“Concertación” und Gewalt

“Concertación” mal mit, mal ohne sandinistische Gewerkschaften

Nachdem die “Konzertierte Aktion” auf Einladung der Regierung am 20. September ohne die Anwesenheit der sandinistischen Gewerkschaften und Organisationen begonnen worden war (siehe LN 196), hatten sich zunächst die rechte Regierung mit den rechten Unternehmern, den rechten Gewerkschaften unter Aufsicht der rechten katholischen Amtskirche allein konzertiert; dementsprechend langweilig war diese Veranstaltung, deren Choreographie von Propagandaminister Danilo Lacayo geleitet und im staatlichen Fernsehen direkt übertragen wurde. Interessant wurde es für die langsam wegdämmernden Jour­nalistInnen erst, als sich mit einigen kräftigen Böllerschüssen die Anwesenheit der ArbeiterInnen der FNT (Nationalen ArbeiterInnenfront) vor den Türen des Kongreßzentrums ankündigte. die FNT lehnte den von der Regierung verkün­deten Wirtschaftsplan komplett ab und rief stattdessen zu einer Woche des “Nationalen Protests gegen Hunger und Arbeitslosigkeit” auf, die am 1. Oktober beginnen sollte.
Aus Angst vor einer neuen Ausweitung der Proteste – es schien sich ein neuer Generalstreik anzukündigen – trat die Regierung bereits vor Beginn der Aktion in Gespräche ein: Daniel Ortega traf sich mehrmals mit Antonio Lacayo, dem “Präsidialamtsminister” der Regierung Chamorro und eigentlichen Regenten des Landes. Als Ergebnis dieser Unterredungen wurden einige Zugeständnisse und Erleichterungen bekanntgegeben, so zum Beispiel ein vorläufiger Entlassungs­stop im staatlichen Bereich (bis darüber Einigkeit bei der “Concertación” erzielt sei), Erleichterungen in der Bezahlung der überhöhten Wasser- und Stromrech­nungen und ein Sofortprogramm für die von der Trockenheit in Teilen des Lan­des verheerend betroffenen Nordregionen. Die Protestwoche verlief daraufhin glimpflich, und die FNT erklärte schließlich, daß sie unter diesen Bedingungen an der “Concertación” teilnehmen werde.
Die Verhandlungen liefen auch an, Arbeitskommissionen wurden gebildet, um die verschiedenen Bereiche der “wirtschaftlichen und sozialen Konzertierten Aktion” abzudecken. Als die Regierung jedoch offen gegen die vorher gemachten Erklärungen verstieß und auch weiterhin Entlassungen stattfanden, verließ die FNT erneut den Verhandlungstisch und kündigte weiteren Druck von außen an. Bei Redaktionsschluß wurde in den Reihen der FNT ein Wiedereintritt diskutiert.

Terrorakte häufen sich

Dieser Poker um die “Concertación” findet statt vor dem Hintergrund zuneh­mender Gewaltakte. Nachdem im Zuge des Juli-Streiks das rechte Hetzradio “Radio Corporación” durch einen Anschlag zerstört worden war, traf es Anfang Oktober, pünktlich zum angekündigten Beginn der “Nationalen Protestwoche gegen Hunger und Arbeitslosigkeit”, das pro-sandinistische Radio “La Primerí­sima”, dessen Einrichtungen durch einen Sprengstoffanschlag fast vollständig zerstört wurden. Am 14. Oktober explodierte ein Sprengsatz in der Garage des Privathauses von Jaime Cuadra, dem Beauftragten des Innenministeriums in der Region Matagalpa. Während dieser Anschlag wie auch die vorangegangenen gegen die Radiosta­tionen von allen Medien und politischen Kräften einschließlich der FSLN verur­teilt wurde, beschuldigte Cuadra die SandinistInnen als Urheber des Attentats: “Der einzige Feind, den ich habe, ist die FSLN.”
Nur zwei Tage später, am 16. Oktober, zerstörte eine Granate fünf Busse auf einem Busbahnhof der staatlichen Transportgesellschaft ENABUS. Um ENABUS wird nun schon seit Mitte September ein heftiger Konflikt geführt, seit Wochen verkehren die Busse so gut wie gar nicht mehr. Die der FNT angeschlossenen ArbeiterInnen streiken für die Entstaatlichung des Betriebs und seine Umwand­lung in eine Kooperative. Die ArbeiterInnen des betroffenen Busbahnhofs hatten sich nicht an diesem Streik beteiligt. ArbeiterInnen der FNT und der Rechts­gewerkschaft CUS beschuldigen sich gegenseitig der Urheberschaft für den Anschlag. Kardinal Obando y Bravo forderte in seiner Predigt vom 14. Oktober auf, “gegen den Terrorismus zu beten”. Wenn das nutzt…
Vor allem in den ländlichen Gebieten gehen derweil auch die Angriffe der “außer Dienst gesetzten” Contras weiter. Nachdem es bereits zuvor bei einem Überfall auf die Kooperative La Dalia in San Juan del Río Coco im Norden Nicaraguas zu einem dreistündigen Gefecht und Toten gekommen war, stürmten am 1. Oktober rund 200 mit Gewehren, Granaten und Messern bewaffnete (Ex-?)Contras die kleine Ortschaft Waslala in der Region Matagalpa. Nach mehreren Tagen mit Geiselnahmen, Entführungen und Verhandlungsversuchen brachten am 5. Oktober das Sandinistische Volksheer und die Polizei die Situation wieder unter Kontrolle.

Kasten 1:

Carlos Nuñez gestorben
Comandante Carlos Nuñez, eines der Mitglieder der neunköpfigen Nationalleitung der FSLN, ist nach langer Krankheit am 2. Oktober in einem Krankenhaus in Havanna gestorben. Nuñez, der sich vor 20 Jahren als Student dem Untergrundkampf der FSLN-Guerilla anschloß, war seit den Parlamentswahlen 1984 bis zum Mai dieses Jahres Präsident der nica­raguanischen Nationalversammlung und in dieser Funktion führend an der Ausarbeitung der ersten freiheitlichen Verfassung Nicaraguas beteiligt.
Am 3. Oktober wurde der tote Carlos Nuñez nach Managua überführt, wo ihn eine große Menschenmenge am Flughafen erwartete. Ein vierstündiger Trauermarsch, in dem rund 50.000 Menschen “ihren Carlos” zum 15 km entfernten Revolutionsplatz trugen, wurde zu einer “kämpferischen Ehrung für unseren toten Bruder Carlos”, wie Daniel Ortega in seiner Ansprache sagte. Und gewandt an die nicaraguanische Rechte, die zum Tode von Nuñez die Chamorro-Zeitung Prensa triumphierend titeln ließ: Einer der neun ist tot “Sie merken nicht, daß wir nicht nur neun sondern Hunderttausende sind!”Berichtigung: Tinoco, nicht Tirado
In unserem Bericht über die Wahlen für die regionale Leitung der FSLN im Departamento Managua in den letzten LN ist ein vom unseligen Redigenten ver­bockter Fehler zu berichtigen: Nicht das Mitglied der Nationalleitung Victor Tirado ist dort zum Vize gewählt worden, sondern Victor Hugo Tinoco, der in der sandinistischen Regierung Vize-Außenminister war. So sorry, wir bitten um Entschuldigung.

Kasten 2:

Laßt Otmar und Harald wieder arbeiten!
InternationalistInnen verhaftet und von Ausweisung bedroht
Bei einem Empfang der deutschen Botschaft in Managua zum “Tag der Deutschen Einheit” am 3. Oktober protestierte vor den Toren des Veranstaltungs­saales eine Gruppe von Deutschen mit Plakaten und Flugblättern gegen die deutsche Einheit. Das Flugblatt wies – in recht dozierender Manier – auf die Folgen der deutschen Einheit für Nicaragua und andere Länder der “Dritten Welt” hin. Am Rande und von den OrganisatorInnen des Protestes nicht geplant, erkletterte eine Deutsche die Bühne und entriß dem Botschafter das Mikrophon. Daraufhin wurde sie von den Sicherheitskräften der Botschaft festgehalten, später aber wieder laufengelassen. Offenbar auf direkte Anordnung des nicara­guanischen Innenministers Carlos Hurtado wurden im Anschluß an die Veran­staltung drei Deutsche, eine Nicaraguanerin und eine Holländerin festgenommen unter dem Vorwurf, die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Diejenige Deutsche, die auf die Bühne gesprungen war, und die Holländerin, die sich offenbar als Journalistin auf der Veranstaltung betätigte – sie war in Nicaragua akkreditiert – wurden bereits zwei Tage später wieder ausgewiesen, ohne eine Möglichkeit der juristischen Verteidigung. Während die Nicaraguanerin nach einem Tag wieder freigelassen wurde, kamen die beiden Deutschen – Otmar Jung, der als Ingenieur seit 1985 in der Kartonfabrik “La Cartonera” in Granada arbeitet und Harald Schöngart, Zimmermanns(und -fraus?)ausbilder in der Holzwerkstatt “Tonio Pflaum” in Monimbó / Masaya – erst fünf Tage später wie­der frei, mit der Auflage, binnen zehn Tagen das Land zu verlassen.
In Nicaragua arbeitende Nicht-Regierungs-Organisationen und Solidaritäts­gruppen sowie die ArbeiterInnen der Werkstätten der beiden protestierten gegen die drohende Ausweisung, auch der offizielle Deutsche Entwicklungsdienst DED setzte sich für sie ein. Nach einem Gespräch mit dem Innenministerium und der letztendlichen Intervention des deutschen Botschafters Boomgarden scheint der­zeit die Chance zu bestehen, daß die Ausweisungsdrohung aufgehoben und der Status der beiden als “Residentes” wiederhergestellt wird.
Unverständlich bleibt, warum diese Aktion überhaupt gestartet werden mußte, ist doch der Kampf um die deutsche Einheit / gegen die Annektion in Deutsch­land selbst, nicht in Managua auszufechten. Wenn Deutsche in Managua Auto­reifen verbrennen, wie bei dieser Aktion geschehen, so ist das eine Art der Anpassung an die Gepflogenheiten des Landes, bei der sich dem Beobachter die Haare sträuben, und: Was früher nur dumm und peinlich war, ist heute sogar gefährlich – deswegen aber nicht weniger dumm und peinlich.

Octavio Paz: Großer Poet -großer – Verwandlungskünstler

Zum Literaturnobelpreis von Octavio Paz

Wird von Octavio Paz gesprochen ist es sehr schwierig, sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Eine Persönlichkeit der universellen Kultur und der mexikanischen Politik -und nicht nur deren -,hat er von sich ein so vorteilhaftes Bild geschaffen, das gleichzeitig entgegengesetzt zu seinem wirklichen Ich ist. Octavio Paz kann stolz darauf sein, der am meisten ausgezeichnete Autor der spanischen Sprache zu sein. Zu seinem Unglück kann er aber nicht die höchste Anerkennung bekommen, die es für einen Schriftsteller gibt: die der Leserinnen, die neben seinem Talent die intellektuelle Aufrichtigkeit am meisten schätzen. Paz verkauft sich in der literarischen Welt als marginalisierter Schriftsteller, Rebell, Verteidiger der Freiheit und als unabhängiger Kritiker der Macht und der totalitären Systeme. Eine Gegenüberstellung mit seinem öffentlichen Auftreten, das ihn mit den Mächtigen in Mexiko und der Welt verbindet würde er schwer bestehen. Sag’mir, von wem Du deine Preise bekommst und ich sage Dir, zu welcher Sorte Intellektuellen du gehörst.
Können wir wirklich an die intellektuelle Unabhängigkeit Octavio Paz’ glauben, wenn die mexikanische Regierung ihm alle nur möglichen mexikanischen Preise verliehen hat und sogar noch extra für ihn einen erfunden hat? Wo bleibt da die angebliche Marginalisierung des Poeten, wenn allgemein bekannt ist, daß er mindestens seit den 40-er Jahren dem mexikanischen Staat gedient hat, dessen Kritiker er zu sein behauptet? Paz stand im diplomatischen Dienst und arbeitete in verschiedenen akademischen Institutionen und kulturellen Projekten, die von der Regierung finanziert wurden. So arbeitete er auch an der jüngsten Ausstellung über mexikanische Kunst in New York mit, die das Ansehen der Regierung Salinas de Gortari stärken soll.
Wer kann Octavio Paz bescheinigen, er sei ein kämpferischer und kritischer Intellektueller, wenn er gleichzeitig als Botschafter Mexikos in Indien bis zur allerletzten Minute gewartet hat, um sein Amt seinem Chef Díaz Ordaz zur Verfügung zu stellen, als dieser im Oktober 1968 auf tausende Studierende und BürgerInnen schießen ließ ? In Wirklichkeit war der Rückzug des Botschafters Octavio Paz eine günstige Gelegenheit, um sein internationales Ansehen zu retten. Dieser Rücktritt sollte von da an die Grundlage für die Legende seiner Aufrichtigkeit und Tapferkeit bilden. Dieser Tage erinnern uns die Biographen von O.Paz (siehe auch FAZ, Süddeutsche Zeitung und der Spiegel) mit auffälliger Eindringlichkeit daran, daß Paz aus einer revolutionären und sozial kämpferischen Familie stammt: Sohn eines Kampfgefährten des Bauernhelden Zapatas und Enkel eines Parteigängers Benito Suárez’, der gegen die französische Intervention in den sechziger Jahren des 19.Jahrhunderts gekämpft hat. Ausserdem bereichert eine Tatsache seine besondere Abstammung, die aus der Familie Paz ein Beispiel der geglückten Synthese des Mexikanischen machen: Die Mischung des spanischen.und des indianischen Blutes. Durch diesen Verweis auf seine Abstammung wird der Versuch unternommen, aus Octavio Paz genau die passende Persönlichkeit zumachen und ihn im Namen ganz Mexicos sprechen zu lassen (El laberinto de la soledad). Auch wenn in Wirklichkeit seine Verbindung zu den Armen und der indigenen Bevölkerung Mexikos sich in nichts von der der Mächtigen unterscheidet. Hier kann sehr gut das mexikanische Sprichwort gebraucht werden: Sag’ mir, womit du prahlst und ich sage dir, was dir fehlt.

Paz, ein Mann des Volkes?

Und außerhalb Mexikos? Wissen Sie, wer den Poeten prämiert hat?. Einige nordamerikanische Universitäten, an denen die neuen Eliten Mexikos ausgebildet werden. Die “neuen Mexikaner” von Harvard, Oxford, Yale und Stanford. Sie “modernisieren” Mexiko, in dem sie es verschulden und zu einem Netto-Kapital-exporteur machen. Auch unterstützen sie die “Modernität” und unterzeichen einen Freihandelsvertrag mit den USA, um Mexiko in ein riesiges touristisches Territorium mit genügend billigen und kontrollierbaren Arbeitskräften zu verwandeln.
Eigentümlicherweise haben die Reise von Paz immer offiziellen oder halboffiziellen Charakter und kamen von Regierungen oder Institutionen, konservativen oder offen rechten Gruppen. Dies spricht für sich …. Mit der Rede, die er beim Erhalt des deutschen Buchhandelspreises gehalten hat, stellte sich Paz als Vorkämpfer der Demokratien auf dieser Welt dar und fiel über das “totalitäre” sandinistische Regime her, von dem er sofortige “freie Wahlen” verlangte. Und von da aus ging es weiter gegen Kuba. Um 1987 herum befand sich Paz an der Spitze einer internationalen Gruppe von Intellektuellen, die von dem “Diktator” Fidel Castro ein Plebiszit verlangte, gleich demjenigen von Pinochet in Chile, indem das kubanische Volk seinen “freien” Willen gegenüber dem kommunistischen Regime hätte äußern sollen. Zufall oder nicht, Paz wurde zu einer wichtigen Stimme der nordamerikanischen Politik in Lateinamerika, deren Ziel es ist, mit den von den USA nicht geschätzten Systemen aufzuräumen
Den Eifer, den Octavio Paz an den Tag legt, wenn er saubere, authentische und demokratische Wahlen in Nicaragua, Kuba und in den Ländern des sozialistischen Ostens verlangt, verschwindet sofort, und er wird zum wahren Verwandlungskünstler, wenn es um die gleiche Sache in seinem eigenen Land geht. Logisch: es ist einfacher, den Splitter in seines Mitmenschens Auge zu sehen, als den Balken vor seinem eigenen Auge.
Wie rechtfertigt man jemanden, der das politische System Mexikos einmal als Diktatur bezeichnete, das politische Monopol der P.RI.,den Mangel an Demokratie kritisierte und gleichzeitig, wie durch einen Taschenspielertrick sich über die politischen Rechte des mexikanischen Volkes lustig macht (Posdata). Jetzt ist er Fürsprecher des Modernisierungsprojekts der P.R.I.. Er verteidigt die Legitimität des Regimes von Salinas de Gortari, das durch Wahlbetrug an die Macht gekommen ist,und seine zentrale Stütze während des sich daraus ergebenden Wahlkonflikts in dem Einsatz der Armee und in der Effizienz der polizeilichen Unterdrückung von Dissidenten findet. Das Talent und die Feder Octavio Paz dienen nun dazu, daß das salinistische Regime die Glaubwürdigkeit erhält, die es so nötig braucht.
Können wir uns wirklich einen so “naiven” Paz vorstellen …?O.Paz von einem System verführt dessen Mechanismen der Kooptation (Integration von Oppositionellen) und Korruption -die auch Teil der Preise für Intellektuelle ausmachen -wie er selber ganz klar beschrieben hat (El Ogro Filantripico). Wie funktioniert das mentale Labyrinth dieses Menschen mit den vielen Masken, Gewinner des Nobelpreises durch Täuschung?
Endlich waren die Bemühungen von Octavio Paz nicht umsonst: er genießt Privelegien und Konzessionen. Er verfügt über die Zeitschrift “Vuelta”, die von der Regierung finanziert wird; das Fernsehmonopol (‘Televisa”) stellt ihm eine gute Anzahl an Stunden zur Verfügung und organisiert für ihn Ehrungen. O.Paz hat sich in das unbestrittene Haupt der mexikanischen Kulturbürokratie verwandelt. Viele Privilegien, die er selbst in seiner Kritik an der mexikanischen Bürokratie beschrieben und kritisiert hat,gibt er selbst nicht auf.(El Ogro Filantripico)
Noch eine Täuschung und ich beende diesen Kommentar: Paz hat die Modernität und die Modernisierungsprojekte der mexikanischen Eliten kritisiert. Er hat geschrieben, daß diese Projekte Mexiko die Unabhängigkeit gekostet haben und den Verlust der nationalen Identität (E1 Ogro Filantípico, Corriente Alterna); aber heute tritt er mit einer anderen Maske auf die politische Bühne. Vielleicht seine wirkliche und authentische Maske -die des Legitimators und Ideologen der Modernisierung durch Salinas. Der Poet hat mit seiner Musik den Ohren der Mächtigen Mexikos und der Welt geschmeichelt. Seine Dienste wurden belohnt. Der einzige Preis, der ihm fehlte, der am meisten gewünschte von allen, schmückt jetzt sein gekröntes Haupt. Mit seinen 76 Jahren kann sich Octavio nun in Paz (Frieden) zurücklehnen.

Unsägliches über Brasilien

“Ein Land mit so erotischen Frauen wie Brasilien..”

Klaus Hart und Luiz Ramalho haben in dem gestandenen linken VSA-Verlag ein politisches Reisebuch “Brasilien” herausgegeben, das mit den Sätzen beginnt: “Ein Land mit so lebendigen, sinnlichen, erlebnishungrigen, begeisterungsfähi­gen Menschen, so erotischen Frauen wie Brasilien – gibt es gleiches, ähnliches noch einmal auf der Welt? Es sind nicht wenige, die das verneinen.”
Natürlich gibt es “den Brasilianer” nicht, wie K. Hart großzügig eingesteht, was für ihn aber eher der Startschuß ist, um über den Carioca (Einwohner von Rio) oder den Baiano zu schwafeln: “Frauen aus Rio schilderten mir Baianos als anschmiegsamer, anhänglicher, anziehender; von ihnen werde man auf eine irgendwie bestechende Weise zum Essen, Trinken und Tanzen eingeladen und hinterher göttlich verführt. Gleiches könnte ich – mit Verlaub – aus eigener Erfah­rung den Baianerinnen vorwerfen.”
Zahllose derartiger Passagen finden sich in den Beiträgen von Klaus Hart, schlimm ist auch das Kapitel über Kriminalität, das lediglich Tips für Touristen aufhäuft, wie man sich vor arglistigen Prostituierten oder betrügerischen Taxi­fahrern schützen kann. Das Buch hat inzwischen zu einer kleinen Polemik geführt (Vgl. Brasilien Nachrichten Nr. 103 und Blätter des IZ3W Nr. 166) und der zweite Herausgeber Luiz Ramalho (Brasilianer und ehemaliger Leiter des ASA-Programms) hat sich inzwischen von der Einleitung distanziert. Bei dem VSA-Buch handelt es sich um einen Sammelband, und so ist es auch dem Verfas­ser dieser Rezension als Autor eines Beitrags über Fußball zugestoßen, in solch unsägliche Auslassungen eingereiht zu werden. Meine Mitautorenschaft verbie­tet es mir nun, den Band insgesamt zu würdigen, aber der Gerechtigkeit wegen sollte doch angemerkt werden, daß viele der Beiträge nichts mit dem von Klaus Hart verzapften Unsinn gemein haben.
Das VSA-Reisebuch war schon in der Peripherie 37 (Dez. 89) verrissen worden, allerdings nicht wegen der manifesten Sexismen, sondern weil es sich um zusammenhanglose Beiträge linker Akademiker handele. “Dies Buch ist eine Qual”, allenfalls geeignet für eine treudoofe VHS-Reisegruppe, lautet das ver­nichtende Urteil des Rezensenten. Nun, der Rezensent Theodor T. Heinze hat selbst an einem Buch über Brasilien mitgeschrieben, dem Band “Brasil, Brasil”, 1988 herausgegeben vom Kulturreferat der Stadt Nürnberg. Nach einem Vorwort von Hermann Glaser (… “das Land einem Brennspiegel gleicht, in dem eine unge­heure und ungeheuerliche Zahl von Problemen focussiert ist.”) geht’s los mit Kurzportraits, zum Beispiel: “Wie unzählige belezas neben ihr angelt sich Sarah Touristen an der Copacabana in Rio. Wenn sie mit der Bezahlung nicht zufrieden ist oder sie nachträglich erhöhen möchte, inszeniert Sarah Szenen mit wechseln­den Varianten. Da tauchen zum Beispiel plötzlich angeblich eifersüchtige Freier auf, die den Zahlungsunwilligen auf die Sprünge helfen. Will der Tourist die Polizei einschalten, läuft er auch da ins Leere…”

“Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern…”

Eine andere Lesefrucht: “Das Aussehen bestimmt in Brasilien das Ansehen. Anders als die deutsche Tiefe: in Brasilien gilt eine Kultur der Oberfläche, der Blicke, der Auftritte, der gelungenen Posen und Szenen.”(S.82) Auch in diesem Buch steht derartiges Geschwafel neben ausgezeichneten Beschreibungen und Reportagen. Es scheint gerade im Falle Brasiliens nicht so leicht zu sein, den Kli­schees zu entrinnen. “Daß die Leidenschaft im Süden zu suchen sei, denken die Deutschen schon seit Jahrhunderten. Von Europa erscheint Brasilien als Land, wo die Liebe besonders viel bedeutet… Brasilien, ohnehin Projektionsraum für Exotiksehnsüchte, wird zum Inbegriff von Wärme, wenn es um die Sinnlichkeit seiner Bewohner geht. Zumindest sehen Europäer das so”, stellt Theo Heinze wohl ganz richtig fest. All die zitierten Passagen sagen weniger über Brasilien und die BrasilianerInnen aus als über europäische Phantasien. Das ist verständ­lich und fatal zugleich. Verständlich ist dieses Denken, wo es Leiden an der eige­nen Kultur thematisiert, fatal, wenn es die anderen zum Spiegel der eigenen Sehnsüchte degradiert, sie damit ihrer Subjektivität beraubt und so die tödliche Dialektik der kolonialen Eroberung perpetuiert.
Selbst in den sonst eher betulich-seriösen Brasilien-Nachrichten versteigt sich Gerbor Meister zu folgenden Ausführungen: “Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern demonstrieren bei Auftritten der Samba-Schulen Striptease-shows und provozieren mit ihren aufreizenden Hintern, die mit ver­schiedenartigen erotisierenden Attributen geziert sind, Tausende von Brasilia­nern. Nach Untersuchungen des Anthropologen Roberto da Mata soll dadurch der Analverkehr bei den sexuellen Praktiken in Brasilien einen immer größeren Anteil gewinnen.”(Brasilien Nachrichten 98, 1988)
Zum Schluß dieses kleinen Streifzuges will ich den geneigten LeserInnen den Gipfel des Unsinns nicht vorenthalten. Thomas Veszelitis heißt der Autor des “Abenteuer Report Brasilien”. Schon der Untertitel “Samba-Urwald-Karneval” läßt Schlimmes ahnen. Der Autor bekennt gleich im Vorwort, daß er sich in einem ständigen Rausch der Sinne befand: “Brasilien ist wie ein Schwamm, es saugt einen auf.” Eines Tages treibt es den Autor, der sich ansonsten eher mit Caipirinha volldröhnt, zu einem Abenteuer eigener Art:
“Doch wer sind die Leute in den Favelas? Ich will es genauer erfahren, auch wenn alle Touristenführer vor Expeditionen in diese Viertel warnen. Als ich dann einmal mit dem Auto zum Strand Sâo Conrado fahre, wage ich es… Ich gebe Gas. Erster Gang, zweiter Gang, der Motor heult auf. Die Steigung ist sehr steil, es geht direkt in den Himmel hinein….

“Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen…”

Der Weg wird immer enger, und ich sehe , wie sich mir viele Gesichter zuwen­den. Grimmige Gesichter von jungen Leuten, fast nur Farbige. Je enger die Gas­sen werden, desto dunkler die Hautfarbe. Plötzlich hört der Weg auf. Ende. Weiter muß man zu Fuß klettern, zu diesen Baracken mit Löchern statt Fenstern. Die Leute sitzen am Boden, lehnen lässig an den Wänden. Sie werfen mir böse Blicke zu. Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen, dann artet sie in direkten Angriff aus. Ich habe es nämlich gewagt, die Leute hier zu stören, habe die Grenzen überschritten – wie ein Kaninchen, das sich in den Leopar­denkäfig verirrt. Die Raubtiere wittern Beute.
Ich versuche umzudrehen. Es ist sehr eng. Da fliegt schon der erste Stein und prallt von der Karosserie ab. Noch spielerisch geworfen von einem pixoten, einem Krauskopf, wie die farbigen Knaben neckisch bezeichnet werden. Sie sind die “Gesetzlosen”, weil sie noch minderjährig sind und nicht bestraft werden können. Sie sind in Rio am gefährlichsten: die Kinder aus den Favelas. Sie rotten sich um mich. Die Spannung wächst…”
Bedauerlicherweise für die LeserInnen und glücklicherweise für den Autor gibt es ein Happy-End; unser Held schafft es schließlich zu wenden und aus der Favela zu fliehen: “Es läuft mir eiskalt über den Rücken. Da habe ich wirklich noch einmal Schwein gehabt.”

Klaus Hart / Luiz Ramalho (Hrsg): Brasilien; VSA-Verlag, Hamburg 1990
Thomas Veszelitis: Abenteuer Report Brasilien; Schneider Verlag, München 1986
Theodor Heinze / Ursula Pfeifer: Brasil Brasil, Nürnberg 1988

“Guatemala-Reisehandbuch – Alternativtouristische Realsatire”

Tourismus nach Guatemala? Nachdem das Tourismusgeschäft in und mit Guatemala An­fang der 80er Jahre wegen international verbreiteter Nachrichten über einen eskalierenden Antigue­rillakrieg und Massaker an der Zivilbevölke­rung eine Flaute erlebte, können seit 1986 unter der zivilen Regierung Cerezo trotz anhaltender Re­pression und militäri­scher Auf­standsbekämpfung wieder anstei­gende Touristen­zahlen verzeichnet werden. Alte Kult­stätten der Mayas und das Er­scheinungsbild der indianischen Bevölkerungs­mehrheit, kombi­niert mit Naturschön­heit, locken trotz Tourismus­boykottkampagnen von Solidaritäts­gruppen auch und gerade den “Alternativtourismus” an. In diesem Trend wirbt auch das neu im Ver­lag edition aragon erschienene erste “kritische” deutschspra­chige “Dritte-Welt Reise­handbuch Guatemala” für Reisen in “das kulturell, histo­risch und eth­nologisch wohl inter­essanteste Land Mittel­amerikas”. Die Autorin, die österrei­chische Journalistin Han­nelore Rudisch-Gissenwehrer, will mit ihrem Buch die of­fensive These vertre­ten, daß “Reisen in Entwicklungsländer eine posi­tive Seite haben, wenn man nicht in einer Art Kolonisatoren-Mentalität aus­schließlich die touristischen Qualitä­ten des Landes genießt, sondern bereit ist, die Augen auch gegenüber Schwierig­keiten und Problemen zu öffnen.”
Der Inhalt, in Form eines chronologisch Tag für Tag erzählten Rei­setagebuches über den ersten und einzigen, nur 3-wöchigen (!) Auf­enthalt der kaum spanisch sprechenden Autorin in Gua­temala, ange­reichert mit Reisetips und hineingestreu­ten “Hintergrundinformationen”, lie­fert aber eher einen unbeab­sichtigt geradezu re­alsatirischen Anschauungsunterricht, wie weit dieser Anspruch mit der Wirklich­keit der/s Reisenden auseinanderklaffen kann. Touri­stische Selbstbezo­genheit ei­nerseits, sich selbst be­weihräuchernde “Betroffenheit” anderer­seits, mischen sich da mit der Idealisierung der “edlen Wilden” sowie Greuelstories über Mili­tärherrschaft zu einem extremen Negativbeispiel von “engagiertem Reisejournalismus” und “Alternativtourismus”.
Im ersten Teil des Reisehandbuches beschreibt die mehrfach prä­mierte und schon in un­zähligen Ländern herumgereiste Journali­stin ihre kurzfristige Einla­dung und Teilnahme an einer organi­sierten Journalisten­reise, die im insgesamt einwö­chentlichen Ab­klappern der üblichen Tourismus­orte wie Antigua, Tikal, Panaja­chel und Chi­chicastenango besteht. Ihre Umgebung sind Luxus­hotels mit Marimba­combos am Swimmung­pool, einzige Gesprächs­partner au­ßer einem Reiseleiter der staatlichen guatemaltekischen Tou­rismusbehörde der österreichi­sche Konsul, österreichische Lehrer und Präsident Cerezo höchstper­sönlich bei einer Stippvisite in seiner Finca. Daneben bemüht sich die Autorin, eth­nologische und historische Standardlektüre zu Guatemala einzuflech­ten, was allerdings auf­gesetzt und zufällig bleibt. So widmet sie entspre­chend der ver­wendeten Litera­tur der Zu­sammenfassung des “Bananenkriegs” von Schlesin­ger/Kinzer über die US-Interven­tion und den Militärputsch 1954 immerhin ganze 12 Seiten, verliert aber kaum ein Wort über Hinter­gründe und Geschichte der heu­tigen Guerilla­organisationen oder über aktuelle Gewerk­schafts- und Massenbewe­gungen. Politische Einschätzun­gen plädieren zwar emotional und überbetont für die Seite der “Unterdrückten”, sind aber pauschal oder personali­sierend: Die In­formationen über den Massenter­ror unter Militär­regierungschef Rios Montt 1982/83 werden eingebettet in Beschrei­bungen seines fundamentalisti­schen, reli­giösen Fa­natismus; der christdemokratische Präsident Cerezo erscheint mal als engagierter Sozialrefor­mer, dem leider die Hände gebunden sind, mal als Bünd­nispartner im Block der Mächtigen gegen die Entrechteten.
Insgesamt ergibt sich so ein folkloristisches Schwarzweißbild einer “Bananenrepublik” als Hinterhof der USA mit Korruption, “grundlosen” Massa­kern, militärischer Gewaltherr­schaft, unge­rechter Landverteilung, extremer Aus­beutung usw., das aber dar­überhinaus keine innere Widersprüchlichkeiten, poli­tische, kul­turelle und sozioökonomische Differenzie­rungen oder Bezüge zu europäischen Industrie­ländern wahrnimmt, die als “westlich”, “demokratisch”, “ruhig” und “zivilisiert” immer wieder das Gegen­bild liefern. Diese Kulisse ist aber nur der Hintergrund der Reise­beschreibung, die sich ansonsten wechsel­badartig den Ho­tels, schönen Blumen und Land­schaften, Unbehagen beim Anblick von Militärs und aus­führlich indiani­schen Trachten und verschiedenen Mayakultstätten zuwendet.
Im zweiten Teil, in dem historische und politische Informationen gänzlich rar werden, driftet die Autorin bei der minutiösen Be­schreibung ihrer Tagesabläufe während einer zweiwöchigen Al­leinreise – ebenfalls fast nur durch Tourismus­gebiete und Provinz­hauptstädte – völlig in Selbstbezogenheit ab. Keine dramati­sierende Wie­derholung von Langeweile, Darmproblemen, Ekel vor der gua­temaltekischen Küche (die sie nie zu testen wagt) oder Pensionen (“Viehställe”) wird der LeserIn er­spart. In ihrer Naivität immerhin unglaublich und peinlich offen lesen sich diese Litaneien wie eine entlarvende Charakterstu­die der/s europäischen “AlternativtouristIn”: Stolz überwundene Abenteuer mit Sprach-, Ess-, Transport oder Krankheitsproblemen vermischen sich da mit der aus gehörten Schüssen und Autos mit schwarzgetönten Schei­ben immer wieder selbst inszenierten Kulisse ei­nes Bürgerkrieges, von dem die Autorin sich unmittelbar betroffen und bedroht fühlt. Dazu kommt neben dauernder Angst, bestohlen oder übers Ohr gehauen zu werden ein unglaublicher Geiz bei der Über­prüfung von Prei­sen und Wechselkursen und Stolz auf die Bescheidenheit der eigenen Geld­ausgaben. Bei soviel hauptsäch­lich in der Phanta­sie genährten Bedrohungsgefühlen ist es kein Wunder, daß sich unsere Jour­nalistin ebenso typisch zwar als erste und ein­zige Er­kundschafterin fühlen möchte, gleichzeitig aber einsam und ver­zweifelt Kontakt und Verbündet­heit mit anderen Auslände­rInnen sucht.
Mit der guatemaltekischen Bevölkerung wechselt sie nämlich in ihren 3 Wo­chen nur we­nige, aber immer stolz zitierte Worte. Den­noch fühlt sich Hannelore Rudisch-Gissenwehrer bald als Kenne­rin des “auffallend friedlichen und sanften Wesens der Indios” und grenzt sich perma­nent gegenüber anderen TouristInnen durch ihre doch so viel taktvollere Umgehens­weise mit denselben ab, nimmt sich dabei einerseits ungeheuer wichtig in ihrer Angst zu stören und will gleichzeitig schon dazugehören, schwärmt von Glücksge­fühlen in “Zivilisationsferne” und läßt kein Klischee über die als völlig homogen angesehene indianische Bevölke­rung aus: “Stolz”, “friedliebend”, “würdevoll”, “lächelnd”, “schüchtern”, “still”, “traditionell”, “naturnah”, “tierlieb”, “kindlich”, “samthäutig”, “knopfäugig”, “zartgliedrig” sind die meistverwandten verniedli­chenden und idealisierenden At­tribute für die – meist nur im Bus oder auf Touristenmärkten beobachtete – Hochland­bevölkerung; dementsprechend ergeben sich aus diesem positiven Rassismus unge­heuer arro­gante Bemerkun­gen der Autorin über indianische Naivität, Abge­stumpftheit, Unter­würfigkeit, Unzivilisiertheit und “Wirtschaft im Steinzeitniveau” sowie Anal­phabetismus, und die Vorstellung einer völlig stati­schen, unpolitischen traditionsver­hafteten Welt­sicht.
Fazit: Unglaublich, wie anscheinend allein das Renommee der Au­torin dazu aus­reichte, dieses bornierte und noch dazu mit falschen Jahreszahlen und falscher spanischer Schreibweise belassene Ta­gebuch als “kritisches” Guatemala­reisehandbuch herauszugeben.
Allerding können solche Ergüsse nicht nur ebenso abgrenzend und selbstherr­lich belä­chelt werden, sondern der Analyse des eigenen Reiseverhaltens und -wahr­nehmung als sati­rischer Zerrspiegel dienen, der schonungslos auf die Wider­sprüche, Sprunghaftigkei­ten und uneingestandenen Faszinationen von “Alternativ”- oder “Polittourismus” hinweist!

Hannelore Rudisch-Gissenwehrer: GUATEMALA-“DRITTE-WELT” REISEHANDBUCH; edition aragon; Moers 1990; ISBN 3-924690-37-5

Die Rasenden Maos

Wer sich für die peruanische Guerillabewegung Sendero Luminoso interessiert, ist auf spanischsprachige und wenige deutsche Artikel angewiesen. Eine fundierte deutschsprachige Analyse steht aus, und leider werden wir auf sie auch noch weiter warten müssen. Wer sie sich von dem Buch der beiden französischen Journalisten Alain Hertoghe und Alain Labrousse “Die Koksguerilla” versprochen hat, wird enttäuscht.
Hertoghe und Labrousse versuchen, durch den historischen Rückgriff bis auf das Jahr 1962 das Entstehen Senderos an der Universität Ayacucho nachzuzeichnen und zu erklären. Die Strategien und Entwicklungen der letzten Jahre nehmen breiten Raum ein, ebenso wie die Einbettung der Analyse Senderos in den gesell­schaftlichen Kontext mit deutlichen Sympathien der Verfasser für die peruani­sche Volksbewegung.
Der Analyse von Hertoghe und Labrousse ist in vielen Punkten durchaus nicht falsch. Die aufgeworfenen Fragen nach den sozioökonomischen Wurzeln für das Wachsen Senderos in den letzten Jahren und nach der Bedeutung der ethnischen Problematik Perus für die Existenz einer Guerilla wie Sendero sind richtig gestellt. Die Antworten werden durch zahlreiche Zitate und Originalmaterialien belegt. Aber warum mußten die Verfasser (oder der Übersetzer?) mit dem Bügel­eisen eines vermeintlich journalistischen Stils über die Inhalte hinwegfahren? Was vielleicht den Versuch darstellen sollte, das Buch auch für Nicht-Exper­tInnen lesbar zu machen, wird im Ergebnis zu einem locker-flockigen Text, aus dessen Formulierungshülsen man oft mühsam die Inhalte schälen muß, wenn diese nicht schon völlig auf der Strecke geblieben sind. Eine Kostprobe aus einem Abschnitt über MigrantInnen in Lima: “In dieser ausweglosen Lage besinnen sich die “Eindringlinge” ihrer Traditionen der Solidarität in der Indiogemeinschaft und begründen eine Parallelgesellschaft, “informeller Sektor” genannt. So kommen die Anden nach Lima: Für den Pfad (gemeint ist Sendero, d.V.) ein ver­trautes Quetschua-Universum, in dem er sich “wie ein Fisch im Wasser” bewegen kann…” (S.149). Wenn pauschal “Traditionen der Solidarität” behauptet werden, Sendero bruchlos in eine Linie zu ihnen gestellt wird und dazu der Informelle Sektor zu einer Kollektivgründung der “Indiogemeinschaft” wird, helfen auch differenziertere Beschreibungen an anderer Stelle nicht mehr viel. Allzuoft ver­mischen sich Klischees und Analyse bis hin zu Formulierungen, die sachlich Falsches suggerieren. Die Streitereien zwischen Dorfgemeinschaften werden im Sprachgebrauch der Verfasser zu “Stammeskriegen”; zwecks Vergleiches mit den islamischen Fundamentalisten im Iran (die Rasenden Gottes) werden für Sendero die “Rasenden Maos” bemüht. Wo rasen sie wohl? Vielleicht als Fische durch den Informellen Sektor?
Schade, daß Hertoghe und Labrousse aus dem ihnen offensichtlich vorliegenden guten und umfangreichen Material nicht mehr gemacht haben, als ein Versatz­stück aus analytischen Abschnitten und Reportagen im Illustriertenstil.

Alain Hertoghe, Alain Labrousse: Die Koksguerilla; Berlin 1990

Gesundheit im Befreiungskampf

Metzi beschreibt in 15 Kapiteln sehr eindrucksvoll seine Erfahrungen, die er in den 3 Jahren als Gesundheitshelfer in den, von der FMLN kontrollierten Gebieten machte. Seine Intention ist es, die Menschen dort zu Wort kommen zu lassen, den abstrakten Informationen über Hunger, Tod und Leid Gesichter zu geben. Es werden “Alltagsprobleme” beim Aufbau eines Gesundheitswesens in einem Kriegsgebiet geschildert, das nicht “um Personen und technische Strukturen herum” aufgebaut werden soll, und “das genau deshalb für die meisten uner­reichbar sein würde.” Vielmehr soll ein Gesundheitswesen eingerichtet, das den unmittelbaren Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und gleichzeitig ihr Vertrauen in sich selbst stärken soll.
Metzi beschreibt jedoch nicht nur den Mangel an den elementarsten Voraus­setzungen zur Heilung Leicht- und Schwerverletzter, wozu medizinische Instrumente, Medikamente und entsprechend geschultes Personal, aber auch Zeit, Ruhe und hygienische Verhältnisse gehören. Er läßt vor allem teilnehmen an den Versuchen und der Kraft der Bevölkerung, Wege aus dieser Situation zu finden. Daß er “abenteuerlich anmutende Notoperationen unter freiem Himmel am Rande militärischer Konfrontationen” schildert, wie es im Umschlagtext heißt, stimmt so nicht. Seine Perspektive bleiben die dortigen Menschen. Den Hauch von Abenteuer empfindet allenfalls der europäische Leser; zu oft endet das “Abenteuer” einer solchen Notoperation tödlich.
Wirklich miserabel ist der Einband bzw. das Titelbild des Buches. Es wird eine schwarze Gruppe von Frauen und Kindern gezeigt, die anscheinend Wäsche waschen. Daneben steht eine vermummte Frau, die ein Maschinengewehr in die Luft hält. Von oben prasseln riesige rote Bomben auf die Gruppe, die teilweise schon explodiert sind, den Frauen scheinbar aber nichts anhaben können. Die Entmystifizierung des Befreiungskampfes, die Metzi durch seine präzise Schilde­rung vornimmt, wird durch solch ein Titelbild konterkariert.
Ralf Syring, der das Vorwort schrieb, schließt mit dem Satz: “In seinem Gespräch mit Renarto Camarda sagt der Autor, daß er dieses Buch als “Ausdruck der Liebe zur Bevölkerung von Chalatenango” geschrieben habe. Liebe hat mit Kennen­lernen zu tun. Die folgenden Seiten ermöglichen den Fernen eine Annäherung.” Dies kann nur bekräftigt werden – aber auch denen, die mit der Problematik schon vertraut sind, ist das Buch sehr zu empfehlen!

Francisco Metzi, Aus eigenen Füßen stehen; Wege zur Gesundheit in El Salva­dors Befreiungskampf
Rotpunktverlag, Zürich 1990, 238 Seiten

Nichts einigt mehr als die Spaltung?

Ein Wahltag in Managua

Punkt sieben Uhr morgens sollte es losgehen am Sonntag, dem 2. September 1990 im erst vor einem Jahr errichteten “Augusto-César-Sandino-Gedenkpark”: Die ersten Leitungswahlen der Geschichte der FSLN in Managua. Der LN-Korrespondent kam also mit vergleichsweise schlechtem Gewissen um 9 Uhr zu der bereits gut besuchten Versammlung, hatte aber noch reichlich Zeit, an einem der zahlreichen Essensstände ein Frühstück zu ergattern, bevor um halb zehn tatsächlich begonnen wurde. Als sich Daniel Ortega, mit Jeanshemd, Blue-Jeans und Cowboystiefeln bekleidet, erhebt, um die Versammlung zu eröffnen, hallt es durch den Saal: “Dirección Nacional: Ordéne!” (Nationale Führung: Befiehl!) Und der Saal brüllt laut, auf dieser Symbol-Veranstaltung des Strukturwandels innerhalb der Sandinistischen Befreiungsfront.
Daniel erinnert in seiner Einführungsrede an die Geschichte der FSLN. Von den fast 30 Jahren hat die Organisation zwei Jahrzehnte in der Klandestinität zugebracht, militärisch-politische Strukturen entwickelt, die auch im nachfolgenden Kampf gegen die US-Aggression nicht fallengelassen werden konnten. Er betont die Vorläufigkeit all der Wahlen, die bis jetzt
innerhalb der FSLN stattgefunden haben, denn erst der Kongreß im Februar wird die endgültige Entscheidung über die tatsächlichen neuen Parteistrukturen fäl­len. Das wichtigste, worauf die über 2000 anwesenden Delegierten gespannt warten, hebt er sich – didaktisch geschickt – bis zum Schluß seiner Rede auf: Die Nationalleitung favorisiert keineN der bekannten KandidatInnen für die Position des/der Koordinators/in. Die Basis müsse entscheiden; heftiger Applaus.
Der Rest ist technisch, könnte an dieser Stelle gesagt werden, doch auch die Technik hat bei einem derartig historischen Datum natürlich Bedeutung. Da haben einige Distrikte von Managua mehr Delegierte angemeldet, als ihnen zustand, was von der Wahlkommission heftig gerügt wird. Da will auch der uni­versitäre Sektor, dem ein Mitglied im Departamentskomitee zugestanden wird, weitere Kandidaten vorschlagen, darunter den Sänger Carlos Mejía Godoy und den Chef der Satire-Porno-Zeitung “Semana Cómica”, Roger Sánchez, was vom Wahlkomitee nicht akzeptiert wird. Als die Diskussion tumultartig eskaliert, interveniert Daniel mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität, sagt, daß die Regeln ja wohl klar gewesen seien. “No!!”, hallt es ihm hundertfach entgegen. “Wer kannte die Regeln nicht?” fragt er; über siebzig Prozent heben die Hände. Nun bleibt ihm nicht anderes übrig, als die Ablehnung der Kandidatur­vorschläge des universitären Sektors inhaltlich zu begründen, was den Routinier ein kurzes Nachdenken kostet: Jedes in der Universität organisierte FSLN-Mit­glied würde ja wohl auch irgendwo wohnen und sollte sich gefälligst in seinem Stadtteil organisieren, die Stadtteile könnten ja schließlich Vorschläge machen, sie seien die Basis, und die Führer sollten aus der Basis kommen. Geschafft, der Saal applaudiert, nochmal gut gegangen.
Nun kann in die Wahlen eingestiegen werden. Aus jedem Stadtteil und den zum Departament gehören­den Gemeinden gibt es bereits jeweils ein Mitglied des Departamentskomitees, zehn weitere sollen gewählt werden, dafür gibt es 23 KandidatInnen. Lang dauert die Vorstellung, lang auch der Wahlvorgang. Die Auszählungskommission zieht sich mit den Wahl­urnen an die Computer zurück. Die weiteren Wahl­vorgänge laufen ohne größeres Chaos ab, dann gibt es eine längere Pause zur Stimmenauszählung, während derer Daniel, der Held der Nation, der “Friedens­präsident”, der Popularitätsträger Nr.1 wie in Wahl­kampfzeiten Mützen, Hemden, Blöcke, Dele­giertenkarten und überhaupt alles signiert, was einen Schriftzug aushält. Ein findiger Fotograf aus dem Barrio San Judas macht das Geschäft seines Lebens: Für umgerechnet 2,5 Dollar kann jedeR ein Foto mit Daniel nach Hause tragen, so ziemlich alle weibli­chen Delegierten stehen Schlange. Foto, Küßchen, Unter­schrift, nächste. Der Ex-Präsident leistet Schwerst­arbeit. Schließlich nach über zwei Stunden
die Bekanntgabe der Ergebnisse. Die einstige “Comandante Dos” bei der spektakulären Besetzung des Nationalpalastes am Vorabend der Revolution, die 34-Jährige Dora María Tellez, ist mit 66% der Stimmen zur Kordinatorin gewählt worden. Heftiger Beifall, Enthusiasmus, “Do-ra, Do-ra!”. Sie fordert in ihrer Rede zum zuhören können und zur Toleranz gegen­über anderen Meinungen in der FSLN auf: “Wenn wir uns gegenseitig nicht zuhören können, wie sollen wir dann die Sorgen der Bevölkerung mitbekommen?”
Daniel möchte in seinen Abschlußworten (Wo hat er bloß so schnell wieder Luft geschöpft?) noch einen Anerkennungsapplaus für die nicht wiedergewählten Compañeros herausholen, er verliest die Liste, darunter auch der Ex-Bürgermeister von Managua und bisherige Koordinator Carlos Carrión, prompt kommt aus dem Saal die alte Losung: “Für die Toten…” und schon antwortet es vielstimmig: “…unsere Toten, schwören wir, den Sieg zu verteidigen!”. Gelernt ist gelernt, aber, wie Daniel dann, einen Lachanfall nur mühsam unterdrückend, feststellt: “Sie sind alle quicklebendig und arbeiten!” Compañero Sigmundo Freud: Presente!!
Der Tag hinterläßt den Eindruck einer jung gealterten Basis, die sich langsam aufrappelt, nur mit den Sprüchen, da hapert’s.

Die “Comandantes”: unschätzbares, wertvolles,
lästiges Erbe?

“Wir atmen richtig durch und können die Dinge einmal in Ruhe betrachten”, so die Einschätzung durchaus nicht weniger Basis-Mitglieder der Frente Sandinista, die meinen, daß die Wahlniederlage vom 25.Februar 1990 für die FSLN als Partei durchaus vorteilhaft, vielleicht sogar notwendig war.
Die aktuelle Debatte innerhalb der FSLN hat zwei Ebenen: Erstens die interne Diskussion um die Veränderungen der Parteistrukturen, die Rolle einer Nationalleitung und ob diese zu wählen sei oder nicht, sowie die personellen und strukturellen Veränderungen auf den kommunalen und regionalen Leitungsebenen. So wurden die alten Regionalkomitees, die zum Teil unüberschaubar große und durchaus unterschiedlich strukturierte Gebiete zu leiten hatten, fallengelassen zugunsten von “Departaments-Komitees”. Im Falle Managuas stimmen Departament und Region (III) überein, so daß sich dort nur der Name geändert hat. Aber, was viel wichtiger ist: Zum ersten Mal in der fast dreißigjährigen Geschichte der FSLN werden die Leitungsebenen gewählt. Damit findet – zumindest partiell – eine Diskussion und Bewertung der KandidatInnen und der ausscheidenden Kader statt: Die Abwahl des bisherigen Koordinators Carlos Carrión macht – ohne daß dies in der Öffentlichkeit so erwähnt würde – eine Kritik an seiner bisherigen Tätigkeit von Seiten der Mitgliedschaft deutlich.
Einen “Generationswechsel” auf der Leitungsebene bedeutet dies jedoch nicht automatisch, wie die Wahlen in Managua zeigten: Sowohl die neue Koordinatorin als auch der zu ihrem Vize gekürte Victor Hugo Tirado, einer der neun Comandantes der Nationalleitung der FSLN, sind alles andere als neue und unverbrauchte Kader. Aber immerhin: Mit Carlos Fonseca Terán, dem Sohn des 1976 gefallenen legendären Gründers und Anführers der FSLN Carlos Fonseca, ist in das Departement-Komitee auch einer der prominentesten Köpfe der – in seinem Falle wortwörtlichen – zweiten Generation gewählt worden. Fonseca jr., der mit seiner scharfen Kritik an einer Verbürgerlichung und Sozialdemokratisierung der FSLN zu einem wichtigen Sprecher der sandinistischen Linken geworden ist, ist auch aussichtsreicher Kandidat für den Vorsitz der Sandinistischen Jugendorganisation, von deren Leitung er in der Vergangenheit als “Abweichler und Anarchist” disziplinarisch bestraft worden war.
Die einzigen, für alle Welt sichtbaren Diskussionen um die Neuorientierung der FSLN finden in den sandinistischen Zeitungen statt. Die Meinungsseiten haben seit der Wahlniederlage der FSLN an Spannungsgehalt ausgesprochen zugenommen, wird doch seither nicht mehr immer nur noch einmal die Anklage gegen den Yankee-Imperialismus und den innenpolitischen Gegner wiederholt, sondern tatsächlich eine Debatte um die weiteren Perspektiven geführt.
So gab es rund um die “Sandinistische Versammlung” von El Crucero im Juni eine breite Diskussion über die Rolle der Nationalleitung. Die neunköpfige, seit 1979 unveränderte Dirección Nacional (DN) war in El Crucero vorläufig bestätigt worden (abgesehen davon, daß gemäß den Abkommen mit der Chamorro-Regierung Humberto Ortega als Armee-Chef formal aus dem obersten FSLN-Gremium ausscheiden mußte); man mochte sich aber noch nicht festlegen, ob die Dirección Nacional auf dem Parteitag im Februar neu gewählt werden sollte oder nicht.
Die derzeitige Nationalleitung, Resultat der “Wiedervereinigung” der drei Fraktionen, “Tendencias” der FSLN kurz vor dem Sieg der Revolution, hat ihre Aufgabe eigentlich schon lange erfüllt. Sie ist auch ein Ausdruck der politisch-militärischen Strukturen, die für den Guerillakampf so notwendig, für eine Partei, die sich intern demokratisieren will, jedoch überholt sind. In der Debatte stehen sich diese Einschätzung, die eher zwischen den Zeilen zu lesen ist, und der Respekt vor den “Comandantes” gegenüber. Die Struktur der Dirección Nacional ist an die Personen geknüpft, jede Forderung zur Abschaffung der Nationalleitung in der jetzigen Form beinhaltet daher auch eine Kritik an den neun Comandantes, die man so gar nicht äußern möchte. Dazu kommt, das ist auch in anderen FSLN-internen Debatten zu spüren, die jeder politischen Partei eigene Angst vor der Offenlegung ihrer Konflikte gegenüber dem politischen Gegner. In einem Land, dessen politische Kultur seit fast zwei Jahrhunderten von der bewaffneten Auseinandersetzung geprägt ist, muß sich diese Angst noch verstärken.
Größter Knackpunkt des Reorganisationsprozeßes, insbesondere auf den “unteren” Ebenen der Gemeinden, ist allerdings die Aufarbeitung der Fehler, Korruption und Verfehlungen der lokalen Führungskader. “Prepotencia” heißt hier das Schlüsselwort, übersetzbar etwa als Überheblichkeit, Allmacht des jeweiligen Polit-Sekretärs, der bekanntermaßen ja nie gewählt wurde, also auch von der Basis nicht abgesetzt werden konnte. Es wird auf der einen Seite durchaus verstanden, daß die Macht an sich korrumpiert, und daß es nicht nur die jeweiligen Personen waren, die durch ihren “miesen Charakter” in die Verfehlungen hereingerutscht sind, sondern die Strukturen, die diese Personen geformt haben. Auf der anderen Seite sind diese Strukturen aber auch tief in der Mitgliedschaft verwurzelt, die sich damit schwertut, jetzt auch mehr Verantwortung übernehmen zu müssen als vorher.

Armee-Chef Humberto Ortega als sandinistischer “Ober-Realo”

Auffallend in der gesamten Debatte ist, daß viel über die internen Strukturen, wenig aber über die politischen Perspektiven diskutiert wird. Für diese zweite Diskussionsebene stehen die Schlagwörter “Concertación” und “Reconciliación” (“Konzertierte Aktion” auf der ökonomischen Ebene, “Versöhnung” auf der politischen). Die klarste Position für die “Concertación” hat aus sandinistischen Kreisen bislang Humberto Ortega – allerdings in seiner Funktion als oberster Heereschef – eingenommen. In einem fast zweistündigen Interview in der Fernsehsendung des Propaganda-Ministers Danilo Lacayo “Demokratie auf dem Weg” sagte er: “Die nationale Versöhnung Nicaraguas ist nicht nur möglich, sondern überlebenswichtig, um Nicaragua zu retten. Wenn wir NicaraguanerInnen nicht in einem tiefen Sinne der Versöhnung handeln, um die Probleme zu lösen, ist Nicaragua verloren.” Diese Position von Ortega ist zum einen seiner Funktion geschuldet: Er läßt derzeit keinen Anlaß aus, um die Loyalität des Sandinistischen Volksheeres zur Verfassung zu bekunden. (Was ihm von der marxistisch-leninistischen MAP-ML in der Wochenzeitung “El Pueblo” prompt den Vorwurf einbrachte, jetzt endgültig das Sandinistische Volksheer zum Garanten der bürgerlichen Demokratie machen zu wollen…)

KASTEN:

Risse im Sandinistischen Volksheer

Der Rausschmiß des Luftwaffenchefs verweist auf tiefere Konflikte

“Das Dementi ist ein grammatikalisches Unikum: Indirekte Bejahung durch direkte Verneinung”, sagt ein schönes Zitat. Am 10. August dementierte der Militärische Rat des Sandinistischen Volksheers (EPS) öffentlich, daß es eine Krise in den Streitkräften gäbe. Ein Tag zuvor war die Absetzung des Chefs der Sandinistischen Luftwaffe (FAS), Javier Pichardo, bekannt geworden. Auch wenn im einzelnen nur sehr wenig Konkretes und umso mehr Gerüchte an die Öffentlichkeit drangen, scheint die direkte Verneinung auch in diesem Falle mehr als alles andere die Annahme einer Krise in der sandinistischen Armee zu bejahen.
Der Rausschmiß des altgedienten Revolutions-Kämpfers und langjährigem Chef der Fuerza Aérea Sandinista durch Armee-Chef Humberto Ortega ist kein Pappenstiel und kommt auch nicht aus ganz heiterem Himmel. Hintergrund ist die Unzufriedenheit der “Basis” des EPS: “Wir haben den Krieg gegen die USA gewonnen, und die lassen sich die Macht einfach an der Wahlurne wegnehmen”, ist hier eine viel zu hörende Haltung. Über Humberto Ortegas wiederholte Verkündungen, daß die Armee “apolitisch” und “professionell” sei, ist man empört, und seine Verhandlungsbereitschaft mit dem “moderaten” UNO-Flügel um Violeta Chamorro empfinden viele als Verrat an der Revolution.
Pichardo selbst hat sich bislang nicht öffentlich zu seiner Entlassung geäußert, ein Gentleman’s Agreement mit Ortega, trotz alledem. Das Macht-Wort Ortegas dürfte auch Auswirkungen über die Person Pichardo selbst hinaushaben; dpa meldet am 16. September, daß 500 Offiziere der Sandinistischen Luftwaffe und der Luftabwehr – im Rahmen der bei der Regierungsübergabe an Violeta Chamorro vereinbarten massiven Reduzierung der Truppenstärke der Armee – entlassen wurden.
Die bewaffnete Macht ist immer das Rückgrat der Sandinistischen Revolution gewesen, und nach dem Verlust der Regierung ist sie es um so mehr. Doch das militärische Rückgrat der SandinistInnen, so scheint es, ist genauso – oder gar noch mehr – gespalten wie die FSLN selbst.
beho/-o

Autonomie und Eigennutz

Die Wahlen vom 25. Februar 1990 hatten an der Atlantikküste Nicaraguas eine besondere Komponente: Erstmals in ihrer Geschichte wählten die Costeños ihr eigenes Regionalparlament. Die Regionalwahlen bildeten den letzten Baustein zur formalen Verwirklichung des 1987 verabschiedeten Autonomiegesetzes, das die selbstkritische Antwort auf die Fehler der Costa-Politik der FSLN und die Konflikte mit den verschiedene ethnischen Gruppen der Region war. (LN 176, 183/4) Um die vom Autonomiegesetz vorgeschriebene Vertretung aller ethni­schen Gruppen – der englischsprachigen schwarzen Bevölkerung, der Creoles, der indianischen Miskitos, Sumos, Ramas und Carifunas und der spanischspra­chigen Mestizen – zu gewährleisten, waren die Wahlbezirke unabhängig von ihrer Größe nach der lokalen Verteilung der Ethnien festgelegt worden. Dement­sprechend mußten die KandidatInnen der Bezirke ausgewählt werden.
Der Sieg der Parteien-Allianz UNO – in der südlichen Atlantikregion eine Allianz ohne Parteien – fiel noch deutlicher aus als im nationalen Durchschnitt. Nur in vier von fünfzehn Wahlbezirken errang die FSLN die Stimmenmehrheit, in zwei davon verdankte sie dies dem Rücktritt der UNO-Kandidaten kurz vor dem Wahltermin. Die Analyse der einzelnen Wahlergebnisse zeigt einen Zusammen­hang zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Wahlentscheidung. Dies ist Aus­druck des Mißtrauens der Costeños gegenüber der sandinistischen Revolution, die ihren Sieg fast ausschließlich im pazifischen, spanischsprachigen Zentrum Nicaraguas erkämpft hatte. Auf der von Creoles bewohnten nicaraguanischen Karibikinsel Corn Island errang die FSLN ebensowenig einen Parlamentssitz wie im von Creoles und Miskitos dominierten Pearl Lagoon. Die Indianerorganisa­tion YATAMA gewann dort, wo ihr Volk die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Die WählerInnenschaft der FSLN rekrutiert sich zweifellos aus allen ethnischen Gruppen.
Der Wahlsieg von U.N.O und YATAMA erklärt sich jedoch in erster Linie wie im sonstigen Nicaragua: Kriegsmüdigkeit, Ablehnung des Militärdienstes, Hoffnung auf raschen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Versöhnung mit den USA. Letzteres wog an der RAAS noch schwerer, verfügt doch zumindest die creoli­sche Bevölkerung über starke familiäre Beziehungen in den Vereinigten Staaten.

Autonomie aus Managua: Costa-Minister Brooklyn Rivera

Schon vor der Gründung der jeweiligen Regionalparlamente am 4. Mai hatte die Gründung des “Instituts für die Entwicklung der Costa Atlántica” INDERA die Gemüter erhitzt. Kein Geringerer als YATAMA-Führer Brooklyn Rivera (s.Kasten) wurde zum Direktor des Instituts im Ministerrang bestellt. Die Schaf­fung von INDERA, vorbei an den gewählten Instanzen der Costa Atlántica, und die Berufung Riveras zum Minister von Managuas Gnaden negieren die Kom­petenzen der Regionalregierungen in Bluefields und Puerto Cabezas, die Idee der Autonomie an sich. Während die Regionalvertretungen jedweden Haushalts ent­behren und eigentlich nur eine symbolische Relevanz haben, verfügt INDERA über eigene Finanzen. Beide Regionalparlamente protestierten einstimmig – und vergeblich.
Rivera, selbst langjähriger Gegner des sandinistischen Autonomieprojekts ob dessen unterstellter Halbherzigkeit, schert sich wenig um die Beschwerden aus Puerto Cabezas und Bluefields. In einem Interview mit Barricada beschrieb er INDERA als “unabhängige dezentralisierte Einrichtung, nicht angebunden an die Politik und die Entscheidungen der Exekutive. Zu denken, INDERA ersetze die Rolle der autonomen Regierungen, ist eine vorschnelle Reaktion.”

Die Entwicklung der Costa – Die Entwicklung der Streichung

So wie INDERA das Desinteresse Managuas an der politischen Autonomie der Atlantikküste symbolisiert, lassen die bisherigen ökonomischen Maßnahmen keinen Zweifel daran, daß die Zentralregierung wenig tun wird, um die Unter­entwicklung und Marginalisierung der klimatisch und geografisch schwierigen Atlantikregion zu überwinden.
In den Jahren der FSLN-Regierung profitierte die Costa von zahlreichen Subven­tionen: Die Transportverbindungen von Managua nach Bluefields – auf den Luft­verkehr und die Schiffsverbindung über den Río Escondido angewiesen – waren ebenso subventioniert wie eine Reihe von Gebrauchs- und Konsumgütern. Die Preise für den Transport stiegen um mehrere 100%, die drastische Verteuerung des Treibstoffs hat an der dünnbesiedelten Atlantikküste katastrophale Folgen. Die wirtschaftlichen Aktivitäten beschränken sich wegen Geldmangels, seit eini­gen Wochen zudem wegen Knappheit von Treibstoff, auf ein Minimum. Die Gesundheitsversorgung abgelegener Gebiete kann kaum sichergestellt werden.
Die Ministerien und Institutionen, in ganz Nicaragua von der Reduzierung der öffentlichen Mittel betroffen, mußten ihre Arbeit am Atlantik mitunter vollstän­dig aussetzen. Das Agrarreforminstitut ENRA beispielsweise bekam seit April ein einziges Faß Benzin zugeteilt: Gerade genug für eine Fahrt in den nördlichen Teil der Region, das Benzin für die Rückfahrt mußte ausgeliehen werden. Die Arbeitslosenqote an der Costa ist die höchste des ganzen Landes. Statt der Initiie­rung von Entwicklungsprojekten stehen weitere Entlassungen an. Zudem leidet die Region noch unter den Folgen des Hurrikans Joan, der 1988 ganze Landes­teile verwüstet hinterließ.

Alwyn Guthrie, der Gouverneur von Bluefields

Die UNO pflegt ohnehin einen eher ungewöhnlichen Politikstil an der RAAS. Der von der UNO/YATAMA-Mehrheit zum Koordinator der Regionalregierung gewählte Aylwin Guthrie, früherer Führer der “gelben” Gewerkschaft CUS mit besten Verbindungen zur US-Botschaft, hat sich seit geraumer Zeit den Titel eines Gouverneurs zugelegt. Im August verblüffte er die Nationalversammlung Nicaraguas mit der Veröffentlichung eines Gesetzes über Regionalsteuern auf den Export von Meeresprodukten. Damit hatte er nicht nur die Kompetenzen der Regionalregierung weit überschritten, die zwar besondere Bestimmungen, aber keine Gesetze erlassen darf; Guthries Gesetz sah darüber hinaus Abgaben von bis zu 30% des Bruttoerlöses an die Regionalregierung vor, in einer Höhe also, die allenfalls die sofortige Einstellung aller Fischereiaktivitäten zur Folge haben könnte.

Keine Alternative zur Verliererin – Regieren von unten

Mußten die Delegierten der UNO vor dem 4. Mai einen dringlichen zweiwöchi­gen Kursus über Parlamentsgepflogenheiten und Autonomiegesetz absolvieren, so zählt die sandinistische Fraktion auf Abgeordnete mit langjähriger Erfahrung in der Costa-Politik, wie Jonny Hodgson, den Präsidenten der Autonomie­kommission seit 1984.
Die Wahlniederlage der FSLN an der Atlantikküste relativiert sich nach einem Blick auf die Geschichte: 1979 verfügte die FSLN an der Costa Atlantica weder über eine nennenswerte Anzahl eigener Kader noch über eine soziale Basis. Die FSLN hat ihren folgenschweren Fehler der Anfangsjahre, die Erfahrungen der Revolution im pazifischen Teil Nicaraguas auf die gänzlich unterschiedlichen Bedingungen der Atlantikküste zu übertragen, revidiert und mit dem Autono­miestatut einen politischen Ausweg aufgezeigt. Alle lokalen und regionalen Verantwortlichen der FSLN sind heute Costeños, in fast allen Tei­len der Region verfügt die Partei über eine verhältnis­mäßig gut organisierte Basis.
In stärkeren Maße als am Pazifik setzt die FSLN an der Atlantikküste die Devise des “Regieren von unten” um, oft um der schieren Notwendigkeit willen, den Zusammen­bruch des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in den Gemeinden zu verhindern. Die alten BürgermeisterInnen der Atlantikregion bleiben vorläufig bis zur Ausschrei­bung der Kommunalwahlen im Amt.
Der Beginn einer erneuten Alphabetisierungskampagne in dem Ort Kukra Hill, organisiert von der FSLN unter Mit­wirkung von Campesinos als “VolkslehrerInnen” ist eines der herausragenden Beispiele der Kontinuität sandini­stischer Politik. Als La Cruz de Rio Grande, nördlich­ster Teil der RAAS, von einer Überschwemmungskatastro­phe heimgesucht wurde, brauchte die Regionalregierung mehr als einen Monat, um schließlich eine Kommission einzuberufen. In der Zwischenzeit hatte die FSLN die ersten notwendigsten Hilfsmaßnahmen eingeleitet.
Aber die Spielräume der FSLN sind auch an der Costa enger geworden. Der FSLN-Sender “Radio Zinica” zum Bei­spiel mußte die Hälfte seiner Sendezeit an die UNO abgeben, da sich das Gebäude des Senders im Besitz der Regierung befindet. Gelder für einen Umzug aber fehlen. Gravierender Einschnitt in die Medienversorgung der Region, in der allenfalls die Hauptstadt regelmäßig mit Zeitungen beliefert wird und weder die nationalen Radio- noch die Fernsehanstalten empfangen werden können.

Bilanz: Tiefschlag gegen die Autonomie

Die Costeños haben sich am 25. Februar in erster Linie – und hier fast erwartungsgemäß – gegen die FSLN ent­schieden, gleichzeitig aber für eine UNO, die in ihrem nationalen Wahlprogramm der Atlantikküste nur wenige belanglose Zeilen gewidmet und den Autonomiestatus erst gar nicht erwähnt hatte. Den regionalen UNO-Führern fehlt jedwede Konzeption, ein guter Teil der Führungs­riege ist vorwiegend aus wirtschaftskriminellen Zusam­menhängen bekannt.
Die Bilanz der ersten Monate unter der neuen Regierung liest sich erschreckend: Die Streichung aller Subven­tionen für die Atlantikküste mit der Folge der drasti­schen Einschränkung und Verteuerung der Transporte; das Fehlen eines eigenen Haushaltes für die Regionalregie­rung, die Schaffung von INDERA zur Steuerung beider Atlantikregionen aus Managua (INDERA wiederum, mit finanzieller Hilfe ausgestattet, enthält der Costa Atlántica die gerade gewonnene Selbstbestimmung vor), Reduzierung oder Einstellung von ökonomischen und kul­turellen Projekten, offensichtliches Fehlen eigener Vorstellungen und Konzepte bezüglich der Autonomie von Seiten der neuen Regionalregierung.
Die Probleme der Costa Atlantica bleiben komplex und vielfältig. Die derzeitige ökonomische Krise des ganzen Landes trifft die unterentwickelte Atlantikregion besonders hart. Die ökonomischen und sozialen Probleme nehmen an Schärfe zu. Die Kriminalitätsrate ist in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen. Eine große Anzahl von heimkehrenden Flüchtlingen und demobilisier­ten Contras wartet auf Unterstützung und Betreuung.
Nicht zuletzt schwelen die ethnischen Konflikte weiter. Nicht wenige argwöhnen, daß die Schwierigkeiten zwi­schen INDERA unter Brooklyn Rivera und die von Creoles geprägte Regionalversammlung des Südatlantik ein Ergeb­nis der traditionellen Konkurrenz zwischen der schwar­zen und der Miskito-Bevölkerung sind.
Weder die UNO im Süden noch die YATAMA im Norden schei­nen in der Lage, die komplexen Probleme anzugehen. Die FSLN hat in der Opposition vielleicht größere Chancen, die Lauterkeit ihrer Politik unter Beweis zu stellen und das Mißtrauen vieler Costeños zu überwinden. Es ist ihr immerhin gelungen, die Autonomie zumindest auf der rhetorischen Ebene zum Anliegen der Costeños zu machen; selbst die Nachrichtensendung des UNO-Radios nennt sich “Autonomia en marcha”; INDERA wird als kruder Eingriff in die Autonomie von allen Parteien zurückgewiesen; Brooklyn Rivera selbst spricht von der Notwendigkeit der Verteidigung der Autonomie.
Noch unterscheiden sich die Interpretationen des Auto­nomiebegriffs beträchtlich, für die einen bedeutet Autonomie freie Hand bei wirtschaftlichen Transaktio­nen, für andere die Hegemonie ihrer Ethnie; Autonomie im Sinne der eingangs erwähnten Definition von Hazel Law ist zur Zeit Privileg der Opposition.
Selbst der Ausgang der Wahlen, die Politik der UNO und YATAMA, die einen faktischen Rückschritt für die Ent­wicklung der Costa Atlántica bedeuten, sind in diesem Sinne Ausdruck des Erfolgs der Autonomie: Denn Selbst­bestimmung beinhaltet das Recht, eigenständig Fehler zu begehen – statt vorgesetzte Wohltaten zu genießen.
Viele Costeños schwärmten in den vergangenen Jahren der sandinistischen Regierung von den noch vergangeneren Jahren der US-Präsenz an der Atlantikküste: Eine Menge falscher Erinnerungen, die jetzt überprüft werden müssen.

Kasten:

Jeder gegen jeden

Der Machtkampf in der Autonomen Atlantikregion Nord
“Ethnische Diktatur an der Costa?” fragte schlagzeilend ein Kommentator des sandinistischen Parteiorgans Barricada angesichts der brisanten Situation in der Autonomen Atlantikregion Nord RAAN nach dem Wahlsieg von YATAMA.
YATAMA (vergl. LN 176,183-84) wurde 1987 als erneuter Versuch gegründet, die gespaltene Indianer-Contra wiederzuvereinen. Dies gelang nur zum Teil, da ver­schiedene Miskito-Führer mit ihren KämpferInnen bereits nach Nicaragua in ihre alten Dörfer zurückgekehrt waren. Während der oberste Führer von YATAMA Brooklyn Rivera und sein ewiger Rivale Steadman Fagoth 1989 schließlich eben­falls den bewaffneten Kampf gegen die sandinistische Revolution aufgaben und die Teilnahme YATAMAS an den Regionalwahlen der Atlantikküste vorbereite­ten, kämpfte eine weitere YATAMA-Fraktion unter Osborne Coleman noch bis zur endgültigen Contra-Demobilisierung im Juli 1990 weiter.
Kurz vor den Wahlen gab Rivera den Umstieg von der bisherigen Allianz mit der Sozialchristlichen Partei zugunsten des Bündnisses mit der UNO bekannt, ver­blüffende und verwirrende Wende, die sich Rivera mit einem Ministerposten in Managua und nicht definierten Kompetenzen für die gesamte Atlantikküste durch das neu geschaffene INDERA vergüten ließ. Steadman Fagoth ging als Leiter des Instituts für Naturressourcen direkt in die Regionalhauptstadt Puerto Cabezas. Zum Koordinator der Regionalregierung der RAAN wurde der als moderat geltende Miskito-Führer Leonel Pantín gewählt.
Die Konflikte in der RAAN eskalieren rasch. Hauptgegner aller waren die Sandi­nistInnen und der spanischsprachige Teil der Bevölkerung, die sich Beschimp­fungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt sahen. Die Drohungen und Übergriffe militanter YATAMA-Anhänger weiteten sich bald auf die als FSLN-freundlich geltenden Sumo-IndianerInnen und die schwarze Bevölkerung aus. Die Kon­fliktlinien in der Nordregion verlaufen mittlerweile zum einen zwischen Fagoth in Puerto Cabezas und Rivera in Managua, persönlich motivierte, schon traditio­nelle Rivalität. Zum zweiten zwischen Rivera bzw. INDERA und der autonomen Regionalregierung unter Pantín. Zum dritten zwischen den in YATAMA organi­sierten Miskitos und den übrigen Ethnien der Region.
Die FSLN in der RAAN, angeführt von Hazel Law und Mirna Cunningham, beide bis 1983 Mitstreiterinnen von Fagoth und Rivera in MISURASATA, zielt auf eine Zusammenarbeit mit dem im Regionalparlament vertretenen moderaten YATAMA-Flügel. Eine Politik, die in gemeinsamen Maßnahmen und Aufrufen erste Erfolge gezeigt hat.
Die nördliche Atlantikregion, noch stärker unterentwickelt und marginalisiert als der Süden, birgt Probleme, die nur durch eine Zusammenarbeit aller Ethnien und politischen Kräfte angegangen werden können. Bislang scheint eine solche Kooperation kaum möglich. Die Situation ist nach wie vor unübersichtlich und explosiv. Anfang August reiste Präsidentin Chamorro selbst nach Puerto Cabezas, um zwischen den verfeindeten Fraktionen zu vermitteln – sie scheiterte. Allein ihren Optimismus bewahrte sie, als sie nach Abschluß der Begegnungen engelsblöde zuversichtete: “Alle diese Probleme wird man lösen.”
Da scheint Steadman Fagoths Einschätzung realistischer zu sein: “Dies ist ein Pulverfaß. Eine ernste Sache, wir selbst haben Angst. Dieses hier ist nicht die Schweiz.”

Die Sache mit der internationalen Solidarität

Wir sind doch alle solidarisch, oder? Wir tun doch alles für die Menschen in der Dritten Welt! Haben wir nicht sogar eine Soli-gruppe gebildet, für das Land C? Treffen wir uns nicht regelmäßig im Rahmen der ayuda internacional (ai) und suchen Lösungen für die globalen Probleme? Wir haben da auch schon allerlei Vorschläge zu machen.
Und dann kommt da jemand daher, beschimpft uns, macht uns an und redet schlecht über uns!
Schließlich arbeiten wir ja auch noch in einem Beruf, sind nur ehrenamtlich solidarisch, haben ja auch noch ein Privatleben.
Wie kann man/frau dann von uns erwarten, daß wir unsere Zeit damit zubringen, auf diesem scheußlichen Flughafen zu warten, bis die politisch Verfolgte aus ‘unserem’ Land C endlich eintrifft, mit wer weiß wie vielen Stunden Verspätung? Wenn sie dann nicht alleine zurechtkommt, ist das ihr Problem, wenn sie es nicht schafft, ‘dann muß sie eben in C bleiben’. Woher sollten wir wissen, daß ihre Koffer nicht mitkamen und deswegen ein endloser Papierkrieg anfiel, auf deutsch natürlich?
Jeder weiß, wie schwer es ist, in Berlin eine Wohnung zu finden, aber deshalb kann uns noch lange keineR zumuten, monatelang eine für sie zu suchen oder sie gar mit ihren zwei Kindern bei uns aufzunehmen, das würde doch nur zu Konflikten führen. Auf der Straße stand sie mit ihren Kindern deswegen noch lange nicht, irgendwie hat irgendwer anders schon immer wieder was für sie aufgetan. Daß es furchtbar sein kann, alle zwei bis drei Wochen mit zwei Kindern in einer fremden Stadt umzuziehen, das war uns nicht so klar. Daß es dann auch schwierig wird, die Kinder einzuschulen, daran haben wir halt nicht gedacht, und es fiel uns auch nicht ein, was es für Kinder bedeuten kann, täglich von Reinickendorf, dann Moabit, dann Charlottenburg bis Kreuzberg und zurück zur Schule zu fahren. Aber es gibt ja Schülerkarten.
Natürlich haben wir uns um unseren Schützling gekümmert. Schließlich haben wir ihr ja den Flug aus C nach Berlin ermöglicht. Und gleich in der ersten Woche haben wir sie zu unserem Gruppentreffen eingeladen. Es war halt Pech, daß wir gerade was Wichtigeres zu besprechen hatten und ihr nur kurz guten Tag sagten und sie dann wieder wegschicken mußten.
Daß es mit dem von uns versprochenen Stipendium immer noch nicht geklappt hat, ist doch nicht unsere Schuld. Dafür haben ihr aber mehrere von uns kleinere Geldbeträge geliehen.
Und nun hören wir, daß sie wieder in ihr Land zurückgefahren ist, wo sie doch ihres Lebens nicht sicher sein kann.

Explosive Metaphern und Bombenfotos, STERN-hagelvoll

Schon in den ganzseitigen Fotos wird das ganze Arsenal von Armutsklischees aufgefahren. Da sitzt ein nacktes dunkelhäutiges Baby vor einer Bretterbude, in der Hand eine riesige Bratpfanne und starrt die Betrachterin grimmig an, als wolle es ihr in kurzer Zeit eins überbraten. Fettgedruckter Text direkt daneben: Heute bedroht die Bevölkerungsexplosion die Dritte Welt. Morgen uns. Das Schicksal von Bombay ist eine Warnung.
Oder das unvermeidliche Foto von schlafenden Menschen auf der Straße. Dazu fettgedruckt: Wo man sich betten kann, da liegt man. Darunter der Satz: Die giftigen Autoabgase stören sie nicht (alias: “haben einfach kein Bewußtsein von Umweltver­schmutzung, die Ignoranten”).

“Heute die Dritte Welt. Morgen uns.”

In einer subtilen Mischung werden den ganzen Text hindurch Erklärungen für die Handlungen von Bombays MigrantInnen angeboten, etwa, die Armut auf dem Lande und die Glitzerwelt der Stadt seien für die Migration verantwortlich. Gleichzeitig wird in anderen Sätzen angedeutet, daß seine Einwanderer doch nicht ganz bei Trost sein müssen. So zum Beispiel durch das Zitat: Bombay ist das Synonym für reale Anarchie. Oder: Die Menschen hier begreifen nicht, was Hygiene ist. Oder: Sie sind wie Kinder, Kinder der Finsternis.
Gerade diese Mischung macht den Text so brisant. Vordergründig wird dadurch nämlich immer ein begrenztes Verständnis für die Menschen in Bombay ange­deutet. So gibt es durchaus Passagen, die Migration plausibel zu machen versu­chen. Etwa der Satz: Und trotzdem: Keiner hungert [in Bombay. Anm. E.A.], jeder findet irgendeine Arbeit, während von einem Dorf die Rede ist, in dem es mehr Hun­ger als Arbeit gab. Gleichzeitig aber heißt es dann: Keiner, der noch bei Verstand ist, kann in dieser Stadt leben.
Widersprüchlich und klischeehaft ist der Text auch im Bezug auf MigrantInnen, die zum ersten Mal in die Stadt kommen. In der Metaphorik einer Lagersprache werden sie als die Neuen bezeichnet. Es heißt: Die Neuen sind unschwer auszuma­chen. Nur zögernd steigen sie – mit bindfadenverschnürten Pappkoffern und Kleider­ballen auf den Schultern – die Steintreppe zur Straßenbrücke empor. Der brausende Ver­kehr verwirrt sie. Manche brauchen Stunden, um die Straße zu überqueren. Andere su­chen sich gleich an der nächsten Mauer oder Straßenecke einen freien Platz. Wenns gut geht, wenn keiner sie verscheucht, entfalten sie Decken und richten sich im schützenden Winkel ein. Jetzt haben sie Fuß gefasst. Morgen erobern sie die Stadt.
Unzählige Migrationsstudien über verschiedene Städte belegen seit Jahren, daß Migration genau so nicht funktioniert. Daß Menschen normalerweise in Städte ziehen, in denen sie bereits Bekannte oder Familienmitglieder haben, die ihnen bei der Integration helfen und sie vorübergehend bei sich aufnehmen können. Daß Menschen erst “Probereisen” unternehmen, bevor sie mit Sack und Pack um­ziehen. Und dennoch muß das Bild der ahnungs- und hilflosen dummen Dörfler, die nicht einmal eine Straße überqueren können, immer wieder herhalten. Dabei spricht der Artikel an einer anderen Stelle selbst von Verwandtschaftsverbin­dungen, die Migrationsprozesse unterstützen. Allerdings lediglich, um die Angst vor der Bevölkerungsexplosion zu schüren und ohne das Bild von den Neuen zu überprüfen. Es heißt: Jeder, der in Bombay Fuß fasst, zieht laut Statistik zwanzig Fa­milienmitglieder nach. Bombay (…) ist wie ein Luftballon, der unbeirrt aufgeblasen wird. Irgendwann platzt er.

Rassismus in der Metaphorik

Der Rassisimus des Artikels ist vor allem in der Metaphorik versteckt. Die Welt ist darin aufgeteilt in WIR (= Europa, die zivilisierte Welt) und SIE (= die Men­schen in den Slums, in der Hölle Bombay).
In Anspielung auf die konventionelle Metapher von der Bevölkerungsexplosion wird die SIE Gruppe als Menschenbombe bezeichnet, von der WIR bedroht sind (Morgen uns). Die SIE-Gruppe, wohnt natürlich nicht in Bombay, sondern haust. Sie haust, tierhaft und unzivilisiert in Gelassen. Die Beschreibungen einzelner “Menschen”, die in Gelassen hausen, sind entsprechend: Shiva ist ihr Mann, dreißig Jahre alt, kräftig, schlau, aggressiv. Frauen werden daneben mit exotischer Attrakti­vität ausgestattet: Perlweiße Zähne, blitzende dunkle Augen. Unzivilisierte begut­achtet mann eben zuerst nach ihren körperlichen Qualitäten und offenbar sofort sichtbaren angeblichen Charakterzügen. Wie auf dem Sklavenmarkt.

Ein Menschenbild wie auf dem Sklavenmarkt

Durchgehend scheint es in dem Artikel weniger darum zu gehen, die Situation der Menschen in Bombay zu analysieren, sondern Ängste bei UNS zu schüren vor dem Entzünden der Bombe Bombay.
Bedrückende Szenarien sind unschwer vorstellbar. Überlebenskämpfe in überbordenden Mega-Städten führen zu Aufruhr und Chaos, erschüttern ganze Staaten. Armut treibt Millionen über die Grenzen. Das provoziert internationale Konflikte. Armeen von Ver­zweifelten werden neue Lebensräume suchen, auch die reiche Festung Europa bedrohen.
Um die Bombe zu entschärfen, gibt es in der Logik des Artikels dann auch nur eine Möglichkeit: sie zu verkleinern durch Geburtenkontrolle. Beherzte Recken im Kampf gegen die “Bombe sind Männer wie Dr. Pai, dessen Verdienst laut Stern-Artikel darin besteht, jährlich 40.000 Abtreibungen durchzuführen (zu Dr. Pai vergleiche Kasten). Produziert wird die Menschenbombe nämlich laut Artikel ein­zig und allein dadurch, daß Babyfabriken (…) eine Tochter nach der anderen gebären, bis endlich der ersehnte Sohn zur Welt kommt. Zitat Dr. Pai: Wenn wir den Kampf gegen die Baby-Fabriken verlieren, dann sind wir alle verloren.
Es geht also nicht darum, über strukturelle Probleme der Verstädterung nach­zudenken, gar darüber, wie die Lebensbedingungen der InderInnen in den Städten verbessert werden könnten oder gar, wie sie eigentlich wohnen und leben wollen. Es geht um den Kampf gegen Babyfabriken, gegen die Kinder gebä­renden Frauen, die angeblich an der Bevölkerungsexplosion schuld sein sollen.
Mich überrascht immer wieder, daß Journalisten es sich heute immer noch leisten können – und offenbar Erfolg haben – das Wort von der Bevölkerungsexplosion im Mund zu führen. Kein Wort darüber, daß die Menschen in Europa und den USA 80% der weltweit verbrauchten Energie verbrauchen, daß hier bei uns für mehr Geburten geworben wird, daß die allermeisten Menschen auf dieser Erde man­gels Ressourcen, Sprachkenntnissen und Einfluss nicht den Schimmer einer Chance hätten, die Festung Europa auch nur von weitem zu sehen, geschweige denn, sie zu bedrohen. Die Müllberge von Bombay sind laut Stern so groß, daß sie einhunderttausend Müllsammler ernähren. Dieses ökologische Schreckge­spenst im Artikel wird doch sofort geradezu harmlos, wenn mensch an die Müll­berge jeder europäischen Großstadt denkt und an die ungeheure Verschwen­dung in unserer Wegwerfkultur. Daß keine einhunderttausend Menschen von Berlins Abfällen leben, liegt doch nur daran, daß hier nur vergleichsweise wenig Menschen darauf angewiesen sind, die Abfalleimer und Müllkippen auszu­werten.
Letztlich ist es jedoch sehr einfach, die Argumentation des Artikels zu wider­legen. Fast unmöglich, so scheint es, das diskursive Feld zu verändern. Das Bild von der Bevölkerungsexplosion ist in aller Munde und Denken, der Rassismus im Artikel ist eben nicht vordergründig. Und wenn man schon von Bevölkerungs­explosion spricht, so erscheint die Menschenbombe auch lediglich als eine originelle Metapher, und wer schon so denkt und spricht, für den ist das Gerede von den Babyfabriken eben auch nichts besonders Abartiges. Schließlich geht es ja nicht um deutsche Frauen, sondern um die, die in Bombay hausen.

Kasten:

Dr. Pai – ein praktizierender Bevölkerungspolitiker

Im Stern-Artikel wird mehrfach ein gewisser Dr. Pai zitiert, der für Geburten­kontrolle und Abtreibungen wirbt.
Dr. Pai ist Pionier und Miterfinder der Massensterilisationen an Männern Ende der sechziger Jahre.
Er ist Erfinder des Prämiensystems (“Anreize” wie Saris, Geld, Dampf­kochtöpfe) für weibliche Sterilisationen (80% aller Sterilisationen werden an Frauen durchgeführt). Bis heute gibt es in Indien – trotz heftigen Protesten – Sterilisationscamps, in denen Frauen “am Fließband” sterilisiert werden.
Dr. Pai hat in Indien eine Klinik für Geschlechtsbestimmung eröffnet und befürwortet die Abtreibung von weiblichen Föten aus bevölkerungspoliti­schen Gründen.
Laut Stern führte Dr. Pai im vergangenen Jahr 40.000 Abtreibungen durch, das wären (bei einer Fünf-Tage Woche à 8 Stunden) 153 täglich, d.h. drei Minuten pro Abtreibung…

Kasten:

Melania

Im Rahmen eines Projektes, das bessere Überlebenschancen für die teilweise nomadischen Mapuches der Provinz Lonquimay (in den chilenischen Anden) erarbeiten sollte, besuchte ich gemeinsam mit einer chilenischen Soziologin und einem Vertreter der Stadtregierung von Lonquimay verschiedene Siedlungen der Mapuche und wir befragten sie über ihre Lebensbedingungen.
Melania und ihre Famile leben in El Naranjo, einer Siedlung aus wenigen Holzhütten, nahe bei einem Bach, umgeben von hohen Hü¬geln. Neben der Hütte ist ein kleines Kartoffelbeet, sonst unbe¬wachsene Erde.
Ihre Hütte besteht aus zwei Räumen, der “Küche” mit einem Herd, der aus einer Blechtonne hergestellt wurde, und einem Schlafraum, wo es für 11 Personen zwei Betten gibt, und Ziegenfelle.
Mit ihrem jetzigen Mann hat Melania, die 36 ist und wie 50 aus¬sieht, neun Kinder. Die älteren Kinder aus einer früheren Verbin¬dung arbeiten als Saisonarbeiter bei der Obsternte im zentralen Tal. Nie schicken sie Geld nach Hause, was Melania gar nicht begreifen kann.
Der jüngste Sohn, Santo, ist drei bis vier Jahre alt. Er ist nur mit einer zerrisse¬nen Unterhose bekleidet, während wir mit Pullover und Anorak frösteln. Die Tochter Ludminda besitzt eine Puppe. Die Puppe ist blond und blauäugig und ihr größter Reichtum.
Ganz plötzlich und unaufgefordert beginnt Melania von der Geburt von Santo zu sprechen. Als sie zur Entbindung im Krankenhaus war, sagte ihr der Arzt, jetzt reiche es aber mit dem Kinderkriegen, sie habe doch schon viel zu viele Kinder, das müsse jetzt endlich aufhören.
Das erzählt sie uns, die sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben sieht, ungfragt, drei oder vier Jahre später, immer noch mit Tränen in der Stimme. Dies ist die schlimmste Kränkung, die ihr je zugefügt wurde. Wenn sie keine Kinder mehr kriegen darf, was kann sie dann überhaupt noch, welchen Wert hat sie noch? Wie kann der Arzt ihr einfach verbieten, ihr Eigenes zu tun?
Und sie hat seitdem keine Kinder mehr geboren.
Warum ist Melania so tief gekränkt? Weil ein Fremder über sie be¬stimmt? Weil er sie (heimlich?) sterilisiert hat? Weil ihr Mann nicht zufrieden ist, daß sie keine Kinder mehr bekommt?
Was bedeuten für sie die Kinder? Einen Lebenssinn? Eine Selbstbestätigung, eine Altersversicherung, den Inhalt ihrer Existenz, die aus Arbeit und Elend besteht?
Warum war Melania uns gegenüber so aufgeschlossen und mitteilsam, obwohl wir doch sichtlich der gleichen Gesellschaftsschicht ange¬hören wie der Arzt? War es der Leidensdruck, die Empörung?

Holde Pinnow

Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Fujimori: Der Mythos zerplatzt

6.000 Verhaftungen und mindestens 15 Tote weist die Bilanz der ersten Woche nach dem 8.August aus. Schon vor der Verkündung des Wirtschaftsprogramms war das Land in Ungewißheit über die zu erwartenden Reissteigerungen praktisch stillgelegt. HändlerInnen hielten die Waren zurück, oder verkauften nur zu astronomisch hohen Schwarzmarktpreisen, während die Polizei dafür eingesetzt wurde, gehortete Waren demonstrativ zum offiziellen Preis zwangszuverkaufen. Kaum war das Ausmaß der von Fujimori geplanten Anpassungsmaßahmen bekannt, entlud sich die Entrüstung der Bevölkerung in Demonstrationen und Plünderungen. Einen Tag vor der Vorstellung des Programms hatte der Präsident gerade noch rechtzeitig den Ausnahmezustand für Lima und neun weitere Departements verlängert, so daß Militär und Polizei nahezu ungehindert von gesetzlichen Beschränkungen einschreiten konnten.
Die Radikalität der Maßnahmen Fujimoris dürfte vor allem das Ergebnis seiner vor kurzem in Japan und den USA geführten Gespräche sowohl mit Regierungsstellen als auch mit Vertretern von IWF und Weltbank sein. Um die Kredit-ürdigkeit Perus wiederherzustellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach den aus Washington gestellten Bedingungen zu richten. Die völlige Ausplünderung der Devisenreserven mangels anderer Geldquellen und die tiefste wirtschaftliche Krise der neueren peruanischen Geschichte lassen ihm da keine andere Möglichkeit. Obwohl er die Wahl gegen Mario Vargas Llosa gerade wegen seiner Ablehnung eines Schockprogramms zur “Gesundung” der Wirtschaft gewonnen hatte, hält sich Fujimori an die von den Washingtoner Institutionen etablierten Spielregeln: Der Wechselkurs des Inti wurde freigegeben. Ab sofort soll das freie Spiel der Marktkräfte den Wert des Inti gegenüber dem Dollar regulieren. Die Beschränkungen auf Importe wurden weitgehend aufgehoben. Grundsätzlich gilt wie 1985 in Bolivien, 1989 in Brasilien, und in so vielen anderen Ländern der Peripherie, daß freie importe die nationalen Produzenten der internationalen Konkurrenz aussetzen und somit effektivieren sollen. Es sei denn, die nationale Produktion stirbt vorher eines schnellen Todes. Die Erfahrungen mit der Durchführung von Strukturanpassungsprogrammen in vielen Ländern zeigen, daß die Gefahr einer Rezession bis hin zur Existenzbedrohung der nationalen Produktion außerordentlich groß ist. Genauso oft ist dies heraus-gestellt und kritisiert worden, aber nichtsdestotrotz wird das universal gültige IWF-Sanierungsrezept bisher nicht modifiziert.
Der für die Menschen in Peru am unmittelbarsten spürbare Teil des Maßnahmenkataloges besteht in den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Benzin. Für Zucker, Milch, Brot und Nudeln stiegen die Preise zwischen 200 und 300%. Am schwersten wiegt die Benzinpreissteigerung um das Dreißigfache(!). Jede Verteuerung des Benzins bedeutet höhere Transportkosten und schlägt somit wiederum auf fast alle anderen Preise durch. Zur sozialen Abfederung erhöhte Fujimori den Mindestlohn auf umgerechnet 50 US$.Fast gleichzeitig wurde der Warenkorb des Mindestnotwendigen amtlich mit 270 US$ im Monat angegeben: Die Kapitulation vor der Armut, statistisch fixiert.

Der Präsident auf der Suche nach Verbündeten

Fujimori wurde gewählt, weil er den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ohne Schockprogramm versprach. Nun führt er genau dieses durch und muß sich um politische Unterstützung bemühen. Entgegen verbreiteter Spekulationen und Unterstellungen im Wahlkampf hat Fujirnori die APRA konsequent von den wichtigen Positionen seiner Regierung ferngehalten. Die APRA ihrerseits erregt sich über den Wahlbetrug und darüber, daß sich das Wirtschaftsprogramm kaum von den Vorschlägen Vargas Llosas unterscheidet. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Ex-Regierungspartei zunächst einmal mit ihrer eigenen Krise beschäftigt ist und außerdem wohl eine Einladung zum Mitregieren nicht ausgeschlagen hätte. Der verschmähte Bräutigam ist beleidigt.
Programmatisch steht Fujimori inzwischen Vargas Llosas Vorschlägen am nächsten, ohne jedoch auf die Unterstützung der Rechten bauen zu können, nachdem er ihr in der Wahl gerade erst den sicher geglaubten Sieg abgenommen hat. Vargas Llosa hat sich nach Europa zurückgezogen. Sein “Movimiento Libertad”, in-zwischen in “Liberale Partei” umbenannt, soll nach dem Verständnis der Parteiführer um Alvaro Vargas Llosa und Enrique Ghersi die reine Lehre der totalen Marktwirtschaft in Opposition zur Regierung weitertragen. Ihr Diskurs beruft sich auf Modernität und Effektivität. Die traditionellen Konservativen sind für sie die eigentlichen Schuldigen an der Wahlniederlage, da sie zu sehr der “alten” Klientelwirtschaft und Korruption verhaftet seien. Stattdessen soll wiederum Vargas Llosa diese neue Rechte 1995 in den Wahlkampf führen. Trotz der inhaltlichen Nähe zu Fujimori können sie ihn von rechts durch einen zumindest verbal noch radikaleren marktwirtschaftlichen Diskurs attackieren, ohne für die Folgen der Anpassungsmaßnahmen jetzt politisch verantwortlich zu sein. Nur müßten sie es schaffen, bei einem Scheitern Fujimoris das Volk für ein, gegenwärtig nicht gerade populäres, noch radikaleres marktwirtschaftliches “Rettungsprojekt” zu gewinnen.

Das Kabinett: Alle dürfen mal

Abgesehen von der eindeutigen Ablehnung der Ex-Regierungspartei und der (zumindest bisherigen) Opposition der Neuen Rechten zeigt Fujimoris Kabinettsliste eine eklektische Mischung von Inhalten und Personen:
Starker Mann im Kabinett ist Juan Carlos Hurtado Miller, in Personalunion Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kommt aus der Acción Popular(AP) des konservativen Ex-Präsidenten Belaunde, eine der im Wahlkampf zum Rechtsbündnis FREDEMO zusammengeschlossenen Parteien zur Unterstützung der Kandidatur Mario Vargas Llosas. Hurtado hätte die AP wohl gerne in eine Koalition mit Fujimoris “Cambio 90 geführt. Trotz des Bruchs der FREDEMO konnte er die AP aber nicht dazu bewegen, und so mußte er aus der Partei aus-treten, um das Regierungsamt antreten zu können. ihm blieb die undankbare Aufgabe überlassen, für den Wirtschaftsplan der ersten Tage zusammen mit Fujimori verantwortlich zu zeichnen.
Drei Ministerien gingen an linke PolitikerInnen : Fernando Sanchez Albaneyra als Minister für Energiewirtschaft und Carlos Amat y León für Landwirtschaft kommen von der “Izquierda Socialista”(IS), Erziehungsministerin Gloria Helfer von der “Izquierda Unida”(IU) . Die politische Linie der beiden zerstrittenen Bruchstücke der einstmals starken IU ist noch nicht auszumachen. Einerseits befinden sich die drei MinisterInnen im Kabinett, andererseits stehen die Parteiführungen, ganz zu schweigen von der Basis, in klarer Opposition gegen die Schockpolitik.

Machtgrundlage Militär: Priorität für dasautoritäre Modell

Zwei wichtige Positionen werden von Militärs besetzt: Innenminister wurde General Adolfo Alvarado, ein aktiver Offizier, während das Verteidigungsministerium von einem General im Ruhestand, Jorge Torres Aciego, übernommen wurde. Torres war Berater des reformistischen Militärregimes Velasco Alvarado gewesen. Neben der Suche nach einer Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat baut Fujimori offensichtlich auf die Streitkräfte als Machtbasis. Direkt nach Amtsantritt nahm er Umbesetzungen an der Spitze des Militärs vor. Marineoberbefehlshaber Admiral Alfonso Panizo mußte gehen, ebenso wie Luftwaffengeneral Germán Vucetich. Solidantätsadressen an die abgesetzten Offiziere zeigen, daß die Entscheidungen im Militär nicht unumstritten sind. Die argentinische “Página12 berichtet sogar von offener Rebellion in der Marine gegen die Degradierungen. Aber Fujimori hat sich in der ersten Machtprobe durchgesetzt. Dazu der FREDEMO-Senator Raúl Ferrero: “Fujimori scheint ein autoritäres Herrschaftsmodell mit der Unterstützung der Streitkräfte anzustreben.” Zunächst einmal hat Fujimori seine Kandidaten in Führungspositionen untergebracht, aber eine weitere Machtprobe steht ihm bevor. Spätestens im November stehen die Beförderungen bei den Streitkräften an, die vom Senat ratifiziert werden müssen. Es ist denkbar, daß die unter Fujimori Zukurzgekommenen versuchen werden, direkt mit den großen Fraktionen im Senat zu verhandeln. Fujimori selbst verfügt dort nur über 23% der Stimmen -nicht genug, um sich ohne politischen Partner bei den Streitkräften den Rücken freizuhalten. Womit er wiederum vor dem Problem der Partnersuche steht …
Während Fujimori am Heranziehen zusätzlicher Stützen seiner Macht arbeitet, bröckeln schon die Pfeiler, auf die er sich verlassen zu können glaubte. Wichtige Mitarbeiter seiner eigenen Partei kündigten ihm bereits die Mitarbeit auf. Darunter ist Santiago Roca, der als Wirtschaftsberater Fujimoris im Wahlkampf gegen die Schockstrategie Vargas Llosas ein Konzept der graduellen Anpassung setzte und vom Sinneswandel Fujimoris genauso kalt erwischt wurde wie die Öffentlichkeit.

Zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzungen

Der Verlauf des ersten Monats nach der Verkündung des Wirtschaftsprogramms bestätigt die Befürchtungen über die zunehmende Militarisierung der politischen Auseinandersetzung. Für den 16. August riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die kommunistische CGTP (Confederacion General de Trabajadores del Perú) und die apristische CTP (Confederacion de los Trabajadores del Perú) zu einem nationalen Protesttag auf. Versuchte Demonstrationen wurden von Polizei und Militär aufgelöst. Von Gewerkschaftsseite wurde von 30 Verletzten und über 200 Verhafteten gesprochen. Eine Streikwelle angefangen von den Bankangestellten bis zu den Sozialversicherungen legt immer wieder Teile des Landes lahm. Für den 21/22. erklärte die CGTP den Generalstreik, ebenso wie die CTP für den 24.August. Die Berichte über dessen Verlauf sind scheint weitgehend befolgt worden zu sein.
Ebenfalls für den 2l.und 22.August rief Sendero Luminoso zu einem “Paro Armado”, einem bewaffneten Streik, auf. Sowohl Sendero als auch MRTA haben seit Anfang August wieder durch ganze Serien von Anschlägen auf sich aufmerksam gemacht. So plazierte Sendero z.B. eine Autobombe direkt hinter dem Präsidentenpalast. Die Meldungen von Juli über die tiefe Krise Senderos scheinen etwas verfrüht gewesen zu sein. Trotzdem war der 21.August offenbar kein voller Erfolg für die Senderistas. Der Streik verlief -unter dem Druck der Repression-relativ ruhig.

Allein gegen fast alle

Die Frage für Fujimori ist, ob er das Strukturanpassungsprogramm gegen die entschiedene Opposition der meisten politischen Kräfte, ohne Mehrheit im Parlament, diskreditiert in der öffentlichen Meinung und gestützt fast nur auf bestimmte Kreise der Streitkräfte und einige Abgeordnete durchsetzen kann. In Bolivien 1985 waren die Maßnahmen kaum weniger einschneidend, aber die Volksbewegung befand sich in einer tiefen Krise, und in der Bevölkerung gab es eine ausgeprägte “Da müssen wir durch” -Stimmung. Die Proteste der Opfer -der Bevölkerung der Minengebiete z.B. -wurden in der öffentlichen Meinung schlicht nicht zur Kenntnis genommen, noch weniger auf politischer Ebene. Zwar ist inzwischen eine leichte Stabilisierung zu beobachten, einige Preise wurden wieder etwas herabgesetzt, weil die Nachfrage fast auf Null gesunken war. Trotzdem wird in Peru eine höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung nicht so leicht zu erreichen sein. Ohne ein Konzept zur Beendigung des Krieges wird kein peruanischer Präsident eine breite Unterstützung im Volk bekommen. In den “Sectores Populares”, der Masse der Bevölkerung, sind Sympathien für Sendero nur sehr begrenzt vorhanden. Eine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Volksbewegung, ohne die Sendero nicht zu bekämpfen ist, ist aber unter den Prämissen von wirtschaftlichem Schockprogramm und Militarisierung der politischen Auseinandersetzung nicht vorstellbar. So scheint Fujimori schließlich auf dem Weg in die gleiche Sackgasse wie seine Vorgänger zu sein. Er wählt Repression und erklärt damit nicht nur Sendero, sondern auch gleich Gewerkschaften und Volksorganisationen zu seinen Gegnern. Bis jetzt ist er konsequent in der Anwendung seiner Mittel: für die Woche vor dem 18.9. werden allein aus Lima 25.000 vorläufige Verhaftungen gemeldet. 4.000 der Betroffenen wurden bis jetzt nicht wieder frei-gelassen. Als Legitimation dient der “Kampf gegen die Subversion”.
Wie sagte Herr Alberto Fupmori so schön, als er sich zum ersten mal nach Amts-antritt wieder in der Öffentlichkeit zeigte: “Alles, was heute scheinbar nicht vorteilhaft für das Volk ist, ist es im Grunde genommen doch.” Na also!

Ministrabler Ex-Guerillero

Noch vor gut einem halben Jahr war Antonio Navarro Wolff eine der Führungs­persönlichkeiten der Guerilla M-19. Unter der Führung von Carlos Pizarro ging die M-19 den Weg in die politische Legalität und konstitutierte sich als Partei. Der Mord an Pizarro im Mai diesen Jahres vor den Präsidentschaftswahlen schien die Aussichtslosigkeit einer legalen linken politischen Aktivität zu bewei­sen. Trotzdem hat sich in Kolumbiens politischem System durch die Einbezie­hung eines Ex-Guerilleros als Minister in die Regierung etwas geändert. Noch vor kurzer Zeit wäre dieses völlig undenkbar gewesen.
Der neugewählte Präsident Cesar Gaviria steht wie seine Vorgänger vor dem Problem, daß das formal-demokratische System Kolumbiens das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung verloren hat. Nicht einmal die Hälfte der Wahl­berechtigten geht wählen. Der Staat ist über hochrangige Militärs zu offensicht­lich und zu eng mit der Aktivität der Todesschwadronen und den Interessen der Oberschicht kompromittiert. Gaviria ist Teil des Establishments – die Präsident­schaftskandidatur der dominierenden Liberalen Partei ist ohne viele Kompro­misse mit Lobbyisten und Geldgebern kaum zu erreichen. Aber er scheint erkannt zu haben, daß es mit der Verwaltung der Macht bzw. der Verwaltung des Krieges nicht so weitergehen kann, ohne daß sich die kolumbianische Gesell­schaft noch weiter polarisiert. Die Einbeziehung der M-19 in die Regierung ist im Zusammenhang mit dem Projekt einer Verfassungsreform zu sehen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die formal-demokratischen Institutionen wieder­herstellen soll. Am 25.November soll eine 80-köpfige verfassungsreformierende Versammlung gewählt werden. Ihr sind jetzt schon enge Grenzen gesetzt. Ein Themenkatalog ist bereits definiert ebenso wie die Vorgabe, daß die bestehende Verfassung in jedem Fall Grundlage der Reformen sein muß. Für eine wirkliche Verfassungsreform bleibt dort wenig Platz. Außerdem müssen alle Vorschläge vom Obersten Gerichtshof ironischerweise auf ihre Verfassungsmäßigkeit, (gemessen an der Verfassung, die sie gerade reformieren sollen) überprüft wer­den. Eine Vetoinstanz gegen allzu große Selbständigkeit der Versammlung ist also eingebaut.
Ein Blick auf die ersten Personalentscheidungen des neuen Präsidenten zeigt, wie eng offenbar auch seine politischen Spielräume und wie begrenzt sein politischer Wille für Reformen sind. Im Kabinett sitzen neben Navarro Wolff nur Vertre­terInnen der traditionellen Parteien. Das Bündnis der beiden großen Parteien, der Liberalen und Konservativen, hat in Kolumbien eine fatale Tradition. Jahrzehn­telang hatten sie qua Absprache die Macht unter sich aufgeteilt und damit den in der Theorie demokratischen Charakter des Systems so pervertiert, daß das Miß­trauen der KolumbianerInnen nur konsequent ist. Auch an das Militär hat Gavi­ria Konzessionen machen müssen. Zwar gab es ein größeres Stühlerücken in den höchsten Positionen, jedoch kamen außerordentlich zweifelhafte Figuren an die Spitze der Streitkräfte. Der neue Oberbefehlshaber Roca Maichel wurde von ehemaligen Mitgliedern seiner Einheit beschuldigt, der Mafia beim Transport eines Kokainlabors geholfen zu haben. Ein Militärgericht sprach ihn frei. Der nach Dienstalter Zweite, General Farouk Yanine, ist in die Bildung von para­militärischen Gruppen im Tal des Magdalena Medio (nördlich von Bogotá) verwickelt.
Was kann ein einzelner linker Minister in solch erlauchtem Kreise tun? Vom kollektiven Marsch durch die Institutionen ist die kolumbianische Linke weit ent­fernt. Trotzdem ist die Flucht nach vorn der M-19 verständlich. Mit ihrem bewaffneten Kampf war die Guerilla in eine Sackgasse geraten. Die Ernennung eines Ex-Guerilleros zum Minister hat nicht viel mehr als Symbolwert, aber die­ser ist nicht zu unterschätzen. Nicht, daß der bewaffnete Kampf in Kolumbien sich erübrigt hätte, die Gründe für ihn bestehen weiter und können unter bestimmten Bedingungen auch wieder zu einem Weg des jetzt legalen Teils der Linken zurück in den Untergrund führen, sei es zum bewaffneten Kampf oder zu anderen Formen der politischen Arbeit. Die bitteren Erfahrungen der Unión Patriótica und des M-19 selbst mit der Ermordung ihrer KandidatInnen sprechen für sich. Was bleibt, ist die Hoffnung, vielleicht einen winzig kleinen politischen Spielraum für progressive Politik nutzen zu können.

Ein (zu) langer Marsch für Territorium und Würde

Mehr als eine “heroische Geste”

Nach 32 Tagen Fußmarsch haben rund 800 Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen Boliviens in der Nacht vom 17. zum 18. September La Paz erreicht. Der lange und beschwerliche Weg von über 650 km von Trinidad aus führte Kinder, Frauen und Männer aus den Wäldern und Ebenen des Beni im Nordosten Boliviens über die Höhen der Anden bis zum Regierungssitz La Paz. Unter dem Motto “Für Territorium und Würde” erreichten die – zu oft vergessenen – Völker der Chimanes, Yuracarés, Mojeños, Sirionó u.a., ein regelrechtes “Erwachen des nationalen Bewußtseins”. Plötzlich scheint sich Bolivien seiner Tieflandbevölkerung bewußt zu werden.
Im ganzen Land gab es in den letzten Tagen und Wochen eine Welle der Solidarität, die die Menge von anfänglich 350 im Laufe des Marsches auf über 750 Menschen anwachsen ließ. Aymaras und Quechuas des Hochlandes schlossen sich dem Marsch an. Solidarische Gruppen begleiteten die Marschierenden, und es wurde für medizinische Betreuung gesorgt. Besonders für die Überwindung des Passes über die Anden vor La Paz, der bis auf eine Höhe von über 4500 Metern ansteigt, war warme Kleidung aus Sammlungen wichtig. Unter den fest entschlossenen DemonstrantInnen befand sich eine große Zahl alter Menschen, schwangerer Frauen und Kleinkinder, die fast alle bis zum Schluß durchhielten.
Während der 32 Tage ihres Marsches erfuhren sie an den Orten, durch die der Weg führte, immer wieder größte Anteilnahme. Sie wurden untergebracht und verpflegt. Die Gewerkschaftsverbände COB und CSUTCB, studentische Gruppen, Ärzteorganisationen und diverse religiöse Gruppen unterstützten die Marschierenden. Von allen Seiten also Zustimmung und Ansporn, selbst die Regierung Paz Zamora ließ gleich zu Anfang verlauten, sie werde alles versuchen, um auf die Forderungen der indianischen Völker einzugehen und für ihre Probleme Lösungen zu finden.

Eine “ökologische Pause”

Präsident Jaime Paz Zamora traf sich gar in Yolosa (Provinz Nor Yungas) mit den Sprechern der Marschierenden. Offiziellen Verlautbarungen zufolge sind sie im Dialog zu “vorläufigen Ergebnissen” gelangt. Aber wirklich ernstzunehmende Zusagen, die Lösungen der von den mehr als 30 ethnischen Gruppen aus dem Beni aufgeworfenen Problemen garantieren würden, gibt es noch nicht. Wohl inspiriert durch das weltweite Wirken der Öko-Bewegung erklärte Paz Zamora im Kongreß schleunigst eine “ökologische Pause” von fünf Jahren.
Im Juli kündigten die Indigena-Organisationen ihren Marsch an. Ca. 10.000 Indigenas laufen Gefahr, ihr Land zu verlieren. Expandierende Viehfarmen, profitsüchtige Holzfirmen und tausende von Coca-anbauenden Familien und neuen Siedlern bedrohen die Grundlage ihrer Lebensform und damit ihrer Identität. Sie gaben der Regierung bis Anfang August Zeit, ihre Organisationen als legitime Vertretung anzuerkennen und ihren Forderungen nachzukommen und drohten mit Demonstrationen und bewaffneten Aufständen. Auf dem zweiten Treffen der “Einheit der indigenen Völker für Territorium und Würde” Ende Juli wurde der Forderungskatalog erstellt, der Ausgangspunkt des Marsches war.

Bedrängte Völker

Drei Territorien werden schon seit 1988 von den BewohnerInnen des Beni gefordert: Der “Bosque de Chimanes, “El Ibiato” und der Nationalpark “Isiboró-Sécure”. Die Probleme sind im immer wieder die gleichen.
Im “Wald der Chimanes” leben etwa 6.000 Menschen, die nicht nur dem Volk der Chimanes angehören, sondern auch anderen Ethnien, so z.B. den Trinitarios, Ignacianos, Yucarés und Movimas. 1978 wurde ein Großteil der Region, 1,2 Mio. ha, zur “Reserva de inmovilización forestal” (eine Art Waldschutzgebiet) erklärt. Dies sollte den dort lebenden Gruppen eine relative Sicherheit und Aufrechterhaltung ihrer Lebensweise erlauben. Der Dachverband der indigenen Völker des Beni (CPIB) berichtete, daß die größten Probleme anfingen, als die Hälfte der Region zur wirtschaftlichen Ausbeutung freigegeben wurde. Sofort drangen viele Holzunternehmen in das Gebiet ein, um die Edelhölzer auszubeuten. Wege und Straßen wurden angelegt und Sägewerke gebaut. Mit den Straßen kamen die SiedlerInnen und beschleunigten die unkontrollierte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Waldes. Die Abfälle der Sägewerke verunreinigen die Gewässer. Die Gesetzgebung bezüglich der Ausbeutung des Waldes hat bestenfalls symbolischen Wert. Innerhalb von vier Jahren wurde von sieben Firmen über die Hälfte des Mahagoni-Bestandes abgeholzt. Inzwischen fordern die Firmen von der Regierung schon Nutzungsverträge über 10-20 Jahre statt der jährlich zu erneuernden Genehmigungen.
Vor einem Jahr schlug eine Kommission die Landzuweisung an die Chimanes am Rand des von den Holzfirmen genutzten Waldes vor. Für die Chimanes ein völlig unannehmbarer Vorschlag, denn, so die CPIB, es fehlen die notwendigen Gebiete für Feldbau, Fischfang, Jagd- und Sammelwirtschaft, die unentbehrlich für das Überleben der BewohnerInnen der Region sind. Die Chimanes fordern, das Gebiet als “indianisches Territorium” auszuweisen. Dies impliziert, daß die Holzfirmen das Gebiet verlassen müßten, um eine selbstbestimmte Nutzung des Waldes durch dessen BewohnerInnen zu ermöglichen. Auch die Sirionó im “Ibiato”, die sich schon in bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Viehzüchtern befanden, und die ca. 700 Familien im Nationalpark Isiboró-Sécure, die vom Massenansturm der SiedlerInnen aus dem Hochland bedroht werden, kämpfen für das alleinige Nutzungsrecht auf ihrem Land. Sie wehren sich nicht prinzipiell gegen die Kolonisierung, aber wollen in Verhandlungen mit den Organisationen der “Colonos” Grenzen der Kolonisierungsgebiete und Regelungen über den Landverkauf festlegen. Paz Zamoras “ökologische Pause” soll dem Zweck dienen, “den unbarmherzig ausgebeuteten Waldressourcen eine Erholung zu ermöglichen und das Überleben der Waldbewohner zu sichern.” Nur, wer setzt dies im bolivianischen Oriente durch? Eine der BeraterInnen des Präsidenten, Carmen Pereira, ist selbst wichtigste Aktionärin eines der großen Edelholzunternehmen – ein Schlaglicht auf die Macht der Firmen. Es verwundert nicht, daß die Territorialentscheidungen umstritten sind, denn es geht, wie inzwischen alle Beteiligten zugeben, um politische Entscheidungen über Millioneninvestitionen und -gewinne.

Lama-Opfer, Menschenkette und Kirchenglocken

Die Begrüßung der Marschierenden auf der Paßhöhe durch Hunderte von Aymaras und Quechuas war schlicht ergreifend. Das ganze Land konnte auf dem Bildschirm verfolgen, wie gefeiert und musiziert wurde. Größtes Ereignis für die Kameras war schließlich die Opferung eines Lamas, dessen Blut aus der durchschnittenen Kehle der Mutter Erde dargebracht wurde. Eine Menschenkette aus StudentInnen, ArbeiterInnen, LehrerInnen und anderen BürgerInnen aus La Paz umgab die Menschenmenge, um sie sicher in die Stadt zu begleiten. Unter Glockengeläut der Kathedrale warteten nun die VertreterInnen der indigenen Völker auf der Plaza Murillo auf das erste Treffen mit der Regierung. Ein erster Vorschlag der Regierung, die Holzfirmen sollten sich innerhalb von elf Monaten nach Ablauf (!) ihrer Konzessionen aus dem Gebiet der Chimanes zurückziehen, wurde von den Indigenas natürlich abgelehnt, weil dadurch das Tempo der rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen nur beschleunigt würde.
Am 20. September kam es zu ersten Ergebnissen: Im Bosque de Chimanes sollen 160.00 – 170.000 ha Land den Indigenas zugewiesen werden. Die drei Holzfirmen, die in diesem Gebiet arbeiten, haben nur noch eine Frist bis Ende Oktober diesen Jahres. Auch im Ibiato sollen über 50.000 ha den BewohnerInnen zurückgegeben werden. Für den Nationalpark Isiboró-Sécure liegen noch keine genauen Zahlen vor. Für die Indigenas ist dies allerdings erst ein Zwischenergebnis. Teilzugeständnisse reichen ihnen nicht mehr. Vorerst bleiben sie in La Paz.

Kasten:

Der Marsch in der bolivianischen Presse

“Der Marsch ist eine entschiedene Aufforderung an den Staat, an das nationale Bewußtsein, um uns daran zu erinnern, daß dort in den amazonischen Wäldern andere tausende Bolivianer leben, deren Bürgerrechte bis heute nicht berücksichtigt wurden – gleichzeitig ist er eine Anklage gegen die brutalen und unabänderlichen ökologischen Schäden, die durch die unersättliche Gier der Ausbeuter von Wald, Wildtieren und anderen natürlichen Reichtümern verursacht wurden. Und endlich warnen uns die indianischen Völker; wenn es uns nicht gelingt, diese Region zu integrieren, wird die nationale Souveränität weiterhin von Plünderungen und von fremden Interessen bedroht werden.”
(Los Tiempos, Cochabamba, 16.9.1990)

Widerstand im Weltsystem

Fünf Aufsätze von A.G.Frank und M.Fuentes haben die HerausgeberInnen Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy in diesem im Promedia-Verlag 1990 erschienen Buch zusammengefaßt. Abschluß bildet ein Gespräch der AutorInnen mit den HerausgeberInnen.
“Politische Ironien in der Weltwirtschaft” (A.G.Frank) gibt eine Bewertung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien in den letzten beiden Jahrhunderten. Im folgenden Aufsatz “Amerikanisches Roulette im globalen Kasino” folgt eine Analyse der aktuellen Weltwirtschaftskrise und deren Entwicklung. Im Kapitel “Die Unterentwicklung der Entwicklung” nehmen die AutorInnen Abschied von der von A.G.Frank mitentwickelten Dependenztheorie. Es folgt eine Darstellung der Frauenbewegung in Chile ab der Regierung Frei bis in die Gegenwart (M.Fuentes). Dann der Aufsatz “Von der Revolution zur sozialen Bewegung” mit einer Bewertung der außerparlamentarischen Bewegungen in den Metropolen und den Ländern der “Dritten Welt”. Den Abschluß des Buches bildet das Gespräch mit den HerausgeberInnen “Die Erde ist rund”, in dem die Leitgedanken der zusammengefaßten Aufsätze vertieft und hinterfragt werden.
Das Buch kreist um zwei zentrale Fragen: Die Möglichkeiten der Länder der “Dritten Welt” zur Entwicklung im kapitalistisch dominierten Weltwirtschaftssystem, wobei der Zusammenbruch des realen Sozialismus von A.G.Frank im Ansatz seiner Gedankenführung teilweise vorweggenommen wird. Zum zweiten in der Rolle der sozialen Bewegungen als nicht institutioneller und nicht parteilicher Träger von Politik, denen beide AutorInnen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung zuweisen.
Frank revidiert explizit seine Thesen von 1962, daß “ein Ausbrechen aus der Unterentwicklung…nur außerhalb des kapitalistischen Systems und nur nach einer Befreiung durch eine sozialistische Revolution möglich (ist)”. Die Revision dieser These wird an der historischen Entwicklung verdeutlicht und belegt, eine Alternative dagegen nicht aufgezeigt. Die AutorInnen setzen jedoch gerade auch für die “Dritte Welt” große Hoffnungen in die Entwicklung der sozialen Bewegungen in den Metropolen und der “Dritten Welt”.
Ausgehend von den Thesen, daß Staat und Staatsmacht (und gleichermaßen traditionell parteimäßig organisierte Gruppen) immer weniger in der Lage sind eine Vielzahl von sozialen und individuellen Anliegen befriedigend zu lösen (S.192) und daß politische Entscheidungen so gut wie keinen Einfluß auf ökonomische Prozesse haben. (S.200f.), wird der zentrale Gedanke von der Bedeutung von der Bedeutung der sozialen Bewegungen als Trägerinnen des gesellschaftlichen Fortschritts erarbeitet. Dabei entwickelte – sicherlich umstrittene – Thesen sind, daß es bei den Bewegungen im positiven Sinn um den eingeschlagenen Weg und nicht das Ziel auf das zugesteuert wird geht (S.210). Weiterhin wird ein Zusammenhang zwischen dem Auf- und Abschwung der sozialen Bewegungen auf der einen und den Weltwirtschaftszyklen auf der anderen Seite behauptet.
Das Buch wirft die zentralen Fragen der entwicklungstheoretischen Diskussion auf, die durch das Gespräch zwischen HerausgeberInnen und AutorInnen – ein interessanter Ansatz dieses Buches – sinnvoll akzentuiert und herausgearbeitet werden.

Hannes Hofbauer/Andrea Komlosy: André Gunder Frank/Marta Fuentes Frank – WIDERSTAND IM WELTSYSTEM, Promedia-Verlag, Wien 1990

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