Explosive Metaphern und Bombenfotos, STERN-hagelvoll

Schon in den ganzseitigen Fotos wird das ganze Arsenal von Armutsklischees aufgefahren. Da sitzt ein nacktes dunkelhäutiges Baby vor einer Bretterbude, in der Hand eine riesige Bratpfanne und starrt die Betrachterin grimmig an, als wolle es ihr in kurzer Zeit eins überbraten. Fettgedruckter Text direkt daneben: Heute bedroht die Bevölkerungsexplosion die Dritte Welt. Morgen uns. Das Schicksal von Bombay ist eine Warnung.
Oder das unvermeidliche Foto von schlafenden Menschen auf der Straße. Dazu fettgedruckt: Wo man sich betten kann, da liegt man. Darunter der Satz: Die giftigen Autoabgase stören sie nicht (alias: “haben einfach kein Bewußtsein von Umweltver­schmutzung, die Ignoranten”).

“Heute die Dritte Welt. Morgen uns.”

In einer subtilen Mischung werden den ganzen Text hindurch Erklärungen für die Handlungen von Bombays MigrantInnen angeboten, etwa, die Armut auf dem Lande und die Glitzerwelt der Stadt seien für die Migration verantwortlich. Gleichzeitig wird in anderen Sätzen angedeutet, daß seine Einwanderer doch nicht ganz bei Trost sein müssen. So zum Beispiel durch das Zitat: Bombay ist das Synonym für reale Anarchie. Oder: Die Menschen hier begreifen nicht, was Hygiene ist. Oder: Sie sind wie Kinder, Kinder der Finsternis.
Gerade diese Mischung macht den Text so brisant. Vordergründig wird dadurch nämlich immer ein begrenztes Verständnis für die Menschen in Bombay ange­deutet. So gibt es durchaus Passagen, die Migration plausibel zu machen versu­chen. Etwa der Satz: Und trotzdem: Keiner hungert [in Bombay. Anm. E.A.], jeder findet irgendeine Arbeit, während von einem Dorf die Rede ist, in dem es mehr Hun­ger als Arbeit gab. Gleichzeitig aber heißt es dann: Keiner, der noch bei Verstand ist, kann in dieser Stadt leben.
Widersprüchlich und klischeehaft ist der Text auch im Bezug auf MigrantInnen, die zum ersten Mal in die Stadt kommen. In der Metaphorik einer Lagersprache werden sie als die Neuen bezeichnet. Es heißt: Die Neuen sind unschwer auszuma­chen. Nur zögernd steigen sie – mit bindfadenverschnürten Pappkoffern und Kleider­ballen auf den Schultern – die Steintreppe zur Straßenbrücke empor. Der brausende Ver­kehr verwirrt sie. Manche brauchen Stunden, um die Straße zu überqueren. Andere su­chen sich gleich an der nächsten Mauer oder Straßenecke einen freien Platz. Wenns gut geht, wenn keiner sie verscheucht, entfalten sie Decken und richten sich im schützenden Winkel ein. Jetzt haben sie Fuß gefasst. Morgen erobern sie die Stadt.
Unzählige Migrationsstudien über verschiedene Städte belegen seit Jahren, daß Migration genau so nicht funktioniert. Daß Menschen normalerweise in Städte ziehen, in denen sie bereits Bekannte oder Familienmitglieder haben, die ihnen bei der Integration helfen und sie vorübergehend bei sich aufnehmen können. Daß Menschen erst “Probereisen” unternehmen, bevor sie mit Sack und Pack um­ziehen. Und dennoch muß das Bild der ahnungs- und hilflosen dummen Dörfler, die nicht einmal eine Straße überqueren können, immer wieder herhalten. Dabei spricht der Artikel an einer anderen Stelle selbst von Verwandtschaftsverbin­dungen, die Migrationsprozesse unterstützen. Allerdings lediglich, um die Angst vor der Bevölkerungsexplosion zu schüren und ohne das Bild von den Neuen zu überprüfen. Es heißt: Jeder, der in Bombay Fuß fasst, zieht laut Statistik zwanzig Fa­milienmitglieder nach. Bombay (…) ist wie ein Luftballon, der unbeirrt aufgeblasen wird. Irgendwann platzt er.

Rassismus in der Metaphorik

Der Rassisimus des Artikels ist vor allem in der Metaphorik versteckt. Die Welt ist darin aufgeteilt in WIR (= Europa, die zivilisierte Welt) und SIE (= die Men­schen in den Slums, in der Hölle Bombay).
In Anspielung auf die konventionelle Metapher von der Bevölkerungsexplosion wird die SIE Gruppe als Menschenbombe bezeichnet, von der WIR bedroht sind (Morgen uns). Die SIE-Gruppe, wohnt natürlich nicht in Bombay, sondern haust. Sie haust, tierhaft und unzivilisiert in Gelassen. Die Beschreibungen einzelner “Menschen”, die in Gelassen hausen, sind entsprechend: Shiva ist ihr Mann, dreißig Jahre alt, kräftig, schlau, aggressiv. Frauen werden daneben mit exotischer Attrakti­vität ausgestattet: Perlweiße Zähne, blitzende dunkle Augen. Unzivilisierte begut­achtet mann eben zuerst nach ihren körperlichen Qualitäten und offenbar sofort sichtbaren angeblichen Charakterzügen. Wie auf dem Sklavenmarkt.

Ein Menschenbild wie auf dem Sklavenmarkt

Durchgehend scheint es in dem Artikel weniger darum zu gehen, die Situation der Menschen in Bombay zu analysieren, sondern Ängste bei UNS zu schüren vor dem Entzünden der Bombe Bombay.
Bedrückende Szenarien sind unschwer vorstellbar. Überlebenskämpfe in überbordenden Mega-Städten führen zu Aufruhr und Chaos, erschüttern ganze Staaten. Armut treibt Millionen über die Grenzen. Das provoziert internationale Konflikte. Armeen von Ver­zweifelten werden neue Lebensräume suchen, auch die reiche Festung Europa bedrohen.
Um die Bombe zu entschärfen, gibt es in der Logik des Artikels dann auch nur eine Möglichkeit: sie zu verkleinern durch Geburtenkontrolle. Beherzte Recken im Kampf gegen die “Bombe sind Männer wie Dr. Pai, dessen Verdienst laut Stern-Artikel darin besteht, jährlich 40.000 Abtreibungen durchzuführen (zu Dr. Pai vergleiche Kasten). Produziert wird die Menschenbombe nämlich laut Artikel ein­zig und allein dadurch, daß Babyfabriken (…) eine Tochter nach der anderen gebären, bis endlich der ersehnte Sohn zur Welt kommt. Zitat Dr. Pai: Wenn wir den Kampf gegen die Baby-Fabriken verlieren, dann sind wir alle verloren.
Es geht also nicht darum, über strukturelle Probleme der Verstädterung nach­zudenken, gar darüber, wie die Lebensbedingungen der InderInnen in den Städten verbessert werden könnten oder gar, wie sie eigentlich wohnen und leben wollen. Es geht um den Kampf gegen Babyfabriken, gegen die Kinder gebä­renden Frauen, die angeblich an der Bevölkerungsexplosion schuld sein sollen.
Mich überrascht immer wieder, daß Journalisten es sich heute immer noch leisten können – und offenbar Erfolg haben – das Wort von der Bevölkerungsexplosion im Mund zu führen. Kein Wort darüber, daß die Menschen in Europa und den USA 80% der weltweit verbrauchten Energie verbrauchen, daß hier bei uns für mehr Geburten geworben wird, daß die allermeisten Menschen auf dieser Erde man­gels Ressourcen, Sprachkenntnissen und Einfluss nicht den Schimmer einer Chance hätten, die Festung Europa auch nur von weitem zu sehen, geschweige denn, sie zu bedrohen. Die Müllberge von Bombay sind laut Stern so groß, daß sie einhunderttausend Müllsammler ernähren. Dieses ökologische Schreckge­spenst im Artikel wird doch sofort geradezu harmlos, wenn mensch an die Müll­berge jeder europäischen Großstadt denkt und an die ungeheure Verschwen­dung in unserer Wegwerfkultur. Daß keine einhunderttausend Menschen von Berlins Abfällen leben, liegt doch nur daran, daß hier nur vergleichsweise wenig Menschen darauf angewiesen sind, die Abfalleimer und Müllkippen auszu­werten.
Letztlich ist es jedoch sehr einfach, die Argumentation des Artikels zu wider­legen. Fast unmöglich, so scheint es, das diskursive Feld zu verändern. Das Bild von der Bevölkerungsexplosion ist in aller Munde und Denken, der Rassismus im Artikel ist eben nicht vordergründig. Und wenn man schon von Bevölkerungs­explosion spricht, so erscheint die Menschenbombe auch lediglich als eine originelle Metapher, und wer schon so denkt und spricht, für den ist das Gerede von den Babyfabriken eben auch nichts besonders Abartiges. Schließlich geht es ja nicht um deutsche Frauen, sondern um die, die in Bombay hausen.

Kasten:

Dr. Pai – ein praktizierender Bevölkerungspolitiker

Im Stern-Artikel wird mehrfach ein gewisser Dr. Pai zitiert, der für Geburten­kontrolle und Abtreibungen wirbt.
Dr. Pai ist Pionier und Miterfinder der Massensterilisationen an Männern Ende der sechziger Jahre.
Er ist Erfinder des Prämiensystems (“Anreize” wie Saris, Geld, Dampf­kochtöpfe) für weibliche Sterilisationen (80% aller Sterilisationen werden an Frauen durchgeführt). Bis heute gibt es in Indien – trotz heftigen Protesten – Sterilisationscamps, in denen Frauen “am Fließband” sterilisiert werden.
Dr. Pai hat in Indien eine Klinik für Geschlechtsbestimmung eröffnet und befürwortet die Abtreibung von weiblichen Föten aus bevölkerungspoliti­schen Gründen.
Laut Stern führte Dr. Pai im vergangenen Jahr 40.000 Abtreibungen durch, das wären (bei einer Fünf-Tage Woche à 8 Stunden) 153 täglich, d.h. drei Minuten pro Abtreibung…

Kasten:

Melania

Im Rahmen eines Projektes, das bessere Überlebenschancen für die teilweise nomadischen Mapuches der Provinz Lonquimay (in den chilenischen Anden) erarbeiten sollte, besuchte ich gemeinsam mit einer chilenischen Soziologin und einem Vertreter der Stadtregierung von Lonquimay verschiedene Siedlungen der Mapuche und wir befragten sie über ihre Lebensbedingungen.
Melania und ihre Famile leben in El Naranjo, einer Siedlung aus wenigen Holzhütten, nahe bei einem Bach, umgeben von hohen Hü¬geln. Neben der Hütte ist ein kleines Kartoffelbeet, sonst unbe¬wachsene Erde.
Ihre Hütte besteht aus zwei Räumen, der “Küche” mit einem Herd, der aus einer Blechtonne hergestellt wurde, und einem Schlafraum, wo es für 11 Personen zwei Betten gibt, und Ziegenfelle.
Mit ihrem jetzigen Mann hat Melania, die 36 ist und wie 50 aus¬sieht, neun Kinder. Die älteren Kinder aus einer früheren Verbin¬dung arbeiten als Saisonarbeiter bei der Obsternte im zentralen Tal. Nie schicken sie Geld nach Hause, was Melania gar nicht begreifen kann.
Der jüngste Sohn, Santo, ist drei bis vier Jahre alt. Er ist nur mit einer zerrisse¬nen Unterhose bekleidet, während wir mit Pullover und Anorak frösteln. Die Tochter Ludminda besitzt eine Puppe. Die Puppe ist blond und blauäugig und ihr größter Reichtum.
Ganz plötzlich und unaufgefordert beginnt Melania von der Geburt von Santo zu sprechen. Als sie zur Entbindung im Krankenhaus war, sagte ihr der Arzt, jetzt reiche es aber mit dem Kinderkriegen, sie habe doch schon viel zu viele Kinder, das müsse jetzt endlich aufhören.
Das erzählt sie uns, die sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben sieht, ungfragt, drei oder vier Jahre später, immer noch mit Tränen in der Stimme. Dies ist die schlimmste Kränkung, die ihr je zugefügt wurde. Wenn sie keine Kinder mehr kriegen darf, was kann sie dann überhaupt noch, welchen Wert hat sie noch? Wie kann der Arzt ihr einfach verbieten, ihr Eigenes zu tun?
Und sie hat seitdem keine Kinder mehr geboren.
Warum ist Melania so tief gekränkt? Weil ein Fremder über sie be¬stimmt? Weil er sie (heimlich?) sterilisiert hat? Weil ihr Mann nicht zufrieden ist, daß sie keine Kinder mehr bekommt?
Was bedeuten für sie die Kinder? Einen Lebenssinn? Eine Selbstbestätigung, eine Altersversicherung, den Inhalt ihrer Existenz, die aus Arbeit und Elend besteht?
Warum war Melania uns gegenüber so aufgeschlossen und mitteilsam, obwohl wir doch sichtlich der gleichen Gesellschaftsschicht ange¬hören wie der Arzt? War es der Leidensdruck, die Empörung?

Holde Pinnow

Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Fujimori: Der Mythos zerplatzt

6.000 Verhaftungen und mindestens 15 Tote weist die Bilanz der ersten Woche nach dem 8.August aus. Schon vor der Verkündung des Wirtschaftsprogramms war das Land in Ungewißheit über die zu erwartenden Reissteigerungen praktisch stillgelegt. HändlerInnen hielten die Waren zurück, oder verkauften nur zu astronomisch hohen Schwarzmarktpreisen, während die Polizei dafür eingesetzt wurde, gehortete Waren demonstrativ zum offiziellen Preis zwangszuverkaufen. Kaum war das Ausmaß der von Fujimori geplanten Anpassungsmaßahmen bekannt, entlud sich die Entrüstung der Bevölkerung in Demonstrationen und Plünderungen. Einen Tag vor der Vorstellung des Programms hatte der Präsident gerade noch rechtzeitig den Ausnahmezustand für Lima und neun weitere Departements verlängert, so daß Militär und Polizei nahezu ungehindert von gesetzlichen Beschränkungen einschreiten konnten.
Die Radikalität der Maßnahmen Fujimoris dürfte vor allem das Ergebnis seiner vor kurzem in Japan und den USA geführten Gespräche sowohl mit Regierungsstellen als auch mit Vertretern von IWF und Weltbank sein. Um die Kredit-ürdigkeit Perus wiederherzustellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach den aus Washington gestellten Bedingungen zu richten. Die völlige Ausplünderung der Devisenreserven mangels anderer Geldquellen und die tiefste wirtschaftliche Krise der neueren peruanischen Geschichte lassen ihm da keine andere Möglichkeit. Obwohl er die Wahl gegen Mario Vargas Llosa gerade wegen seiner Ablehnung eines Schockprogramms zur “Gesundung” der Wirtschaft gewonnen hatte, hält sich Fujimori an die von den Washingtoner Institutionen etablierten Spielregeln: Der Wechselkurs des Inti wurde freigegeben. Ab sofort soll das freie Spiel der Marktkräfte den Wert des Inti gegenüber dem Dollar regulieren. Die Beschränkungen auf Importe wurden weitgehend aufgehoben. Grundsätzlich gilt wie 1985 in Bolivien, 1989 in Brasilien, und in so vielen anderen Ländern der Peripherie, daß freie importe die nationalen Produzenten der internationalen Konkurrenz aussetzen und somit effektivieren sollen. Es sei denn, die nationale Produktion stirbt vorher eines schnellen Todes. Die Erfahrungen mit der Durchführung von Strukturanpassungsprogrammen in vielen Ländern zeigen, daß die Gefahr einer Rezession bis hin zur Existenzbedrohung der nationalen Produktion außerordentlich groß ist. Genauso oft ist dies heraus-gestellt und kritisiert worden, aber nichtsdestotrotz wird das universal gültige IWF-Sanierungsrezept bisher nicht modifiziert.
Der für die Menschen in Peru am unmittelbarsten spürbare Teil des Maßnahmenkataloges besteht in den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Benzin. Für Zucker, Milch, Brot und Nudeln stiegen die Preise zwischen 200 und 300%. Am schwersten wiegt die Benzinpreissteigerung um das Dreißigfache(!). Jede Verteuerung des Benzins bedeutet höhere Transportkosten und schlägt somit wiederum auf fast alle anderen Preise durch. Zur sozialen Abfederung erhöhte Fujimori den Mindestlohn auf umgerechnet 50 US$.Fast gleichzeitig wurde der Warenkorb des Mindestnotwendigen amtlich mit 270 US$ im Monat angegeben: Die Kapitulation vor der Armut, statistisch fixiert.

Der Präsident auf der Suche nach Verbündeten

Fujimori wurde gewählt, weil er den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ohne Schockprogramm versprach. Nun führt er genau dieses durch und muß sich um politische Unterstützung bemühen. Entgegen verbreiteter Spekulationen und Unterstellungen im Wahlkampf hat Fujirnori die APRA konsequent von den wichtigen Positionen seiner Regierung ferngehalten. Die APRA ihrerseits erregt sich über den Wahlbetrug und darüber, daß sich das Wirtschaftsprogramm kaum von den Vorschlägen Vargas Llosas unterscheidet. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Ex-Regierungspartei zunächst einmal mit ihrer eigenen Krise beschäftigt ist und außerdem wohl eine Einladung zum Mitregieren nicht ausgeschlagen hätte. Der verschmähte Bräutigam ist beleidigt.
Programmatisch steht Fujimori inzwischen Vargas Llosas Vorschlägen am nächsten, ohne jedoch auf die Unterstützung der Rechten bauen zu können, nachdem er ihr in der Wahl gerade erst den sicher geglaubten Sieg abgenommen hat. Vargas Llosa hat sich nach Europa zurückgezogen. Sein “Movimiento Libertad”, in-zwischen in “Liberale Partei” umbenannt, soll nach dem Verständnis der Parteiführer um Alvaro Vargas Llosa und Enrique Ghersi die reine Lehre der totalen Marktwirtschaft in Opposition zur Regierung weitertragen. Ihr Diskurs beruft sich auf Modernität und Effektivität. Die traditionellen Konservativen sind für sie die eigentlichen Schuldigen an der Wahlniederlage, da sie zu sehr der “alten” Klientelwirtschaft und Korruption verhaftet seien. Stattdessen soll wiederum Vargas Llosa diese neue Rechte 1995 in den Wahlkampf führen. Trotz der inhaltlichen Nähe zu Fujimori können sie ihn von rechts durch einen zumindest verbal noch radikaleren marktwirtschaftlichen Diskurs attackieren, ohne für die Folgen der Anpassungsmaßnahmen jetzt politisch verantwortlich zu sein. Nur müßten sie es schaffen, bei einem Scheitern Fujimoris das Volk für ein, gegenwärtig nicht gerade populäres, noch radikaleres marktwirtschaftliches “Rettungsprojekt” zu gewinnen.

Das Kabinett: Alle dürfen mal

Abgesehen von der eindeutigen Ablehnung der Ex-Regierungspartei und der (zumindest bisherigen) Opposition der Neuen Rechten zeigt Fujimoris Kabinettsliste eine eklektische Mischung von Inhalten und Personen:
Starker Mann im Kabinett ist Juan Carlos Hurtado Miller, in Personalunion Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kommt aus der Acción Popular(AP) des konservativen Ex-Präsidenten Belaunde, eine der im Wahlkampf zum Rechtsbündnis FREDEMO zusammengeschlossenen Parteien zur Unterstützung der Kandidatur Mario Vargas Llosas. Hurtado hätte die AP wohl gerne in eine Koalition mit Fujimoris “Cambio 90 geführt. Trotz des Bruchs der FREDEMO konnte er die AP aber nicht dazu bewegen, und so mußte er aus der Partei aus-treten, um das Regierungsamt antreten zu können. ihm blieb die undankbare Aufgabe überlassen, für den Wirtschaftsplan der ersten Tage zusammen mit Fujimori verantwortlich zu zeichnen.
Drei Ministerien gingen an linke PolitikerInnen : Fernando Sanchez Albaneyra als Minister für Energiewirtschaft und Carlos Amat y León für Landwirtschaft kommen von der “Izquierda Socialista”(IS), Erziehungsministerin Gloria Helfer von der “Izquierda Unida”(IU) . Die politische Linie der beiden zerstrittenen Bruchstücke der einstmals starken IU ist noch nicht auszumachen. Einerseits befinden sich die drei MinisterInnen im Kabinett, andererseits stehen die Parteiführungen, ganz zu schweigen von der Basis, in klarer Opposition gegen die Schockpolitik.

Machtgrundlage Militär: Priorität für dasautoritäre Modell

Zwei wichtige Positionen werden von Militärs besetzt: Innenminister wurde General Adolfo Alvarado, ein aktiver Offizier, während das Verteidigungsministerium von einem General im Ruhestand, Jorge Torres Aciego, übernommen wurde. Torres war Berater des reformistischen Militärregimes Velasco Alvarado gewesen. Neben der Suche nach einer Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat baut Fujimori offensichtlich auf die Streitkräfte als Machtbasis. Direkt nach Amtsantritt nahm er Umbesetzungen an der Spitze des Militärs vor. Marineoberbefehlshaber Admiral Alfonso Panizo mußte gehen, ebenso wie Luftwaffengeneral Germán Vucetich. Solidantätsadressen an die abgesetzten Offiziere zeigen, daß die Entscheidungen im Militär nicht unumstritten sind. Die argentinische “Página12 berichtet sogar von offener Rebellion in der Marine gegen die Degradierungen. Aber Fujimori hat sich in der ersten Machtprobe durchgesetzt. Dazu der FREDEMO-Senator Raúl Ferrero: “Fujimori scheint ein autoritäres Herrschaftsmodell mit der Unterstützung der Streitkräfte anzustreben.” Zunächst einmal hat Fujimori seine Kandidaten in Führungspositionen untergebracht, aber eine weitere Machtprobe steht ihm bevor. Spätestens im November stehen die Beförderungen bei den Streitkräften an, die vom Senat ratifiziert werden müssen. Es ist denkbar, daß die unter Fujimori Zukurzgekommenen versuchen werden, direkt mit den großen Fraktionen im Senat zu verhandeln. Fujimori selbst verfügt dort nur über 23% der Stimmen -nicht genug, um sich ohne politischen Partner bei den Streitkräften den Rücken freizuhalten. Womit er wiederum vor dem Problem der Partnersuche steht …
Während Fujimori am Heranziehen zusätzlicher Stützen seiner Macht arbeitet, bröckeln schon die Pfeiler, auf die er sich verlassen zu können glaubte. Wichtige Mitarbeiter seiner eigenen Partei kündigten ihm bereits die Mitarbeit auf. Darunter ist Santiago Roca, der als Wirtschaftsberater Fujimoris im Wahlkampf gegen die Schockstrategie Vargas Llosas ein Konzept der graduellen Anpassung setzte und vom Sinneswandel Fujimoris genauso kalt erwischt wurde wie die Öffentlichkeit.

Zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzungen

Der Verlauf des ersten Monats nach der Verkündung des Wirtschaftsprogramms bestätigt die Befürchtungen über die zunehmende Militarisierung der politischen Auseinandersetzung. Für den 16. August riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die kommunistische CGTP (Confederacion General de Trabajadores del Perú) und die apristische CTP (Confederacion de los Trabajadores del Perú) zu einem nationalen Protesttag auf. Versuchte Demonstrationen wurden von Polizei und Militär aufgelöst. Von Gewerkschaftsseite wurde von 30 Verletzten und über 200 Verhafteten gesprochen. Eine Streikwelle angefangen von den Bankangestellten bis zu den Sozialversicherungen legt immer wieder Teile des Landes lahm. Für den 21/22. erklärte die CGTP den Generalstreik, ebenso wie die CTP für den 24.August. Die Berichte über dessen Verlauf sind scheint weitgehend befolgt worden zu sein.
Ebenfalls für den 2l.und 22.August rief Sendero Luminoso zu einem “Paro Armado”, einem bewaffneten Streik, auf. Sowohl Sendero als auch MRTA haben seit Anfang August wieder durch ganze Serien von Anschlägen auf sich aufmerksam gemacht. So plazierte Sendero z.B. eine Autobombe direkt hinter dem Präsidentenpalast. Die Meldungen von Juli über die tiefe Krise Senderos scheinen etwas verfrüht gewesen zu sein. Trotzdem war der 21.August offenbar kein voller Erfolg für die Senderistas. Der Streik verlief -unter dem Druck der Repression-relativ ruhig.

Allein gegen fast alle

Die Frage für Fujimori ist, ob er das Strukturanpassungsprogramm gegen die entschiedene Opposition der meisten politischen Kräfte, ohne Mehrheit im Parlament, diskreditiert in der öffentlichen Meinung und gestützt fast nur auf bestimmte Kreise der Streitkräfte und einige Abgeordnete durchsetzen kann. In Bolivien 1985 waren die Maßnahmen kaum weniger einschneidend, aber die Volksbewegung befand sich in einer tiefen Krise, und in der Bevölkerung gab es eine ausgeprägte “Da müssen wir durch” -Stimmung. Die Proteste der Opfer -der Bevölkerung der Minengebiete z.B. -wurden in der öffentlichen Meinung schlicht nicht zur Kenntnis genommen, noch weniger auf politischer Ebene. Zwar ist inzwischen eine leichte Stabilisierung zu beobachten, einige Preise wurden wieder etwas herabgesetzt, weil die Nachfrage fast auf Null gesunken war. Trotzdem wird in Peru eine höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung nicht so leicht zu erreichen sein. Ohne ein Konzept zur Beendigung des Krieges wird kein peruanischer Präsident eine breite Unterstützung im Volk bekommen. In den “Sectores Populares”, der Masse der Bevölkerung, sind Sympathien für Sendero nur sehr begrenzt vorhanden. Eine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Volksbewegung, ohne die Sendero nicht zu bekämpfen ist, ist aber unter den Prämissen von wirtschaftlichem Schockprogramm und Militarisierung der politischen Auseinandersetzung nicht vorstellbar. So scheint Fujimori schließlich auf dem Weg in die gleiche Sackgasse wie seine Vorgänger zu sein. Er wählt Repression und erklärt damit nicht nur Sendero, sondern auch gleich Gewerkschaften und Volksorganisationen zu seinen Gegnern. Bis jetzt ist er konsequent in der Anwendung seiner Mittel: für die Woche vor dem 18.9. werden allein aus Lima 25.000 vorläufige Verhaftungen gemeldet. 4.000 der Betroffenen wurden bis jetzt nicht wieder frei-gelassen. Als Legitimation dient der “Kampf gegen die Subversion”.
Wie sagte Herr Alberto Fupmori so schön, als er sich zum ersten mal nach Amts-antritt wieder in der Öffentlichkeit zeigte: “Alles, was heute scheinbar nicht vorteilhaft für das Volk ist, ist es im Grunde genommen doch.” Na also!

Ministrabler Ex-Guerillero

Noch vor gut einem halben Jahr war Antonio Navarro Wolff eine der Führungs­persönlichkeiten der Guerilla M-19. Unter der Führung von Carlos Pizarro ging die M-19 den Weg in die politische Legalität und konstitutierte sich als Partei. Der Mord an Pizarro im Mai diesen Jahres vor den Präsidentschaftswahlen schien die Aussichtslosigkeit einer legalen linken politischen Aktivität zu bewei­sen. Trotzdem hat sich in Kolumbiens politischem System durch die Einbezie­hung eines Ex-Guerilleros als Minister in die Regierung etwas geändert. Noch vor kurzer Zeit wäre dieses völlig undenkbar gewesen.
Der neugewählte Präsident Cesar Gaviria steht wie seine Vorgänger vor dem Problem, daß das formal-demokratische System Kolumbiens das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung verloren hat. Nicht einmal die Hälfte der Wahl­berechtigten geht wählen. Der Staat ist über hochrangige Militärs zu offensicht­lich und zu eng mit der Aktivität der Todesschwadronen und den Interessen der Oberschicht kompromittiert. Gaviria ist Teil des Establishments – die Präsident­schaftskandidatur der dominierenden Liberalen Partei ist ohne viele Kompro­misse mit Lobbyisten und Geldgebern kaum zu erreichen. Aber er scheint erkannt zu haben, daß es mit der Verwaltung der Macht bzw. der Verwaltung des Krieges nicht so weitergehen kann, ohne daß sich die kolumbianische Gesell­schaft noch weiter polarisiert. Die Einbeziehung der M-19 in die Regierung ist im Zusammenhang mit dem Projekt einer Verfassungsreform zu sehen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die formal-demokratischen Institutionen wieder­herstellen soll. Am 25.November soll eine 80-köpfige verfassungsreformierende Versammlung gewählt werden. Ihr sind jetzt schon enge Grenzen gesetzt. Ein Themenkatalog ist bereits definiert ebenso wie die Vorgabe, daß die bestehende Verfassung in jedem Fall Grundlage der Reformen sein muß. Für eine wirkliche Verfassungsreform bleibt dort wenig Platz. Außerdem müssen alle Vorschläge vom Obersten Gerichtshof ironischerweise auf ihre Verfassungsmäßigkeit, (gemessen an der Verfassung, die sie gerade reformieren sollen) überprüft wer­den. Eine Vetoinstanz gegen allzu große Selbständigkeit der Versammlung ist also eingebaut.
Ein Blick auf die ersten Personalentscheidungen des neuen Präsidenten zeigt, wie eng offenbar auch seine politischen Spielräume und wie begrenzt sein politischer Wille für Reformen sind. Im Kabinett sitzen neben Navarro Wolff nur Vertre­terInnen der traditionellen Parteien. Das Bündnis der beiden großen Parteien, der Liberalen und Konservativen, hat in Kolumbien eine fatale Tradition. Jahrzehn­telang hatten sie qua Absprache die Macht unter sich aufgeteilt und damit den in der Theorie demokratischen Charakter des Systems so pervertiert, daß das Miß­trauen der KolumbianerInnen nur konsequent ist. Auch an das Militär hat Gavi­ria Konzessionen machen müssen. Zwar gab es ein größeres Stühlerücken in den höchsten Positionen, jedoch kamen außerordentlich zweifelhafte Figuren an die Spitze der Streitkräfte. Der neue Oberbefehlshaber Roca Maichel wurde von ehemaligen Mitgliedern seiner Einheit beschuldigt, der Mafia beim Transport eines Kokainlabors geholfen zu haben. Ein Militärgericht sprach ihn frei. Der nach Dienstalter Zweite, General Farouk Yanine, ist in die Bildung von para­militärischen Gruppen im Tal des Magdalena Medio (nördlich von Bogotá) verwickelt.
Was kann ein einzelner linker Minister in solch erlauchtem Kreise tun? Vom kollektiven Marsch durch die Institutionen ist die kolumbianische Linke weit ent­fernt. Trotzdem ist die Flucht nach vorn der M-19 verständlich. Mit ihrem bewaffneten Kampf war die Guerilla in eine Sackgasse geraten. Die Ernennung eines Ex-Guerilleros zum Minister hat nicht viel mehr als Symbolwert, aber die­ser ist nicht zu unterschätzen. Nicht, daß der bewaffnete Kampf in Kolumbien sich erübrigt hätte, die Gründe für ihn bestehen weiter und können unter bestimmten Bedingungen auch wieder zu einem Weg des jetzt legalen Teils der Linken zurück in den Untergrund führen, sei es zum bewaffneten Kampf oder zu anderen Formen der politischen Arbeit. Die bitteren Erfahrungen der Unión Patriótica und des M-19 selbst mit der Ermordung ihrer KandidatInnen sprechen für sich. Was bleibt, ist die Hoffnung, vielleicht einen winzig kleinen politischen Spielraum für progressive Politik nutzen zu können.

Ein (zu) langer Marsch für Territorium und Würde

Mehr als eine “heroische Geste”

Nach 32 Tagen Fußmarsch haben rund 800 Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen Boliviens in der Nacht vom 17. zum 18. September La Paz erreicht. Der lange und beschwerliche Weg von über 650 km von Trinidad aus führte Kinder, Frauen und Männer aus den Wäldern und Ebenen des Beni im Nordosten Boliviens über die Höhen der Anden bis zum Regierungssitz La Paz. Unter dem Motto “Für Territorium und Würde” erreichten die – zu oft vergessenen – Völker der Chimanes, Yuracarés, Mojeños, Sirionó u.a., ein regelrechtes “Erwachen des nationalen Bewußtseins”. Plötzlich scheint sich Bolivien seiner Tieflandbevölkerung bewußt zu werden.
Im ganzen Land gab es in den letzten Tagen und Wochen eine Welle der Solidarität, die die Menge von anfänglich 350 im Laufe des Marsches auf über 750 Menschen anwachsen ließ. Aymaras und Quechuas des Hochlandes schlossen sich dem Marsch an. Solidarische Gruppen begleiteten die Marschierenden, und es wurde für medizinische Betreuung gesorgt. Besonders für die Überwindung des Passes über die Anden vor La Paz, der bis auf eine Höhe von über 4500 Metern ansteigt, war warme Kleidung aus Sammlungen wichtig. Unter den fest entschlossenen DemonstrantInnen befand sich eine große Zahl alter Menschen, schwangerer Frauen und Kleinkinder, die fast alle bis zum Schluß durchhielten.
Während der 32 Tage ihres Marsches erfuhren sie an den Orten, durch die der Weg führte, immer wieder größte Anteilnahme. Sie wurden untergebracht und verpflegt. Die Gewerkschaftsverbände COB und CSUTCB, studentische Gruppen, Ärzteorganisationen und diverse religiöse Gruppen unterstützten die Marschierenden. Von allen Seiten also Zustimmung und Ansporn, selbst die Regierung Paz Zamora ließ gleich zu Anfang verlauten, sie werde alles versuchen, um auf die Forderungen der indianischen Völker einzugehen und für ihre Probleme Lösungen zu finden.

Eine “ökologische Pause”

Präsident Jaime Paz Zamora traf sich gar in Yolosa (Provinz Nor Yungas) mit den Sprechern der Marschierenden. Offiziellen Verlautbarungen zufolge sind sie im Dialog zu “vorläufigen Ergebnissen” gelangt. Aber wirklich ernstzunehmende Zusagen, die Lösungen der von den mehr als 30 ethnischen Gruppen aus dem Beni aufgeworfenen Problemen garantieren würden, gibt es noch nicht. Wohl inspiriert durch das weltweite Wirken der Öko-Bewegung erklärte Paz Zamora im Kongreß schleunigst eine “ökologische Pause” von fünf Jahren.
Im Juli kündigten die Indigena-Organisationen ihren Marsch an. Ca. 10.000 Indigenas laufen Gefahr, ihr Land zu verlieren. Expandierende Viehfarmen, profitsüchtige Holzfirmen und tausende von Coca-anbauenden Familien und neuen Siedlern bedrohen die Grundlage ihrer Lebensform und damit ihrer Identität. Sie gaben der Regierung bis Anfang August Zeit, ihre Organisationen als legitime Vertretung anzuerkennen und ihren Forderungen nachzukommen und drohten mit Demonstrationen und bewaffneten Aufständen. Auf dem zweiten Treffen der “Einheit der indigenen Völker für Territorium und Würde” Ende Juli wurde der Forderungskatalog erstellt, der Ausgangspunkt des Marsches war.

Bedrängte Völker

Drei Territorien werden schon seit 1988 von den BewohnerInnen des Beni gefordert: Der “Bosque de Chimanes, “El Ibiato” und der Nationalpark “Isiboró-Sécure”. Die Probleme sind im immer wieder die gleichen.
Im “Wald der Chimanes” leben etwa 6.000 Menschen, die nicht nur dem Volk der Chimanes angehören, sondern auch anderen Ethnien, so z.B. den Trinitarios, Ignacianos, Yucarés und Movimas. 1978 wurde ein Großteil der Region, 1,2 Mio. ha, zur “Reserva de inmovilización forestal” (eine Art Waldschutzgebiet) erklärt. Dies sollte den dort lebenden Gruppen eine relative Sicherheit und Aufrechterhaltung ihrer Lebensweise erlauben. Der Dachverband der indigenen Völker des Beni (CPIB) berichtete, daß die größten Probleme anfingen, als die Hälfte der Region zur wirtschaftlichen Ausbeutung freigegeben wurde. Sofort drangen viele Holzunternehmen in das Gebiet ein, um die Edelhölzer auszubeuten. Wege und Straßen wurden angelegt und Sägewerke gebaut. Mit den Straßen kamen die SiedlerInnen und beschleunigten die unkontrollierte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Waldes. Die Abfälle der Sägewerke verunreinigen die Gewässer. Die Gesetzgebung bezüglich der Ausbeutung des Waldes hat bestenfalls symbolischen Wert. Innerhalb von vier Jahren wurde von sieben Firmen über die Hälfte des Mahagoni-Bestandes abgeholzt. Inzwischen fordern die Firmen von der Regierung schon Nutzungsverträge über 10-20 Jahre statt der jährlich zu erneuernden Genehmigungen.
Vor einem Jahr schlug eine Kommission die Landzuweisung an die Chimanes am Rand des von den Holzfirmen genutzten Waldes vor. Für die Chimanes ein völlig unannehmbarer Vorschlag, denn, so die CPIB, es fehlen die notwendigen Gebiete für Feldbau, Fischfang, Jagd- und Sammelwirtschaft, die unentbehrlich für das Überleben der BewohnerInnen der Region sind. Die Chimanes fordern, das Gebiet als “indianisches Territorium” auszuweisen. Dies impliziert, daß die Holzfirmen das Gebiet verlassen müßten, um eine selbstbestimmte Nutzung des Waldes durch dessen BewohnerInnen zu ermöglichen. Auch die Sirionó im “Ibiato”, die sich schon in bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Viehzüchtern befanden, und die ca. 700 Familien im Nationalpark Isiboró-Sécure, die vom Massenansturm der SiedlerInnen aus dem Hochland bedroht werden, kämpfen für das alleinige Nutzungsrecht auf ihrem Land. Sie wehren sich nicht prinzipiell gegen die Kolonisierung, aber wollen in Verhandlungen mit den Organisationen der “Colonos” Grenzen der Kolonisierungsgebiete und Regelungen über den Landverkauf festlegen. Paz Zamoras “ökologische Pause” soll dem Zweck dienen, “den unbarmherzig ausgebeuteten Waldressourcen eine Erholung zu ermöglichen und das Überleben der Waldbewohner zu sichern.” Nur, wer setzt dies im bolivianischen Oriente durch? Eine der BeraterInnen des Präsidenten, Carmen Pereira, ist selbst wichtigste Aktionärin eines der großen Edelholzunternehmen – ein Schlaglicht auf die Macht der Firmen. Es verwundert nicht, daß die Territorialentscheidungen umstritten sind, denn es geht, wie inzwischen alle Beteiligten zugeben, um politische Entscheidungen über Millioneninvestitionen und -gewinne.

Lama-Opfer, Menschenkette und Kirchenglocken

Die Begrüßung der Marschierenden auf der Paßhöhe durch Hunderte von Aymaras und Quechuas war schlicht ergreifend. Das ganze Land konnte auf dem Bildschirm verfolgen, wie gefeiert und musiziert wurde. Größtes Ereignis für die Kameras war schließlich die Opferung eines Lamas, dessen Blut aus der durchschnittenen Kehle der Mutter Erde dargebracht wurde. Eine Menschenkette aus StudentInnen, ArbeiterInnen, LehrerInnen und anderen BürgerInnen aus La Paz umgab die Menschenmenge, um sie sicher in die Stadt zu begleiten. Unter Glockengeläut der Kathedrale warteten nun die VertreterInnen der indigenen Völker auf der Plaza Murillo auf das erste Treffen mit der Regierung. Ein erster Vorschlag der Regierung, die Holzfirmen sollten sich innerhalb von elf Monaten nach Ablauf (!) ihrer Konzessionen aus dem Gebiet der Chimanes zurückziehen, wurde von den Indigenas natürlich abgelehnt, weil dadurch das Tempo der rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen nur beschleunigt würde.
Am 20. September kam es zu ersten Ergebnissen: Im Bosque de Chimanes sollen 160.00 – 170.000 ha Land den Indigenas zugewiesen werden. Die drei Holzfirmen, die in diesem Gebiet arbeiten, haben nur noch eine Frist bis Ende Oktober diesen Jahres. Auch im Ibiato sollen über 50.000 ha den BewohnerInnen zurückgegeben werden. Für den Nationalpark Isiboró-Sécure liegen noch keine genauen Zahlen vor. Für die Indigenas ist dies allerdings erst ein Zwischenergebnis. Teilzugeständnisse reichen ihnen nicht mehr. Vorerst bleiben sie in La Paz.

Kasten:

Der Marsch in der bolivianischen Presse

“Der Marsch ist eine entschiedene Aufforderung an den Staat, an das nationale Bewußtsein, um uns daran zu erinnern, daß dort in den amazonischen Wäldern andere tausende Bolivianer leben, deren Bürgerrechte bis heute nicht berücksichtigt wurden – gleichzeitig ist er eine Anklage gegen die brutalen und unabänderlichen ökologischen Schäden, die durch die unersättliche Gier der Ausbeuter von Wald, Wildtieren und anderen natürlichen Reichtümern verursacht wurden. Und endlich warnen uns die indianischen Völker; wenn es uns nicht gelingt, diese Region zu integrieren, wird die nationale Souveränität weiterhin von Plünderungen und von fremden Interessen bedroht werden.”
(Los Tiempos, Cochabamba, 16.9.1990)

Widerstand im Weltsystem

Fünf Aufsätze von A.G.Frank und M.Fuentes haben die HerausgeberInnen Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy in diesem im Promedia-Verlag 1990 erschienen Buch zusammengefaßt. Abschluß bildet ein Gespräch der AutorInnen mit den HerausgeberInnen.
“Politische Ironien in der Weltwirtschaft” (A.G.Frank) gibt eine Bewertung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien in den letzten beiden Jahrhunderten. Im folgenden Aufsatz “Amerikanisches Roulette im globalen Kasino” folgt eine Analyse der aktuellen Weltwirtschaftskrise und deren Entwicklung. Im Kapitel “Die Unterentwicklung der Entwicklung” nehmen die AutorInnen Abschied von der von A.G.Frank mitentwickelten Dependenztheorie. Es folgt eine Darstellung der Frauenbewegung in Chile ab der Regierung Frei bis in die Gegenwart (M.Fuentes). Dann der Aufsatz “Von der Revolution zur sozialen Bewegung” mit einer Bewertung der außerparlamentarischen Bewegungen in den Metropolen und den Ländern der “Dritten Welt”. Den Abschluß des Buches bildet das Gespräch mit den HerausgeberInnen “Die Erde ist rund”, in dem die Leitgedanken der zusammengefaßten Aufsätze vertieft und hinterfragt werden.
Das Buch kreist um zwei zentrale Fragen: Die Möglichkeiten der Länder der “Dritten Welt” zur Entwicklung im kapitalistisch dominierten Weltwirtschaftssystem, wobei der Zusammenbruch des realen Sozialismus von A.G.Frank im Ansatz seiner Gedankenführung teilweise vorweggenommen wird. Zum zweiten in der Rolle der sozialen Bewegungen als nicht institutioneller und nicht parteilicher Träger von Politik, denen beide AutorInnen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung zuweisen.
Frank revidiert explizit seine Thesen von 1962, daß “ein Ausbrechen aus der Unterentwicklung…nur außerhalb des kapitalistischen Systems und nur nach einer Befreiung durch eine sozialistische Revolution möglich (ist)”. Die Revision dieser These wird an der historischen Entwicklung verdeutlicht und belegt, eine Alternative dagegen nicht aufgezeigt. Die AutorInnen setzen jedoch gerade auch für die “Dritte Welt” große Hoffnungen in die Entwicklung der sozialen Bewegungen in den Metropolen und der “Dritten Welt”.
Ausgehend von den Thesen, daß Staat und Staatsmacht (und gleichermaßen traditionell parteimäßig organisierte Gruppen) immer weniger in der Lage sind eine Vielzahl von sozialen und individuellen Anliegen befriedigend zu lösen (S.192) und daß politische Entscheidungen so gut wie keinen Einfluß auf ökonomische Prozesse haben. (S.200f.), wird der zentrale Gedanke von der Bedeutung von der Bedeutung der sozialen Bewegungen als Trägerinnen des gesellschaftlichen Fortschritts erarbeitet. Dabei entwickelte – sicherlich umstrittene – Thesen sind, daß es bei den Bewegungen im positiven Sinn um den eingeschlagenen Weg und nicht das Ziel auf das zugesteuert wird geht (S.210). Weiterhin wird ein Zusammenhang zwischen dem Auf- und Abschwung der sozialen Bewegungen auf der einen und den Weltwirtschaftszyklen auf der anderen Seite behauptet.
Das Buch wirft die zentralen Fragen der entwicklungstheoretischen Diskussion auf, die durch das Gespräch zwischen HerausgeberInnen und AutorInnen – ein interessanter Ansatz dieses Buches – sinnvoll akzentuiert und herausgearbeitet werden.

Hannes Hofbauer/Andrea Komlosy: André Gunder Frank/Marta Fuentes Frank – WIDERSTAND IM WELTSYSTEM, Promedia-Verlag, Wien 1990

Zukunftswerkstatt Kontinent – Volkserziehung in Lateinamerika

Die Autoren und Herausgeber Trudi und Heinz Schulze setzen sich schon seit Jahren mit dem Thema Volkserziehung auseinander und haben es in der Bundes­republik schon durch frühere Veröffentlichungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Mit diesem Band legen sie nun eine Sammlung von Beiträ­gen vor, die für jeden, der sich mit Fragen der Volksbildung und Basisorganisa­tionen in Lateinamerika auseinandersetzen will, unerläßlich ist. In erster Linie, weil hier grundlegende Erkenntnisse maßgeblicher Theoretiker der educación popular in übersichtlicher und leicht verständlicher Form zusammengefaßt wurden. In zweiter Linie, weil dabei einer kritischen Selbst-Hinterfragung ihrer theoretischen Aussagen und der Volksbildungs-Praxis der letzten zehn Jahre besondere Bedeutung beigemessen wurde.
Natürlich steht zunächst die Arbeit einer Persönlichkeit im Vordergrund: Die des Brasilianers Paulo Freire, der in verschiedenen Ländern des Kontinents sowie in Guinea Bissau lange Jahre hindurch Erfahrungen in der Volkserziehung sammelte. In den 70er Jahren wurden einige seiner Beiträge auch ins Deutsche übersetzt. “Erziehung als Praxis der Freiheit”, richtete sich als Kritik gegen die bestehenden hierarchisch organisierten und sozial diskriminierenden formalen Bildungssysteme. Auf der anderen Seite wies sie den Weg der Selbstorganisation und Bildung der armen Massen und damit den ihrer Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.
Seit damals hat Freire seine Arbeit mehrfach kritisch hinterfragt und vor allem sein Konzept der “conscientizaçâo”, der Bewußtseinsbildung der Massen, revi­diert. Er selbst kann als Beispiel für jemand gelten, der immer wieder in der Pra­xis der Volkserziehung seine Rolle als Intellektueller hinterfragt hat, um seinem eigenen theoretischen Anspruch an einen “organischen Intellektuellen” gerecht werden zu können.
In mehreren Beiträgen wird das urspünglich gramscianische Konzept des organi­schen Intellektuellen aufgegriffen. So erläutert Carlos Nuñez, der in Mexico in der Volkserziehung tätig ist, die Aufgaben des Intellektuellen als Koordinator, Promoter und Erzieher. Als “externer Agent” kann er nicht, wie es die klassische Rolle des Lehrers zuweist, dozieren und fertige Inhalte vermitteln, sondern er muß in erster Linie versuchen, die Interessenorganisation zu stärken, damit sie die von ihr selbst gesetzten Ziele erreichen kann. Erste Voraussetzung dafür ist zuallererst, daß er die soziale Wirklichkeit seines Arbeitsfeldes tatsächlich kennt. Mit allen avantgardistischen Positionen, die bis heute noch oft linke Politik in Lateinamerika bestimmen, wird hier hart ins Gericht gegangen.
In einem Beitrag der argentinischen Bildungsforscherin Adriana Puiggros werden zudem nicht nur bürgerliche Bildungskonzeptionen, sondern gerade auch die lange Jahre aufrechterhaltene linke Kritik daran kritisiert. Wer Erzie­hung nur als ideologischen Staatsapparat definiert, verstellt gerade die Perspek­tive, sie auch als politisch-ideologische Kampfplattform begreifen zu können. Den gerade für das Freiresche Konzept der Volkserziehung wesentlichen Aspekt hat diese Kritik nie richtig berücksichtigt: Daß das Ziel von Volksbildung eben nicht nur Wissensvermittlung (z.B. die Alphabetisierung) oder Vermittlung ideologischer Inhalte sondern selbst schon der Weg der Befreiung ist. Im Beitrag von Gianotten und de Witt werden systematisch Schwächen der Volkserziehung und, wie sie sie in Anlehnung an Freires Begriff bezeichnen, linken Bankierser­ziehung aufgezeigt.

Aber das Buch bietet mehr als reine Theoriediskussion. Die Methodologie der Volkserziehung wird an Beispielen aus der Praxis erläutert. Die Beiträge von Oscar Jara, Koordinator des Mittelamerikanischen Zentrums für Volkserziehung (ALFORJA), und von Carlos Nuñez, der in Mexiko ebenfalls im Rahmen von ALFORJA arbeitet, verweisen auf die politische Dimension der educación popu­lar und auf ihre Bedeutung im Rahmen der Gemeinwesenarbeit. “Welche Risiken liegen in der Einflußnahme von gesellschaftlichen Institutionen wie Kirche, Par­teien und Gewerkschaften, vermittelt über die educación popular, auf die Basis­organisationen?”, ist eine der wesentlichen Fragen, der in weiteren Beiträgen nachgegangen wird.
In Länderberichten zu Brasilien und Chile werden auch historische Erfahrungen mit der Volkserziehung beleuchtet. Der Beitrag zu Kuba bietet dagegen bedauer­licherweise kaum einen Einblick in die reale Situation der Volkserziehung. Ein gerade heute spannendes Thema, wenn es darum geht festzustellen, welche Fort­schritte in 30 Jahren Revolution und sozialistischer Erziehung erzielt worden sind.
Beispiele aus der Praxis, von Frauenorganisationen, der Alphabetisierungsarbeit, Volkstheater bis zu Volksbüchereien runden die Beiträge zur “Zukunftswerkstatt Kontinent” ab.

Trudi und Heinz Schulze (Hg.): ZUKUNFTSWERKSTATT KONTINENT – Volkserziehung in Lateinamerika, München 1989. Erschienen in der Reihe: AG SPAK-Publikationen, Adlzereiterstr. 23, 8000 München 2. ISBN 3-923126-57-3.

Demokratie – Anmerkungen zur Geschichte eines Kampfbegriffes

Antike Aufladung

Die ersten systematischen und in der Ideengeschichte folgenreichsten Überle­gungen zum “Wesen der Demokratie” – so die antike Fragestellung – hat zwei­felsohne Aristoteles angestellt. Bei Aristoteles finden sich mehrere Versuche diese Frage zu lösen; der schlüssigste geht von der Fragestellung aus, daß es trotz viel­fältiger Erscheinungsformen im Grunde nur zwei Verfassungen gibt: Demokratie und Oligarchie. Denn die Bürgerschaft besteht zwar aus verschiedenen Teilen, aber diese Teile sind austauschbar: Ein Bauer kann auch Krieger sein und umge­kehrt, aber ein Armer kann nicht zugleich reich sein. Die grundlegende Unter­scheidung in einem Gemeinwesen ist also die zwischen Armen und Reichen. Ari­stoteles definiert nun Demokratie als Herrschaft der Vielen und Armen (Oligarchie demnach als Herrschaft der Wenigen und Reichen). Bei der Diskus­sion der Frage welches dieser beiden Kriterien, Zahl oder Vermögen, ausschlag­gebend ist, entscheidet sich Aristoteles für das Kriterium Vermögen. In der Pra­xis, so meint Aristoteles, spiele das zwar keine Rolle, denn die Vielen sind auch die Armen, aber systematisch ist es für ihn wichtig: Demokratie ist Herrschaft der Armen. Und mit Herrschaft meint Aristoteles tatsächlich die Ausübung von Herrschaft, nicht deren Regulierung.
Wahlen sind für Aristoteles ein aristokratisches Mittel, weil sie zwangsweise zur Auswahl der “Besten” führen. Das genuin demokratische Mittel ist das Los. In ei­ner Demokratie werden Ämter verlost.
Es ist klar, daß mit einem solchen Konzept der Demokratie kein Staat zu machen war (unter gegebenen Machtverhältnissen!), Aristoteles war natürlich ein Anti­demokrat, wie praktisch die gesamte griechische Elite antidemokratisch war. (Bei den Überlegungen Aristoteles sollte man/frau natürlich nicht vergessen, daß er nur über Frei-Bürger redet: Sklaven und Frauen – die Mehrheit der Bevölkerung also – sind von vornherein ausgeschlossen.)

Moderne Entlastungen

Für die gesamte Folgezeit, das Mittelalter und die frühe Neuzeit, war die antike Erfahrung und Theorie der Ausgangspunkt, wenn über Demokratie geredet wurde. Und es war ein negativer Ausgangspunkt. Die Demokratie wurde allge­mein als unmöglich verworfen, sie sei allenfalls in kleinen Stadtstaaten möglich, in denen sich die Bürger in Vollversammlungen treffen können. Demokratie war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein durchweg negativ besetzter Begriff, De­mokrat ein Schimpfwort. Das lag aber auch daran, daß man/frau unter Demo­kratie in antiker Tradition die unmittelbare Herrschaftsausübung durch das Volk verstand. Charakteristisch sind einige Äußerungen Rousseaus, der im Grunde der Demokratie positiver gegenüberstand als die herrschende Meinung seiner Zeit:
“Die Wörter tun nichts zur Sache, wenn das Volk Oberhäupter hat, die für es re­gieren, ist es immer eine Aristokratie, welche Namen die Oberhäupter auch tra­gen.”
Daher:
“Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.”
Die Idee der Demokratie drohte an solchen Vollkommenheitsansprüchen zu scheitern. Die Rettung kam aus England. Etwa zur gleichen Zeit wie Rousseau jene Sätze geschrieben hat, taucht in England der Begriff der “repräsentativen Demokratie” auf, das heißt der Demokratie via Parlament. Diese Vorstellung von Demokratie hat einen beispiellosen, wenn auch schwierigen Siegeszug angetre­ten. Herzstück der Demokratie sind die freien, gleichen und allgemeinen Wahlen.
Ideengeschichtlich bedeutet das ein großes Umdeutungsmanöver. In einer “repräsentativen Demokratie” herrscht das Volk nicht, es wird beherrscht, wenn auch von gewählten Herrschern. Aristoteles und Jahrhunderte nacharistoteli­scher Tradition hätten eine solche Herrschaft als Aristokratie mit demokratischen Elementen bezeichnet. Die Idee der Demokratie tritt ihren Siegeszug an, nach­dem sie von weitreichenden Implikationen entlastet worden ist. Gegen alle Be­schönigungen haben die Elitetheoretiker dies auf den Begriff gebracht. Die Ver­treter des Elitedenkens, geschichtlich immer die schärfsten Kritiker der Demo­kratie, wurden in diesem Jahrhundert im angelsächsischen Bereich die herr­schenden Theoretiker der Demokratie.
Schumpeter hat 1942 vielleicht das einflußreichste Buch über Demokratie ge­schrieben. Dessen entscheidende Thesen sind:
1.Es regiert nicht das Volk, sondern die vom Volk gebilligte Regierung
2.Die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers
3.Die Demokratie ist eine Methode, die darauf abzielt, eine starke entschei­dungs- und durchsetzungsfähige Regierung hervorzubringen.
Damit ist nicht nur das Volk von der Last zu herrschen befreit, sondern auch die Idee der Demokratie von allen inhaltlichen Implikationen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Sie ist zu einer Methode zur Auswahl der Elie degradiert.
Solche Demokratietheorien waren natürlich nicht konkurrenzlos. Eine wichtige prinzipielle und einflußreiche Gegenposition, die an die klassische Tradition an­knüpft, ist die sogenannte Identitätstheorie. Demokratie ist demnach die “Identität von Regierung und Volk”. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Georg Lukasz und Carl Schmitt. Lukasz Hauptwerk “Geschichte und Klassenbewußt­sein” war aber nur als Rechtfertigung des Stalinismus zu lesen und Carl Schmitt, von dem die gerade zitierte Definition stammt, war Vordenker und Bejubeler des Nationalsozialismus.
Zum Siegeszug der Elitetheoretiker hat sicherlich beigetragen, daß sich der iden­titätstheoretische Einwand durch die historischen Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus gründlich diskreditiert hatte. So wurde nach dem zweiten Welt­krieg der reduzierte Demokratiebegriff auch für eine ernüchterte Linke als “kleineres Übel” tragbar. Der in den 20iger Jahren von rechten und linjken Intel­lektuellen gegeißelte und verspottete Parlamentarismus war hoffähig geworden.
Aber die Elitetheorie entspricht auch nicht den demokratischen Sonntagsreden und Selbststilisierungen der Demokraten. Die vielleicht am häufigsten zitierte Kurzformel über Demokratie ist die sogenannte Gettysburg-Formel von Abra­ham Lincoln: “Gouvernment of the people, by the people, for the people” Dieser Satz wurde 1949 weltweit zur Diskussion gestellt. Ergebnis:
– Es gab keine antidemokratischen Antworten
– Aber viele Antworten ließen nur den ersten Teil gelten, die beiden anderen Bestimmungen wurden als problematisch angesehen.
Hier erreichen wir einen wichtigen Punkt für alle populären Demokratiediskus­sionen: Die demokratische Praxis im Parlamentarismus entspricht dem sachlich-zynischen Blick der Elitetheorie: Gleichzeitig ist aber der Begriff Demokratie em­phatisch aufgeladen, an die Demokratie werden normative Erwartungen ge­knüpft und in deren Verfassungen in der Regel auch formuliert. Diese unrettbare Verknüpfung im Begriff macht es so schwer, aus “Demokratisierung” ein Kon­zept zu entwickeln.

Vor- und Nachteile der Demokratie

In wichtigen Ländern Lateinamerikas (Brasilien und Chile) war die Demokrati­sierung kein Erfolg von Volkskämpfen gegen die Elite, sondern ein bewußtes Konzept (von Teilen) der militärisch-politischen und ökonomischen Elite. Ihr Verlauf ist dann allerdings nicht mehr so recht kontrolliert worden. Dies wider­spricht der gängigen Annahme, die Demokratisierung sei der Elite in Kämpfen des Volkes abgerungen worden. Man/frau darf aber zwei Sachen nicht überse­hen:
1.Die USA sind das Produkt einer demokratischen Revolution, die Demokratie steht im Mittelpunkt der nationalen Identität. Die USA sind demokratisch und wollen daß andere Länder auch demokratisch sind.
2.Diktaturen haben große Schwiergikeiten bei der dauerhaften Sicherung bür­gerlicher Herrschaft.
Punkt eins wird oft übersehen, da sich die USA offensichtlich ganz anders ver­halten, sie unterstützen Putsche und schicken Folterspezialisten in die Welt. Aber das wird erklärbar, wenn wir uns an die Kernaussagen der Elitetheorie erinnern. Die demokratische Methode soll stabile Legitimation von Eliteherrschaft ermög­lichen. Demokratie ist eine Methode, die einem anderen Ziel dient, der Stabilität. Wenn also die Stabilität in einer konkreten historischen Situation bedroht ist, dann sind die USA auch bereit, zu putschen und zu foltern. Das tangiert aber gar nicht den Glauben, daß Demokratie prinzipiell die beste Methode zur Herr­schaftssicherung ist.
Damit sind wir bei Punkt zwei. Grundproblem von Diktaturen ist, Herrschaft dauerhaft zu legitimieren. Diktatorische Herrschaftslegitimationen neigen dazu, transistorisch zu sein, d.h. sie verzehren ihre eigene Basis. Beispiel: “Wir mußten die Macht ergreifen, um der kommunistischen Subversion Herr zu werden.” Nun – entweder beseitigt der Repressionsapparat die Subversion – und damit entfiel die Legitimationsgrundlage – oder er beseitigt sie nicht, und müßte damit sein Versagen zugeben. Diktatorische Regimes personalisieren daher oft die Legiti­mationsfrage, die personalisierten Diktaturen überleben, aber meist nicht die Person des Diktators (Franco). Diktaturen sind im höchsten Grad zusammen­bruchsgefährdet, wenn sie eine aktuelle Krise nicht lösen können (Argentinien, Griechenland).
Aus den strukturellen Problemen diktatorischer Herrschaft ergeben sich dtarke Argumente für Demokratien. Das sind freilich andere Demokratien, als ein emanzipatorisch aufgeladener Demokratiebegriff sie herbeisehnt. Im Prozeß der Demokratisierung fallen aber für eine gewisse Zeit Befreiungssehnsüchte und technologische Herrschaftskonzepte zusammen. Diese Aussage markiert, denke ich, das grundlegende Dilemma des Redens über Demokratisierung in Latein­amerika.
Zum Schluß noch der Hinweis auf einen Vorteil der Demokratie, der etwas aus dem Rahmen der bisherigen Betrachtung fällt. Die Demokratie hat nioch einen ganz anderen Vortreil: Sie ist unterhaltsamer als Diktaturen. Nur in demokrati­schen Systemen können wir erfahren, welch ein Lotterbube der Kerl ist, der US-amerikanischerVerteidigungsminister werden wollte, und was bei Menems alles los ist. Insbesondere Wahlen entwickeln einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind quasi Pferderennen, in denen menschliche Schicksale entschieden werden.
Man sollte diesen Punkt angesichts der Gewalt des Fernsehens nicht unterschät­zen. Demokratische Politiker können Stars sein, Pinochet hat bei Wahlen keine Chance, ein Collor oder Menem schon. Es gibt den Verdacht, daß all dies eigent­lich das entscheidende ist, daß in “modernen” westlichen Demokratien die Politik vom Showgeschäft überwuchert ist, daß die großen püolitischen Auseinander­setzungen nur Teil einer gigantischen Simulation sind, während die Apparate , die Bürokratie, die Wirtschaft und die Technik längst von der Politik unbeein­flußt agieren. Die Politik kann diese Entscheidungen nur noch nachvollziehen und agonal in Scheinalternativen auflösen. Die Politik wäre dann eine Institution, die auf vollen Touren im Leerlauf läuft. In Lateinamerika ist die Demokratie in den letzten Jahren sehr ernst genommen worden. Sie hat ihre Würde aus dem Blut der Diktaturen bezogen. Ob das für die Zukunft reicht, ist fraglich.

Basisbewegung und Demokratie in Chile

Anfänge der Basisbewegungen

Bereits um die Jahrhundertwende beginnen sich die Arbeiter, angeregt durch die Entwicklung in Europa, vor allem in den Städten und den entstehenden Industriezentren zu organisieren. Die Le­bensbedingungen der chilenischen ArbeiterInnen sind zu dieser Zeit unvorstellbar schlecht. Die Erschließung der Ressourcen des fast völlig auf den Rohstoffexport von Salpeter und Kupfer be­schränkten Landes ist nur durch eine menschenverachtende Ausbeutung der chilenischen Arbeite­rInnen möglich. Die aktive Bevölkerung beläuft sich zu dieser Zeit bei einer Gesamtzahl von 3,25 Millionen Einwohnern auf etwa 1,25 Millionen, von denen rund eine Million lohnabhängig be­schäftigt sind.
Verschiedene Arbeitskämpfe und Unruhen in Valparaíso (1903), Santiago (1905) und Iquique (1907) werden durch das brutale Vorgehen der Armee und ohne nennenswerte Erfolge für die Be­troffenen beendet. Allerdings sind diese Arbeitskämpfe Anzeichen einer zunehmenden Organisie­rung: In den Industriezentren werden erste Arbeitervereinigungen gebildet, aus denen später die unabhängigen Gewerkschaften entstehen. 1911 entsteht daraus der erste Arbeiterverband Chiles (FOCH).
Ebenfalls um die Jahrhundertwende entstehen die “juntas de vecinos” ( Nachbarschaftsräte), mit deren Entstehung der Versuch unternommen wird, die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Bildung und Gesundheit zu organisieren und soziale Strukturen und selbstbestimmte Stadtteilar­beit aufzubauen. Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Jahre 1912, die zehn Jahre später unter dem Einfluß der III. Internationalen in Kommunistische Partei Chiles (PC) um­benannt wird, übernimmt sie gemeinsam mit der 1923 gegründeten Sozialistischen Partei Chiles PS) die Organisierung der Arbeiterschaft.
Dennoch bleibt die nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterbewegung bis zum Jahr 1938 prä­sent. Durch ein politisches Bündnis zwischen dem 1936 gegründeten chilenischen Gewerkschafts­dachverband CTCh, der PS, der PC und einer der ältesten Parteien Chiles, der Radikalen Partei (PR) kommt es zur Volksfront-Regierung (“Frente Popular”) unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda. In dieser Phase werden das Sozialwesen und das Arbeitsrecht reformiert und die industri­elle wie strukturelle Entwicklung des Landes vorangetrieben.
Unter diesen Bedingungen setzt eine starke Landflucht in die sich entwicklenden städtischen Bal­lungszentren ein. Der Bevölkerungsanteil der LandarbeiterInnen nimmt zwischen 1940 und 1960 von 43% auf 27% ab, Santiago z.B. erreicht im Jahre 1940 die Millionen-Grenze. Doch für die neuen StädterInnen gibt es weder Arbeit noch Wohnungen, und so entstehen seit 1947 die sog. callam­pas oder poblaciones marginales, die Armenviertel rund um die größeren Städte, in denen die zuströmenden Menschen meist langfristig eine Bleibe finden. Die Arbeiterorganisatio­nen, Gewerkschaften und Linksparteien nehmen sich in der Folgezeit der Problematik der pobladores, der Bewohner dieser Slums an und werden zu ihrem Sprachrohr.

“La victoria” – erste Landbesetzungen

Dies ändert sich zumindest teilweise mit dem 30. Oktober 1957: Verzweifelt wegen des Woh­nungsmangels besetzen Hunderte von obdachlosen Arbeiterfamilien unbebauten Boden des Großgrundbesitzes La Feria am Rande von Santiago. Dies ist die erste Landbesetzung in Chile und Lateinamerika, es entsteht der Stadtteil La Victoria. Die BewohnerInnen beginnen, Ihr Zusammenleben selbständig zu organisieren; sie wählen als kollektive Leitung der Siedlung ein Kommando der pobladores. 1966 wird eine junta de vecinos gegründet, der neben der politischen Leitung die Aufgabe zufällt, die Befriedigung der Grundbedürfnisse zu organisie­ren. Überwiegend in Eigenarbeit errichten die pobladores eine eigene Schule, eine Poliklinik sowie ein Strom- und Wasserleitungsnetz. Erst später und nach der Anerkennung ihrer Rechtstitel auf den Landbesitz erhalten sie von den christdemokratischen bzw. sozialistischen Regierungen Frei und Allende Unterstützung. La Victoria wird zum Vorbild späterer Landbesetzungen und der Selbstorganisation der pobladores, dieser Stadtteil ist berühmt für seine kämpferische Haltung bei der Durchsetzung ihrer Forderungen nach Selbstbestimmung der politischen Basis. Obwohl viele pobladores – ebenso wie die Siedlungsleitung – naturgemäß enge Bindungen zu den linken Parteien unterhalten, bleiben sie immer unabhängig. Überall in Chile erkämpfen sich nach dem Beispiel von La Victoria Basisgruppen neue Lebensräume. AdMapu beispielsweise, die größte Organisation der Mapuche, der ursprünglichen Bevölkerung des Landes, blickt heute auf einen über 30jährigen Kampf um die Rückerstattung des ihnen von Kolonisatoren, Groß­grundbesitzern und dem chilenischen Staat geraubten Landes. In den allwöchentlichen Vollver­sammlungen der organisierten Mapuches, die in sog. comunidades zusammenleben und nur in dieser Organisationsform bestimmte kollektive Sonderrechte in Anspruch nehmen können, wird über politische Fragen, neue Projekte und v.a. die Möglichkeiten,und v.a. die Möglichkeiten dis­kutiert, der allmählichen Aushöhlung des vor gut 100 Jahren erkämpften Sonderstatus zu begeg­nen
1965 schließlich wird die Bewegung der Revolutionären Linken, MIR, gegründet, die sich als Ver­treterin der Basisbewegung des Industrie- und Landarbeiterproletariats versteht. Nach eigener Darstellung wird der MIR von ehemaligen Parteimitgliedern der Kommunistischen (PC) und So­zialistischen (PS) Parteien Chiles zusammen mit pobladores ins Leben gerufen. Das Ziel seines po­litischen Kampfes ist die proletarische Revolution.

Movimiento Popular – Volksbewegung

Mit dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidenten Allende werden ab 1970 die bereits von seinem Vorgänger Eduardo Frei versprochenen und langersehnten Strukturreformen in der chilenischen Volkswirtschaft in Angriff genommen. Bis 1972 sind eine vollständige Landreform durchgeführt sowie die wichtigsten Industriezweige nationalisiert worden. Gleichzeitig mit den Reformen erhält auch die Basisbewegung massive Unterstützung; Allende versucht, die sozialen Bewegungen in seine Politik einzubinden, die seiner Regierung entscheidend zur Macht verholfen hatten.
Viele Landbesetzungen werden legalisiert, besetzte Stadtteile werden an die Wasser- und Strom­versorgung angeschlossen und bekommen vom Staat Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Die drei Jahre der Unidad-Popular-Regierung werden auch in den eigenen Reihen sehr unter­schiedlich eingeschätzt, wobei der innen- und außenpolitische Druck auf Allende zweifelsohne von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Ein totaler Wirtschaftsboykott der westlichen In­dustriestaaten verschärfte die Situation erheblich, so daß viele der gut gemeinten Reformen ohne die notwendigen strukturellen Maßnahmen zum Scheitern verurteilt sind. So versucht Allende, der innenpolitisch zusätzlich durch die Opposition von Christdemokraten, Konservativen und Fa­schisten und den destabilisierenden Terror rechtsradikaler Gruppen behindert wird, die Probleme des Landes durch die Einbeziehung der Bevölkerung zu überwinden. Administrative Maßnahmen wie die Beschaffung und Verteilung der Güter des täglichen Bedarfs sollten die Basisorganisatio­nen in die politische Verantwortung einbinden und dadurch die Unidad-Popular-Regierung stüt­zen. Während des Streiks der chilenischen Unternehmerverbände 1972 müssen “kommunale Ar­beiterräte” die Aufrechterhaltung von Produktion und Versorgung und Produktion übernehmen, um den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern.
Als die Drohungen und der Terror der Rechten immer offener werden und im Juni 1973 in einem Putschversuch junger Offiziere gipfeln, fordert die Gewerkschaftsbasis zusammen mit anderen Ba­sisorganisationen und v.a. dem MIR die Bewaffnung der ArbeiterInnen. Die Errungenschaften der Volksregierung sollen verteidigt werden! Gegen die Institutionalisierung der Basisbewegung durch die Allende-Regierung regt sich allerdings auch Widerstand. Verschiedene Gruppen ma­chen einerseits durch konkrete Aktionen wie Fabrik- und Landbesetzungen und die Bildung von Selbstverteidigungskomitees Druck auf die Regierung, damit diese verstärkt der wachsenden in­nenpolitischen Gefahr von rechts begegnet, bedrängen aber andererseits die Regierung, indem sie in Eigeninitiative Reformmaßnahmen forcieren.

Friedhofsruhe

Am 11. September 1973 schließlich putscht das Militär unter Führung von General Pinochet gegen die sozialistische Regierung und alle sie unterstützenden Kräfte. Das Vorgehen ist dabei selbst für lateinamerikanische Verhältnisse äußerst brutal, wer vorher direkt oder indirekt die Politik Allen­des unterstützt hat, ist nun rücksichtsloser Verfolgung, Folter, Mord und Verbannung ausgesetzt. Sämtliche Organisationen der Volksmacht , von den Stadtteilkomitees bis hin zur gewählten Re­gierung werden zerschlagen, ihre Vertreter beseitigt oder aus dem Land geworfen. Durch den Mi­litärputsch wurden bestimmte Voraussetzungen geschaffen, die für das Verständnis der weiteren Entwicklung Chiles von Bedeutung sind und hier kurz genannt werden sollen:
1. Die Parteistrukturen der Arbeiterpartei sind zerschlagen; die Parteien selbst haben ihre führen­den Vertreter verloren.
2. Parteien und Gewerkschaften sind verboten, ebenso wie die Organisationen der Basisbewegung.
3. Die spätere Umstrukturierung der Wirtschaft nach monetaristischen Gesichtspunkten führt zum Konkurs vieler chilenischer Betriebe, mit der Folge einer extrem hohen Arbeitslosigkeit.
4. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung bedeutet dies nicht nur den Verlust ihrer Menschen­rechte, sondern auch Einbußen beim Lebensstandard.
5. Die produzierende Industrie wird zugunsten des Dienstleistungssektors verdrängt.
6. Die linke Kulturbewegung der Allendezeit und die neu entstehende Kultur des Widerstandes können nur im Untergrund arbeiten.
7. Der Bildungsbereich wird von der militärischen Doktrin dominiert, Offiziere der Armee werden als Universitätsrektoren “delegiert”.
8. Ökologische Gesichtspunkte haben im monetaristischen Wirtschaftsmodell keinen Platz.
9. Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau gerät durch die Abwesenheit vieler Männer (Verfolgung, Exil, Gefängnis und Mord an Funktionären der UP-Regierung) vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten ins Wanken. Die Frauen beginnen, in traditionellen Männer­domänen politische Arbeit zu leisten; dies soll jedoch nicht die tragende Rolle, welche Frauen schon vorher in der chilenischen Basisbewegung inne hatten, schmälern.

“Frauen sind am direktesten betroffen”

So sind es vorwiegend Frauen, die als erste nach dem Putsch wieder mit politischer Arbeit in der Öffentlichkeit beginnen. Dies entspringt aus der Notwendigkeit, die politische Linke neu zu orga­nisieren, die permanenten Menschenrechtsverletzungen vonseiten des Regimes ausgesetzt ist. Frauen sind von den neuen Lebensumständen am direktesten betroffen. Sie sind im besonders ho­hen Maße arbeitslos geworden, und innerhalb der Familien tragen sie die Hauptlast der neuen Armut. Denn gerade die Frauen erleben täglich hautnah die Schwierigkeit, ihre Familien sattzube­kommen. Bei den politisch verfolgten Frauen kommt in den KZs des Regimes zu den üblichen Foltermethoden noch die sexuelle Gewalt hinzu.
Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt 1977 bei ca. 20%, der Lohnindex sinkt gegenüber 1970 auf 62,9%. In den Elendsvierteln von Santiago erreicht die Arbeitslosigkeit teilweise 90%. Von dieser Situation sind im besonderen Maße die Kinder betroffen: “5.000 Säuglinge sind nach Aussagen chilenischer Kinderärzte infolge akuter Unterernährung von Hungertod bedroht. Sollten sie geret­tet werden, bleiben körperliche und geistige Schäden. 30-40% aller Kinder leiden an Unterernäh­rung, 350.000 leben von den Resten aus Mülltonnen.”
Grundnahrungsmittel, Gas, Wasser und Strom werden zu Luxusartikeln. In Anbetracht dieser Notlage ist das “Nationale Programm der Junta für die Frauen” an Zynismus und Sexismus kaum zu überbieten: “1. Solidarität mit der Junta; Frauen fühlen sich in Sicherheit und haben ihre Ruhe wiedergewonnen, obwohl sie wenig zu essen haben. 2. Die Frau soll Beispiel für ein tugendhaftes Leben sein. 3. Die Frauen müssen Arbeiten zuhause selber machen, um zu sparen. (…)” Wenn hier von “wiedergefundener Ruhe” die Rede ist, dann wohl nur von Friedhofsruhe: 22.000 Frauen sind durch den Putsch zu Witwen geworden. Frauen finden nur noch in der Grauzone des Dienstlei­stungsgewerbes Arbeit, die schlecht bezahlt ist. Viele Frauen müssen sich sogar prostituieren, um sich und ihre Familien durchzubringen. Vor diesem Hintergrund wird die Organisierung im Ge­fängnis und in den Elendsvierteln zur Notwendigkeit, um der alltäglichen Repression etwas ent­gegensetzen zu können. Viele Frauen tragen die Nachbarschaftshilfen, andere organisieren die Kinderbetreuung, damit sie überhaupt arbeiten gehen können.
Durch diese Erfahrungen schreiten Emanzipation und Selbstbestimmung der Frauen sowohl in­nerhalb der Familie als auch im Sozialgefüge der poblaciones voran. Zwar hatte schon die Unidad Popular den chilenischen Frauen zum Beispiel im Betriebs- und Arbeitsgesetz gleiche Möglichkei­ten, Rechte und Bezahlung eingeräumt, aber gleichzeitig auch die Doppelbelastung Familie/Arbeit verschärft. In den Jahren der Repression entsteht mit der Selbstorganisierung und den mitge­brachten Erfahrungen derjenigen Frauen, die aus dem europäischen und nordamerikanischen Exil zurückgekehrt sind, die Grundlage der heutigen chilenischen Frauenbewegung.

Der Kampf gegen die Repression

Nach den Menschenrechtsorganisationen der Anfangsjahre und parallel zur Organisierung in den Gefängnissen und KZs des Regimes gründen sich sogenannte wirtschaftliche Volksorganisationen zur Subsistenzsicherung der Bevölkerung. Mit der wachsenden Verelendung der städtischen Randbevölkerung wächst auch deren Organisationsgrad, was sich in der Entstehung von Volkskü­chen, Bildungseinrichtungen, Kindergruppen, Polikliniken, Kollektivwerkstätten und Selbstver­teidigungsgruppen niederschlägt. Die städtischen Basisorganisationen reagieren allerdings nicht nur in Form dieser strukturellen Maßnahmen auf diese Misere, sondern zunehmend auch mit De­monstrationen und offenem Widerstand. In diesen Jahren ist es besonders schwierig, zwischen den Interessen der sozialen Bewegung und der im Neuaufbau begriffenen Parteistrukturen von PC, PS, MIR, Gewerkschaften, Studentenvereinigungen, Basiskirche und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu unterscheiden.
In den 70er Jahren ist der Widerstand gegen die Diktatur relativ punktuell, Grabenkämpfe inner­halb der Opposition können größtenteils vermieden werden. Die Einigkeit stärkt die Arbeiterbe­wegung so weit, daß 1978 erste Streiks in den Kupferminen stattfinden. 1979 führt das Militärre­gime mit dem Plan Laboral eine restriktive Arbeitsgesetzgebung ein, die zwar einige Rechte der ArbeiterInnen aufnimmt, sie aber faktisch in wesentlichen Punkten beschneidet. Das Streikrecht wird dadurch ausgehöhlt, daß übergreifende Streiks verboten und jeder Ausstand per se auf 60 Tage beschränkt ist. Die Bildung von Dachgewerkschaften ist verboten, die Gewerkschaftsbewe­gung wird systematisch zersplittert.

Nationale Protesttage: Die Jahre 1983-86

Die Selbstorganisationen des Volkes gründen 1981 eine landesweite Koordination CODEPU, das “Komitee zur Verteidigung der Rechte des Volkes”. Die Selbsthilfegruppen integrierten bereits in den vergangenen Jahren zunehmend politische und kulturelle Themen in ihre Arbeit. Sie entwickeln stärkere Widerstandsformen, die ihren Ausdruck u.a. in den nationalen Protesttagen der Jahre 1983-86 finden. In diesen Jahren tragen vor allem die Basisgruppen den Protest aus den Armenvierteln heraus in die Stadtzentren. Mehrere nationale Protesttage werden mit Demonstrationen der pobladores eingeleitet und durch Streiks der ArbeiterInnen und Sabota­geaktionen in Fabriken und Versorgungstruktur (vor allem das Stromnetz wird in Mitleidenschaft gezogen…) unterstützt. Während die Pobladores der marginalen Viertel aus den Erfahrungen der Repression heraus, den tausendfachen Verschleppungen und Einsätzen der Armee auf Demon­strationen, schon seit 1973 Selbstverteidigungsgruppen gegründet haben, ruft seit 1984 die neue “Frente Patriótico Manuel Rodriguez” FPMR zum nationalen militanten Widerstand auf und be­ginnt die Aktionen der pobladores und ArbeiterInnen mit Sabotageakten zu unterstützen. Die Frente begründet ihr Eintreten in den politischen Kampf mit der unübersehbaren Institutionalisie­rung des Regimes, der zunehmenden Mobilisierung der Bevölkerung im Widerstand und der Notwendigkeit, diese Mobilisierung durch militärische Aktionen wirkungsvoll zu unterstützen.

Die Diktatur in der Krise

Diese Einschätzung der Frente Patriótico spiegelt in etwa auch die neue Haltung vieler Gruppen an der Basis wider. Vor allem Mitte 1986 kommt die Hoffnung auf, das Regime könne durch den Volkswiderstand in die Enge getrieben oder gar gekippt werden. Wenn auch die teilweise als avantgardistisch kritisierte Haltung der Frente nicht überall auf Gegenliebe stößt, so reflektieren deren Vorstellungen auf jeden Fall die kämpferische Stimmung der Jahre 1983-86, in deren Verlauf sich eine bedeutende Veränderung in der politischen Landschaft vollzieht. Diejenigen, die am mei­sten Angst vor einer unkontrollierten bzw. unkontrollierbaren Entwicklung des Widerstands im Land haben, die Parteien, können die von den ArbeiterInnen und pobladores erkämpften Frei­räume nutzen, um ihre Rückkehr auf die politische Bühne vorzubereiten. Dies gilt in besonderem Maße für die Christdemokratische Partei (DC), die sehr früh ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich so z.B. in der Gewerkschaftsbewegung etablieren konnte. Dieser Vorsprung ist bis heute in den Führungsgremien der Gewerkschaften zu spüren.
Zunehmend erheben Funktionäre der halblegal auftretenden linken Parteien den Führungsan­spruch innerhalb der Protesttage. Sie benützen die Aktionen in den Poblaciones, um ihre Presseer­klärungen und damit auch ihre Inhalte in der Öffentlichkeit zu lancieren und beginnen damit, ihre Parteienhegemonie der angeblichen “VolksvertreterInnen”, zu installieren. Auch hierüber sind die Meinungen vielfach geteilt, interne Kämpfe um die neuen Führungspositionen spalten die Par­teien. MIR zerfällt in ein halbes Dutzend Gruppierungen, welche Inhalte vom Festhalten am be­waffneten Kampf bis hin zur Einführung der Parteiendemokratie vertreten. Die Spaltungen betref­fen auch die sozialistische Partei Chiles. Die einen begrüßen den Rückgewinn des politischen Ter­rains, die anderen kritisieren daran, daß gerade das Einlassen auf die Plattform der Verfassung von 1980 über kurz oder lang zu Verhandlungen mit den Militärs führen muß; das bedeutet die Anerkennung der Militärs als politische Instanz – entgegen den Beteuerungen der 70er Jahre.

“Fahrplan in die Demokratie”

Tatsächlich verläßt die PDC 1986 auf dem Höhepunkt der Protesttage die Oppositionsplattform und beginnt Verhandlungen mit dem Regime. Den Verlockungen eines “Fahrplanes in die Demo­kratie”,, welcher das am 5. Oktober 1988 stattgefundene Plebiszit (das die Opposition mit ca. 55% Nein-Stimmen gegen Pinochet gewinnt) und die Parlamentswahlen für den 14. Dezember 1989 vorsieht, kann sich auf Dauer keine der “Volksparteien” entziehen… “Die von den Christ­demokraten angeführte gemäßigte Opposition ist generell gegenüber dem Militär verhandlungs- und kompromißbereit. Diese Haltung kommt klar zum Ausdruck in den beiden Grundsatzdokumenten “Acuerdo Nacional” von 1985 und “Bases de Sustentacion de un Regimen democratico” von 1986. So spricht sich hier die gemäßigte Opposition generell für eine nationale Versöhnung aus, erkennt in einer gemischten Wirt­schaftsordnung das Recht auf Privateigentum ausdrücklich an, will Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen nur in belegbaren Einzelfällen vornehmen und lehnt Kollektivverurteilungen (also Verurteilungen des Militärs als Institution) ab; sie akzeptiert, daß das Verfassungsgericht Parteien für verfassungswidrig erklärt, die sich nicht an die demokratischen Spielregeln halten.”
Viele fragen sich, welche Spielregeln in einem Land gelten können, in dem die Militärs auf Jahre hinweg die Richter bestimmen, eine Verfassung von 1980 nur mit einer unmöglich zu erringenden Zweidrittelmehrheit in den Parlamenten zu ändern ist und Wahlgesetz und Verfassung den Mili­tärs immer eine überdimensionale Präsenz in den Parlamenten sichern. Bisher sind ebenfalls we­der die Geheimdienste noch die Militärs in irgendeiner Weise durch das Volk zu kontrollieren.
Die meisten Parteien sehen diesen Abschnitt als Redemokratisierung Chiles im Sinne einer parla­mentarischen Demokratie an. Tatsächlich beteiligen sich alle Linksparteien, von MIR renovado bis zu den Sozialisten Almeydas am Plebiszit. Viele Basisgruppen jedoch verbinden mit dem Plebiszit sehr viel weitergehende Forderungen: Sie verlangen, ihre in der Vergangenheit aufgestellten For­derungen in den Redemokratisierungsprozeß miteinzubeziehen, vor allem die Beteiligung der Ba­sis am politischen Geschehen. Diese ganzen Forderungen, wie nach einem “Nein zur Straffreiheit für die Militärs”, nach Gerechtigkeit für die Opfer des Regimes, nach der rückhaltlosen Aufklä­rung der begangenen Verbrechen, nach einem sozialistischen Wirtschaftsmodell, nach einer Auflö­sung der Militär- und Geheimdienststrukturen, nach dem Recht auf Ausbildung und Bildung (bei den Mapuche vor allem in ihrer eigenen Sprache, dem mapudungu), dem Recht auf Arbeit und Wohnung und nach Sozialstrukturen und nicht zuletzt nach Freilassung ALLER politischen Ge­fangenen, auch solcher aus militanten Organisationen, beinhaltet das “No – hasta vencer”.

“Keine Verhandlungen mit dem Regime!”

Gerade der Bedarf nach einer radikalen Umwandlung des privatmarktwirtschaftlichen Modells der Junta bedeutet für viele Pobladores die Umsetzung ihrer Forderungen nach sozialer Gerech­tigkeit in einem Land, in dem nach Einschätzungen von SozialarbeiterInnen 1989 ca. 5 Mio. Men­schen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben (bei insgesamt 14 Millionen Einwohnern Chiles), ca. 600.000 Kinder unter 14 Jahren obdachlos und ohne Familie sind und sich teilweise individuell oder für Kinderbanden prostituieren oder klauen gehen müssen, um zu überleben, mehrere hun­derttausend Kinder und Jugendliche drogenabhängig oder spielsüchtig sind. Forderungen, die al­lein mit einer Beteiligung am politischen System der Herrschenden Utopie bleiben müssen.
So kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Parteien. Das heißt nicht, daß die Basisgruppen allgemein die Arbeit der Parteien, der mit ihnen verbun­denen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und anderer parteilicher Strukturen ablehnen, zumal innerhalb der Gruppen viele Parteimitglieder mitarbeiten. Allerdings ist die Enttäuschung über die Funktionalisierung der Basisstrukturen nicht zu übersehen: “Merkst Du, wovon ich rede? Wir kämpfen, bauen eine Kraft auf, die den Pin8 an die Wand drückt und Sie verhandelt in unse­rem Namen, unsere Bewegung hinter sich. Arschlöcher! Erst das Plebiszit und dann in eineinhalb Jahren diese Wahl, die sie jetzt schon vorbereiten. Bald gibts wieder Abgeordnete und saftige Diäten, schicke Parteibüros haben wir jetzt schon. Politik wird wieder eine saubere Angelegenheit. Und wir bleiben die Angeschissenen in der gleichen Scheiße! An der Wirtschaftspolitik wird sich sowieso nichts ändern, auch nicht an der Bildungs- oder Gesundheitssituation.”
Diese Einschätzung teilen – wenngleich auch etwas weniger krass ausgedrückt – viele AktivistIn­nen der Poblaciónes. Eine Frau aus der chilenischen Frauenbewegung schreibt dazu: “Im Zuge der stärkeren Präsenz von Parteien seit 1987 absorbieren sie die sozialen Bewegungen (nicht nur der Frauen), oder sie gaben ihnen schlichtweg keine Partizipationsmöglichkeiten bei Verhandlungen, Verträgen der Ausarbeitung eines Regierungsprogramms und ebensowenig bei der Ernennung der Parlamentskandidaten. Einige Leiterinnen der sozialen Bewegung gaben der politischen Aktivität den Vorrang; so geschehen mit wichtigen Leiterinnen und aktiven Mitgliedern der Frauenbewe­gung, die sich auf Führungsebene der Bündnisparteien begaben oder dazu übergingen, sich an Kommissionen für ein Programm der nächsten Regierung zu beteiligen.” Bei der Institutionalisie­rung der Basisbewegung spielen ebenfalls die NGOs eine tragende Rolle, oft durch Parteistiftun­gen finanzierte Institutionen, welche verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen für alternative Forschungen bieten. So wird an diesen oft kritisiert, daß sie zwar die Folgen der Repression ausrei­chend dokumentiert haben, aber keine strukturelle Forschung zu Lösungsmöglichkeiten der Krise betreiben. Die Enttäuschung über die Parteistrukturen rührt also auch daher, daß Parteien in di­rekter politischer Konkurrenz zu den Basisgruppen aus diesen neue AktivistInnen anwerben, ver­lockend durch die gebotenen Arbeitsbedingungen: “Kaum tauchen in unseren Gruppen, ich meine den Basisorganisationen, fähige Kader auf, die wir in mühevoller Kleinarbeit geformt haben, denn es ist noch keiner vom Himmel gefallen, werden sie von der “cupula” (Spitze) der Parteien oder Gewerkschaften umworben, bekommen Unterstützung, werden vielleicht zum Studium ins Aus­land geschickt und weg sind sie und Du kannst sie getrost vergessen. Wer einmal aus seiner Pobla­ción entwurzelt wird, kommt selten wieder. Im besten Fall wird er einer unserer Genossen Partei­strategen, die im Trockenen sitzen und schön reden.”
In diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis der Parteien, sich zu etablieren und den durch viele Erfahrungen in der alltäglichen Konfrontation erstarkten und selbstbewußter auftretenden Basisgruppen wird sich die Politik der “Redemokratisierung” Chiles innerhalb der Linken abspie­len. Die Basisbewegung hat dabei viele gute Argumente auf ihrer Seite, vor allem was die Kämpfe der Jahre 1983-86 angeht. Sie können auf eine ganze Bandbreite gewachsener Strukturen zurück­greifen.

Die Krise der Linken

Dennoch: Die Linke Chiles insgesamt befindet sich in einer Krise, die der weltweiten ähnelt. Nach Jahren der Militärdiktatur wollen viele Menschen nichts mehr von Gewalt hören, auch nicht von revolutionärer. Der tägliche Kampf ums Brot läßt nicht viel Raum für Utopien. Aus dem solidari­schen Widerstand ist in den langen Jahren der Diktatur eine Ellenbogengesellschaft geworden, nach dem Motto: “Rette sich, wer kann”. Es ist schwierig für die Älteren, mit dem Trauma der er­littenen Niederlage umzugehen, genauso wie es für die in der Diktatur herangewachsene Genera­tion schwierig ist, aus den traumatischen Verhältnissen heraus an den Aufbau ihrer Zukunft zu gehen. Nicht umsonst beschäftigt sich in Chile eine für Lateinamerika bedeutende Anzahl von So­ziologInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen mit dem Thema der “traumatisierten Gesellschaft”.
Diese Legitimierungskrise trifft zuerst die etablierten linken Parteien: Bei den Parlamentswahlen schneiden sie schlecht ab. Es gelingt den Christdemokraten und den sozialdemokratischen Frak­tionen der SozialistInnen, die wichtigsten Ämter der neuen Regierung unter sich aufzuteilen, ob­wohl doch insgesamt 17 Mitte-Linksparteien in der “Konzertation für die Demokratie” zusam­mengeschlossen sind. Bei den kommunalen Neuwahlen zu den 1973-89 vom Pinochet-Regime als Disziplinierungsinstrument in den Poblaciones eingesetzten “juntas de Vecinos” treten zum ersten Mal wieder KandidatInnen der verschiedenen Links-Parteien an. Die Wahlbeteiligung der Pobla­dores liegt in vielen Stadtteilen allerdings nur bei ca. 30%.
Spätestens nach der Wahl 1989 muß sich die parlamentarische Linke fragen lassen, ob sie nicht die meisten ihrer politischen Prinzipien am Eingang zum Parlament wie einen zu schäbig gewordenen Mantel ablegt, ob sie nicht die Basisbewegung nur für ihren politischen Staffellauf in die Parla­mente funktionalisiert hat, hinter der Ziellinie aber ohne die anderen MitstreiterInnen aufs Sieger­treppchen treten will. Noch ist die Situation nicht ausweglos: Es kann viel dadurch gewonnen werden, über die Massenmobilisierung zu Brennpunkten hinaus die gewachsenen Strukturen der Pobladores, Landarbeiter und Mapuche als eine Stärke der Linken zu begreifen und als politische Kraft anzuerkennen. Nur so kann durch die Zusammenarbeit die Basis für einen Erhalt der er­kämpften Freiräume breiter werden. Wenn nicht, dann droht den Parteien der Verlust des Mo­mentes der radikalen Mobilisierung und ihr politisches Konzept wird zum Papiertiger: Von Rechts leicht zu kontrollieren?

Basisbewegungen wieder in der Opposition?

In diesem Sinne sehen sich viele der Basisgruppen heute als neue Opposition. Die aufgeworfenen Fragen verlangen jedoch nicht nur eine Antwort aus Chile, sondern auch von der Solibewegung in der BRD, die sich seit Jahren viel zu wenig um eigenständige Perspektiven einer selbstorganisier­ten, herrschaftsfreien Gesellschaft bemüht und Politik meist mehr als Forderung an irgendwelche Parteien versteht, denn als soziale Kämpfe: “Nun, erst einmal denke ich, solltet Ihr euch um Eure Dinge kümmern. Für hier nehmt Ihr Euch manchmal zu wichtig. Ihr seid uns erst glaubwürdig, wenn Ihr Euer eigenes politisches Projekt habt und nicht nur nach Chile kommt und uns erzählt, was wir tun können. Klar, Euer Geld wird immer willkommen sein. Egal, wem Ihr es anbietet. So­lidarisiert Euch aber mit den Teilen des chilenischen Volkes, die auch nach der offiziellen Einset­zung der Demokratie für einen grundsätzlichen Wandel kämpfen müssen, um eine Chance zu ha­ben, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen. Dann hört auf, die Gruppierungen und Parteien zu unterstützen, die das Projekt der Scheindemokratie propagieren. Informiert in Eu­ren Ländern über die Situation im Land, über die Armut, die Folter, das Morden, die Ungerechtig­keit und die Lügen der Demokratisierung. Und unterstützt solche Gruppen von Menschen, die an­gefangen haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Basisgruppen, die ein radi­kales politisches Projekt verfolgen, oder unterstützt die NGOs, die mit solchen Gruppen zusam­menarbeiten. Aber vor allem: Informiert in Euren Ländern über die Situation hier und bekämpft den Imperialismus dort, wo er herkommt. Da ist jede/r von Euch unentbehrlich.”

Der Demokratisierungsprozeß versandet

Gewerkschaftliche Tradition

In den 40er Jahren war der Gewerkschaftsdachverband von staatlicher Seite gegründet worden, also im Laufe eines florierenden Importsubstitutionsmodells und einer wachsenden nationalen Industrieproduktion. In dieser Zeit konnte der Staat grundlegende soziale Rechte zugestehen und das Lohnniveau erreichte beachtliche Höhen. In dieser Zeit bildete sich eine traditionelle Gewerkschafts­politik heraus, die als vertikalistisch und staatsfixiert bezeichnet werden muß. Gewerkschaftsführer sind in Argentinien in den wenigsten Fällen demokratisch legitimiert. Die Aufstellung von Einheitslisten, sofern Gewerkschaftswahlen überhaupt stattfinden, sichert der bestehenden Führung ihre Posten. Die Tatsa­che, daß im Rahmen der Importsubstitutionsphase der 40er und 50er Jahre die nationalen Industrieunternehmen durch Protektionismus von der Weltmarkt­konkurrenz abgeschirmt waren, ließ eine freie Preispolitik zu, dh. die nationalen Unternehmen konnten höhere Löhne nahezu beliebig über höhere Preise für ihre Produkte abwälzen. Während sich auf der einen Seite eine Interessenkoalition zwischen nationalem Unternehmertum und Gewerkschaften herausbildete, richteten sich die Forderungen der Gewerkschaften immer an den Staat, anstatt sich auf den Klassengegner zu konzentrieren. In den Jahren zwischen 1955, dem Jahr des Putsches gegen Perón, und 1976, dem bisher letzten Militärputsch, konnte das hegemoniale Machtpatt zwischen dieser Interessenkoalition und der liberalen Agrarbourgeoisie nicht überwunden werden. In dieser Situation versuchten die Militärs in wechselnden Allianzen mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ein hegemoniales Bündnis zu bilden. Die zahlreichen Militärputsche und die Tatsache, daß kein gewählter Präsident mehr sein Mandat beenden konnte, sprechen für die extreme politische Instabilität in diese Jahren. Die Militärjunta von 1976 hatte sich zum Ziel gesetzt, auf zweifache Weise diese Tradition zu durchbrechen. Durch ihre Wirtschaftspolitik führte sie eine extreme Deindu­striealisierung herbei und schwächte damit die Position der nationalen Indu­striebourgeoisie. Die brutale politische Verfolgung konzentrierte sich zudem auf kämpferische Gewerkschafter. In zweifacher Weise ging also die Gewerkschafts­bewegung geschwächt aus der Militärdiktatur hervor: ihre Mitgliederbasis hatte sich verschmälert (von 5 Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter 1975 auf 4 Millionen noch nach drei Jahren Demokratie) und die Repression hatte ge­rade die mittleren Gewerkschaftsfunktionäre getroffen, die zu Beginn der 70er Jahre in Opposition zu zahlreichen Gewerkschaftsführungen standen. Letz­tere hatten in den Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonis­mus nach Perons Tod 1974 gewerkschaftliche Oppositionelle sogar mit Todes­schwadronen bekämpfen lassen und während der letzten Diktatur mit der Junta kollaboriert. Auch nach 1983 nahmen sie wieder führende Positionen in der Gewerkschaftsbürokratie ein.

Kontinuität statt Erneuerung

Die Regierung Alfonsin sah sich bei Amtsantritt einer zersplitterten Gewerk­schaftsbewegung gegenüber, deren Führung jedoch nahezu ohne Ausnahme nicht demokratisch legitimiert war. Wir wollen hier die wichtigsten Gruppierun­gen kurz erwähnen:
– Die im Rahmen des “Neoperonismus” (des “Peronismus ohne Perón”) als sich der Führer der Bewegung im Exil befand, entstandenen 62 Organisationen, die nach wie vor durch die Metallergewerkschaft dominiert werden und auf das traditionelle peronistische Modell setzen.
– Die Gruppe der 15, die durch ihre kompromißhafte Haltung gegenüber der neoliberalistischen Politik der Militärs gekennzeichnet sind.
– Die Kommission der 25, die dem Erneuererflügel der Peronisten, den soge­nannten Renovadores nahestehen und für eine Demokratisierung gewerk­schaftlicher Strukturen eintreten. Sie haben jedoch nur auf wenige Gewerk­schaften wie die der Staatsangestellten, der Eisenbahner und Fernfahrer Einfluß.
– Eine unter dem neuen Führer des Gewerkschaftsdachverbandes Saul Ubaldini entstanden Strömung, die die Autonomie der CGT gegenüber der peronisti­schen Partei einklagte.
Wenige Tage nach ihrem Amtsantritt brachte die UCR-Regierung ein Gesetzesprojekt zur “gewerkschaftlichen Demokratisierung” ins Parlament ein. Es sah vor, Interventoren des Arbeitsministeriums einzusetzen, um zu freien Wah­len in den Gewerkschaften aufzurufen und Wahlverfahren einzuführen, die auch Minderheiten berücksichtigten. Dem Projekt war jedoch kein Erfolg beschieden, da die Vorgehensweise der Regierung die verschiedenen Gewerkschaftsblöcke vereinigte, die sich gemeinsam gegen die staatliche Intervention ihrer Organisa­tionen zur Wehr setzten. Das Scheitern der Gesetzesvorlage im Senat trug der Regierung schließlich ihre erste schwere Niederlage ein und führte zum Rück­tritt des Arbeitsministers. Die UCR mußte akzeptieren, daß die Gewerkschafts­bewegung, wenn auch geschwächt und uneinheitlich, peronistisch dominiert blieb und für die Durchsetzung korporatistischer Interessen zusammenstand. Während so die innere Erneuerung durch demokratische Wahlen in den Gewerkschaften nicht eingeleitet werden und sich in der Folgezeit bis auf wenige Ausnahmen die alte Gewerkschaftbürokratie durchsetzten konnte, ver­änderte die UCR-Regierung nun ihre Strategie. Sie stellte eine Allianz mit dem pragmatischsten Flügel der Gewerkschaftsbewegung her, der 15er-Gruppe. Der Chef der Energieunternehmensgewerkschaft, Alderete, wurde 1987 sogar zum Arbeitsminister ernannt. Während so die Verhandlungen über die Wiederher­stellung gewerkschaftlicher Grundrechte, wie auf Abschluß von Arbeitsverträ­gen, das Berufsverbändegesetz oder die Kontrolle über die ehemals gewerk­schaftseigenen Sozialeinrichtungen, die ihnen die Diktatur genommen und die Alfonsinregierung zunächst weiter vorenthalten hatte, um die eigene Verhand­lungsposition zu stärken, in Gang kamen, setzte die CGT-Führung auf frontale Opposition gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie organisierte allein zwischen 1984 und 1989 4000 Streiks, davon 15 Generalstreiks. In traditioneller Weise konzentrierten sich die Kämpfe der Gewerkschaften darauf, Lohnverbes­serungen bei der Regierung einzuklagen, als sich gegen den eigentlichen Klas­sengegner zu richten. Im Gegenteil, 1986 unterstützte die CGT sogar den Wider­stand der liberalen “Sociedad Rural”, der einflußreichen Organsation der Vieh­züchter und Agrarproduzenten, gegen die Regierung. Daß trotz der zahllosen Streiks keine wesentlichen materiellen Verbesserungen für die ArbeiterInnen erreicht werden konnten, verdeutlicht die Schwäche der Gewerkschaften.
Daß sich an traditioneller Politik der Gewerkschaftsbürokratie nichts geändert zu haben scheint, dafür war der Verlauf des sogenannten “Normalisierungskongreßes” im November 1986 beredtes Beispiel. Nach 1945 trafen sich zum ersten Mal wieder die Repräsentanten der argentinischen Gewerkschaften, insgesamt 1400 Funktionäre. Innerhalb von 45 Minuten wurde, anstatt eine Diskussion über die veränderte gesellschaftliche Lage und mögliche Reaktionen darauf zu führen, die neue CGT-Führung per Einheitsliste und Akklamation “gewählt”. Gewerkschaftliche Minderheiten waren schon zuvor aus­geschlossen worden, da nur die Mehrheitsvertreter zum Kongreß fuhren.
Seit 1989 sah für die Gewerkschaften die Lage anders aus. Sie hatten im Wahl­kampf den Peronisten Menem unterstützt. Nach dessen Regierungsübernahme schien es für einen Großteil der Gewerkschaftsbürokratie selbstverständlich, Ministerposten zu übernehmen und, wie sie meinten, die Politik der Regierung von innen heraus im Interesse der Arbeiter mitzubestimmen. Der Gewerk­schaftsdachverband CGT könne nicht gegen eine peronistische Regierung Kon­frontationspolitik betreiben. Während entsprechend dieser Logik Jorge Triaca, von der Gewerkschaft der Plastikarbeiter, und Hugo Barrionuevo, von der Gewerkschaft der Nahrungsmittelindustrie, das Arbeitsministerium und die Kontrolle über die gewerkschaftseigenen Sozialeinrichtungen übernahmen, setzte die CGT-Führung mit Unterstützung der 62 Organisationen auf Lohn­kampf. Zwar versuchte auch diese neue Fraktion lange durch die Vermittlung der Regierung den Bruch der Gewerkschaftsbewegung zu vermeiden. Je deutli­cher jedoch die Menem-Administration ihren liberalen Wirtschaftskurs in Inter­essenübereinstimmung mit dem Großkapital oder zu Beginn sogar unter direkter Leitung von Bunge und Born, dem einzigen argentinischen Multi, verfocht, um so unvermeidbarer wurde die Spaltung der CGT. (Siehe LN 187) Seit dem Gewerkschaftskongreß im Oktober 1989 bestehen zwei CGT-Führungen. Um die internen Demokratisierungsansätze von Seiten der 25er-Kommission dagegen ist es still geworden. Die aktuelle peronistische Regierung setzt zur Zeit knallhart gewerkschaftsfeindliche Gesetze durch. So die neuen Bestimmungen, die das Streikrecht der ArbeiterInnen drastisch einschränken.

Auf dem Weg ins Zweiparteiensystem?

Die parteipolitische Landschaft wurde seit den 40er Jahren durch zwei große Parteien bestimmt: Die bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründete “Radikale Bürgerunion” (UCR), die sich zu Beginn des Jahrhunderts in die wesentliche Interessenvertreterin der wachsenden argentinischen Mittel­klassen verwandelte und bis heute grundlegende demokratische Rechte insbe­sondere bereits 1912 das allgemeine Wahlrecht (allerdings zunächst nur für Männer) durchsetzte, und die in den 40er Jahren entstandene “Gerechtigkeitspartei” (JP) als politischer Arm der peronistischen Bewegung, deren Wirbelsäule (columna vertebral) allerdings immer die Gewerkschaftsbe­wegung blieb. Sie wurde zur Massenpartei der argentinischen Arbeiterklasse und unter der Leitung ihres legendären Führers Perón setzte sie materielle Verbesse­rungen und soziale Rechte für ArbeiterInnen und Marginalisierte durch.
Trotz der Dominanz zweier großer Parteien etablierte sich jedoch nicht – wie z.B. in Kolumbien – ein stabiles Zweiparteiensystem. Die politische Entwicklung nach 1955, dem Sturz Perons durch einen Militärputsch, war vielmehr durch den systematischen Ausschluß des Peronismus von Wahlen, sofern überhaupt welche stattfanden, gekennzeichnet. Achse allen politischen Handelns blieb über Jahr­zehnte hinweg der Antiperonismus. Die Bedeutung dieses Konfliktes scheint nach 1983, nachdem zum ersten Mal bei freien Wahlen die UCR und nicht die Peronisten siegreich war, geringer geworden zu sein, auch wenn sich die Kon­kurrenz der beiden dominierenden Parteien erhalten hat. Unter der Regierung Alfonsin erwies sich vielmehr, daß in kritischen Momenten auch über Partei­grenzen hinweg Führer beider Parteien, so während der Militärrevolte an Ostern 1987, gemeinsam für den Erhalt der demokratischen Institutionen eintraten.
Einzige bemerkenswerte Erscheinung im Parteienspektrum ist die erstmalige Etablierung einer rechtskonservativ-liberalen Partei, der UCéDé unter Führung des neoliberalen Wirtschaftstechnokraten Alsogaray, die als direkte Interessen­vertretung der herrschenden Klasse angesehen werden kann. Trotz ihres doch geringen Stimmanteils sah sich Menem veranlaßt, den bisher nur im Dienste von Militärregierungen stehenden Rechtsaußen zum Wirtschaftsberater zu machen. Der reale Einfluß der UCéDé auf die argentinische Politk ist somit wesentlich größer als ihr Stimmenpotential. Die Linkspateien dagegen spielen in Argenti­nien nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Mehrere Splitterparteien hatten sich in das Wahlbündnis Menems 1989 integrieren lassen. Die einzige Partei mit stär­kerem Zulauf in den letzten Monaten ist das trotzkistische “Movimiento al Socia­lismo” (MAS), die Ende letzten Jahres auf einem Parteikongreß beschloß, sich in eine Massenpartei umwandeln zu wollen. Zum 1.Mai konnte sie sogar 70 000 Menschen für einen Protest gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung mobilisieren. Fühlen sich nach dem Zusammen­bruch der sozialistischen Regime in Osteuropa die Trotzkisten in ihrer Politik bestätigt, so muß abgewartet werden, inwieweit es bei den übrigen Linkspar­teien, insbesondere der kommunistischen PC, zu einem Reorganisationsprozeß kommt.
Zurück zu den beiden großen Parteien: Die Regierungspartei UCR wurde intern völlig dominiert durch die Parteifraktion des Präsidenten “Erneuerung und Wandel” (Renovación y Cambio), die dieser 1968 mitbegründet hatte. Die parteiinterne Linke fügte sich nahezu bedingungslos allen Entscheidungen der Führungsspitze. Bis 1985 erfolgte die Regierungspolitik entsprechend den Grundsätzen des Parteipro­gramms. Zahlreiche Regierungsposten wurden von Alfonsin mit Parteifreunden besetzt und die Regierungspartei suchte die politische Auseinandersetzung im Parlament. Der politische Druck, der nach dem Scheitern der nachfrageorien­tierten Wirtschaftsstrategie unter Grinspun und verstärkt nach Fehlschlagen des Plan Austral 1987 (LN 140), sowie den Militärrevolten von Ostern 1987 und Januar 1988 auf der Regierung lastete, veranlaßte sie jedoch, verstärkt per Dekret zu regieren und verschiedene Posten, zumal den des Wirtschafts- und Verteidi­gungsministers neu zu besetzen. Je mehr die Wirtschaftspolitik Thema in der Öffentlichkeit wurde, umso mehr verlor die Regierung ihren Vertrauensvorschuß bei der Bevölkerung.
In der peronistischen Partei kam es nach der deutlichen Wahlniederlage 1983 zur Gründung einer neuen parteiinternen Strömung, den “Erneuerern” (Renovadores). Ihnen ging es zunächst um neue Organisationsformen und erst in zweiter Linie um programmatische Veränderungen. Die Gruppe von Dissiden­ten, an deren Spitze der ehemalige Wirtschaftsminister der Regierung Isabel Perón von 1975, Antonio Cafiero, stand, stellten sich nun der internen Ausein­andersetzung mit den sogenannten “Orthodoxen”, die noch die Kandidaturen für die Präsidentschaftswahlen 1983 dominiert hatten. Zwar kann keine detaillierte programmatische Abgrenzung zwischen “Renovadores” und “Orthodoxen” vor­genommen werden. Die “Orthodoxen” stehen jedoch in der korporativen Tradi­tion und hatten während der letzten Diktatur mit den Militärs kollaboriert. Die “Renovadores” hingegen versuchten, der Partei innerhalb der Bewegung mehr Gewicht zu geben und damit den Folgen des Deindustrialisierungsprozesses und der Schwächung der Gewerkschaften Rechnung zu tragen. Außerdem beabsich­tigten sie, die Partei zu demokratisieren. Nach der schweren Wahlniederlage bei den Parlamentsnachwahlen von 1985, in denen die UCR in fast allen Provinzen orthodoxe Peronisten aus dem Feld geschlagen hatte, begann der Aufstieg der Renovadores. Bei den zweiten Parlamentsnachwahlen im September 1987 wurde ihr Erfolg deutlich. Das Problem der Renovadores bestand jedoch in der Tatsa­che, daß sie in Annäherung an die UCR-Rethorik – um sich in den Demokratisie­rungsprozeß miteinzubringen – kein eigenes Profil gewinnen konnten. Zur Wirt­schaftspolitik der Regierungspartei schienen sie zudem keine Alternative zu haben. Daß es auch innerhalb der Renovadores unterschiedliche Zielvorstellun­gen gab, zeigte nicht zuletzt die parteininterne Auseinandersetzung zwischen zwei Begründern dieser parteiinternen Strömung um die Präsidentschaftskandi­datur, zwischen Antonio Cafiero und Carlos Saúl Menem.
Nachdem Menem die erstmals stattfindenden parteiinternen Wahlen für sich entscheiden konnte, kehrte er den demokratischen Ansätzen der Erneuerer den Rücken und profilierte sich alsbald als peronistischer Caudillo traditionellen Zuschnitts. Um die Erneuerer-Fraktion ist es seitdem sehr still geworden.

Schwere Niederlagen für die Menschenrechtsbewegung

Die Position der argentinischen Militärs, die ohnehin schon durch das Malvinen-Debakel 1982 und die danach sich häufenden Korruptionsskandale angeschlagen war, wurde durch die Empörung über die Menschenrechtsverletzungen weiter geschwächt. Die Übergangsregierung von Bignone mußte die Niederlage ihrer Politik eingestehen und bereitete den Weg in Richtung freier Wahlen. Der Druck der Menschenrechtsorganisationen, die zum Großteil ihre Arbeit schon zu Beginn der Militärdiktatur 1976 aufgenommen hatten, stürtzte zwar nicht die Diktatur, trug allerdings wesentlich zur Beschleunigung des Redemokratisie­rungsprozesses bei. Das Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung war eindeutig: Die Bestrafung der verantwortlichen Militärs und die Demokratisierung der Gesellschaft waren nun das Wichtigste. Entsprechend wurde Alfonsín mit dem Versprechen, eine vollständige Bestrafung der Militärs einzuleiten, von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt.
Die Menschenrechtspolitik des neugewählten Präsidenten war jedoch alles andere als die versprochene Abrechnung mit der Vergangenheit. Zwar setzte Alfonsín die “Sábato-Kommission” (CONADEP) zur Untersuchung der Men­schenrechtsverletzungen während der Diktatur ein, gab ihr allerdings nicht den Rang einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Dem Abschlußbericht “Nunca Más” von 1984 folgten jedoch aufgrund des mangelnden politischen Willens zunächst keine konkreten Maßnahmen. Vielmehr hatte Alfonsín den Oberbefehlshabern der Streitkräfte schon vor Beginn der Prozesse versprochen, alsbald einen Schlußstrich ziehen zu wollen. Gleichzeitig forderte er von der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen auf wenige Personen, vor allem auf die Juntas, zu beschränken. Konsequenterweise folgte im Dezember 1986 das Schlußpunktgesetz (“ley de punto final”), das vorsah, daß innerhalb einer Frist von zwei Monaten weitere Anklagen gegen Menschenrechtsverletzungen einge­reicht werden könnten. Nach Ablauf dieser Frist sollte die Angelegenheit ein für alle Mal abgeschlossen sein…
Das Ergebnis waren jedoch immer noch 400 Anklagen bis zum Februar 1987.Damit bahnte sich der offene Konflikt zwischen Militärs und ziviler Regie­rung an. Nicht nur, daß die angeklagten Militärs den Vorladungen vor Gericht oftmals nicht Folge leisteten und, wenn überhaupt, erst nach polizeilicher Fest­nahme vor Gericht erschienen. In der Osterwoche 1987 rebellierten einige Trup­peneinheiten unter der Führung von Oberstleutnant Aldo Rico offen gegen die Regierung. Während Alfonsín die von ihm initiierten Massendemonstrationen als “Sieg der Demokratie” feierte, beugten sich die Aufständischen erst nachdem sie wesentliche Zugeständisse von der Regierung erhalten hatten: die Entlassung unbeliebter, regierungsloyaler Generäle, die Einstellung eines Großteils der Pro­zesse und schließlich das im Mai 1987 erlassene “Gesetz des geschuldeten Befehlsgehorsams” (obediencia debida), welches die Menschenrechtsverletzun­gen auf einen “Befehlsnotstand” während der Diktatur abwälzte.
Während die Streitkräfte aus diesem Konflikt gestärkt hervorgingen, erlebte die Menschenrechtsbewegung eine harte Niederlage und starke Demobilisierung. Diese Tendenz wurde in den nachfolgenden beiden Militärrebellionen unter Oberst Seineldín (September 1987, Jahreswende 87/88) noch deutlicher. Gingen bei der ersten Militärrevolte noch die Massen auf die Straße, um die Demokratie zu verteidigen, so befolgten sie nun den Rat des Prä­sidenten: “Geht nach Hause und küßt Eure Kinder”. Das zu Beginn der Demo­kratisierung als wesentlich ausgewiesene Ziel der Strafverfolgung der Militärs endete somit für die zivile Gesellschaft in einer fatalen Niederlage.
Auch innerhalb des folgenden Wahlkampfes zu den Provinz- und Gouverneurs­wahlen spielte die Menschenrechtsfrage keine Rolle mehr. Die demokratische Regierung Alfonsín hatte es versäumt, mit Unterstützung breiter Kreise der Bevölkerung den Militärapparat einer grundlegenden Neustrukturierung und Unterordnung unter eine zivile Kontrolle zu unterwerfen. Die von Alfonsíns Nachfolger Menem Ende 1989 erlassene Amnestie für die wenigen tatsächlich verurteilten Militärs – unter ihnen nun auch die meisten Teilnehmer der Militär­rebellionen – bildete hierbei nur die konsequente Weiterführung der Nicht-Kon­frontationspolitik unter Alfonsín.
Der Angriff von einem Teil der Mitglieder der “Bewegung alle für das Vaterland” (MTP) auf die Kaserne von La Tablada im Januar 1989 stellte eine weitere Zäsur des Demokratisierungsprozesses in Argentinien dar. Nach eigenen Angaben wollten die Leute des MTP einen bevorstehenden Putsch am 23.01.89, der von dieser Kaserne ausgehen sollte, verhindern, indem sie die Kaserene besetzten und so bei der Bevölkerung Aufmerksamkeit erregten. (LN 179, 180, 181) Statt einer solchen harmlosen Besetzung entwickelt sich diese Aktion zu einer zweitägigen Schlacht zwischen Militär und AngreiferInnen, bei der das Militär die mit zum Tei uralten Schrotflinten bewaffneten AngreiferInnen mit schwerem Artilleriegeschütz und Phosphorbomben niederwalzte. Auch heute noch sind die tatsächlichen Motive dieses Angriffes und seine Hintergründe nicht geklärt. Viele Spekulationen deuten darauf hin, daß die Bewegung einer Falschmeldung durch die Geheimdienste aufgesessen und bewußt in diese Katastrophe hineingelenkt worden ist. Dieser Angriff macht allerdings deutlich, welche ohnmächtige Situa­tion innerhalb eines Teils der Linken nach der mißlungenen Menschenrechtspo­litik vorherrschte. Auf der anderen Seite schwächte die MTP durch diese Aktion die sozialen Bewegungen im allgemeinen, die sich in der Folge dieses Angriffes wachsender Repression ausgesetzt sahen. Die Verabschiedung eines Gesetzes , welches den Militärs erneut die Bekämpfung des “internen Feindes der Subver­sion” erlaubt, ist eine weitere direkte Folge diese Angriffes. Gleichzeitig brachte diese Aktion einen wachsenden Vertrauensverlust für linke Bewegungen innerhalb der Bevölkerung mit sich. Die in jahrelanger, mühseliger Kleinarbeit aufgebauten Strukturen der Selbstorganisation in den armen Provinzen und Stadträndern, die auch von einem anderen Flügel des MTP mitgetragen wurden, scheinen heute dahin.
Der Prozess gegen die AngreiferInnen von La Tablada spiegelt auf der rechtli­chen Ebene die nicht erfolgte Demokratisierung allzu deutlich wider. Der Prozeß verlief wie zu Zeiten der Diktatur unter der Regie der Militärs. Hierbei wur­den elementare Freiheitsrechte verletzt und demokratische Spielregeln in überhaupt nicht eingehalten. Letztlich wurden die Militärs durch die Aktion von La Tablada in ihrer Position weiter gestärkt und die Demokratie erlitt eine weitere entscheidende Niederlage.

Ungewisse Zukunft

Der Demokratisierungsprozeß in Argentinien ist nach allen anfänglichen Hoff­nungen ins Stocken geraten. Die ökonomischen Rahmenbedingungen, damit mußte gerechnet werden, haben sich nicht verbessert. Ganz im Gegenteil: Die unerbittliche Haltung des IWF wurde von der Regierung falsch eingeschätzt und hat das Ausmaß der ökonomischen Krise verschlimmert. Zudem jedoch vermied die Regierung Alfonsin die Konfrontation mit den ökonomischen Machtgruppen, die durch Spekulation, geringe Investitionsneigung und Kapitalflucht die entscheidende Entwicklungsblockade für das Land darstellen. Die unkontrollier­bare Inflation hat zusätzlich zur Delegitimierung der Regierung beigetragen. Nachdem die Wirtschaftspolitik im Wahlkampf 1983 kaum eine Rolle gespielt hatte und die Regierung trotz wirtschaftspolitischer Rückschläge noch 1985 einen Vertrauensvorschuß in der Bevölkerung genoß, schob sich langfristig die Wirt­schaftskrise in der öffentlichen Diskussion in den Vordergrund. Die ursprünglich wesentlichen Themen, wie die Menschenrechte und die Demokratisierung, spie­len heute in der politischen Diskussion keine Rolle mehr. Der UCR fehlte der politische Wille zu strukturellen, gesellschaftlichen Veränderungen. Aber auch die übrigen politischen Akteure neigten dazu, gesamtgesellschaftliche Interessen den kurzfristig korporatistischen unterzuordnen. Der größte Hoffnungsträger für den Demokratisierungsprozeß, die Menschenrechtsbewegung, verlor nicht nur durch den Machtzuwachs der Militärs und die ökonomische Krise, sondern auch durch ihre starren politischen Positionen an Bedeutung. Eine demokratische Alternative scheint für Argentinien in nächster Zeit nicht erreichbar. Nicht nur die derzeitige Regierung greift auf orthodoxe, undemokratische Strickmuster zurück. Auch in der Bevölkerung wächst die Neigung, autoritäre Lösungen zu bevorzugen.

Verhandlungen, wie geht´s weiter?

“Als Organisationen, die für die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich sind, müssen wir feststellen, daß Sie Ihre Wahlversprechen nicht erfüllt haben, daß Ihre politischen Maßnahmen fehlgeschlagen sind und daß der Mehrheit unseres Volkes viel Leid zugefügt wurde. Wir erlauben uns deshalb, auf einer dringend notwendigen Korrektur dieser Politik zu bestehen.”
So beginnt ein offener Brief an den Präsidenten Cristiani anläßlich der Vollendung seines ersten Amtsjahres am 31. Mai dieses Jahres. So wichtig wie sein Inhalt ist die bemerkenswerte Liste der unterzeichnenden Organisationen.

Sowohl die UNTS, der Gewerkschaftsdachverband, als auch die UNOC, ein ehemals von den Christdemokraten (PDC) gegründeter, gelber Gewerkschaftsverband, unterstützen den Brief, genauso wie die maßgebenden Oppositionsparteien, einschließlich der PDC. Auch Bauern- und Kooperativenverbände und das Permanente Komitee der Nationalen Debatte, das wiederum breiteste Kreise, einschließlich der Berufsverbände von kleinen und mittleren Unternehmern sowie verschiedene Kirchen umfaßt, gehören zu den Unterzeichnenden.

Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die spätestens mit dem ARENA-Wahlsieg 1989 ihren Anfang nahm: Die Zusammenfassung fast aller gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kräfte und Organisationen zu einer breiten Oppositionsfront gegen ARENA, um dem gemeinsamen Ziel einer politischen Verhandlungslösung des Bürgerkriegs Kraft und Ausdruck zu geben. Auf der Gegenseite steht die Regierungspartei – und der von der Kaffeeoligarchie dominierte Unternehmerverband ANEP – isolierter da als je zuvor. In allerdings abgeschwächter Form werden in dem Brief die gleichen Forderungen erhoben, die die FMLN in den aktuellen Verhandlungen mit der Regierung auf die Tagesordnung setzte: Entmilitarisierung der Gesellschaft, Reform des Justizwesens und des Wahlsystems, Ende der Straflosigkeit, Demokratisierung und Vertiefung der Agrarreform.

Es ist ohne Zweifel notwendig, daß sich organisierte Kräfte in die Bemühungen um eine Verhandlungslösung einmischen; die Militär- und Wirtschaftshilfe der USA für das Jahr 1990 ist trotz vielfältiger Bemühungen der demokratischen Abgeordneten und der Solidaritätsbewegung in den Vereinigten Staaten noch einmal bewilligt worden. Die Debatte um die Hilfe für das Haushaltsjahr 1991, das im Oktober beginnt, hat bereits eingesetzt. Der Militärapparat in El Salvador wurde offensichtlich von dieser Entscheidung ermutigt und lancierte am 21. Mai diesen Jahres ein Kommuniqué, noch während die Delegationen der Regierung und der FMLN in Mexiko zur zweiten Verhandlungsrunde an einem Tisch saßen. Darin sprechen die Streitkräfte der Regierungsdelegation die Kompetenz und das Recht ab, überhaupt Entscheidungen für das Land zu treffen.

Punkt eins – Das Militär (ZT)

Oaxtepec heißt der mexikanische Ort, an dem sich die Delegationen zur Junirunde trafen. Erster und sensibelster Punkt des Verhandlungsprozesses war die Säuberung und Reduzierung der Armee sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen. Aus unerfindlichen Gründen vermeldete die spanische Tageszeitung EL PAIS unter Berufung auf Regierungsquellen einen großen Fortschritt in den Verhandlungen. Davon kann keine Rede sein; die Regierungsdelegation entspricht zynischerweise der Beschreibung der Militärs: inkompetent und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Shafik Handal von der FMLN wertete es dennoch als Erfolg, daß die Regierung sich schließlich bereitfand, über das Thema zu diskutieren. In der Sache gab es jedoch keinerlei Annäherung. Die nächste Runde wird am 20 Juli in Costa Rica stattfinden. Thema zwei: Die Menschenrechtsfrage. Alvaro de Soto, der UNO-Vermittler erklärte zum Verhandlungsverlauf: “Die Möglichkeiten für konkrete Fortschritte zum Thema eins haben sich in dieser Phase erschöpft.”

Erwartungsgemäß fordert die Regierung immer wieder, daß es zunächst zu einem Waffenstillstand kommen müsse, um dann über weitere Reformen zu verhandeln. Die ARENA steht jetzt – neun Monate vor den Wahlen – unter einem gewissen Druck, sich als Friedensstifterin profilieren zu müssen. Doch der von beiden Delegationen anvisierte Termin für eine Waffenpause, der 15. September, ist unter den beschriebenen Bedingungen unrealistisch geworden. Die FMLN hat jedoch angekündigt die Waffen sofort ruhen zu lassen, wenn die USA sich entscheiden die Militär- und Wirtschaftshilfe an die salvadorianische Regierung zu stoppen. Für den Fall allerdings, daß sich die Regierung im weiteren Verlauf der Verhandlungen so unnachgiebig verhalte wie bisher und die Menschenrechte trotz aller Proteste auch in Zukunft mit Füßen getreten werden, hält die FMLN eine Warnung bereit: Eine militärische Offensive nach dem Vorbild vom vergangenen November.

Barcos Nachfolger: Nicht ganz neu, nicht ganz liberal…

Der am 27. Mai dieses Jahres zum Präsidenten Kolumbiens gewählte César Gaviria ist politisch kein unbeschriebenes Blatt. Der 42‑jährige, aus Pereira stammende Angehörige der Liberalen Partei betätigte sich während der Amtszeit Virgilio Barcos nicht unumstritten als Kabinetts­minister. In schwierigen innenpolitischen Situationen fungierte Gaviria in Abwesenheit Barcos auf dessen Entscheidung als höchster Vertreter der kolumbianischen Exekutive. Während des Generalstreiks Ende 1988 und der Zeit der Entführung des konservativen Präsidentschaftskandidaten Alvaro Gómez durch die M19‑Guerilla zeichnete er sich in dieser Funktion vor allen Dingen durch seine extreme Abneigung gegen den Dialog mit der Guerilla, der linken Opposition und der Drogenmafia aus; eine Hal­tung, die zu einer Polarisierung und Zuspitzung der Lage in den Konflikt­zonen des Landes, wie etwa Urabá, führte. Zu Beginn des Jahres hatte er die Regierungsämter niedergelegt, um sich seiner Wahlkampagne zu widmen. Allgemeine Beachtung fand sein öffentlicher Wechsel zur inner­parteilichen Fraktion der “Neuen Liberalen” unter Führung von Luis Carlos Galán, nachdem er lange Zeit der traditionellen Parteilinie treu geblieben war. Die “Neuen Liberalen” treten vor allem gegen die institu­tionaliserte Vetternwirtschaft innerhalb der Liberalen Partei auf und fordern eine Verlagerung der zentralen parteilichen Entscheidungs­kompetenzen von der parlamentarischen Ebene auf die Partei selbst. Präsidentschaftskandidat der “Neuen Liberalen” war allerdings bereits der Hoffnungsträger Luis Carlos Galán. Im August 1989 wurde Galán jedoch in der Nähe Bogotás während einer Wahlveranstaltung ermordet. Der Sohn Galáns überreichte Gaviria während des Begräbnisses seines Vaters die Fahne der “Neuen Liberalen” und machte ihn so pathetisch zum neuen Bannerträger der Bewegung.
Als Besonderheit und Ausdruck der tradi­tionellen Personalunion der libe­ralen Partei­funktionäre mit der Regierung standen parallel zur Parlaments- und Kommunal­wahl am 11. März dieses Jahres auch die vier Bewerber um die Präsidentschaftskandida­tur der Liberalen zur öffent­lichen Disposi­tion: Alberto Santofimio als Vertreter der liberalen “Dinosaurier”; Ernesto Samper, Senator und eminent wichtige Figur inner­halb der Liberalen Partei, der bei einem Attentat, das dem Vertreter der Unión Patriótica, José Antequera das Leben kostete, schwer verletzt wurde; Hernando Duran Dussan, Chefideologe der Liberalen Partei und Vertreter der offiziellen Linie, seiner
dubiosen politischen Verbindungen wegen stark umstritten; sowie César Gaviria. Gaviria konnte sich mittels einer massiven Kampagne gegen seinen ernsthaftesten Konkurrenten Samper durchsetzen, der wegen des Mordanschlags im Nachteil war.
Allgemeine Konsternierung provozierte anschließend die Entscheidung Gavirias, den unterlegenen Konkurrenten Duran Dussan zu seinem Wahlkampfmanager zu ernennen, eine Aufgabe, die Duran mit Sicherheit einen wichtigen Posten in der künftigen Regierung garantiert. Duran werden intensive Kontakte zu paramilitärischen Kräften nachgesagt. Mit der Begründung, die FARC-Guerrilla hielte sich auch die Unión Patriótica als legalen Ableger, tritt Duran vehement für die Anerkennung des lega­len Arms der Paramilitärs, der “Morena”-Partei, ein; für die Zukunft gibt dies zu schlimmsten Befürchtungen Anlaß.
Aber vielleicht ging die Rechnung der Liberalen im Endeffekt auf: Gaviria als Garant für die gradlinige Fortführung der Politik von Präsident Barco und eine prekäre Annäherung an die kolumbianischen Militärs und Paramilitärs via Duran Dussan, während Galán durch seine ideologischen Differenzen mit den “Patrones” der Partei einen Störfaktor darstellte und sein Tod zwar beklagt, aber nicht bedauert wurde. Panik und Orientie­rungslosigkeit herrschen weiter unter den Kolumbianern, und Gaviria hat sie die Hoffnung auf eine demokratische Alternative bis 1994 begraben lassen. Er wird eine Politik der Annäherung an die Wünsche der USA betreiben und die Linie der alten Männer der Liberalen Partei umsetzen, eine Fortführung der Regierung Barcos unter anderem Namen.

Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

Die Toten von Pisagua beginnen zu sprechen

Diese Reaktion ist insofern überraschend, als seit Jahren bekannt ist, daß die Diktatur Hunderte von Gegnern spurlos verschwinden ließ. Daß sie tot waren, damit mußte man rechnen; ungewiß war nur, wie, wann und wo sie umge­bracht wurden. Jahrelang hatten Angehörige und Freunde der “verschwundenen Verhafteten” vergeblich mit kleinen Demonstrationen unter dem Motto “Donde están?” “Wo sind sie?” Rechenschaft vom Regime und Gehör in der chilenischen Gesellschaft gesucht.
Es scheint, daß die Toten von Pisagua den Verdrängungsprozeß, den sich große Teile der chilenischen Gesellschaft bisher leisteten, aufgehalten haben.
Daß der Mantel des Vergessens zerrissen werden konnte, mag an den Besonder­heiten des Fundorts in der Wüste liegen: der salzhaltige Wüstensand hatte die Leichen mumifiziert. Das bedeutet: nicht irgendwelche menschlichen Knochen wurden ausgegraben, Skelette freigelegt, sondern identifizierbare menschliche Körper. Das erleichterte die Identifizierung durch die Angehörigen. Aber die Medien berichteten auch weitere Details, und sie machen auch den Nicht-Betrof­fenen individuelles Leiden vorstellbar: Die Hände gefesselt, die Augen verbun­den oder der Kopf in einer Plastikhülle; eine Bibel in der Jackentasche oder eine Zigarette. Diese Details aber beweisen auch unleugbar, hier wurden keine “Kriegsgegner” verscharrt, hier liegen ermordete Gefangene.
Die Frage, die jetzt nicht nur von den Angehörigen gestellt wird: Wer trägt die Verantwortung für die Morde?
Pisagua, ein kleines Fischerdorf nördlich von Iquique diente in den ersten Mo­naten nach dem Putsch als Konzentrationslager für politische Gefangene; als KZ hat es insofern traurige Geschichte in Chile gemacht, als schon Ende der 40er Jahre, als die KP in Chile infolge des Kalten Krieges verboten wurde, KP-Mitglie­der dorthin verbannt wurden.
Die Männer, deren Leichen im Juni gefunden wurden, waren Gefangene in die­sem Lager. Überlebende berichten jetzt von den Abschiedsstunden. Einigen der Angehörigen wurde damals mitgeteilt, die Gefangenen seien “auf der Flucht” er­schossen oder vom Kriegsgericht verurteilt worden – in keinem Fall wurde den Verwandten mitgeteilt, wo die Gräber lagen.
Damit ist klar, daß nicht irgendwelche angeblich anonymen Gruppen verant­wortlich sind, sondern “die Verantwortung” ist innerhalb der militärischen Hier­archie, genauer des Heeres, zu suchen – und dessen Oberbefehlshaber heißt heute, wie 1973 Augusto Pinochet. Das verschafft dem Auffinden der Gräber auch politischen Sprengstoff.

Schwierigkeiten beim Aufdecken der Wahrheit

Das Aufdecken der Gräber zu diesem Zeitpunkt war kein Zufall. Ein ehemaliger Gefangener, der als Arzt den Tod der Gefangenen feststellen mußte, hatte bereits im vergangenen Jahr sein Wissen der Vicaria de la Solidaridad anvertraut. Mit gutem Grund wartete sie bis zum Ende der Diktatur damit, das Grab offenzule­gen, zumal das Gelände bis vor kurzen noch militärisch gesperrt war. Aber es ist bezeichnend für die Situation in Chile, daß weitere Zeugen, die sich inzwischen gemeldet haben, wie der ehemalige stellvertretende Gefängnisdirektor von Pisagua, auch jetzt noch besondere Sicherheitsvorkehrungen zu ihrem Schutz brauchen.
Der Oberste Gerichtshof hat, wie in Chile bei spektakulären Verbrechen üblich, eigens einen Richter mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt. Ganz im Ge­gensatz dazu haben die Anwälte der Vicaria in ihrer Anzeige den Fall bewußt verharmlost: “Illegale Bestattungen wollen sie untersucht wissen… Dahinter steckt offenbar die begründete Sorge, die Militärjustiz könne die weiteren Untersu­chungen an sich ziehen und wie gehabt im (Wüsten-)Sand verlaufen lassen. Das zumindest lehrt das Beispiel Lonquen aus dem Jahre 1978. Die Polizisten, die einen Monat nach dem Putsch 15 verhaftete Bauern erschossen und die Leichen in einen stillgelegten Kalkofen warfen, kamen dank der Amnestie unbehelligt davon. Die Reaktion in der Öffentlichkeit blieb damals gering. Ob es diesmal ge­lingen wird, die Morde trotz Amnestiegesetz und trotz der Militärgerichtsbar­keit juristisch aufzuklären, ist fraglich. Aber es besteht eine reale Chance, in den Medien detailliert die Angehörigen und Mithäftlinge berichten zu lassen. Und da immer mehr Menschen frühere Ängste verlieren, beginnen sich Zeugen zu mel­den, auch über andere Fälle “verschwundener” Häftlinge: Allein in der 1. Region, in der Pisagua liegt, “verschwanden” in den Wochen nach dem Putsch 50 Perso­nen. Somit ist davon auszugehen, daß weitere Gräber gefunden werden.
Die Beisetzung der Toten auf dem Friedhof von Iquique wurde zu einer Massen­demonstration, bei der die Bestrafung der Schuldigen verlangt wurde. Der christdemokratische Innenminister Krauss erschien zur Beerdigung und erklärte den Willen seiner Regierung, die Umstände restlos aufzuklären…
Davor eine gespenstische Begegnung: Als die Leichen nach Iquique überführt wurden begegneten sie am Stadtrand einer Kolonne gepanzerter Mercedeslimou­sinen – Pinochet, der sich seit dem Regierungswechsel in Iquique eingebunkert hat, fuhr in die Stadt ein.

“Das unentschuldbare Entschuldigen”

Während das Ständige Komitee der (katholischen) Bischofskonferenz anläßlich der Leichenfunde dazu aufruft, sich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen und nicht das unentschuldbare zu entschuldigen, versuchen Pinochet und seine Ge­neräle genau das.
14 Tage nach dem Auffinden der Massengräber sah sich das Heer angesichts der öffentlichen Diskussionen genötigt, eine Stellungnahme abzugeben. Die mehr­seitige Erklärung wurde vor der versammelten Generalität bekanntgegeben. Auf den konkreten Anlaß wurde lediglich mit der Formulierung “die Umstände, die heute die nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen” Bezug genommen.
Tenor der Erklärung: Die Streitkräfte hätten auf Verlangen der “überwältigenden Mehrheit der Chilenen” das Vaterland vor dem marxistischen Chaos gerettet. – Mit dieser Behauptung mögen sie im bürgerlichen Lager ja immer noch auf Zu­stimmung stoßen. Nur die zweite These der Generäle, es habe sich um einen “inneren Krieg” gehandelt, findet immer weniger AnhängerInnen. Selbst einst aktive PutschistInnen haben inzwischen mehrfach erklärt, um “Krieg” gegen einen bewaffneten Gegner habe es sich allenfalls in den ersten drei, vier Tagen nach dem Putsch gehandelt; dann hätten die Streitkräfte die Situation absolut unter Kontrolle gehabt. Genau das aber bringt die Militärs mit ihrer patriotischen Legende in arge Bredouille: Was ist heldenhaftes daran, “Kriegs”-Gefangene hin­zurichten? Welche rechtliche Grundlage gab es für die zahllosen “Kriegsgerichtsprozesse” mit Todesurteil? Abgesehen davon, daß diese Prozesse in der Überzahl der Fälle nicht einmal rechtliche Minimalbedingungen erfüllten bzw. im Fall der berüchtigten “Todeskaravane” des Generals Arrellano Stark: Ge­fangene, gegen die noch gar kein Prozeß eröffnet war oder die zu einer Haftstrafe verurteilt worden waren, wurden in die Wüste geführt und erschossen.
Es ist zu wünschen, daß die verantwortlichen Retter des Vaterlands sich in dieser Schlinge fangen: Nach internationalem Recht, das die Diktatur für Chile über­nommen hat, verjähren Kriegsverbrechen nicht…

Mi rebeldía es vivir – Leben ist meine Revolte

Dies ist der Titel einer Sammlung von 43 Gedichten, die Arinda Ojeda Aravena während ihrer Zeit als politische Gefangene im Gefängnis von Coronel/Chile geschrieben hat. Sie kehrte 1981 aus dem Exil zurück nach Chile und wurde wegen illegaler Einreise festgenommen und zu zwanzig Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt. Ende 1989 wurde sie freigelassen. Mehr als 3oo politische Häftlinge sitzen weiter.
Das Chilenisch-Französische Solidaritätskomitee in Grenoble, das sich jahrelang um ihre Freilassung bemühte, hat diese Gedichte 1988 unter dem Titel Vivre est ma révolte in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht (Editions La pensée sauvage).

Fünfzehn

Frau,
du bist eingeschlafen,
hast noch die Glattheit
des abgewaschenen Geschirrs gespürt
und den Geruch des Waschmittels.
Die Müdigkeit hat dich daran gehindert,
die Zärtlichkeit
des halb eingeschlafenen Mannes
an deiner Seite zu erwidern.
Die Müdigkeit, oder der Überdruß?
Das Weinen des Kleinsten
um Mitternacht
bringt zu bald
den Morgen
und wieder beginnt die Routine
von neuem.
Deine Mädchenträume
und die beinahe möglichen Träume
der Jugendlichen
sind schon verflogen
bei dieser Wirklichkeit:
Mutter-Frau
Ehefrau-Frau
Köchin-Frau
Wäscherin-Frau
aber
wann wirst du Frau sein?
Vor allem
Frau.

Quince

Mujer,
te has dormido sintiendo
aún la suavidad
de los platos lavados,
y el olor del detergente.
El cansancio te ha impedido
responder la caricia
del hombre semidormido
a tu lado.
El cansancio, ?o el hastío?
El llanto del pequeño
a medianoche
traerá demasiado pronto
la mañana,
y recomenzará otra vez
la rutina.
Tus sueños de niña,
y los casi posibles sueños
de adolescente
ya se habrán esfumado
con esta realidad:
Madre-mujer
Esposa-mujer
Cocinera-mujer
Lavandera-mujer…
pero,
?cuándo vas a ser mujer?
antes que todo:
mujer.

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