manchmal waren es auch schon über 40 mit vielen Kindern, dann wurde es allerdings eng. Zwar konnten die Frauen in ihrem Gefäng­nis nicht soviele Freiheiten erkämpfen, wie die politischen Gefangenen im Männer­gefängnis Mariona, trotzdem haben sie einiges erreicht: Vom Wachpersonal hat kei­ner (außer der obersten Leitung) das Recht, den Fuß in das Gebiet im Gefängnis setzen, wo die politischen Gefangenen untergebracht sind. Nachts halten die Frauen abwechselnd Wache, um Vergewaltigungen abwehren zu können. Seit dem Erdbeben 1986 ist das Gelände nicht mehr so gut von außen kontrollierbar, die Wachtürme sind etwas abseits. Trotzdem besteht keinerlei Gefahr, daß Frauen ausbrechen, da sie nirgends so sicher sind (z.B. vor der Policia Nacional) wie hier im Gefängnis.
Den Tag verbringen sie zum Beispiel mit Arbeiten in der eigenen Schneiderei, Blu­sen und bestickte Tischdecken werden verkauft, der Erlös fließt COPPES zu. Da das Gefängnisessen dürftigst und ungenießbar ist, haben die Frauen zur Selbsthilfe ge­griffen: Sie konnten innerhalb des Gefängnisses ein kleines Stück Land bekommen, wo sie Mais und Bohnen und Gemüse anbauen und auch einige Ziegen haben. Das Gemüse ist zum Eigenbedarf, aber sie verkaufen auch an die Frauen aus dem all­gemeinen Trakt. Auch einen Laden mit den wichtigsten Dingen, wie Teebeutel, Clopapier, Kerzen etc. gibt es. Die Versorgung, kochen, putzen wird gemeinschaft­lich organisiert.
Die Gemeinschaft ist hier sehr wichtig. Alle Frauen, die als politische Gefangene in Ilopango sind, haben schlimmes mitgemacht. So zum Beispiel Luz: Sie wurde unter dem Verdacht, mit der FMLN kooperiert zu haben festgenommen. Dann durchlief sie zehn fürchterliche Tage in der Policía de Hacienda, wo sie verhört und gefoltert wurde. Zusätzlich zu dem, was bei politischen Gefangenen an Verhör- und Folter­methoden üblich ist, kommt bei Frauen immer noch die sexistische Komponente mit hinzu. Das bedeutet, daß die männlichen Folterer an den Frauen ihre unterdrückten sexuellen Agressionen und Fantasien ausleben. Luz wurde stets nackt zum Verhör vorgeführt. Sie hatte permanent die Augen verbunden, um ihre Peiniger nicht er­kennen zu können. Sie drohten, ihr einen mit Stacheldraht umwickelten Stock in die Vagina zu schieben, wenn sie nicht aussagen würde. Sie konnte schon die Sta­cheln spüren, die sich in den Härchen verfingen. Einer der Männer fuhr ihr mit seinem stinkenden Penis im Gesicht herum. Doch nicht genug. Sie gaben ihr Sprit­zen und Infusionen, die sie schwindlich und schwach machten. So konnte sie sich nicht wehren, wenn sie nach den Verhören nachts in ihrer Zelle vergewaltigt wurde, mehrere Nächte lang von insgesamt 14 Männern, immer wieder. Sie bekam schwere Blutungen und war so schwach, daß sie nicht aufstehen konnte. Im Roll­stuhl wurde sie in den Gerichtssaal gefahren, wo sie – da ihr Zustand offensicht­lich war – gefragt wurde, ob sie gefoltert worden sei. Erst nachdem sie sich ver­gewissert hatte, daß sie nicht mehr zu ihren Peinigern in der Policia de Hacienda zurück mußte, sondern ins Frauengefängnis nach Ilopango gebracht werden sollte, sagte sie aus. Anschließend wurde sie wieder ins Auto gebracht und der Wagen fuhr dieselbe Strecke zurück zur Policia de Hacienda, bog dann aber kurz vorher ab. Sie konnte in einem anderen Gebäude der Gerichtsbarkeit übernachten, bevor sie am nächsten Tag endgültig nach Ilopango gebracht wurde. Die Wärterin in die­sem vorläufigen Gefängnis versprach ihr, aufzupassen, daß in dieser Nacht kein Mann in ihre Zelle gelangen konnte. Doch sicher fühlte sich erst in Ilopango bei ihren Companeras, die nachts immer Wache schieben.
Durch die Gemeinsamkeit und die Gespräche mit den Frauen, die alle ähnliche Er­fahrungen machen mußten, hofft sie, die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten zu können. Die Vergewaltigungen und Erniedrigung haben viel bei ihr kaputt gemacht und sie psychisch ziemlich zerstört. Sie hofft, daß ihr Companero, der mit ihrer acht Monate alten Tochter ins Ausland geflüchtet ist, wenn sie wieder zusammen sein sollten, Verständnis für sie hat und es ihr nicht ergeht, wie andere Frauen, deren Männer sie nach einer Vergewaltigung ablehnen.
Ihr ist klar, daß diese erlittene Schmach der sexuellen Gewalt eine politische Ge­walt ist, die auf Demütigung und psychische Vernichtung politischer GegnerInnen abzielt und zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsverhältnisse dient. Doch macht ihr diese Erkenntnis die Verarbeitung des Erlebten nicht wesentlich leichter.

Neue Frente – alte Contra

Zunächst erinnerten die Äußerungen von einigen FSLN-Comandantes, die in verschiedenen Interviews mit der BARRICADA ihre Meinung zum Demokrati­sierungsprozeß der Frente kundtaten, an die Nationallei­tungs-Astrologie, mit der schon seit Jahren BerichterstatterInnen versucht hatten, Unterschiede und Kon­fliktlinien innerhalb der sandinistischen Führung herauszubekommen, indem zwischen den Zei­len die Wahrheiten vermutet wurden. Und auch in den vergan­genen Monaten fiel es schwer, aus den durchaus unterschiedlich nuan­cierten Stellungnahmen von Bayardo Arce, Victor Tirado und Tomas Borge eine neue Linie herauszufinden. Einig waren sich alle darin, daß es einen Erneuerungspro­zeß geben müsse, daß vor allem hierar­chische Strukturen innerhalb der Frente und undemokratische Ent­scheidungsprozesse abgebaut werden müßten. Plötz­lich bezichtigte sich die Frente selbst – sicher auch angesichts der großen Zahl der nach der Wahlniederlage als solche zu identifizierenden Oppor­tunistInnen in ih­ren Reihen – als eine Organisation mit vertikalen Strukturen, in der die Entschei­dungen von oben nach unten gefällt wurden und für langwierige Überzeu­gungsarbeit kein Raum war, als verbürokratisierte Mammutorganisation, die auch von Korruption nicht frei war. Die erste Entscheidung, die als Konsequenz aus dieser Einschätzung gefällt wurde, war die Öffnung zur “Massenpartei”, das heißt, die Abschaffung der politischen Bewäh­rungsprobe für Eintrittswillige. Be­gründung: Wer in diesen Zeiten Mitglied der Frente werden will, tut dies nicht aus Karriere-Grün­den.
Problematisch war in dieser Phase der Diskussion, daß die Tagesak­tualitäten, die Contra-Entwaffnung, die Abschaffung revolutionärer Errungenschaften und die außenpolitische Isolation der Frente einen sofortigen Handlungsbedarf erzeug­ten, der mit einer länger­fristigen Diskussion über Programmatik und Strukturen der Partei nicht in Einklang zu bringen schien. Gleichzeitig war aber inner­halb der Basis der FSLN ein Prozeß der Kritik an Führung und Strukturen bereits in Gang gesetzt, den abzublocken einem politi­schen Selbstmord der Leitungsebene gleichgekommen wäre. So kam es vorrangig darauf an, die Diskussion – die die Gefahr der Spaltung beinhaltete – in strukturierte und produktive Bahnen zu len­ken. So fanden auf allen kommunalen Ebenen bereits Neuwahlen der Leitungs­gremien statt, die mit einer kritischen Auswertung der Arbeit der letzten Jahre verbunden waren. Für die Strukturdebatte auf natio­naler Ebene wurde ein kon­kreter Zeitplan erarbeitet. Erster Kulmi­nationspunkt dieser Debatte war eine sandinistische Delegierten­versammlung Mitte Juni, auf der beschlossen wurde, die geplante erstmalige Neuwahl der Nationalleitung auf dem Parteitag – auch dem ersten – im Februar 1991 durchzuführen.
Innerhalb der FSLN gab es eine heftige Auseinandersetzungen zwischen den als solchen beschimpften “pactistas” und den “radikal linken” Positio­nen. Anlaß wa­ren Einzelaktionen der National­leitung: be­schwichtigende Haltung beim ersten Streik der Staats­angestellten Anfang Mai, geplanter Eintritt in die Sozialistische Internationale, Politik der Kooperation mit der UNO-Regierung, bzw. dem als “moderat” eingeschätzten Teil der UNO um Violeta Cha­morro. Es setzte sich eine Kompromiß-Position durch, die klar formu­liert, daß es in der derzeiti­gen Situation überhaupt keinen Grund gibt, mit der UNO-Regierung zu paktie­ren und damit eine Mitverant­wortung für die sich ständig verschlechternden Le­bensbedingungen zu übernehmen, sondern daß es vielmehr darauf ankomme, den Charak­ter der UNO-Politik deutlich zu machen und in der Verteidigung der sozialen Rechte der Bevölkerung auch gerade diejenigen zu errei­chen und wie­derzugewinnen, die am 25.Februar in Erwartung einer schnellen Lösung der wirtschaftlichen Misere des Landes der UNO ihre Stimme gegeben hatten. Das bedeutet eine fundamentale Opposi­tion zum Politik-Modell der UNO und insbe­sondere der rechtsextre­men Kräfte, die durch die Godoy-Gruppe und die aus Miami zurück­kehrenden somozistischen Unternehmer repräsentiert werden. Über die Formen aber, wie diese fundamentale Opposition auszusehen hätte, wurde durchaus kontrovers diskutiert, wobei die Transforma­tion der FSLN von einem “Ministerium für Mobilisierung” in eine politische Partei, die Überzeu­gungsarbeit zu leisten hat, im Mit­telpunkt steht. Auf der parlamentarischen Ebene wird es, um der FSLN Spielräume der politischen Betätigung zu erhalten, Kompro­misse geben müssen. Es wurde auch formuliert, daß es nicht das Ziel der FSLN ist, derzeit und so schnell wie möglich einen Sturz der Chamorro-Regie­rung herbeizuführen, sondern daß zunächst die politische Hegemonie zumindest in einer Mehrheit der Bevölkerung zurückerkämpft werden müsse. Was hätte die Frente auch anzubieten, würde die Regierung jetzt wieder an sie übergehen? (Selbst wenn das in einem friedlichen Szenario derzeit kaum denkbar erscheint.)
Dennoch, die Position der FSLN im jüngsten Generalstreik Anfang Juli verdeut­licht die neue Haltung. Zunächst erklärte die Frente ihre unbedingte Unterstüt­zung der Streikenden und ihrer Forderun­gen und rief die sandinistische Basis auf, sich in die Reihen der FNT (Nationale ArbeiterInnenfront) einzugliedern (s.Erklärung vom 3.7.). Als die Situation unkontrollierbar erschien und in Mana­gua eine Aufstandsstimmung wie 1979 registriert wurde, versuchte die FSLN er­neut zu schlichten und beruhigend einzuwirken.
Der Antrag auf Eintritt als Vollmitglied in die Sozialistische In­ternationale, den die Nationalleitung der FSLN ohne breite Diskus­sion gestellt hatte, wurde zu­rückgezogen, eine Entscheidung dar­über soll auf dem Parteitag im Februar ge­fällt werden.
Wenn der bisherige Prozeß der Diskussion innerhalb der Frente bewertet werden soll, dann sind zwei gegenläufige Tendenzen zu erkennen: Auf der einen Seite eine starke Kritik von Seiten der Basis an den hierarchischen Strukturen, die sich in der Abwahl von Leitungsmitgliedern und radikalen Forderungen zur Umge­staltung der Frente äußert; auf der anderen Seite eine Basis, die in der Zeit der “Orientierungslosigkeit” nach der Wahl, als es keine klaren Anweisungen von oben gab, zeitweise paralysiert schien und kaum handlungsfähig war. Neuer An­spruch und alte Verhaltensmuster werden sicherlich noch über den Parteitag im Februar hinaus die Realität der FSLN bestimmen.
Entwicklungszonen für die Contra – Entwaffnung eine Farce
Alle demonstrierten sie Optimismus: die Presse, die UNO-Regierung, Kardinal Obando y Bravo, der für die Contras eine Messe hielt und nicht zuletzt die San­dinistInnen, die durch die scheinbar abge­schlossenen Entwaffnung der Contra ein strategisches Ziel erreicht sahen, auch wenn sie das die Regierung gekostet hatte. Die Contra-Verbände gaben in pressewirksam inszenierten Aktionen ihre Waffen an die Soldaten der UN-Truppen ab, die diese dann – ebenso presse­wirksam – unmittelbar mit Schneidbrennern zerstörten. Daß noch Waffen in der Gegend um Chontales in der fünften Region versteckt waren, daran zweifelte niemand, doch schien der Moment gekommen, da die Contra als geschlossener militärischer Verband aufgehört hatte zu existieren.
Dies zu verhindern, war das von der Contra-Führung verfolgte Ziel bei Aus­handlung der sogenannten “Entwicklungszonen”, Zonen also, in denen sich die Contras mit der finanziellen Ausstattung der USA für ihre “Reintegration” ansie­deln konnten, um zum zivilen Leben zurückzukehren, aber gleichzeitig in den bestehenden Verbänden zu­sammenzubleiben und insofern jederzeit bei intakt bleibender Be­fehlsstruktur wieder einsatzfähig zu sein. Große Worte waren mit der “Demobilisierungsfeier” verbunden, die von der internationalen Presse ver­folgt wurde. Da sprach Israel Galeano, alias Comandante Franklyn, von einem “Nicaragua ohne Waffen und Soldaten”, von der friedlichen Zukunft, die das Land erwarte, jetzt, da es demokra­tisch geworden sei.
Die Ernüchterung für alle Zweck-OptimistInnen kam in den Tagen des General­streiks Anfang bis Mitte Juli, als sich plötzlich bewaff­nete Regierungsanhänger mit sandinistischen Streikenden in Managua Feuergefechte lieferten, bei denen es sechs Tote und über dreißig Verletzte gab. Woher mögen die Waffen wohl ge­kommen sein, die plötzlich in Managua auftauchten? Die ersten Meldungen, nach denen die Contra in der explosiven Situation des Generalstreikes wieder voll einsatzfähig sei, mögen übertrieben gewesen sein, doch wurde die Gefahr für alle Welt sichtbar, die aus der laxen und nur unzu­reichend kontrollierten Entwaffnung der Contra für den Ablauf der sozialen Konflikte erwächst, die in Nicaragua sicher erst am An­fang stehen.
Dabei war die Einrichtung der Entwicklungszonen zunächst ein Zuge­ständnis an die Contra gewesen, daß auch von sandinistischer Seite aus als relativ ungefähr­lich eingeschätzt worden war. Die hiesigen Meldungen, daß der Contra ein Ter­ritorium zur freien Verfügung ge­stellt worden sei, das einem Sechstel des Landes entspreche, beru­hen auf einem Mißverständnis, wie der ehemalige Bürgermeister von Managua, Carlos Carrión bei einem Besuch in West-Berlin klar­stellte: Inner­halb dieses Territoriums können einzelne Gebiete zur Ansiedlung ausgewählt werden, vorrangig in bislang unbewohntem Ge­biet, wo dann neue Infrastruktur erstellt wird. Um die genauen Orte werden allerdings noch heftige Konflikte ge­führt, z.B. wehr­ten sich die BewohnerInnen von San Juan del Sur, einer Ge­meinde innerhalb des für die Contra-Ansiedlung vorgesehenen Gebietes, ge­gen die Schaffung von Ansiedlungszonen in ihrem Einzugsgebiet. Diese Gemeinde ist eine der wenigen, die noch von der FSLN regiert werden, aber nicht nur dort regt sich Widerstand. Auch in den Au­tonomen Regionalparlamenten der Atlan­tikküste, wo die bislang ebenfalls bewaffnet gegen die sandinistische Regierung kämpfende Indianer-Organisation YATAMA über eine Stimmenmehrheit ver­fügt, stimmten YATAMA und FSLN gemeinsam gegen eine Ansiedlung von Contras auf dem Gebiet der Autonomen Region.
Die Frage der eigenen Polizei, die die Contra unterhalten soll, wird von sandini­stischer Seite aus eher gelassen gesehen. Es han­dele sich um eine Polizei, die le­diglich normale Ordnungsaufgaben in diesen Gebieten übernehmen solle und zudem unter dem Oberbefehl der nationalen Sandinistischen Polizei stehe. Diese Lösung sei besser, als wenn bei normalen kriminellen Handlungen die für die Contras nicht zu akzeptierende Sandinistische Polizei oder gar das Heer ein­schreiten müsse.

Wandel im Feindbild: Das “Söldner-Heer” endet als “Campesino-Bewegung”

“Die Contra endete als eine Campesino-Bewegung, die ihre eigenen Führer hatte”, erklärte Luis Carrión, einer der neun Comandantes der FSLN, jüngst in einem Interview in der sandinistischen Parteizeitung Barricada (20.6.90). “Die einstigen Nationalgardisten Somozas und die bürgerlichen Politiker, die in verschiedenen Epochen versucht haben, sich als politische Führungslt}}N aufgestiegen war, die seit Jahren gängige Einschätzung der Frente Sandinista in Bezug auf die Contra völlig über den Haufen.
Denn bislang bezeichneten die San­dinistInnen – und mit ihnen auch die Soli-Bewegung – die Contra fast aus­schließlich als ein anti-nicaraguani­sches “Söldner­heer”. Wenn nicht dies, dann war sie die über die Zeit geret­tete Nationalgarde Somozas: In den Karikaturen bekamen die Contras re­gelmäßig das “GN” für Guardia Nacional auf den Helm gepinselt. Die Entwicklung der letzten Monate hingegen machte nur allzu deutlich, daß die Contra auf dem Land sehr wohl über eine beträchtliche soziale Basis und Unterstützung verfügt. “Dies zeigt”, so Luis Carrión, “daß zu irgendeinem Zeitpunkt die Allianz der Revolution mit einem wichti­gen Teil der bäuerlichen Bevölke­rung zerbrochen ist.”
Bei der Analyse der Gründe geht der Wirtschaftsminister der sandinistischen Regierung auch hart ins Gericht mit der lange verfolgten Politik, den Bauern niedrige offizielle Preise für ihre Produkte aufzuzwingen, um diese Lebens­mittel möglichst billig an die städtische Bevölkerung verkaufen zu können. “Die Revolution war in der Tat eine in erster Linie städtische – sowohl was ihre Basis als auch was die überwältigende Mehrzahl ihrer Führer angeht”, sagt Carrión. “Und ihr Triumph wurde mit dem Aufstand in den Städten entschie­den. Dies hat dazu geführt, daß über Jahre hinweg die Interessen der städti­schen Bevölkerung auf Kosten der Campesinos privilegiert wurden.”

Die Zuspitzung in der Chamorro-Re­publik

Bei einer Solidaritätsveranstaltung in Hamburg am 4.4.90 sah Miguel d`Escoto, nicaraguanischer Ex-Außenminister, die Ursachen für diesen Streik darin, daß die Chamorro-Regierung von den USA gezwungen wird, Maßnahmen durch­zuführen, die an die Substanz des nicaraguanischen Volkes gehen, um die ver­sprochenen 300 Mio. Dollar zu erhalten. Das sind – für alle der den IWF-zerschla­genden Bewegung Zugehörigen bestens bekannt –
a) die Privatisierung des gesamten öffentlich-staatlichen Sektors
b) die Streichung sämtlicher Subventionen
c) Reduzierung des Staatshaushaltes für den Sozialbereich (Gesundheit, Erzie­hung usw.)
Folge dieser Politik sind Massenentlassungen von LehrerInnen und Personal im Gesundheitsbereich, die Aufhebung der Subventionen z.B.:
– für den Transport für Schüler, Studenten und Lehrer,
– für die verschiedensten Bereiche der gesundheitlichen Versorgung, wie ko­stenlose Schwangerenvorsorgeuntersuchung und Kleinkinderuntersuchun­gen, u.v.a.m.
Weitere Folgen sind die ersten Versuche bzw. bereits vollzogenen Rückgaben von Staatsländereien (UPE`s ) an ihre alten Besitzer. Dazu wurde das verfas­sungswidrige Dekrekt 10-90 erlassen, das alle ineffizient arbeitenden Betriebe zur Reprivatisierung freigibt. Ein Dekret, dessen Inhalt eindeutig an der verfas­sungsmässig verankerten Agrar-Reform rüttelt und daher über die Nationalver­sammlung mit 2/3 Mehrheit hätte verabschiedet werden müssen, ist an dieser vorbei erlassen worden.
Zu den ersten Rückgaben, die der Landwirtschaftsminister Roberto Rondon laut Nuevo Diario vom 16.6. bereits formell vollzogen hat, gehören auch La Paz del Tuma und La Colonia, die UPE`s (staatliche Produktionseinheiten), die von der bundesdeutschen Solibewegung seit Jahren durch Brigadeneinsätze und auch fi­nanziell unterstützt werden. Rondón kündigte darüberhinaus an, daß er inner­halb von 2 bis 3 Wochen all die “unrechtmässig konfiszierten” alten Kaffeeha­ciendas wieder ihren “rechtmäßigen” Eignern zurückerstatten wolle. Sie sollen dann zu Viehzuchtbetrieben gemacht werden. In La Paz del Tuma ist eine der modernsten Kaffeeverarbeitungsanlagen kurz vor der Fertigstellung.
Dieses Dekret rüttelt also entscheidend an den Errungenschaften der Revolution, die es laut d`Escoto von der revolutionären Kraft in der Opposition an erster Stelle zu verteidigen gilt. Gelingt diese Reprivatisierung der staatlichen Lände­reien, so befürchten zurecht die Kooperativen und Kleinbauern, daß dann das nächste Dekret kommt, was ihre Ländereien reprivatisiert. Daher läuft im Land­wirtschaftsbereich eine verstärkte Mobilisierung der LandarbeiterInnen und ihrer Gewerkschaften mit dem Ziel, daß diese formelle Reprivatisierung nicht prak­tisch vollzogen bzw. rückgängig gemacht wird.
Weitere Forderungen der Streikenden sind die Sicherung des Arbeitsschutzge­setzes und die Weiter-Finanzierung der staatlichen Industriebetriebe. Aktuelle Politik der Regierung ist die der Aushungerung dieses Bereiches. Viele staatliche Industriebetriebe sind aus diesem Grund seit Wochen `vorrübergehend’ dicht, womit deren `Ineffizienz’ auf der Hand liegt.

“….befehle ich heute der Armee, daß sie gemeinsam mit der Natio­nalpolizei die öffentliche Ordnung unverzüglich herstellt…”

…verkündete Violeta Barrios de Chamorro am 9. Juli, zu einem Zeitpunkt, als von Seiten der Regierung die Verhandlungen zum Scheitern gebracht wurden. Der Streik wurde hinsichtlich des größten Teils der aufgestellten Forderungen als il­legitim erklärt und als politische Machtprobe tituliert. So wurde Verhandlungs­bereitschaft nur angesichts der klar umrissenen ökonomischen Forderungen de­monstriert, worauf sich die Streikenden jedoch nicht einließen.
Der Streik entwickelte sich zunächst über die Angestellten des Öffentlichen Dienstes und die LandarbeiterInnen. Am Nachmittag des 4.7.90 wurden 8 Ge­werkschaftsführer von der Polizei `vorgeladen’. Das forderte eine sofortige Ver­sammlung der Streikenden vor dem Gebäude heraus. Nach 1 1/2 Stunden waren die acht wieder frei, und diese Vorladung bewirkte ein Anwachsen der Streikbe­wegung auf über 80.000 beteiligte. Angeschlossen waren jetzt auch die Arbeite­rInnen der Metallbetriebe, der Bierbrauereien, des Textilbereichs, des Transport­bereiches u.a.. In einzelnen Landregionen wurden Fincas besetzt und überall gab es eine massive Organisierung der LandarbeiterInnen, um die Reprivatisierung aufzuhalten.
Der Stufenplan des Gewerkschaftsverbandes schaffte eine beständig anwach­sende Mobilisierung. Am Montag, dem 9.Juli war Managua zugepflastert mit Barrikaden, die an allen wichtigen Kreuzungen aufgebaut waren und die Stadt lahmlegten. Überall brannten Autoreifen und die Situation glich mehr und mehr einem `Aufstand’. Angesichts dieser Entwicklung bot die Chamorro-Regierung den Streikenden als Antwort das Militär an.

Die Aufpeitscher aus dem rechten Sumpf

Der ultra-rechte Unternehmerverband COSEP mit all seinen verbündeten Krei­sen, wie den Politikern, die sich um den Vize-Präsident Godoy versammeln, den natürlich niemals entwaffneten Contras, den diversen Radiosendern und der katholischen Amtskirche versucht, diesen Konflikt aktiv für sich auszunutzen und erneut die Machtfrage zu stellen. In Verlautbarungen des COSEP wird die Chamorro-Regierung massivst angegriffen, da sie nicht in der Lage sei, das Land zu regieren und immer noch von den Sandinisten kontrolliert sei. Über Radio Católica, Radio Mundial und Radio Corporación – den Radios, die schon immer Sprachrohr der Contra waren – wird permanent aufgehetzt und die gewalttätige Einmischung in den Streik gefordert. Das führte zu den ersten Todesopfern in dieser Auseinandersetzung durch vereinzelte aufgehetzte Rechte, die in die Menge der Streikenden schossen.
Die Aktivitäten dieser Kreise gipfeln in der Aufforderung des COSEP an die US-Regierung, durch militärische Intervention in diesen innenpolitischen Konflikt einzugreifen. Auch der geistige Schutzengel und eine der Zentralfiguren der rechtsextremistischen Koalition, Kardinal Obando y Bravo, sprach sich in ver­schiedenen Radiosendungen zugunsten einer solchen Intervention aus. Parallel dazu wurden am 12.7 im US-Bundesstaat Kalifornien, am Fort Ord, Sonderein­satztruppen der US-Streitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt. Fort Ord ist eine der US-Basen, die innerhalb der militärischen Strategie der US-Regierung als Aus­gangspunkt für Einsätze in Lateinamerika fungieren. (So starteten die Truppen, die in Panama einmarschierten, von dieser Basis aus.)
Dieser Strategie der Eskalation durch die Ultra-Rechten, die zum Bürgerkrieg bzw. zur militärischen Intervention der USA führen könnte, versuchte der FNT mit seinem Vorgehen die Basis zu entziehen, angesichts der bisherigen Ereignisse ein schwieriges Vorhaben. Von Beginn an waren die Streikhandlungen darauf abgestimmt, die Lahmlegung der Arbeit auf einer Ebene effektiv zu bewirken, die nicht das Eingreifen der Polizei herausfordert. Nach dem Aufruf Violeta Chamorros an das Militär, u.a. zum Abbau der Barrikaden einzugreifen, wurden diese Barrikaden von den Streikenden selbst, allerdings auch mit polizeilichen Tränengas-Einsätzen in die Barrios verlagert und auch dort nur noch in redu­zierter Form wieder aufgebaut.

Naht das Ende der Chamorro-Regierung?

Ihr Spielraum scheint ausgereizt zu sein. Der aktuelle Streik zeigt deutlich, daß die nicaraguanische Bevölkerung nicht bereit ist, sich kampflos mit den von ihr verordneten IWF-Maßnahmen abspeisen zu lassen und den Somozismus wieder­aufkommen zu lassen.
Die ultra-rechte Koalition stellt mit ihrem aktuellen Aufbäumen gegen die Cha­morro/Lacayo-Fraktion die Machtfrage. So ist die Bereitschaft Lacayos, am 11.7. mit der FNT zu Übereinkünften zu kommen, von den Rechten zurückgewiesen worden. Und Godoy rief zur Gründung eines ‘Komitees zur nationalen Rettung’ auf. Der Chamorro-Clan verfügt – im Gegensatz zu den `Godoyisten’ – kaum über eine soziale Basis innerhalb des Landes . Dazu kommt der Druck der USA, die anfangs erwähnten Wirtschaftsmaßnahmen umgehend durchzusetzen.
Die Ergebnisse des Streikes, der am 12.Juli durch eine Verhandlungslösung beendet wurde, sind nur vorläufig zufriedenstellend: Die Rückgabe der Agrarbetriebe im Baumwollbereich ist vorerst ausgesetzt, es soll keine Repressalien und Entlassungen der am Streik beteiligten geben. Über die Festlegung eines Mindestlohnes soll, dann in “Gold-Cordoba” erst im September verhandelt werden, vorerst wurden 43% Lohnerhöhung zugestanden, was kaum einem Inflationsausgleich entspricht.
Der Zerstörung der Senderäume des rechten Hetzsenders Radio Corporación wurde von allen politischen Kräften, einschließlich der FSLN, verurteilt.

Nicaraguanische Studentlnnen in der DDR

Viele von uns kommen aus Arbeiter-und Bauernfamilien mit knapper Haushaltskasse. Ein Teil von uns sind Kriegsversehrte. Die Mehrheit der StudentInnen sind nach Regionen, Departements oder Gemeinden ausgewählt, so daß gewährleistet ist, daß sowohl Jugendliche aus der Hauptstadt als auch aus dem ländlichen Gebiet studieren konnten.
Für uns Studentinnen war der Hauptgrund, nach Europa zu gehen, uns hier zu qualifizieren, um damit für die zukünftige Entwicklung Nicaraguas als Fachkräfte einen Beitrag zu leisten und die ökonomisch-technologische Abhängigkeit überwinden zu helfen. Viele der gewählten Studienrichtungen existierten in Nicaragua einfach nicht. Auf der anderen Seite war es wichtig, daß die StudentInnen auch die Lebensweise in den entwickelten Ländern kennen- lernten, die historische Entwicklung dort begriffen, das Gute und das Schlechte sahen, wie
z.B. die ökologischen Probleme, die Konsumgesellschaft und den Unterschied zu der Armut in den Ländern der “Dritten Welt”.
Wir müssen anerkennen, daß von 1980 bis heute mehr als 900 Nicaraguanerinnen in den ehemals “sozialistischen”Ländern ausgebildet wurden. Das war unabhängig von den politischen Reformen in diesen Ländern eine große Hilfe. Gegenwärtig erhalten die Studentinnen ein monatliches Stipendium nach folgendem Muster:
-Facharbeiterausbildung: 180.-DM (einschließlich Übernachtung und Verpflegung)
-Mittlere Reife: 320.-DM
-Post-Graduierte:500.-DM
Die Mehrheit von uns zahlt davon ungefähr 10%Miete. Kürzlich wurde mit der Währungsreform eine Erhöhung des Stipendiums für ausländische StudentInnen beschlossen, in Höhe von 120.-DM für Mittlere Reife und 200.-DM für die Post-Graduierten.
Die Erfahrung nach zehn Tagen Währungsreform zeigt überhöhte Preise für die Basisgüter wie Milch, Brot usw., die in keinem Verhä1tnis zu den gegenwärtigen Stipendien stehen. Das betrifft auch alle BürgerInnen der DDR. Nachdem vor kurzem das Abkommen zwischen der Regierung der DDR und der nicaraguanischen Regierung ratifiziert wurde, scheint es sicher, daß alle Lernenden ihre Ausbildung beenden können, obwohl die Frage offen ist, was nach den gesamtdeutschen Wahlen im Dezember diesen Jahres passieren wird, und ob die Regierung der BRD die Verpflichtungen und Übereinkünfte erfüllen wird.
In einzelnen Fällen wurde nicaraguanischen StudentInnen bereits gesagt, daß es kein Geld mehr gäbe, um ihr Stipendium fortzusetzen, anderen wurde die Studiendauer verkürzt. Schließlich wurde manchen auch bedeutet, ihr Studium sei zu teuer und sie hätten es selbst zu bezahlen (dies war der Fall bei zwei MusikstudentInnen).

Wenn wir uns der Bedeutung bewußt werden, die es für die Zukunft Nicaraguas hat, daß wir nach vollendeter Ausbildung als qualifizierte Fachkräfte nach Nicaragua zurückkehren, ist es umso dringender, den Abschluß der Studien durch finanzielle Unterstützung sicherzustellen. Für uns StudentInnen ist es wichtig zu wissen, welche Institutionen oder Stiftungen dazu mit beitragen könnten.
Auch wenn wir glauben, daß die deutsche Solidaritätsbewegung sich auf die Projekte in Nicaragua konzentrieren sollte, wäre es gut, wenn sie uns in unserem Kampf um den Abschluß der Ausbildung unterstützen könnte.
Ein konkretes Problem ist auch, daß wir nach dem “doppelten Regierungswechsel” in Nicaragua und in der DDR und einer personellen Veränderung in unserer Botschaft weitgehend von Informationen abgeschnitten sind. Wir möchten -auch als in der FSLN organisierte StudentInnen -mit der Solidaritätsbewegung zusammenarbeiten und erhoffen uns auch Unterstützung.

Verhandlungen, wie geht´s weiter?

“Als Organisationen, die für die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich sind, müssen wir feststellen, daß Sie Ihre Wahlversprechen nicht erfüllt haben, daß Ihre politischen Maßnahmen fehlgeschlagen sind und daß der Mehrheit unseres Volkes viel Leid zugefügt wurde. Wir erlauben uns deshalb, auf einer dringend notwendigen Korrektur dieser Politik zu bestehen.”
So beginnt ein offener Brief an den Präsidenten Cristiani anläßlich der Vollendung seines ersten Amtsjahres am 31. Mai dieses Jahres. So wichtig wie sein Inhalt ist die bemerkenswerte Liste der unterzeichnenden Organisationen.

Sowohl die UNTS, der Gewerkschaftsdachverband, als auch die UNOC, ein ehemals von den Christdemokraten (PDC) gegründeter, gelber Gewerkschaftsverband, unterstützen den Brief, genauso wie die maßgebenden Oppositionsparteien, einschließlich der PDC. Auch Bauern- und Kooperativenverbände und das Permanente Komitee der Nationalen Debatte, das wiederum breiteste Kreise, einschließlich der Berufsverbände von kleinen und mittleren Unternehmern sowie verschiedene Kirchen umfaßt, gehören zu den Unterzeichnenden.

Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die spätestens mit dem ARENA-Wahlsieg 1989 ihren Anfang nahm: Die Zusammenfassung fast aller gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kräfte und Organisationen zu einer breiten Oppositionsfront gegen ARENA, um dem gemeinsamen Ziel einer politischen Verhandlungslösung des Bürgerkriegs Kraft und Ausdruck zu geben. Auf der Gegenseite steht die Regierungspartei – und der von der Kaffeeoligarchie dominierte Unternehmerverband ANEP – isolierter da als je zuvor. In allerdings abgeschwächter Form werden in dem Brief die gleichen Forderungen erhoben, die die FMLN in den aktuellen Verhandlungen mit der Regierung auf die Tagesordnung setzte: Entmilitarisierung der Gesellschaft, Reform des Justizwesens und des Wahlsystems, Ende der Straflosigkeit, Demokratisierung und Vertiefung der Agrarreform.

Es ist ohne Zweifel notwendig, daß sich organisierte Kräfte in die Bemühungen um eine Verhandlungslösung einmischen; die Militär- und Wirtschaftshilfe der USA für das Jahr 1990 ist trotz vielfältiger Bemühungen der demokratischen Abgeordneten und der Solidaritätsbewegung in den Vereinigten Staaten noch einmal bewilligt worden. Die Debatte um die Hilfe für das Haushaltsjahr 1991, das im Oktober beginnt, hat bereits eingesetzt. Der Militärapparat in El Salvador wurde offensichtlich von dieser Entscheidung ermutigt und lancierte am 21. Mai diesen Jahres ein Kommuniqué, noch während die Delegationen der Regierung und der FMLN in Mexiko zur zweiten Verhandlungsrunde an einem Tisch saßen. Darin sprechen die Streitkräfte der Regierungsdelegation die Kompetenz und das Recht ab, überhaupt Entscheidungen für das Land zu treffen.

Punkt eins – Das Militär (ZT)

Oaxtepec heißt der mexikanische Ort, an dem sich die Delegationen zur Junirunde trafen. Erster und sensibelster Punkt des Verhandlungsprozesses war die Säuberung und Reduzierung der Armee sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen. Aus unerfindlichen Gründen vermeldete die spanische Tageszeitung EL PAIS unter Berufung auf Regierungsquellen einen großen Fortschritt in den Verhandlungen. Davon kann keine Rede sein; die Regierungsdelegation entspricht zynischerweise der Beschreibung der Militärs: inkompetent und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Shafik Handal von der FMLN wertete es dennoch als Erfolg, daß die Regierung sich schließlich bereitfand, über das Thema zu diskutieren. In der Sache gab es jedoch keinerlei Annäherung. Die nächste Runde wird am 20 Juli in Costa Rica stattfinden. Thema zwei: Die Menschenrechtsfrage. Alvaro de Soto, der UNO-Vermittler erklärte zum Verhandlungsverlauf: “Die Möglichkeiten für konkrete Fortschritte zum Thema eins haben sich in dieser Phase erschöpft.”

Erwartungsgemäß fordert die Regierung immer wieder, daß es zunächst zu einem Waffenstillstand kommen müsse, um dann über weitere Reformen zu verhandeln. Die ARENA steht jetzt – neun Monate vor den Wahlen – unter einem gewissen Druck, sich als Friedensstifterin profilieren zu müssen. Doch der von beiden Delegationen anvisierte Termin für eine Waffenpause, der 15. September, ist unter den beschriebenen Bedingungen unrealistisch geworden. Die FMLN hat jedoch angekündigt die Waffen sofort ruhen zu lassen, wenn die USA sich entscheiden die Militär- und Wirtschaftshilfe an die salvadorianische Regierung zu stoppen. Für den Fall allerdings, daß sich die Regierung im weiteren Verlauf der Verhandlungen so unnachgiebig verhalte wie bisher und die Menschenrechte trotz aller Proteste auch in Zukunft mit Füßen getreten werden, hält die FMLN eine Warnung bereit: Eine militärische Offensive nach dem Vorbild vom vergangenen November.

Barcos Nachfolger: Nicht ganz neu, nicht ganz liberal…

Der am 27. Mai dieses Jahres zum Präsidenten Kolumbiens gewählte César Gaviria ist politisch kein unbeschriebenes Blatt. Der 42‑jährige, aus Pereira stammende Angehörige der Liberalen Partei betätigte sich während der Amtszeit Virgilio Barcos nicht unumstritten als Kabinetts­minister. In schwierigen innenpolitischen Situationen fungierte Gaviria in Abwesenheit Barcos auf dessen Entscheidung als höchster Vertreter der kolumbianischen Exekutive. Während des Generalstreiks Ende 1988 und der Zeit der Entführung des konservativen Präsidentschaftskandidaten Alvaro Gómez durch die M19‑Guerilla zeichnete er sich in dieser Funktion vor allen Dingen durch seine extreme Abneigung gegen den Dialog mit der Guerilla, der linken Opposition und der Drogenmafia aus; eine Hal­tung, die zu einer Polarisierung und Zuspitzung der Lage in den Konflikt­zonen des Landes, wie etwa Urabá, führte. Zu Beginn des Jahres hatte er die Regierungsämter niedergelegt, um sich seiner Wahlkampagne zu widmen. Allgemeine Beachtung fand sein öffentlicher Wechsel zur inner­parteilichen Fraktion der “Neuen Liberalen” unter Führung von Luis Carlos Galán, nachdem er lange Zeit der traditionellen Parteilinie treu geblieben war. Die “Neuen Liberalen” treten vor allem gegen die institu­tionaliserte Vetternwirtschaft innerhalb der Liberalen Partei auf und fordern eine Verlagerung der zentralen parteilichen Entscheidungs­kompetenzen von der parlamentarischen Ebene auf die Partei selbst. Präsidentschaftskandidat der “Neuen Liberalen” war allerdings bereits der Hoffnungsträger Luis Carlos Galán. Im August 1989 wurde Galán jedoch in der Nähe Bogotás während einer Wahlveranstaltung ermordet. Der Sohn Galáns überreichte Gaviria während des Begräbnisses seines Vaters die Fahne der “Neuen Liberalen” und machte ihn so pathetisch zum neuen Bannerträger der Bewegung.
Als Besonderheit und Ausdruck der tradi­tionellen Personalunion der libe­ralen Partei­funktionäre mit der Regierung standen parallel zur Parlaments- und Kommunal­wahl am 11. März dieses Jahres auch die vier Bewerber um die Präsidentschaftskandida­tur der Liberalen zur öffent­lichen Disposi­tion: Alberto Santofimio als Vertreter der liberalen “Dinosaurier”; Ernesto Samper, Senator und eminent wichtige Figur inner­halb der Liberalen Partei, der bei einem Attentat, das dem Vertreter der Unión Patriótica, José Antequera das Leben kostete, schwer verletzt wurde; Hernando Duran Dussan, Chefideologe der Liberalen Partei und Vertreter der offiziellen Linie, seiner
dubiosen politischen Verbindungen wegen stark umstritten; sowie César Gaviria. Gaviria konnte sich mittels einer massiven Kampagne gegen seinen ernsthaftesten Konkurrenten Samper durchsetzen, der wegen des Mordanschlags im Nachteil war.
Allgemeine Konsternierung provozierte anschließend die Entscheidung Gavirias, den unterlegenen Konkurrenten Duran Dussan zu seinem Wahlkampfmanager zu ernennen, eine Aufgabe, die Duran mit Sicherheit einen wichtigen Posten in der künftigen Regierung garantiert. Duran werden intensive Kontakte zu paramilitärischen Kräften nachgesagt. Mit der Begründung, die FARC-Guerrilla hielte sich auch die Unión Patriótica als legalen Ableger, tritt Duran vehement für die Anerkennung des lega­len Arms der Paramilitärs, der “Morena”-Partei, ein; für die Zukunft gibt dies zu schlimmsten Befürchtungen Anlaß.
Aber vielleicht ging die Rechnung der Liberalen im Endeffekt auf: Gaviria als Garant für die gradlinige Fortführung der Politik von Präsident Barco und eine prekäre Annäherung an die kolumbianischen Militärs und Paramilitärs via Duran Dussan, während Galán durch seine ideologischen Differenzen mit den “Patrones” der Partei einen Störfaktor darstellte und sein Tod zwar beklagt, aber nicht bedauert wurde. Panik und Orientie­rungslosigkeit herrschen weiter unter den Kolumbianern, und Gaviria hat sie die Hoffnung auf eine demokratische Alternative bis 1994 begraben lassen. Er wird eine Politik der Annäherung an die Wünsche der USA betreiben und die Linie der alten Männer der Liberalen Partei umsetzen, eine Fortführung der Regierung Barcos unter anderem Namen.

Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

Die Toten von Pisagua beginnen zu sprechen

Diese Reaktion ist insofern überraschend, als seit Jahren bekannt ist, daß die Diktatur Hunderte von Gegnern spurlos verschwinden ließ. Daß sie tot waren, damit mußte man rechnen; ungewiß war nur, wie, wann und wo sie umge­bracht wurden. Jahrelang hatten Angehörige und Freunde der “verschwundenen Verhafteten” vergeblich mit kleinen Demonstrationen unter dem Motto “Donde están?” “Wo sind sie?” Rechenschaft vom Regime und Gehör in der chilenischen Gesellschaft gesucht.
Es scheint, daß die Toten von Pisagua den Verdrängungsprozeß, den sich große Teile der chilenischen Gesellschaft bisher leisteten, aufgehalten haben.
Daß der Mantel des Vergessens zerrissen werden konnte, mag an den Besonder­heiten des Fundorts in der Wüste liegen: der salzhaltige Wüstensand hatte die Leichen mumifiziert. Das bedeutet: nicht irgendwelche menschlichen Knochen wurden ausgegraben, Skelette freigelegt, sondern identifizierbare menschliche Körper. Das erleichterte die Identifizierung durch die Angehörigen. Aber die Medien berichteten auch weitere Details, und sie machen auch den Nicht-Betrof­fenen individuelles Leiden vorstellbar: Die Hände gefesselt, die Augen verbun­den oder der Kopf in einer Plastikhülle; eine Bibel in der Jackentasche oder eine Zigarette. Diese Details aber beweisen auch unleugbar, hier wurden keine “Kriegsgegner” verscharrt, hier liegen ermordete Gefangene.
Die Frage, die jetzt nicht nur von den Angehörigen gestellt wird: Wer trägt die Verantwortung für die Morde?
Pisagua, ein kleines Fischerdorf nördlich von Iquique diente in den ersten Mo­naten nach dem Putsch als Konzentrationslager für politische Gefangene; als KZ hat es insofern traurige Geschichte in Chile gemacht, als schon Ende der 40er Jahre, als die KP in Chile infolge des Kalten Krieges verboten wurde, KP-Mitglie­der dorthin verbannt wurden.
Die Männer, deren Leichen im Juni gefunden wurden, waren Gefangene in die­sem Lager. Überlebende berichten jetzt von den Abschiedsstunden. Einigen der Angehörigen wurde damals mitgeteilt, die Gefangenen seien “auf der Flucht” er­schossen oder vom Kriegsgericht verurteilt worden – in keinem Fall wurde den Verwandten mitgeteilt, wo die Gräber lagen.
Damit ist klar, daß nicht irgendwelche angeblich anonymen Gruppen verant­wortlich sind, sondern “die Verantwortung” ist innerhalb der militärischen Hier­archie, genauer des Heeres, zu suchen – und dessen Oberbefehlshaber heißt heute, wie 1973 Augusto Pinochet. Das verschafft dem Auffinden der Gräber auch politischen Sprengstoff.

Schwierigkeiten beim Aufdecken der Wahrheit

Das Aufdecken der Gräber zu diesem Zeitpunkt war kein Zufall. Ein ehemaliger Gefangener, der als Arzt den Tod der Gefangenen feststellen mußte, hatte bereits im vergangenen Jahr sein Wissen der Vicaria de la Solidaridad anvertraut. Mit gutem Grund wartete sie bis zum Ende der Diktatur damit, das Grab offenzule­gen, zumal das Gelände bis vor kurzen noch militärisch gesperrt war. Aber es ist bezeichnend für die Situation in Chile, daß weitere Zeugen, die sich inzwischen gemeldet haben, wie der ehemalige stellvertretende Gefängnisdirektor von Pisagua, auch jetzt noch besondere Sicherheitsvorkehrungen zu ihrem Schutz brauchen.
Der Oberste Gerichtshof hat, wie in Chile bei spektakulären Verbrechen üblich, eigens einen Richter mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt. Ganz im Ge­gensatz dazu haben die Anwälte der Vicaria in ihrer Anzeige den Fall bewußt verharmlost: “Illegale Bestattungen wollen sie untersucht wissen… Dahinter steckt offenbar die begründete Sorge, die Militärjustiz könne die weiteren Untersu­chungen an sich ziehen und wie gehabt im (Wüsten-)Sand verlaufen lassen. Das zumindest lehrt das Beispiel Lonquen aus dem Jahre 1978. Die Polizisten, die einen Monat nach dem Putsch 15 verhaftete Bauern erschossen und die Leichen in einen stillgelegten Kalkofen warfen, kamen dank der Amnestie unbehelligt davon. Die Reaktion in der Öffentlichkeit blieb damals gering. Ob es diesmal ge­lingen wird, die Morde trotz Amnestiegesetz und trotz der Militärgerichtsbar­keit juristisch aufzuklären, ist fraglich. Aber es besteht eine reale Chance, in den Medien detailliert die Angehörigen und Mithäftlinge berichten zu lassen. Und da immer mehr Menschen frühere Ängste verlieren, beginnen sich Zeugen zu mel­den, auch über andere Fälle “verschwundener” Häftlinge: Allein in der 1. Region, in der Pisagua liegt, “verschwanden” in den Wochen nach dem Putsch 50 Perso­nen. Somit ist davon auszugehen, daß weitere Gräber gefunden werden.
Die Beisetzung der Toten auf dem Friedhof von Iquique wurde zu einer Massen­demonstration, bei der die Bestrafung der Schuldigen verlangt wurde. Der christdemokratische Innenminister Krauss erschien zur Beerdigung und erklärte den Willen seiner Regierung, die Umstände restlos aufzuklären…
Davor eine gespenstische Begegnung: Als die Leichen nach Iquique überführt wurden begegneten sie am Stadtrand einer Kolonne gepanzerter Mercedeslimou­sinen – Pinochet, der sich seit dem Regierungswechsel in Iquique eingebunkert hat, fuhr in die Stadt ein.

“Das unentschuldbare Entschuldigen”

Während das Ständige Komitee der (katholischen) Bischofskonferenz anläßlich der Leichenfunde dazu aufruft, sich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen und nicht das unentschuldbare zu entschuldigen, versuchen Pinochet und seine Ge­neräle genau das.
14 Tage nach dem Auffinden der Massengräber sah sich das Heer angesichts der öffentlichen Diskussionen genötigt, eine Stellungnahme abzugeben. Die mehr­seitige Erklärung wurde vor der versammelten Generalität bekanntgegeben. Auf den konkreten Anlaß wurde lediglich mit der Formulierung “die Umstände, die heute die nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen” Bezug genommen.
Tenor der Erklärung: Die Streitkräfte hätten auf Verlangen der “überwältigenden Mehrheit der Chilenen” das Vaterland vor dem marxistischen Chaos gerettet. – Mit dieser Behauptung mögen sie im bürgerlichen Lager ja immer noch auf Zu­stimmung stoßen. Nur die zweite These der Generäle, es habe sich um einen “inneren Krieg” gehandelt, findet immer weniger AnhängerInnen. Selbst einst aktive PutschistInnen haben inzwischen mehrfach erklärt, um “Krieg” gegen einen bewaffneten Gegner habe es sich allenfalls in den ersten drei, vier Tagen nach dem Putsch gehandelt; dann hätten die Streitkräfte die Situation absolut unter Kontrolle gehabt. Genau das aber bringt die Militärs mit ihrer patriotischen Legende in arge Bredouille: Was ist heldenhaftes daran, “Kriegs”-Gefangene hin­zurichten? Welche rechtliche Grundlage gab es für die zahllosen “Kriegsgerichtsprozesse” mit Todesurteil? Abgesehen davon, daß diese Prozesse in der Überzahl der Fälle nicht einmal rechtliche Minimalbedingungen erfüllten bzw. im Fall der berüchtigten “Todeskaravane” des Generals Arrellano Stark: Ge­fangene, gegen die noch gar kein Prozeß eröffnet war oder die zu einer Haftstrafe verurteilt worden waren, wurden in die Wüste geführt und erschossen.
Es ist zu wünschen, daß die verantwortlichen Retter des Vaterlands sich in dieser Schlinge fangen: Nach internationalem Recht, das die Diktatur für Chile über­nommen hat, verjähren Kriegsverbrechen nicht…

Mi rebeldía es vivir – Leben ist meine Revolte

Dies ist der Titel einer Sammlung von 43 Gedichten, die Arinda Ojeda Aravena während ihrer Zeit als politische Gefangene im Gefängnis von Coronel/Chile geschrieben hat. Sie kehrte 1981 aus dem Exil zurück nach Chile und wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und zu zwanzig Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Ende 1989 wurde sie freigelassen. Mehr als 3oo politische Häftlinge sitzen weiter.
Das Chilenisch-Französische Solidaritätskomitee in Grenoble, das sich jahrelang um ihre Freilassung bemühte, hat diese Gedichte 1988 unter dem Titel Vivre est ma révolte in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht (Editions La pensée sauvage).

Fünfzehn

Frau,
du bist eingeschlafen,
hast noch die Glattheit
des abgewaschenen Geschirrs gespürt
und den Geruch des Waschmittels.
Die Müdigkeit hat dich daran gehindert,
die Zärtlichkeit
des halb eingeschlafenen Mannes
an deiner Seite zu erwidern.
Die Müdigkeit, oder der Überdruß?
Das Weinen des Kleinsten
um Mitternacht
bringt zu bald
den Morgen
und wieder beginnt die Routine
von neuem.
Deine Mädchenträume
und die beinahe möglichen Träume
der Jugendlichen
sind schon verflogen
bei dieser Wirklichkeit:
Mutter-Frau
Ehefrau-Frau
Köchin-Frau
Wäscherin-Frau
aber
wann wirst du Frau sein?
Vor allem
Frau.

Quince

Mujer,
te has dormido sintiendo
aún la suavidad
de los platos lavados,
y el olor del detergente.
El cansancio te ha impedido
responder la caricia
del hombre semidormido
a tu lado.
El cansancio, ?o el hastío?
El llanto del pequeño
a medianoche
traerá demasiado pronto
la mañana,
y recomenzará otra vez
la rutina.
Tus sueños de niña,
y los casi posibles sueños
de adolescente
ya se habrán esfumado
con esta realidad:
Madre-mujer
Esposa-mujer
Cocinera-mujer
Lavandera-mujer…
pero,
?cuándo vas a ser mujer?
antes que todo:
mujer.

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