Kino abseits des Latinohypes

„Cine Global bringt die Filme ins Kino, die ins Kino gehören, aber von den grösseren Verleihfirmen nicht ins Kino gebracht werden“, erklärt Daniel Ó Dochartaigh, Gründer von Cine Global. Der engagierte Lateinamerika-Liebhaber sieht sich auf der Suche nach Filmjuwelen auf internationalen Filmfestivals um.
Er hat festgestellt, dass viele kleine Produktionen es nie bis in die deutschen Kinos schaffen: „Mit ihnen lässt sich nicht genug Geld verdienen, es gibt zu wenig oder gar keine Förderung und ein Verkauf ans Fernsehen ist unmöglich.“ Hier setzt die Idee von Cine Global und der Reihe Cinespañol an. Rund fünf spanischsprachige Filme bringt der Verleih pro Jahr in die deutschen Kinos. Die Filme der ersten Edition, die in mehr als 50 Städten in Deutschland und Österreich zu sehen waren, sind nun auf einer DVD-Box vereint und bieten einen guten Einblick in das kreative Autor_innenkino Lateinamerikas – abseits des Mainstreams. „Aufgrund unserer Größe könnten wir beim Kauf mancher Filmrechte gar nicht mithalten. Aber es gibt eben auch viele kleine Produktionen, die wesentlich günstiger zu haben sind als die ein, zwei großen Latinohypes jedes Jahr”, sagt Daniel Ó Dochartaigh.
Dabei versammeln sich auf der Box keine namenlosen Regisseur_innen. Auch in Deutschland dürfte das Filmschaffen von Daniel Burman bekannt sein. In El Nido Vacío lässt er die beiden argentinischen Schauspielgrössen Cecilia Roth und Óscar Martínez in die Rolle eines in die Jahre gekommenen Ehepaars schlüpfen. Die Kinder sind erwachsen und ziehen aus. Zurück im „leeren Nest“ bleiben verlassene Eltern, die sich erst wieder kennen lernen müssen.
Ein weiterer Höhepunkt der Box ist die kubanische Liebesgeschichte Personal Belongings. Der Einzelgänger Ernesto und Ana, ebenfalls eine Einzelgängerin, lernen sich kennen. Und lieben. Doch während sich die bodenständige Ana mit dem Leben auf der Insel arrangiert hat, gibt es für Ernesto nur einen Traum: Kuba zu verlassen, so schnell wie möglich. So schließen die beiden den Pakt, sich nicht zu verlieben. Wer ihnen dabei zuschaut, weiß bald, dass ihnen das nicht gelingen wird. Dennoch bleibt der Ausgang der Geschichte bis zum Schluss ungewiss. Kann die Liebe Ernesto dazu bringen, auch sein Vaterland wieder schätzen zu lernen?
Aus Mexiko stellt Cine Global den Film Abel vor. Das Regiedebut des Schauspielers Diego Luna ist eine einfühlsame Satire über das Leben in einer mexikanischen Familie und deren Zerfall. Der neunjährige Abel hat aufgehört zu sprechen, seit sein Vater die Familie in Richtung USA verlassen hat. Zwei Jahre hat er in einer Klinik verbracht – ohne Erfolg. Jetzt darf er zurück nach Hause und merkt schon bald, dass ein männliches Familienoberhaupt fehlt. Kurzerhand übernimmt er selbst die Rolle des Vaters und Ehemanns. Schwierig wird es, als der echte Vater eines Tages wieder vor der Tür steht. Abel dreht sich aber nur vordergründig um die Psyche des Jungen. Der Film beschreibt beispielhaft die Situation vieler Kinder Lateinamerikas, die ohne Vater aufwachsen.
Ein anderes Familienporträt zeichnet Zona Sur, eine der seltenen Produktionen aus Bolivien, die es bis nach Europa geschafft haben. Erzählt wird die Geschichte einer Familie der Oberschicht, deren Leben sich durch die Machtübernahme von Evo Morales grundlegend ändert, langsam ihre Privilegien verliert, dies aber nicht wahrhaben will. Die außergewöhnliche Kameraführung erzeugt dabei bei den Zuschauer_innen eine schwindelerregende Beklemmung, die den oberflächlichen und beziehungsarmen Familienalltag charakterisiert.
Die DVD-Box ist nun die Chance für alle, die die Filmreihe Cinespañol im Kino verpasst haben. Alle Filme sind in der spanischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln versehen. Momentan tourt bereits die zweite Version der Filmreihe durch deutschsprachige Kinos. Und eine dritte Edition ist schon in Planung und soll im Dezember 2013 starten, unter anderem mit den Filmen Torrente 4, De Martes a Martes und Tiempos Menos Modernos.

Die komplette DVD-Box Cinespañol ist beim Cine Global Filmverleih direkt im Internet auf www.dvd.cinespanol.de zu einem Preis von 33 Euro erhältlich. Weitere Informationen, Termine und Kontakte auf www.cinespanol.de. Auf Wunsch können dort auch weitere Termine für Gruppen oder Organisationen gebucht oder Unterrichtsmaterialien zu den einzelnen Filmen heruntergeladen werden.

Kleine Schritte in Havanna

Das Datum des „Marsches für den Frieden” war bewusst gewählt: Am 9. April wird in Kolumbien jenes Tages im Jahr 1948 gedacht, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der liberale Caudillo und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat, im Zentrum Bogotás erschossen wurde. Der daraufhin ausbrechende Aufstand in der Hauptstadt, der Bogotazo, mündete in den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Aufgrund seiner Grausamkeit sollte dieser schlicht als La Violencia in die Geschichtsbücher eingehen.
65 Jahre später schoben sich mehr als eine Million Menschen durch die Straßen Bogotas, um ihre Unterstützung für die Friedensverhandlungen zu zeigen. Dies war das Ergebnis einer politischen Dynamik, an deren Beginn der Aufruf der linken Sammelbewegung Patriotischer Marsch gestanden hatte. Doch schnell hatten auch andere Teile der Gesellschaft und das politische Establishment erkannt, dass man der Marcha Patriótica, ihr nahestehenden Organisationen und damit in gewisser Weise auch der FARC bei der Massenmobilisierung für den Frieden nicht das Feld überlassen konnte. So riefen nicht nur die vom ehemaligen Mitglied der Guerillabewegung M19 Gustavo Petro geführte Stadtverwaltung Bogotás, die katholische Kirche und Unternehmen zur Teilnahme auf, sondern auch die Regierung von Präsident Santos selbst.
Begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit ging es der Regierung wohl vor allem darum, sich von den Massen ihren politischen Kurs noch einmal bestätigen zu lassen. Man wolle die Verhandlungen in Kuba gegen „die Feinde des Friedens” schützen, hatte Santos am Abend zuvor in einer Fernsehansprache gesagt und meinte damit vor allem das rechte Lager um Ex-Präsident Álvaro Uribe. „Dieser versuche“, so Santos, „die Stimmung in der Bevölkerung zu vergiften und den Friedensprozess zu sabotieren.”
Seit die Delegationen von Regierung und Guerilla in Havanna zusammensitzen und verhandeln, vergeht kaum ein Tag, an dem Uribe nicht gegen die Regierungspolitik und ihre Entscheidung für den Friedensprozess wettert. Uribe, der allmählich seine Bewegung Demokratisches Zentrum für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2014 zu positionieren scheint, findet mit seinem Diskurs vor allem bei den Regionaleliten, aber auch bei Militär und Polizei Gehör. Diese stehen zwar offiziell hinter den Friedensverhandlungen, politisch aber tendieren sie eher zur Kriegsrhetorik des umstrittenen Ex-Präsidenten als zur Politik Santos‘. Auch deshalb dürfte die Regierung zweigleisig fahren: Während sie mit der FARC über den Frieden verhandelt, gehen die Kämpfe zwischen Militär und Guerilla weiter. Einen beidseitigen Waffenstillstand, wie die FARC und zivilgesellschaftliche Organisationen ihn gefordert haben, lehnt Santos ab.
Seit November, dem Beginn der Gespräche, geht es im Konferenzzentrum in Havanna bis heute, Anfang Mai, um den ersten der insgesamt sechs Verhandlungspunkte auf der zuvor vereinbarten Agenda: die integrale ländliche Entwicklung.
Ein schwieriges Thema, denn die ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist ein seit Jahrzehnten ungelöstes soziales Problem. Dementsprechend umfangreich sind die Forderungen der FARC, die eine Neuausrichtung der Agrarpolitik fordern, um Armut und Gewalt im ländlichen Kolumbien entgegenzuwirken. Insgesamt präsentierte die Guerilla in den letzten Monaten ganze 100 Vorschläge für eine neue Agrarpolitik. Zu einem großen Teil berief sie sich dabei nach eigenen Angaben auf jene Vorschläge, die Organisationen und Einzelpersonen im Rahmen mehrerer Foren zur Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess an die Verhandlungsparteien herangetragen hatten.
Die zahlenmäßig größte Veranstaltung hatte Mitte Dezember stattgefunden: Mehr als 1300 Vertreter_innen verschiedener Organisationen hatten an einem auf Bitten der Verhandlungsdelegationen von der Organisation der Vereinten Nationen und der Nationale Universität organisierten Forum teilgenommen und über die ländliche Entwicklung diskutiert. Sie erarbeiteten mehr als 400 Vorschläge, die dann nach Havanna übersandt wurden. Anwesend waren bei der dreitägigen Veranstaltung nicht nur kleinbäuerliche, afro-kolumbianische und indigene Gemeinden und Gewerkschaften, sondern auch Vertreter_innen der Agrarindustrie.
Für großes mediales Echo sorgten allerdings nicht die Anwesenden, sondern die Abstinenz des mächtigen Viehzüchterverbandes FEDEGAN. Dessen Präsident José Felix Lafaurie sagte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, es sei unnütz angesichts der offensichtlich antagonistische Positionen mit der FARC über ländliche Entwicklung zu diskutieren. Während Lafaurie dafür Kritik aus fast allen politischen Lagern einstecken musste, wurde er von Uribe für seine Entscheidung gefeiert. Das ist wenig verwunderlich: Uribe sowie vielen Regionalverbänden der Viehzüchter werden enge Beziehungen zu Paramilitärs vor allem im Nordwesten Kolumbiens nachgesagt.
Wie viele der 100 Vorschläge der FARC letztendlich den Weg in einen Friedensvertrag schaffen werden, ist völlig unklar. Denn obwohl sich die Guerilla im Gegensatz zur Regierungsdelegation äußerst kommunikativ zeigt, ist bis jetzt wenig über substanzielle Verhandlungserfolge bekannt. Zwar unterhält die Verhandlungsdelegation der Guerilla einen eigenen Internet-Blog und tritt regelmäßig vor die Presse. Genaues über den Stand der Verhandlungen oder eventuelle Zwischenergebnisse wird hingegen nur selten oder lediglich ansatzweise bekannt. Beispiel Zonas de Reserva Campesina: Das bereits 1994 verabschiedete Gesetz Nr. 160 ermöglicht es, auf Antrag kleinbäuerlicher Gemeinden, bestimmte Schutzzonen einzurichten. Über deren wirtschaftliche Struktur können die Gemeinden weitestgehend autonom entscheiden. Damit soll die Konzentration von Landbesitz und die Ausbeutung des Landes, beispielsweise durch Bergbauprojekte, gestoppt werden.
Die FARC begrüßten die Forderung nach der Einrichtung von 50 derartiger Schutzzonen, eine Zahl, die der Nationale Verband der kleinbäuerlichen Schutzzonen ANZORC an die Verhandlungsdelegationen herangetragen hatten. Regierungsmitglieder, Großgrundbesitzer und Agrarindustrie lehnten ab. Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Reservas Campesinas bei der Umsetzung einer aus den Verhandlungen hervorgehenden neuen Agrarpolitik eine wichtige Rolle spielen werden. Unklar ist jedoch, wie viele solcher Schutzzonen eingerichtet werden sollen und wie hoch die finanzielle Unterstützung der Regierung für deren Einrichtung und Etablierung sein wird.
Doch trotz aller Unklarheiten über substanzielle Ergebnisse scheint es voranzugehen: Die Vertreter_innen beider Verhandlungsdelegationen betonen regelmäßig, dass die Verhandlungen auf einem guten Weg seien. Ein weiteres Indiz ist, dass Ende April bereits das Forum zum zweiten Thema auf der Verhandlungsagenda stattfand, der politischen Teilhabe. Für die FARC stehen dabei vor allem politische Garantien im Vordergrund. Der letzte Versuch, mit der Partei Patriotische Union innerhalb des gesetzlichen Rahmens an der Politik teilzuhaben, endete in der systematischen Ermordung tausender ihrer Mitglieder. Zündstoff, nicht nur bei den Verhandlungen in Havanna, dürfte auch das Thema der Rechtsverletzungen durch FARC-Mitglieder bergen. Kritiker_innen befürchten, dass insbesondere die Führungskräfte der FARC straffrei ausgehen könnten. In einem Brief an 62 Abgeordnete des US-Kongresses schlug die Guerilla ihrerseits die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor.
Ein weiteres Thema wird im Rahmen des zweiten Verhandlungspunktes auch sein, wie im Falle erfolgreicher Friedensverhandlungen mit den Ergebnissen verfahren werden soll. FARC und die Bewegung Patriotischer Marsch fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, die die aktuelle Charta von 1991 reformiert. Die Regierung spricht von einem Referendum, welches im Falle einer Einigung in Havanna notwendig werden würde.
Unabhängig von den Friedensgesprächen in Havanna fand im April zudem der „Kongress für den Frieden“ statt, der von der linken Sammelbewegung Kongress der Völker veranstaltet wurde. Diese ist ein Zusammenschluss verschiedener Basisorganisationen, der jedoch der FARC weniger nahe steht als die Patriotischer Marsch. In der Abschlusserklärung des dreitägigen Kongresses mit über 20.000 nationalen und internationalen Teilnehmer_innen wies der Congreso erneut darauf hin, dass „Frieden nicht nur im Schweigen der Gewehre“ bestehe, sondern tiefgreifende soziale Veränderungen notwendig seien. Seiner Ansicht nach ist die Zivilgesellschaft derzeit nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt: „Wenn das Ende des bewaffneten Konfliktes der Konsolidierung einer demokratische Gesellschaft bedarf, ist es notwendig, die Suche nach dem Frieden zu demokratisieren“ heißt es in der Erklärung.
Lange wird für strukturelle Veränderungen der Friedensgespräche allerdings keine Zeit mehr sein: Aller Voraussicht nach wird Präsident Santos sich 2014 für eine zweite Amtszeit bewerben wollen. Das heißt, dass er spätestens Ende des Jahres Ergebnisse vorlegen muss. Danach werden die Friedensgespräche endgültig zum Wahlkampfthema.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Viel hätte im Dezember letzten Jahres nicht gefehlt, und Evo Morales hätte die bolivianische Bevölkerung öffentlich dazu aufgerufen, für das Leben von Hugo Chávez zu beten. Auch Uruguays atheistischer Präsident, Pepe Mujica, ließ vorsichtshalber eine Messe für dessen Gesundheit verlesen. Denn dass Lateinamerika plötzlich ohne Chávez dastünde, war für viele Menschen in der Region unvorstellbar.
Um zu ermessen, wie ein Lateinamerika ohne Hugo Chávez aussieht, schaut man sich zunächst am besten an, wie es mit ihm aussah. Venezuelas Außenpolitik der letzten 14 Jahre hat sich maßgeblich auf die Region konzentriert und verfolgte dabei vor allem zwei Hauptanliegen: den Kontinent im Sinne Simon Bolívars, dem „Befreier“ Südamerikas, in Solidarität und Selbstbestimmung zu vereinen und den imperialistischen Einfluss der USA in der Region zu beenden.
In der Praxis bedeutete das etwa, den Aufbau regionaler Integrationsstrukturen zu fördern, die unter Ausschluss der USA als Gegengewicht zu von Washington gegründeten regionalen Organisationen agieren sollten. Darunter fallen beispielsweise die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) oder die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), in der erstmals alle Länder Amerikas außer den USA und Kanada vertreten sind. Auch der Aufbau einer Südamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens, wurde von Chávez angestoßen. Weiterhin gründete er die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), ein regionales Wirtschaftsabkommen mit den engsten Verbündeten Venezuelas. Dieses stellte ursprünglich eine Alternative zur von den USA propagierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) dar, die auch durch Venezuelas Ablehnung 2005 scheiterte. Bisweilen trieb die Regierung in Caracas ihr anti-imperialistisches Prinzip bis zur Absurdität, übersetzte sie es doch mit einer Politik, die all das gut zu heißen schien, was Washington für schlecht befand. Getreu dem Motto, der Feind meines Feindes ist mein Freund, sorgte Chávez durch seine Freundschaften zu von der westlichen Welt geächteten Despoten für internationale Aufregung.
Waren solche Aktionen hauptsächlich als Provokationen mit symbolischem Charakter zu verstehen, trieb Chávez mit seiner Politik jedoch auch einen aktiven, spürbaren Wandel in der Region voran. Ausgestattet mit einem praktisch nie versiegenden Fluss an Öleinnahmen verbreitete er seine Revolution durch ostentative Einmischung in die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse anderer Länder. So begünstigten die finanziellen Mittel Venezuelas die Wahlerfolge linker Regierungen in Ländern wie Bolivien, Nicaragua und Ecuador. Boliviens Evo Morales etwa finanzierte große Teile seines staatlichen Sozialprogramms mit venezolanischen Geldern, was in den turbulenten ersten Jahren seiner Amtszeit maßgeblich zur Stabilisierung der Regierung beitrug. Selbst Kolumbien, das stets als enger Verbündeter Washingtons galt, hat durch Druck Venezuelas seine Position ein wenig von den USA weggerückt. Chávez hatte nicht zuletzt eine wichtige Rolle als Wegbereiter der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksradikalen Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) gespielt.
Durch Petrocaribe verbündete sich Venezuela auch mit der Karibik. Insgesamt 18 Mitgliedsstaaten haben diese Hilfe bisher genossen, allen voran Kuba und Nicaragua. Als Gegenleistung für verbilligtes Öl schickt Kuba Ärzte und Lehrer nach Venezuela, die anderen karibischen Länder liefern Güter wie Kaffee, Zucker, Reis und Getreide ebenso wie Geld, was daran erinnert, dass die Hilfe nicht völlig umsonst kommt. Aber Venezuela hat sich stets großzügig gezeigt und stark vereinfachte Zahlungsbedingungen mit niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten ermöglicht. Würde diese Hilfeleistung aufhören, träfe das die karibischen Partnerländer hart.
Es bleibt also außer Frage, dass Chávez einen deutlichen Abdruck in der Region hinterlassen hat. Wie tief dieser Abdruck ist und wie es nun ohne ihn weitergeht, ist hingegen ungewiss. Viel hängt ab von dem zukünftigen Präsidenten Venezuelas, der am 14. April gewählt wird. In aktuellen Umfragen liegt Chávez’ Wunschnachfolger, Nicolás Maduro, weit vorne. Als ehemaliger Außenminister Venezuelas kennt er die internationalen Gefilde von Chávez’ Politik wie kein zweiter. Aber ob er als neuer Präsident die Fußstapfen seines Vorgängers ausfüllen kann, ist fraglich. Oft wird bemängelt, es fehle ihm dazu an Charisma und Führungsentschlossenheit, mit denen der verstorbene Präsident so vieles bewegt habe.
Dabei hätte Maduro auch so genug Gründe, die außenpolitische Präsenz Venezuelas in Lateinamerika einzudämmen. Denn die nächsten Monate werden für ihn besonders durch innenpolitische Herausforderungen geprägt sein. Neben der Frage um politische Legitimität des Chavismus ohne Chávez, hat das Land interne Probleme, wie etwa eine verbreitete Gewaltkriminalität. Auch die wirtschaftliche Produktivität ist gering, die Ökonomie vom Ölexport dominiert. Dass Maduro angesichts solcher Probleme auf die Idee kommen könnte, die großzügige Vergabe finanzieller Mittel an ausländische Verbündete zu reduzieren, ist daher nicht unwahrscheinlich.
Trotz allem zeigen sich lateinamerikanische Beobachter_innen angesichts der Aussichten recht gelassen. Zwar ist abzusehen, dass mit einer reduzierten politischen und wirtschaftlichen Präsenz Venezuelas das Kräfteverhältnis in Lateinamerika verschoben wird. So erwarten manche, dass Evo Morales mit Rafael Correa und Nicolás Maduro Chávez’ politisches Vakuum auffüllen wird. Andere wiederum zweifeln an deren politischem Gewicht und erwarten eine Verschiebung der regionalen Machtverhältnisse zugunsten Brasiliens.
Auch innenpolitisch stehen Venezuelas Verbündete ohne Chávez nicht zwangsläufig verloren da. Ecuador und Bolivien beispielsweise haben ihren politischen und wirtschaftlichen Horizont mittlerweile gefestigt und sind nicht mehr so stark auf Venezuelas Unterstützung angewiesen, wie noch in den ersten Jahren. Weniger gut ist es um Länder wie Kuba und Nicaragua bestellt, denn sie sind auf die großzügigen Öllieferungen Venezuelas dringend angewiesen.
So gesehen zeichnet sich zwar ein Bild ab, in dem sich die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika insgesamt verschieben werden. Jedoch scheint der Tod von Hugo Chávez noch lange nicht das zwangsläufige Ende seiner Revolution in Lateinamerika einzuläuten. Wie und in welchem Umfang sich sein Projekt jedoch fortsetzt, hängt zu großen Teilen von der zukünftigen Regierung in Caracas ab.

Kampf um Sichtbarkeit

Vor der Einführung des Internets existierte in Kuba keine Öffentlichkeit in dem Sinne, dass die öffentliche Meinung unter gesellschaftlicher Beteiligung und mit einer zur Rechenschaft herangezogenen Regierung gebildet wurde. Dagegen existierte eine Anzahl von zersplitterten Mikrokosmen – ich nenne sie „Arenen“ –, in denen Debatten und Diskussionen ohne ein größeres öffentliches Publikum stattfanden. Bei meinen sechs Forschungsaufenthalten in Havanna identifizierte ich drei solcher Arenen innerhalb Kubas sowie die Arena der Diaspora außerhalb Kubas.
In der „Dissidentenarena“ versammelten sich Gruppen und Individuen, die sich selbst als „politische Dissidenten“ bezeichneten, um gemeinsame Überzeugungen und Ideen; sie teilten den Wunsch, die ihrer Meinung nach autoritäre Regierung zu stürzen. Zwar erlangten sie die Aufmerksamkeit der internationalen Medien, doch, isoliert und eingeschränkt durch den Dissident_innenstatus, trafen sich die wenigen Individuen innerhalb Kubas nur in zersplitterten Gruppen und hinter verschlossenen Türen.
Eine weitere Arena bilden die halböffentlichen Debatten, die innerhalb staatlicher Institutionen wie Forschungszentren, staatlich anerkannten Stiftungen, kubanischen Nichtregierungsorganisationen und kritischen Zeitschriften wie z.B. Temas, organisiert werden. Trotz ihrer Heterogenität erreichen diese Debatten dieselbe lokale Öffentlichkeit: kritische Intellektuelle, Schriftsteller_innen, Künstler_innen, Journalist_innen und Professor_innen aus dem intellektuellen und kulturellen Milieu Havannas, das sich für die Revolution einsetzt, sie aber reformieren möchte. Aus Angst, Grenzüberschreitungen könnten den kritischeren Räumen für Debatten ein Ende bereiten, halten sich die Protagonist_innen innerhalb gewisser roter Linien – ohne genau zu wissen, wo diese verlaufen, denn sie verändern sich stetig.
Ende der 1990er Jahre entstand von unten eine dritte Arena aus der Annäherung kritischer Kollektive autodidaktischer Künstler_innen und Intellektueller, die von offiziellen Zuschüssen und Universitätsstellen ausgeschlossen sind. Sie drücken die radikalste Kritik in Bezug auf Zensur, Rassismus, soziale Ungleichheiten und die Autonomie der Basis aus. Trotz Heterogenität arbeiten die verschiedenen Kollektive oft zusammen, um Workshops, kleine Kongresse und Festivals zu organisieren. Dadurch erreichen sie den höchsten Grad an Bekanntheit und sozialer Beteiligung. Das „kritische, aber revolutionäre“ Ethos der Protagonist_innen hat außerdem Verhandlungen mit der Regierung über die Nutzung offizieller Kultureinrichtungen für Debatten und Aktivitäten ermöglicht.
Die Arena der Diaspora verbindet Teile des kulturellen Milieus in Kuba und politisch aktiver Mitglieder der Diaspora. Die größte Konzentration fand um die Literaturzeitschrift Encuentro de la cultura cubana (1992-2009) statt, die der Exilschriftsteller Jesús Díaz in Spanien gründete. Sie bot eine Plattform für polemische Debatten von Autor_innen aus Kuba sowie dem Exil über Kunst und Politik. Exilierte und Emigrierte tauschten sich außerdem in Blogs und Online-Foren aus, allerdings ohne Kontakt mit Kuba selbst. Einzige Ausnahme war hier Encuentro en la red, der Online-Ableger der Zeitschrift, der versuchte, alternative Infos aus Kuba durch die Zusammenarbeit mit Dissident_innen zu sammeln. Das Team von Encuentro bemühte sich, in Kuba einen Informationsdienst aufzubauen, der zweiwöchentlich an eine Email-Liste gesendet wurde. Am Ende umfasste seine Datenbank mehrere tausend kubanische Email-Adressen.
Alle Arenen zusammen teilen drei Merkmale: eine begrenzte Öffentlichkeit, Fremdbestimmung – trotz ihres Autonomieanspruchs gegenüber dem Staat – sowie geringe Verbundenheit und Interaktivität. Vor der Liberalisierung des Zugangs zu Kommunikationstechnologien in Kuba 2008 besaßen außerdem nur wenige einen Telefonanschluss oder Email-Account. Und diejenigen, die einen besaßen, wagten nicht, ihn für Kontroversen zu nutzen. In ein kollektives Projekt einzutreten gelang daher nur über direkten Kontakt. Ein weiterer Grund für die begrenzte Öffentlichkeit war die Furcht vor möglicher Repression. Dies führte zu einem schwierigen Balanceakt für diejenigen Künstler_innen und Intellektuellen, die seit den 1990ern im Ausland auftraten und dadurch internationale berufliche Anerkennung und Geld für ihre Projekte erwarben: Zu viel Kontakt mit Kubaner_innen im Ausland konnte ebenso schädlich sein (ein Beispiel ist die Inhaftierung von Raúl Rivero 2003) wie zu wenig Kritik, die zur Stigmatisierung als „offizialistisch“ führen konnte, was den Verlust an Fördergeldern aus dem Ausland zur Folge haben kann.
Im Januar und Februar 2007 kam es zur ersten virtuellen Mobilisierung in Kuba, dem sogenannten „Email-Krieg“. Anstoß dazu gaben Fernsehsendungen, in denen drei ältere Vertreter der Bürokratie , die für die Durchsetzung von Zensur und Repressionen im Kulturbereich in den 1970ern verantwortlich waren, auftraten. Wenige Tage später zirkulierten hunderte Emails darüber, ob ihr Auftritt das Ende der in den 1990ern begonnenen Liberalisierung bedeute. Da die Kommunikation über Email-Verteiler nicht die Regel bajo techo todo, en la calle nada (zu Hause alles, auf der Straße nichts) brach, wurde sie als einigermaßen „sicher“ betrachtet. Kritische Äußerungen konnten parallel zur existierenden institutionellen Kommunikation horizontal zirkulieren, zum Beispiel zwischen Fachkolleg_innen im kulturellen Sektor, so dass es für staatliche Autoritäten schwieriger wurde, die ganze Bewegung zu unterdrücken. Das Kulturministerium schwächte die Polemik schließlich mithilfe eigener Organisation von bajo techo-Debatten ab. Zwar war der „Email-Krieg“ auf wenige Monate und auf die kulturelle Szene begrenzt, aber er führte dennoch zur Interaktion und Annäherung von Akteur_innen. Durch die Teilnahme von emigrierten Künstler_innen und Intellektuellen wurden auch die territorialen Grenzen überwunden. Klarere Positionen halfen nun potentielle Verbündete und Gegner_innen zu erkennen. In den Folgejahren entstanden viele neue Räume für bajo techo- und Online-Debatten mit Dutzenden Blogger_innen in Kuba.
Ein weiteres Beispiel für die wachsende Bedeutung der Neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (NICTs) ist eine internationale Kampagne für den Punkmusiker Gorki Águila; er war infolge einer Anklage wegen „sozialer Gefährlichkeit“ im August 2008 inhaftiert worden. Seine Freund_innen und Bandmitglieder kontaktierten alle Personen in Kuba und im Ausland, die möglicherweise helfen konnten. Über kubanische Medien in Florida nahmen kubanische Blogger_innen und Künstler_innen in Spanien und den USA die Geschichte auf, indem sie Gorki als paradigmatischen unterdrückten Künstler darstellten. Die, zuerst als chancenlos erachtete, Freilassung Gorkis nach nur fünf Tagen (siehe LN 411/412) wurde später als Zeichen größerer Flexibilität seitens der Regierung gedeutet. Die bisherige Scheu vor ausländischem Interesse wich nun der systematischen Suche nach Verbündeten im Ausland, um sich gegen mögliche staatliche Repression zu schützen. Man erstellte Blogs und Websites als sichtbare Plattformen, um Unterstützung anzuziehen und das eigene Image durch Selbstpräsentation zu kontrollieren.
Diese transnationale Dimension von NICTs ist eine Bedrohung für eine autoritäre Regierung in einem kleinen Land wie Kuba. Denn – anders als China – besitzt der Staat nicht die Fähigkeit, den Einfluss des internationalen Medienmainstreams auszugleichen. Der „Kampf um Sichtbarkeit“ ist bestimmend, da die regierungsfernen prominenten Akteur_innen in der ausländischen Öffentlichkeit dominant sind. Der Mangel an Internetwächter_innen erlaubt es untergeordneten sozialen Gruppen mehr als früher ihre Meinung zu äußern. Doch ihr Einfluss im virtuellen Raum besteht nur dann, wenn sie für ein großes Publikum sichtbar werden. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang die Blogger_innen Yoani Sánchez und Ernesto Hernández Busto, dessen Blog Penúltimos Días bereits früh als wichtige Quelle für alternative und vertrauenswürdige Informationen über den kubanischen Alltag galt. Busto förderte vor allem Yoani Sánchez’ Beiträge, die er stilistisch und inhaltlich für besonders gut hielt, indem er sie in seinen eigenen Blog kopierte. Auf diese Weise erlangte Sánchez immer höhere Sichtbarkeit bis in die internationalen Mainstream-Medien. Sie nutzte wiederum ihre Berühmtheit und Beziehungen, um neue Blogs zu unterstützen und bestimmten Themen und Gruppen mehr Sichtbarkeit zu verleihen.
Dagegen schuf die kubanische Regierung recht spät eigene Foren wie Cubadebate und Blogs von offiziellen Journalist_innen wie Enrique Ubieta. Sie zogen weit weniger Leser_innen an und mussten sich auf Yoanis Standpunkte beziehen, um online einen Platz zu erobern. Wenn Ubieta und Sánchez die gegenseitigen Angriffe ernst nehmen, erkennen sie sich gleichzeitig als legitime Protagonist_innen einer Debatte an. Dieser Austausch von „Schlag“ und „Gegenschlag“ ist charakteristisch für die Entstehung einer transnationalen kubanischen öffentlichen Arena.
In den letzten drei Jahren fällt außerdem auf, dass die Akteur_innen der verschiedenen kritischen Gruppen, die von der kubanischen Regierung auferlegte Dichotomie von „guten Revolutionär_innen“ und „Verräter_innen und Gewinnsüchtigen“ nicht mehr als legitim erachten. Sie entwickeln Interesse an Pluralität. Politische Dissident_innen mit Beziehungen ins Ausland gelten nicht mehr als Konterrevolutionäre, denn inzwischen unterhalten alle kritischen Gruppen Beziehungen ins Ausland.
Dennoch bestehen Ungewissheiten, Allianzen und Formen der Abgrenzung. Politische Positionen, die Wahl der Auseinandersetzungsformen, die Wahrnehmung internationalen Ruhms und Neid lasten auf den Beziehungen der Kooperation und des Wettbewerbs innerhalb des neu entstehenden Diskussionsraums. Fortwährend wird um eine Definition gerungen, wer die Legitimität besitze, die kubanische Regierung zu kritisieren.
Aber auch wenn die Konturen des neu entstehenden sozialen Raums der kritischen Auseinandersetzung undeutlich bleiben, sind klare Interaktionen zwischen den einzelnen Gruppierungen zu beobachten, die zuvor voneinander abgeschottet und unbedeutend waren. Hier vereinigen sich die Kräfte mit dem gemeinsamen Ziel, von unten zu einem sozialen und politischen Wandel in Kuba beizutragen. Hier werden Konflikte ausgetragen, Sorgen und Ansprüche formuliert und schließlich die Zukunft Kubas debattiert. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass dieser Raum überwiegend von jungen, urbanen und gut ausgebildeten Protagonist_innen aus Havanna gebildet wird.

Wer steht auf der Leitung?

Einen ungewöhnlich intensiven Datenverkehr haben die Web-Vermesser_innen des US-amerikanischen Unternehmens Renesys seit Anfang Januar registriert. Offenbar habe die staatliche Telekommunikationsgesellschaft ETECSA das bereits im Februar 2011 installierte Untersee-Glasfaserkabel nun endlich in Betrieb genommen, berichteten die IT-Spezialist_innen. Das deckt sich mit Informationen aus Kuba. Dort veröffentlichte die von der kommunistischen Partei verantwortete Tageszeitung Granma eine Pressemeldung von ETECSA, wonach „das Telekommunikationssystem Alba-1 seit August 2012 im Einsatz ist“. Seitdem werde über das Fieberglaskabel, welches Kuba und Venezuela verbindet und das Herzstück von Alba-1 ist, telefoniert. Zudem werde seit dem 10. Januar getestet, ob das Kabel den Qualitätsanforderungen entspreche. Die Meldung deckt sich mit den Messungen der US-Expert_innen, die allerdings ein ungewöhnliches Phänomen feststellten: Der Datenfluss sei deutlich schneller auf die Insel als umgekehrt.
Warum das so ist, darüber wird kräftig spekuliert. Die IT-Fachkräfte von Renesys vermuten auf ihrem Blog, dass die ETECSA das Kabel asymmetrisch nutze. Das könne auf eine physikalische Begrenzung hindeuten, schließlich hatte es nach der Verlegung des Kabels viele Gerüchte in Kuba gegeben, dass minderwertiges Material verlegt worden sei. Diesbezüglich wurde im Sommer 2011 gleich gegen zwei Vizeminister des Telekommunikationsministeriums ermittelt und später gegen Dutzende von Mitarbeiter_innen des Ministeriums und von ETECSA. „Den Informationen zufolge, die von Mitarbeitern der ETECSA stammen, wird gegen fünfzig bis siebzig Mitarbeiter ermittelt. Sie sollen mehrere Millionen US-Dollar beiseite geschafft haben“, so der unabhängige Journalist Iván García Quintero. Bis zu 15 Millionen US-Dollar der insgesamt angeblich rund 70 Millionen US-Dollar teuren Leitung sollen versickert sein. Dabei war das nicht nur national sondern auch international viel beachtete Projekt, welches Kuba einen Quantensprung bei der Geschwindigkeit des www-Zugangs bringen sollte, deutlich teurer als international üblich. Warum, darüber lässt sich nur spekulieren. Fest steht, dass die Inbetriebnahme der Leitung, die von Siboney, einem Fischerdorf nahe Santiago de Cuba bis ans andere Ende der Insel führt, mehr als zwanzig Monate auf Eis lag. Für die Kubaner_innen änderte sich somit nichts. Der Zugang ins Internet erfolgte wie zuvor über die kostspieligen, latent überlasteten und überaus langsamen Satellitenleitungen. Eine Studie der Internationalen Fernmeldeunion vom Sommer 2012 befand Kuba als nahezu komplett abgehängt vom World Wide Web.
Gerade drei Prozent der kubanischen Haushalte haben laut der Studie Zugang zum Internet. Den Daten zufolge, die wiederum auf offiziellen kubanischen Statistiken beruhen, befindet sich Kuba auf einem Niveau mit Ländern wie Haiti, Ruanda, Mali oder Eritrea. Besonders gravierend sei die Situation bei Breitbandverbindungen von der Insel in den Rest der Welt. Die seien de facto inexistent. Weder per Computer noch per Mobiltelefon gebe es schnelle Datenverbindungen von der Insel in die Außenwelt.
Geduld, aber auch das nötige Kleingeld ist daher gefragt, wenn man online gehen will. „Es kann schon mal ein paar Minuten dauern bis sich eine Seite aufbaut“, berichtet der private Zimmervermieter Oscar Almiñaque, der über ein altes Modem auf die Datenautobahn auffährt. E-Mails mit Fotoanhängen sind deshalb bei ihm verpönt, denn sie verstopfen die Leitung für Minuten, wenn nicht für Stunden. 64 Kilobit (KB) transportieren die in der Regel pro Sekunde, das höchste der Gefühle auf der Insel ist eine 512 KB-Leitung. „Die kostet allerdings schon 3.000 US-Dollar im Monat und das ist der Grund, weshalb die meisten Unternehmen mit einer 64 KB-Leitung arbeiten“, so erklärt ein Schweizer Touristikunternehmer, der ein Büro auf der Insel unterhält. Größere Datenpakete schicken seine Mitarbeiter_innen nur nachts und intern gilt die Order, Fotos auf ein Minimum zu komprimieren: kein Wunder angesichts eines Netzes, das in etwa so schnell ist wie jenes zur Zeit der fiependen Telefon-Modems.
Genau das kann sich Kuba aber nicht mehr leisten. In absehbarer Zeit soll ein moderner Containerhafen bei Mariel, rund vierzig Kilometer von Havanna entfernt, eingeweiht werden. „Ohne einen modernen Breitbandzugang ins Internet ist so ein Hafen gar nicht zu betreiben“, erklärt Lenardo Padura, Kubas international populärster Schriftsteller, der die gesellschaftliche Entwicklung auf der Insel sehr genau beobachtet. „Wir verlieren den Anschluss an den Rest der Welt und an viele technologische Entwicklungen“, mahnt der 57-Jährige, der anders als viele seiner Landsleute ganz legal über Internet in seinem Haus in Havannas Stadtteil Mantilla verfügt. Ohne High-Speed-Datentransfer droht Kuba auch in der Wissenschaft den Anschluss zu verlieren, so zum Beispiel im medizinisch-pharmazeutischen Bereich, wo die Insel zu den wichtigsten Forschungsnationen auf der Südhalbkugel gehört. Ein Dilemma, das man am Platz der Revolution lange den USA in die Schuhe schob, denn schließlich läuft die Telekommunikation über die Großmacht im Norden. Trotzdem hatten es die Kubaner_innen auch nicht eilig mit der Suche nach Alternativen, denn den neuen Medien stand man ebenfalls skeptisch gegenüber. Gleichwohl ist man in den letzten Jahren in die Offensive gegangen. So existiert mit EcuRed eine eigene Wikipedia Cubana, die im Dezember 2010 mit 20.000 Seiten online ging. Darin wird Kubas Welt und die Welt aus Kubas Perspektive dargestellt. Selbst Dissidenten, ansonsten meist totgeschwiegen im kubanischen Alltag, finden hier Erwähnung. Und auch ein kubanisches Facebook haben die alternden Revolutionäre um Staatschef Raúl Castro an den Start gebracht. Red Social (Soziales Netz) heißt das Pendant, welches eine Alternative bieten soll. Doch auch da hakt es am Zugang zum Netz, der das eigentliche Dilemma ist. Ohne leidlich fixe Verbindungen sind auch die Online-Alternativen vom Platz der Revolution nicht sonderlich interessant.
Ohnehin ist der Netzzugang in Kuba ausgesprochen kostspielig. Die einstündige Visite in der virtuellen Welt kostet in einem internationalen Hotel, wo die Datenleitungen meist etwas schneller sind, zwischen acht und sechzehn Peso convertible (CUC). Kubas landesweit geltende Hartwährung ist im Verhältnis 1:1 an den US-Dollar gekoppelt. Das können sich nur wengie Kubaner_innen leisten, weshalb es einen schwunghaften Handel mit Zugangscodes gibt. Angestellte von Ministerien, Krankenhäusern und anderen staatlichen Einrichtungen erwirtschaften auf diesem Weg den einen oder anderen CUC extra. Das ist schon lange Alltag in Kuba. Unabhängige Journalist_innen etwa geben rund zwanzig CUC im Monat aus, um einen leidlich stabilen und kontinuierlichen Internetzugang zu haben.
Ob das in Zukunft anders sein wird, steht in den Sternen. Zwar funktioniert das Kabel mit einer Kapazität von 320 Gigabit pro Sekunde, aber wie es genutzt werden soll, ist vollkommen unklar. Blogger_innen wie Yoani Sánchez oder Antonio Rodiles, Direktor des kritischen Internetfernsehsenders Estado de Sats glauben ohnehin nicht daran, dass es in absehbarer Zeit Highspeed-Internet für alle geben wird. Eine Einschätzung, die auch Iván García, einer der aktivsten unabhängigen Journalisten auf der Insel, teilt: „Das ist keine technische, sondern eine politische Entscheidung, und die wird am Platz der Revolution gefällt“, so García. Dessen Nachbarn wurden erst vor ein paar Tagen wieder einmal befragt nach dem großen, kräftigen Kubaner, dessen Reportagen aus der sozialen Realität der Insel unter anderem in der spanischen El Mundo, im Diario Las Americas, aber auch auf der regierungskritischen Internetplattform Diario de Cuba erscheinen.
Auch Außenminister Bruno Rodríguez hat bereits im November 2011 darauf hingewiesen, dass sich Kuba Internet für alle schlicht nicht leisten könne. Dafür könnte es auch noch einen anderen Grund geben: Seit der Handy-Revolution in Ägypten soll der Respekt in Kubas revolutionärer Führung gegenüber Twitter, Facebook und Co. merklich gestiegen sein. Die wären natürlich auch in Kuba theoretisch per Mobiltelefon nutzbar und Mobiltelefone hat mittlerweile rund die Hälfte der Bevölkerung.
Wie die Online-Zukunft der Kubaner_innen aussehen wird, scheinen auch die ETECSA-Expert_innen noch nicht zu wissen. In der Meldung von Mitte Januar in der Granma heißt es, dass zusätzliche Investitionen nötig seien und es keinen automatischen Zugang zum Netz geben werde. Aus Exilkreisen ist hingegen zu hören, dass Kuba mit chinesischer Hilfe ein modernes Rechen- und Kontrollsystem aufgebaut habe, um das zu kontrollieren, was von der Insel nach draußen geht und was aus dem Ausland reinkommt. Das soll angeblich bald seine Arbeit aufnehmen. In der virtuellen Kuba-Gemeinde wird hingegen längst darüber spekuliert, ob die einseitige Kabelauslastung nicht etwas mit diesem Kontrollzentrum zu tun habe. Hat es eventuell bereits seine Arbeit aufgenommen und ist deshalb der Ausgang von E-Mails und Daten langsamer als der Eingang? Eine These, die nicht von allen Fachmännern und -frauen geteilt wird. Zensurbestrebungen seien nur eine Möglichkeit, aber die Netzaktivitäten entsprechen nicht den andernorts üblichen Zensurmustern. Da ist es spannend wie es zukünftig weitergehen wird mit dem Kabel, das einst als Schritt in die Cyber-Ära gefeiert wurde – auch von Fidel Castro.

Von Tango, Tingo­talango…

Eine musikalische Reise durch Lateinamerika verspricht das Buch Salsa Rica Tango Caliente im Untertitel. Der Autor Cornelius Schlicke entpuppt sich dabei als kompetenter Reiseleiter, der sprachbegabt und anekdotenreich in prominente Salons ebenso wie auf abgelegene Dorfplätze führt. Leicht lesenden Auges folgen ihm selbst musikwissenschaftlich wenig erfahrene nach, denn er hat die Materie verständlich aufbereitet. Damit auch die geographische Orientierung nicht abhanden kommt, ist jedem der zwölf Kapitel eine Landkarte Lateinamerikas vorangestellt, auf der Fähnchen die betreffenden Stationen markieren.
So beginnt und endet die Lesereise durch gut 300 großzügig bebilderte Seiten in Kuba, dessen „besonders reichhaltiger Musikkultur mit hoher Ausstrahlungskraft“ Schlicke als einzigem Land gleich zwei der zwölf Kapitel widmet. Doch nicht jedes Kapitel trägt den Namen eines – lateinamerikanischen – Landes: Außer einem Abstecher in die USA um in New York an die Wiege der Salsa zu treten, ergeben wir uns dem Panoramablick der „Andenländer“, wo Instrumente wie verschiedene Flötenarten oder die Lied- und Tanzform des Huayno Kulturen von Argentinien bis Kolumbien einen. Und wir verfolgen mit, wie das „Einig Volk“ Lateinamerikas mit der sozialkritischen canción protesta (Protestlied) im Gepäck kurzen Schrittes die nationalen Grenzen überwindet. Schlickes Anliegen ist es unterdessen, die musikalische Vielfalt der lateinamerikanischen Landschaft über Stereotype wie Salsa und Tango hinaus deutlich zu machen.
Zugleich enthebt sich der Autor schon in der Einleitung des Anspruchs auf Vollständigkeit, ja er möchte seine Leser_innen „zu eigenen Nachforschungen anspornen“. Ausdrücklich tut er dies zum Beispiel, wenn er vorschlägt mit Kopfhörern durch Brasilia zu schlendern, um sich der Faszination des Bossa Nova und den Harmonien von Oscar Niemeyers Architektur anheim zu geben. Abwechslungsreich, mitunter persönlich steigern besonders die Einstiege in die einzelnen Kapitel Wissensdurst und Leselust; durch Ausblicke oder Schlussfolgerungen jeweils am Ende, die nicht selten Bezug zum Anfang herstellen, sind Schlicke angenehm runde Kompositionen gelungen, sodass sich die Kapitel auch gut in beliebiger Reihenfolge lesen lassen. Nicht zu schweigen von den zahlreichen grenz- und genreüberschreitenden Querverbindungen, die er innerhalb und zwischen den einzelnen Kapiteln auftut.
Der Reichtum des Buches liegt darin, wie der Autor Entstehungsgeschichten und Protagonist_innen lateinamerikanischer Musikrichtungen sowie politische und soziale Zusammenhänge in Einklang bringt mit Gesangs- und Spielweisen, Rhythmen und Instrumenten. Salsa und Tango sind also lediglich zwei der prominentesten Beispiele einer Reihe von Musikstilen, die uns Schlicke handverlesen präsentiert. Können die Leser_innen anfangs noch die wohlvertraute Melodie der „Guajira Guantanamera“ mitträllern, dürften sie spätestens verstummen, wenn die Reise mit Zeitzeugenkommentaren über „Exemplare des kubanischen Instrumentenkabinetts“ wie den „Naturbass“ Tingotalango – eine an einem Strauch befestigte Saite wird durch ein Erdloch zum Schwingen gebracht – zu Ende geht. Ohne eine abschließende Zusammenfassung oder einen Ausblick des Autors. Aber mit Nachklang.

Cornelius Schlicke // Salsa Rica Tango Caliente // Eine musikalische Reise durch Lateinamerika // Parthas Verlag // Berlin 2012 // 368 Seiten // 19,90 Euro

Tausche Lenin gegen Hello Kitty

Als sie in ihr neues Heimatland kommen, sind viele Dinge ungewohnt für Antonia und Claudia. Die neue Wohnung, das sonderbare Verhalten ihrer Eltern und die neuen Mitschülerinnen, die von ihren Lieblingsliedern und -tänzen nie gehört haben. Für beide ist das nicht leicht zu begreifen. Denn beim Überschreiten der Grenze von Nicaragua nach Costa Rica haben die Mädchen nicht nur den Staat, sondern auch das politische System gewechselt.
Antonias und Claudias Eltern sind costa-ricanische Staatsbürger_innen, die in den 1970er Jahren für die sandinistische Befreiungsfront FSLN in Nicaragua kämpften. Als die Region, in der sie leben, vom gegnerischen Militär besetzt wird, müssen sie nach Costa Rica zurückkehren und ihr Leben im Untergrund fortsetzen. Problematisch ist das vor allem für ihre Kinder, deren Alltag dadurch ins Wanken gerät. Während Antonia zu jung ist, um die Vorgänge um sie herum zu verstehen, ist die neunjährige Claudia bereits von den politischen Einflüssen aus Kuba und der Sowjetunion geprägt. In ihren Träumen sind sie und ihre Schwester „rote“, sozialistische Prinzessinnen. Als aktives Mitglied bei den Jungpionier_innen in Nicaragua träumt sie, in Costa Rica eine Geheimorganisation aufzubauen. Dabei stößt sie in ihrer neuen Umgebung aber auf Verwunderung und Ablehnung. Denn ihre reichen Verwandten in Costa Rica orientieren sich eher am US-amerikanischen Lebensstil. So tauschen die beiden Lenin-Pins gegen Hello-Kitty-Abziehbilder. Die Stimmung im Elternhaus ist derweil von steigender Angst und Nervosität geprägt. Immer stärker dringen der politische Konflikt und die Gewalt in Nicaragua in die Familienstrukturen ein.
Der costa-ricanischen Regisseurin Laura Astorga Carrera ist mit Princesas Rojas ein kleines Meisterwerk geglückt. Unter Ausblendung direkter Kampfhandlungen, gelingt es dem Film, die Auswirkungen des Krieges auf den sozialen Mikrokosmos Familie zu übertragen. Selbst in Szenen, in denen die Mädchen ausgelassen spielen, ist eine bedrohliche Atmosphäre zu spüren. Interessant ist die filmische Inszenierung aus der Perspektive der jungen Mädchen. So werden die Zuschauenden in die ahnungs- und hilflose Lage der Kinder versetzt. Die geraten als Spielbälle in einen Interessenskonflikt, den sie nur wenig begreifen. Ihre Hoffnungen und Träume sind für die Erwachsenen Nebensache. Es berührt, wie Claudia trotz ständiger Umzüge und häufiger Abwesenheiten für ihre Teilnahme im Schulchor kämpft und Antonia den Glauben an die heile Welt Familie bis zum Schluss nicht verliert. Der Film wirkt dabei trotz aller Emotionalität nie kitschig, was vor allem an der Leistung der jungen Darstellerinnen liegt. Die Verwendung von Motiven wie Vertrauen und Verrat kann zwar als Parabel auf die politischen Verhältnisse verstanden werden. Im Vordergrund stehen aber die nachvollziehbaren Gefühle der Kinder. Deren Sehnsucht nach dem Ausleben spielerischer Freude und einem normalen Leben wird zunichte gemacht. Diese Zutaten machen Princesas Rojas zu einem sehenswerten Film.

Princesas Rojas // Laura Astorga Carrera (Regie) // Costa Rica/Venezuela 2013 // 100 Min.

// DOSSIER: MEDIEN UND MACHT IN LATEINAMERIKA

 

(Download des gesamten Dossiers)

Cristina Fernández de Kirchner „begann die privaten Medien zu bekämpfen“, kritisierte die FAZ am 19. Februar 2013 in einem Porträt der argentinischen Präsidentin. Am selben Tag konnte die bekannte Bloggerin Yoani Sánchez aus Kuba nach Brasilien reisen und sorgte damit nicht nur für internationale Berichterstattung, sondern bei ihrer Ankunft auch für Demonstrationen in Recife. Nur einen Tag zuvor hatte die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen per Pressemitteilung den wiedergewählten ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa aufgefordert, „kritische Journalisten nicht länger zu diffamieren und restriktive Mediengesetze zurückzunehmen“. Das Verhältnis zwischen Medienkonzernen, Medienmacher*innen und staatlicher Macht in Lateinamerika scheint aktueller und brisanter denn je. Doch warum?

 

                   Streetart aus San José, Costa Rica  (Foto: Benjamin Keuffel)

 

Medien und Macht – in den meisten lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis zwischen der „Vierten Gewalt“ und dem Staat seit Jahrzehnten von großer Nähe zwischen den Medienkonzernen, von denen sich viele seit mehreren Generationen in der Hand einiger weniger Familien befinden, und den Mächtigen geprägt. Im medialen Alltag Lateinamerikas produzieren die großen Mediengesellschaften in unterschiedlichen Formaten immer dieselben Inhalte. Crossmedial werden beispielsweise die Themen und Protagonist*innen der Feierabendserien in eigenen Zeitschriften und Internetseiten, bei Talkshows und Veranstaltungen immer neu aufbereitet und an die Frau, den Mann oder das Kind gebracht. Und in fast allen Ländern wird die privatwirtschaftlich organisierte Berichterstattung nicht durch ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem ergänzt oder „ausgewogen“ gestaltet.

Ökonomisch und juristisch liegen die Wurzeln dieser Medienkonzentration meist in der Zeit der Militärdiktaturen. Roberto Marinho, Gründer des brasilianischen Medienimperiums Globo, sendete sein erstes TV-Programm zu Beginn der Diktatur. Am Ende der Militärherrschaft war seine Macht größer als die der Generäle. Von Tancredo Neves, dem ersten wieder demokratisch gewählten Präsidenten, ist die Aussage überliefert: „Ich lege mich mit dem Papst an, ich streite mich mit der katholischen Kirche, mit meiner Partei PMDB, mit aller Welt, aber ich streite mich nicht mit dem Doktor Roberto Marinho!“. Auch in Chile beruht das faktische Duopol in den Printmedien auf der guten Zusammenarbeit der beiden größten Medienkonzerne mit den Machthabern der Militärdiktatur. Und innerhalb des mexikanischen TV-Duopols ist die Marktmacht von Televisa untrennbar mit der 71-jährigen Herrschaft der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, verbunden.

Heute treffen mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor die politischen Entscheidungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was auch die Medienpolitik einschließt. Sie stoßen dabei auf ein Mediensystem, das nicht der ausgewogenen Berichterstattung und der Beachtung journalistischer Standards verpflichtet ist, sondern die politischen Interessen ihrer Eigentümer*innen vertritt. Auch Reporter ohne Grenzen kritisiert Brasilien in einem Bericht als „das Land der 30 Berlusconis“. Politische Reformen der Mediengesetzgebung im Sinne einer Demokratisierung von Frequenzen und Inhalten oder einer Einführung von öffentlich-rechtlichen Medien erzeugen aber erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne. Venezuela, Argentinien und Brasilien sind nur drei aktuelle Beispiele, in denen neue Mediengesetze von großen politischen Auseinandersetzungen begleitet wurden und werden.

Dabei sind die traditionellen Medienkonzerne eigenständige politische Akteure, die aktiv in innenpolitische Auseinandersetzungen eingreifen oder „ihre“ politischen Kandidat*innen lancieren. Hier sind die Wahlwerbung des mexikanischen Senders Televisa im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oder die Unterstützung des Putsches in Honduras durch Fernsehsender und Zeitungen im Jahr 2009 gute Beispiele.

In Deutschland wiederum ist – unter anderem durch die Zeitungskrise – die Zahl der Auslandskorrespondent*innen seit Jahren rückläufig und Beiträge lateinamerikanischer Medien werden oft unkritisch übernommen. Dieses Medien-Dossier der LN will deshalb über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen.
Denn so stark die geballte Medienmacht auch ist, so vielfältig sind auch die Versuche, die immer gleichen Botschaften der Medienkonzerne durch eigene zu ersetzen. Die „Empfänger*innen“ haben längst begonnen, das Menschenrecht auf Kommunikation einzufordern und kritische Fragen zu stellen: Warum spielen in meiner Lieblingsfernsehsendung eigentlich so wenige Menschen eine Rolle, die so aussehen wie ich? Und wenn, warum dann nur als Täter*innen oder Opfer von Gewalt? Warum kommt das, was in meinem Stadtteil mit tausenden von Bewohner*innen passiert, eigentlich nie in den Nachrichten vor? Warum erfahre ich so viel über das Leben der reichen und schönen Weißen, aber nichts, was mir im Alltag weiterhilft? Wieso haben wir als Indigene keine eigenen Medien in unserer Sprache, die uns die ILO-Konvention 169 garantiert?

Das Menschenrecht auf Kommunikation, das allen nicht nur das theoretische Recht auf Meinungsäußerung, sondern tatsächlichen Zugang zu Medien garantiert, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen sozialen Bewegungen gefordert. In Venezuela garantiert es die neue Verfassung von 1999, die eine Fülle von Neugründungen alternativer Medien auslöste. Viele Bewegungen befürworten auch den Aufbau öffentlich-rechtlicher Medien, auch wenn diese allein keine „Ausgewogenheit“ der Berichterstattung garantieren.

Ob in den Favelas der Maré in Rio de Janeiro, in ländlichen indigenen Gemeinden oder auf den Wänden des jamaikanischen Kingston – überall versuchen Menschen ihre eigene Sicht auf ihre Wirklichkeit auszudrücken und zu verbreiten. Die Ernsthaftigkeit und der Spaß, den sie dabei empfinden, vermitteln sich live on air, über Fotoausstellungen, Texte oder über coole Sprüche an rauen Wänden. Hilfreich ist dabei die zunehmende Verbreitung des Internets: Blogs und Internet- radios, selbst Internet-TV, sind kostengünstig zu produzieren und haben ein immer größeres Publikum – auch wenn in vielen Gegenden Radio-wellen oder bedrucktes Papier noch die meisten Menschen erreichen.

Dass kritischer Journalismus auch gefährlich ist, zeigt sich aktuell besonders in Mexiko und in Honduras. Im vergangenen Jahr wurden sechs mexikanische Journalist*innen ermordet, seit dem Jahr 2000 waren es mindestens 66, weitere zwölf werden vermisst. Und nach den Recherchen der Journalist*innen-Organisation Artikel 19 sind es nur in jedem zweiten Fall die Drogenkartelle, die mexikanische Journalist*innen bedrohen. In allen anderen Fällen sind es staatliche Stellen. Auch in Honduras wurden 2012 zwei Journalisten Opfer einer Ermordung, die in direktem Zusammenhang mit ihren Recherchen stand. In den vergangenen drei Jahren sind dort mindestens 29 Journalist*innen ermordet worden.

Aus der Fülle dieser Themen haben wir für dieses Dossier eine Auswahl von sechs Ländern getroffen: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile. Zu fünf der Länder thematisiert ein Beitrag das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Ergänzt wird dies durch ein Interview oder ein Feature über ein Projekt kritischer Gegenöffentlichkeit. Dabei war uns wichtig, dass die Beiträge möglichst unterschiedliche Medienformate vorstellen: Eine alternative Nachrichtenagentur in Mexiko, kommunales indigenes Radio in Honduras, Streetart in Jamaica, einen alternativen Fernsehsender in Venezuela, verschiedene Favela-Medien in Brasilien und ein Radioprojekt in Chile sollen ein möglichst vielfältiges Bild von lateinamerikanischer Gegenöffentlichkeit skizzieren.

Begleitet werden die Texte von Streetart-Fotos aus der Länderauswahl sowie aus Argentinien, Guatemala und Costa Rica. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fotograf*innen sowie das Goethe-Institut in Mexiko, das uns viele Fotos zur Verfügung stellte.

 

Warten auf Chávez

Gerüchte kursierten bereits seit Langem. Am 8. Dezember trat der venezolanische Präsident Hugo Chávez vor die Kamera, bestätigte, dass seine Krebserkrankung wieder aufgetreten sei und kündigte eine weitere Operation in Kuba an. Bis zu seiner Wiederwahl am 7. Oktober 2012 galt seine Erkrankung als vorerst überwunden. Die rigide Informationspolitik der Regierung hatte jedoch stets Raum für Spekulationen gelassen. Daran, dass der Eingriff dieses Mal komplizierter sein könnte als bei den drei Operationen zuvor, ließ Chávez keinen Zweifel. Erstmals äußerte er sich öffentlich zu seiner möglichen Nachfolge: „Die Revolution hängt nicht von einer Person ab“, versicherte Chávez in seiner Fernsehansprache und bat die venezolanische Bevölkerung darum, falls nötig, den derzeitigen Vizepräsidenten Nicolás Maduro als seinen Nachfolger zu unterstützen.
Der frühere Busfahrer und Gewerkschafter wurde 1998 als Abgeordneter von Chávez‘ Wahlplattform Bewegung für die Fünfte Republik (MVR) in die Nationalversammlung gewählt. Zwischen 2005 und 2006 war der heute 50-Jährige Parlamentspräsident, bevor Chavez ihn zum Außenminister machte. Während Chávez die meisten Minister_innen regelmäßig austauschte, übte Maduro, der mit Generalstaatsanwältin Cilia Flores verheiratet ist, das Amt bis vor kurzem aus. Kurz nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober hatte Chávez ihn zu seinem Vizepräsidenten ernannt.
Die medizinische Behandlung in Kuba genehmigte die Nationalversammlung mit den Stimmen der Opposition. Am 11. Dezember wurde Chávez operiert. Der Eingriff sei „kompliziert“ gewesen, ließ die Regierung verlauten. Die Anhänger_innen des Präsidenten reagierten mit Solidaritätsbekundungen und öffentlichen Massengebeten, die Chávez einmal mehr die Aura eines Heiligen verliehen. Die Regionalwahlen vom 16. Dezember, bei denen sich die Opposition gute Chancen ausgerechnet hatte, gewann das Regierungslager bei einer vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von etwa 54 Prozent überaus deutlich. 20 der 23 Gouverneursposten gingen an die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die somit mehrere bisher von der Opposition regierte Staaten zurückgewinnen konnte. Einen wichtigen Erfolg konnte die Opposition jedoch im zentralen Staat Miranda erzielen. Hier setzte sich Henríque Capriles Radonski, der bei den Präsidentschaftswahlen gegen Chávez unterlegene Oppositionskandidat, gegen den ehemaligen Vizepräsidenten Elías Jaua durch. Die Regionalwahlen verschwanden aufgrund von Chávez‘ Erkrankung jedoch rasch wieder aus den Schlagzeilen. Dessen Gesundheitszustand verschlechterte sich nach der erfolgreichen Operation offenbar. Wie die Regierung mitteilte, leide Chávez an Atemwegsproblemen, sein Zustand sei aber stabil. Die Abwesenheit des Präsidenten sorgte für hitzige Diskussionen darüber, ob es Neuwahlen geben müsse oder nicht. Denn laut venezolanischer Verfassung ist die Vereidigung eines gewählten Präsidenten immer für den 10. Januar nach den Präsidentschaftswahlen vorgesehen. Es zeichnete sich bereits Ende Dezember ab, dass Chávez zu diesem Termin nicht würde anreisen können. Die Position des Chavismus war eindeutig: Der Präsident könne sich die Zeit nehmen, die zu seiner Genesung nötig sei. Die Vereidigung sei eine „reine Formalität“ und könne zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Obersten Gericht (TSJ) nachgeholt werden, erklärte Vizepräsident Maduro. Die Option einer späteren Vereidigung hatte Parlamentspräsident Diosdado Cabello bereits im Dezember ins Spiel gebracht. Generalstaatsanwältin Cilia Flores beteuerte, eine Vereidigung sei nicht zwingend am 10. Januar nötig, da Chávez ja bereits Präsident sei.
Artikel 231 der venezolanischen Verfassung sieht vor, dass die Vereidigung an diesem Datum vor der Nationalversammlung erfolgen soll. Im gleichen Artikel wird jedoch die Vereidigung vor dem TSJ als Möglichkeit genannt, sollte diese vor dem Parlament wegen eines „plötzlich auftretenden Grundes“ nicht möglich sein. Ein konkretes Datum wird für diesen Fall nicht genannt.
Führende Politiker der Opposition pochen jedoch darauf, dass es innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen geben müsste, da Chávez am 10. Januar nicht vereidigt wurde.
Die Opposition beruft sich mehrheitlich auf Artikel 233 der Verfassung. Demnach müssen innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen abgehalten werden, sollte ein Präsident vor der Vereidigung oder innerhalb der ersten vier Jahre seiner Amtszeit versterben oder aus anderen Gründen dauerhaft ausfallen. Tritt dieser Fall bereits vor der Vereidigung ein, übernimmt der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte bis zu den Wahlen. Als Grund für eine „absolute Abwesenheit“ wird unter anderem die „dauerhafte physische oder mentale Geschäftsunfähigkeit“ genannt. Diese muss aber von einem Ärzteteam festgestellt werden, das vom Obersten Gericht ausgewählt wird. Eine temporäre Abwesenheit ist dem Präsidenten nach Erlaubnis durch die Nationalversammlung für 90 Tage gestattet, mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um weitere 90 Tage.
Es gibt aber auch Stimmen innerhalb der Opposition, die den Regierungsdiskurs stützen. Der Verfassungsrechtler Hermann Escarrá etwa bezeichnete es als „gravierenden Fehler“, von einer absoluten Abwesenheit zu sprechen. Auch der im Oktober unterlegene Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles Radonski, sprach sich nicht grundsätzlich gegen eine spätere Vereidigung aus. Das TSJ folgte am 9. Januar der chavistischen Interpretation der umstrittenen Verfassungsartikel. Aufgrund der internen Mehrheitsverhältnisse hatte das Oberste Gericht in den vergangenen Jahren stets die Positionen der Regierung vertreten. In Lateinamerika wurde das Vorgehen von praktisch allen Regierungen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) abgenickt. Am Tag der eigentlich vorgesehenen Vereidigung rief die PSUV zu einer massiven Kundgebung in Solidarität zu Chávez auf. Mehrere Staatschefs reisten an, darunter Pepe Mujíca aus Uruguay, Evo Morales aus Bolivien und Daniel Ortega aus Nicaragua. Andere Länder schickten hochrangige Vertreter_innen.
Die Entscheidung, wie es in Venezuela politisch weitergehen wird, könnte sich noch einige Monate hinziehen. Die internen Spannungen, die den unterschiedlichen Strömungen des Chavismus nachgesagt werden, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum seriös einzuschätzen. Maduro und Cabello, die innerhalb der PSUV jeweils für den linken und rechten Flügel stehen, üben in der Öffentlichkeit demonstrative Geschlossenheit. Nüchtern betrachtet kann die Opposition mit der Situation gut leben, auch wenn sie gegen Chávez‘ Verbleib im Amt mobilisiert und kritisiert, dass die wichtigen Entscheidungen nun in Havanna getroffen würden. Bei kurzfristigen Präsidentschaftswahlen wäre sie aufgrund schwacher Inhalte und der starken Mobilisierung, die Chávez‘ schwere Erkrankung auslöst, aller Voraussicht nach auch gegen Maduro chancenlos. Laut Darstellung der Regierung trifft Chávez auch am Krankenbett noch Entscheidungen. So ernannte er etwa Mitte Januar Elías Jaua zum neuen Außenminister. Zuletzt äußerte sich Maduro wieder optimistischer über Chávez‘ Gesundheitszustand. Er rechne damit, dass dieser innerhalb von ein paar Wochen nach Venezuela zurückkehre.

Ein nachdenklicher Badespaß

Ein sanftes Plätschern. Eine leichte Brise. Dazu das gleichmäßige Rauschen des Meeres. Das sind die Geräusche, die einen während des gesamten Films begleiten. Gemeinsam mit dem Drehbuchautor Abel Arcos setzt der Regisseur Carlos M. Quintela die Zuschauer_innen an den Rand des Schwimmbeckens, um den gemütlichen Sommertag gemeinsam mit Esteban (Raúl Capote) und seinen Schwimmschüler_innen zu verbringen. Diese haben es inmitten ihrer Pubertät sowieso schon nicht leicht: Diana (Mónica Molinet) fehlt ein Bein, Rodrigo (Felipe García) ist gehbehindert, Oscar (Carlos Javier Martínez) weigert sich schlichtweg zu sprechen und Dani (Marcos Costa) hat das Down-Syndrom. Trotzdem treffen sie sich jeden Tag am Pool, schwimmen und verleben so ihre Sommerferien.
La Piscina erzählt keine dramatische oder atemberaubende Geschichte. Ihre Held_innen müssen weder gefährliche Abenteuer überstehen noch packende Extremsituationen meistern. Nein. In etwas mehr als einer Stunde wird lediglich der Alltag dieser gesellschaftlichen Außenseiter_innen gezeigt. Eigentlich ist das auch schon genug. Sie müssen schließlich mit nichts Geringerem als ihren eigenen Schwächen und Unsicherheiten, Sehnsüchten und Träumen fertig werden. Gerade in dieser Natürlichkeit und Einfachheit liegt der Reiz und die Genialität des Filmes.
Diana ist innerhalb der kleinen Truppe die beste Schwimmerin und drängt sich stets in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch bei Anwesenheit der anderen Jugendlichen ohne Behinderung wird sie plötzlich ganz still. Merklich eingeschüchtert, fast ängstlich, beobachtet sie sie. Trotzdem setzt sie sich nach einer Weile fast demonstrativ an den Beckenrand. Zusammen mit Rodrigo tuschelt sie über Oscar und macht sich offen über seine Stummheit lustig. Dafür steht Dani Oscar treu zur Seite und tröstet ihn, als Diana es mal so richtig übertreibt. Esteban beobachtet sie, mischt sich nur selten ein. Was er wohl denken mag? Während der langen Porträtaufnahmen bleibt dem Publikum viel Zeit und Raum zur Interpretation von Blicken, Gesten und Mimik. Es werden viele Fragen aufgeworfen, die nie beantwortet werden. Denn die Zuschauer_innen sind nur Beobachter_innen und lernen die Jugendlichen nur in dem Maße kennen, wie sie es innerhalb eines Tages auch tun würden.
Die Zuschauer_innen werden dazu angeregt, einen näheren Blick auf diese fünf unterschiedlichen Persönlichkeiten zu werfen. So simpel es von außen scheinen mag, herrscht in der kleinen Gruppe eine komplexe Dynamik: Sie verlieben sich, necken sich, wollen sich messen und sind neidisch – genau wie andere Jugendliche in ihrem Alter. Sie suchen Zuneigung und Verständnis. Vor allem aber brauchen sie einen geborgenen Raum, der ihnen Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Das Schwimmbad ist der Ort, der sie zusammenbringt und wo sie schwerelos lachen und genießen können. Hier ist Diana die schnellste und begehrteste. Hier ist Dani ein Meister an und für sich, unabhängig von seiner Mutter. Rodrigo findet hier Nähe und Akzeptanz. Genau wie Oscar hat er in seinem Trainer einen Verbündeten, der ihn versteht.
Quintelas erster Langspielfilm ist voller Ruhe und atmosphärischer Gelassenheit. Man verlässt den Kinosaal, als ob man gerade selbst einen ganzen Tag am Pool verbracht hätte. Wer gerne Action, Spannung, Drama oder lautes Gelächter mag, der sollte sich lieber etwas anderes suchen. Wer aber gerne still und leise beobachtet und sich aus Blicken, wenigen Worten und kurzen Gesten sein ganz eigenes Bild machen will, für den ist der Film genau das Richtige.

La Piscina („Das Schwimmbad“) // Carlos M. Quintela // 65 Minuten Kuba/Spanien/Venezuela // Sektion Panorama // Spanisch mt englischen Untertiteln

Warten auf Godot

Auf das Dach des Reisebusses sind zwei Särge gebunden. Sie schmoren gemeinsam mit der Trauergemeinde in der gleißenden Sonne. Die Männer von der Blaskapelle sitzen in ihren schwarzen Anzügen schwitzend im Gras. Sie sitzen und warten. Darauf, dass die Straßensperre aufgelöst wird. Und dass sich der Ärger derjenigen beruhigt, die den Weg in die Provinz verbarrikadiert haben, um der Regierung klarzumachen: Wir haben Hunger!
Es ist Montag, der 29. Oktober. Der erste Tag nach Hurrikan Sandy. Eigentlich hätte alles gar nicht so schlimm sein dürfen, immerhin ist das Zentrum des Sturms über Jamaica und Kuba gefegt. Haiti hat nur die Ausläufer abbekommen. Aber die haben gereicht: Erst wurde der Himmel langsam grau und die Frauen in den Straßen von Port-au-Prince stülpten sich wie auf ein Zeichen hin bunte Duschhauben über ihre Frisuren. Dann fielen die ersten Tropfen und kurze Zeit später war das ganze Land in ein riesiges Badezimmer verwandelt. Eins, in dem die Dusche voll aufgedreht ist und für drei Tage nicht mehr abgestellt wird. Die Haare unter den Badehauben der Frauen waren das Einzige, was nicht völlig durchweicht war.
In Jamaica und Kuba zusammen sind zwölf Menschen dem Hurrikan zum Opfer gefallen. In Haiti waren es 54. Und damit hat der Sturm abermals die eigentlichen Probleme des Landes frei gespült. Die Berge Haitis sind für die Produktion von Holzkohle fast vollständig gerodet, bei starken Regenfällen, wie Sandy, schießt das Wasser ungehindert in die Täler. Flüsse treten über die Ufer und reißen ganze Siedlungen mit, die in Schluchten oder direkt am Flussbett gebaut sind. Es gibt keine Straßen um Verletzte zu transportieren und nicht genügend Krankenhäuser, um alle zu versorgen. Nach jeder neuen Katastrophe fangen die Leute mit dem Wiederaufbau an. Er zehrt alle Ressourcen auf und lässt das Land ohne Abwehrkräfte für den nächsten Sturm zurück. Das eigentliche Problem haben hier nicht die Toten, sondern die, die überlebt haben.
Die Toten warten auf den Dächern von Reisebussen auf ihre Beerdigung mit Blaskapelle. Die, die noch leben, blockieren den Weg. Weil sie nicht mehr weiter wissen, weil sie selbst völlig blockiert sind. Erst kam Hurrikan Isaac Ende August und richtete verheerende Schäden auf den Feldern an. Das, was übrig geblieben war, wäre gerade reif für die Ernte gewesen. Yamswurzel, Mais, Bananen. Jetzt ist alles kaputtgeregnet und weggespült. Laut Angaben der Vereinten Nationen werden im nächsten Jahr 1,5 Millionen Menschen vom Hunger bedroht sein.
Ein paar Kilometer von der Straßensperre entfernt, am Stadtrand von Port-au-Prince, erstreckt sich die Cité Soleil, der größte und gefährlichste Slum Haitis. Die Regierung hat diesen Teil der Stadt aufgegeben, statt Polizisten_innen bestimmen hier Banden. Auch Hilfsorganisationen kommen nur selten vorbei, wenig lohnenswert und zu gefährlich ist die Arbeit hier. Die einzigen Besucher_innen aus den anderen Stadtvierteln sind die Müllwagen. Und die kommen nur, um den Dreck der Stadt auf einem der riesigen Müllberge von Cité Soleil abzuladen.
Plastikflaschen sortieren, Dosen verbrennen und Metall verkaufen. Über 400 Familien ernähren sich von Abfällen. Zwischen den Müllbergen ist es schwer zu erkennen, wo die Erde aufhört und der Abfall anfängt, so viele Schichten pressen sich hier aufeinander. Irgendwo ragt ein Plastikrohr aus der Erde, nicht größer als eine Hand im Durchmesser. „Das ist die Wasserstelle“, sagt Louis Wilner, Mitarbeiter einer lokalen Hilfsorganisation. „Hier holen sich 400 Familien ihr Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen.“ Und wie in einem dieser Spendenaufrufe zur Weihnachtszeit, kommt eine Gruppe kleiner, nackter Kinder mit vor Hunger und Mangelernährung geschwollenen Bäuchen vom Müllberg her. Sie haben eine Wasserflasche mit einem Loch an der Seite an einen langen Stock gebunden und schöpfen damit Wasser aus dem Rohr. „Aber die Kinder sind nicht bestellt um Mitleid zu erregen, hier ist es wirklich so“, sagt Wilner, halb erklärend, halb entschuldigend. Und dann erzählt er von den Krankheiten, die durch das verseuchte Wasser entstehen. Von Vaginalinfektionen, Cholera, und eben den geblähten Kinderbäuchen.
Nicht weit von der Wasserstelle reihen sich die Häuser der Slumfamilien aneinander. Sie bestehen aus ein paar schiefen Stämmen, verkleidet mit Wellblech und Plastik. Eine Linie getrockneten Schlamms zieht sich über die Außenwände. „Bis hierhin ist Sandy gekommen“, sagt die 18-jährige Midleen und fährt mit dem Finger an der Wand ihres Hauses entlang. Der Strich ist höher als der Kopf von Midleens Tochter, die gerade ein Jahr alt geworden ist und im Schlamm vor der Hütte ihre ersten Schritte wagt. „Ich stand bis zur Hüfte im Wasser und habe mein Kind hochgehalten“, sagt Midleen. „Zwei Tage stand ich hier, ich wusste nicht wohin.“
Wohin – auf die Frage scheint hier keiner so richtig eine Antwort zu haben. Nicht die Bewohner_innen der Cité Soleil, noch die Hilfsorganisationen, die sich seit Jahren an unterschiedlichsten Projekten abmühen. Und auch nicht Michel Martelly, einst Popstar, heute Präsident von Haiti. Die Leute vor der Straßensperre scheinen als einzige zu wissen, wohin sie wollen.
Die Schlange vor den Barrikaden wird immer länger, keiner will gerne umdrehen und wieder zurück durch das Verkehrschaos von Port-au-Prince. Die Straßen sind hier nicht erst seit dem Erdbeben in einem katastrophalen Zustand. Das letzte Mal, dass die Infrastruktur der Einwohner_innenzahl entsprach, muss Anfang der 60er Jahre gewesen sein, als das Land noch in den Kinderschuhen der fast 30-jährigen Diktatur steckte. Seitdem hat sich nicht viel getan am Ausbau der Straßen, dafür sind immer mehr Autos dazu gekommen. Seit dem schweren Erdbeben Anfang 2010 vor allen Dingen die Großen, weiß, mit Klimaanlage, Vierradantrieb und dem bunten Sticker einer Hilfsorganisation.
Doch auch ein Sticker hilft nicht viel bei einer Straßensperre von Menschen, die Hunger haben. Hilfsorganisationen müssen genauso warten wie Reisebusse mit Särgen auf dem Dach. Neben dem Bus und der Blaskapelle hocken sich ein paar Frauen hin und pinkeln. Keiner guckt weg, keiner guckt hin. So ist das eben in einem Land, in dem das Verhältnis von Toiletten und Menschen völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Man pinkelt, wo man kann.
Plötzlich ruft einer was und alle Köpfe drehen sich. Die MINUSTAH kommt, die UN-Friedenstruppen. Sie rauschen vorbei an den pinkelnden Frauen und der Blaskapelle. Mit blauen Helmen, dunklen Sonnenbrillen und großen Gewehren. Die müssten die Blockade eigentlich auflösen können. Aus dem Reisebus wird gewitzelt, ob die Blauhelme vielleicht noch nicht mitbekommen hätten, dass da eine Straßensperre sei. Aber die Männer von der Blaskapelle gucken doch erwartungsvoll.
Minuten verstreichen und nichts passiert. Dann geht ein Raunen durch die Reihen, die MINUSTAH kommt zurück. Rauscht vorbei, mit blauen Helmen und großen Gewehren. „Die haben auch wieder umgedreht, war ihnen zu heikel“, rufen die Leute vorne in der Schlange nach hinten. Keiner wundert sich. Einige drehen um, andere warten weiter.

Mächtig, mutig und genial

Mit 40 Frauenportraits illustrieren sie, dass lateinamerikanische Frauen sich keineswegs mit einem Leben als Heimchen am Herd begnügen. Vielmehr spielen sie wichtige Rollen in allen Bereichen der Gesellschaft. Aufgeteilt wird die facettenreiche Auswahl in drei Kategorien: „mächtig“, „mutig“ und „genial“. In allen drei Teilen sind bekannte und weniger bekannte Frauen aus unterschiedlichen historischen Kontexten vertreten.
Die Kategorie „mächtig“ präsentiert Frauen, die über die etablierten Machtstrukturen Einfluss erlangten. Die Spanne reicht von Quispe Çiça, einer Inkaprinzessin und zeitweiligen Gefährtin des spanischen Eroberers Francisco Pizarro, bis hin zur unvermeidlichen Evita. Auch moderne Politikerinnen wie Michelle Bachelet oder Dilma Rousseff kommen nicht zu kurz. Die Kategorie „mutig“ präsentiert Frauen, die auf unterschiedliche Weise gegen die herrschenden Verhältnisse ihrer Zeit kämpf(t)en. Hier führt uns Inés de Suárez in das Chile der Konquista und die Bloggerin Yoani Sánchez auf das heutige Kuba. Unter „genial“ finden sich neben Vertreterinnen aus Wirtschaft und Sport hauptsächlich Angehörige der Kulturszene. Neben Frida Kahlo und Shakira begegnet einem etwa die peruanische Schriftstellerin Clorinda Matto, die Ende des 19. Jahrhunderts wegen ihres Schaffens ins Exil gehen musste. Unter anderem, weil sie als eine der Ersten die weibliche Sexualität thematisierte.
Die vorgenommene Aufteilung in drei Kategorien ist bisweilen problematisch, da Macht, Mut und Genialität eng miteinander verbunden sind. Auch schwankt die Qualität der Portraits. Manche sind lebendig und fesselnd, während anderen durch zu viele Details oder holprigen Ausdruck die Spannung verloren geht. Den Autorinnen gelingen empathische und ausgewogene Porträts vieler umstrittener Figuren, wie bei Malinche. Andere kommen allerdings holzschnittartig daher, etwa bei Isabel Perón. Auch vereinzelt eingestreute Klatschinformationen wirken eher unseriös als auflockernd.
Die Einleitung konzentriert sich stark auf Zahlenspiele, um zu belegen, wie gut es in Lateinamerika um die Stellung der Frau bestellt ist. Offensichtliche Probleme relativieren die Autorinnen, indem sie betonen, dass auch in der EU nicht alles glatt läuft. Es wird sehr deutlich, dass sie großen Wert auf ein positives Fazit legen. Der Anspruch des Bandes, das Klischee der Machokultur zu widerlegen, ist auf diesem Weg nicht zu erreichen. Dass es in Lateinamerika mutige, mächtige und geniale Frauen gibt und schon immer gab, überrascht heutzutage hoffentlich niemanden mehr. Doch strukturelle Probleme einer Gesellschaft lassen sich nicht durch einzelne Gegenbeispiele widerlegen. Vor allem, da es sich bei den meisten porträtierten Frauen um Angehörige der Oberschicht handelt und sie damit nur einen sehr kleinen Teil der lateinamerikanischen Frauen repräsentieren.
Dieser große Anspruch wäre indes gar nicht nötig gewesen. Wenn man das Buch einfach als eine Sammlung spannender, überraschender, informativer und unterhaltsamer Porträts toller Frauen liest, lohnt sich die Lektüre allemal. Besonders gelungen ist die bunte Mischung der Porträtierten. Man erfährt viel Neues, auch über bekannte Figuren und lernt zudem viele interessante Frauen neu kennen. So ist das Buch sowohl für Lateinamerikaexpert_innen als auch für Neulinge geeignet. Zudem führt der Band ganz nebenbei durch die lateinamerikanische Geschichte der letzten fünf Jahrhunderte. Und zwar auf leider ungewöhnliche Weise, nämlich aus weiblicher Perspektive.

Eva Karnofsky und Barbara Potthast // Mächtig, mutig und genial. Vierzig außergewöhnliche Frauen aus Lateinamerika // Rotbuch Verlag // Berlin 2012 // 19,95 Euro

Neuer Sozialismus oder alter Hut?

Demokratie, Partizipation, Sozialismus – im Bannkreis dieser Werte unternimmt das gleichnamige Buch den Versuch, eine Bestandsaufnahme des Transformationsprozesses in Bolivien, Ecuador und Venezuela zu geben. Was hat der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ soweit gebracht? Mehr Demokratie? Mehr Partizipation? Oder ist die neue sozialistische Realität in Lateinamerika alter Wein in neuen Schläuchen und trägt eher Zeichen des real existierenden Sozialismus früherer Tage mit Hang zum Staatskapitalismus und Ein-Parteien-Herrschaft?
Das Buch gibt Antworten auf diese Fragen. Zunächst führen drei theoretische Beiträge die Leser_innen in die Thematik ein. Dann äußern sich bolivianische, ecuadorianische und venezolanische Autorinnen und Autoren über die Situation in ihren Ländern. Und da Sozialismus in Lateinamerika nicht ohne die kubanische Erfahrung denkbar ist, befassen sich die zwei letzten Beiträge mit den Lehren aus der jüngeren Geschichte der Insel.
Die Einleitung von Miriam Lang macht klar, dass das Buch „als Beitrag zu einer Vertiefung der Transformation des Weltsystems [verstanden werden soll], die ohne Verschiebungen im globalen Norden wenig Chancen hat.“ Aufklärung in Form von Reziprozität tue Not. Allerdings erschöpfe sich diese nicht im gegenseitigen Lernen. Vielmehr gehe es darum, „im jeweils eigenen Kontext Transformationen voranzutreiben, die zueinander komplementär sind und dem Vormarsch des Rohstoff-Neokolonialismus Einhalt gebieten.“
Wie das gehen kann, zeigen die beiden anderen theoretischen Beiträge. Boaventura de Sousa Santos sieht in der Plurinationalität den entscheidenden Beitrag zur Demokratie. Die plurinationale Gemeinschaft sei der Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft. Anders als in jener koexistierten in dieser mehrere Nationalitäten in gegenseitiger Anerkennung und machten sich die freizirkulierenden, unterschiedlichen Wissensformen zunutze, um das Buen Vivir im Ökosozialismus zu verwirklichen. Eduardo Gudynas beschreibt ergänzend das Buen Vivir als das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum und somit als etwas, das sich des Kapitalismus entledigt und vom Kolonialismus befreit hat.
In den Länderbeiträgen wird unisono das Spannungsfeld zwischen progressiven Elementen der Transformation und der Gefahr des Staatsdirigismus thematisiert. Historisch bedeutsame Anstöße wie die Verabschiedung der neuen Verfassungen in Bolivien und Ecuador oder die Sozialprogramme in Venezuela gäben Mut. Gleichzeitig schüre manch autokratisches, wenig Opposition zulassendes und auf eine Führungsfigur zugeschnittenes Regierungsgebaren die Furcht, alte Fehler erneut zu begehen. Warnend schreibt Raúl Prada in seinem Bolivien-Beitrag, „dass, als die Bolschewiki die Macht ergriffen, sie damit den Staat zerstören wollten, aber […] am Ende einen noch dominanteren Staat geschaffen haben.“ Gegen diese Gefahr, aber auch gegen das Verharren in einem kolonialistischen Staatsmodell, das sich in einem Neo-Extraktivismus ausdrücke und die Partizipation breiter Bevölkerungsteile verhindere, schreiben die Beiträge an. Gleichzeitig sensibilisieren sie für die Probleme der politischen Alltagsarbeit, in der indigene Vertreter_innen nach wie vor diskriminiert würden.
Das Buch ist gut strukturiert, spannend und horizonterweiternd. Insbesondere die Einrahmung der Länderbeiträge durch die theoretische Einführung und den Bezug auf Kuba, geben dem_r Leser_in das Gefühl, allumfassend und facettenreich über die Thematik informiert zu werden. Eine anspruchsvolle, aber empfehlenswerte Lektüre.

Miriam Lang // Demokratie, Partizipation, Sozialismus – Lateinamerikanische Wege der Transformation. Manuskripte Bd. 96 // Karl Dietz Verlag // Berlin 2012 // http://www.rosalux.de/publication/38509

Nicht legal, aber entkriminalisiert

Der ehemalige und möglicherweise auch zukünftige Präsident Tabaré Vázquez hatte beim letzten Anlauf Ende 2008 ein entsprechendes Gesetz zur reproduktiven Gesundheit, das vor allem in Bezug auf die Rechte der betroffenen Frauen deutlich über die jetzt verhandelte Regelung hinausging, noch mit seinem Veto blockiert. Dies obwohl schon vor fast vier Jahren eine knappe Mehrheit in beiden Kammern des uruguayischen Parlaments dem Gesetzentwurf, der unter anderem eine Lockerung des strengen Abtreibungsverbots vorsah, zugestimmt hatte. Eine Haltung des praktizierenden Katholiken Vázquez, die vor allem an der Basis viele Mitglieder des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Parteienbündnisses Frente Amplio empört hatte.
Nach einer erneut sehr polemisch geführten Diskussion hat nun aber der amtierende Präsident José „Pepe“ Mujica im Oktober 2012 das Gesetz zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabruchs innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen unterzeichnet, nachdem zuvor das uruguayische Abgeordnetenhaus am 25. September mit 50 zu 49 Stimmen und dann am 17. Oktober auch der Senat den Gesetzentwurf gebilligt hatten. Für das Gesetzesvorhaben stimmten 17 von 31 Senator_innen – alle Mitglieder der regierenden Frente Amplio sowie ein Senator der Blancos, einer der beiden Oppositionsparteien. Nach Guayana ist Uruguay somit das dritte lateinamerikanische Land nach Kuba und Guayana, in dem eine Abtreibung straffrei ist. Damit verliert ein Gesetz aus dem Jahre 1938, entworfen während der ersten Militärdiktatur unter Gabriel Terra, seine Gültigkeit, das jeglichen Abbruch strikt verboten hatte und Haftstrafen zwischen drei und neun Monaten für die betroffenen Frauen und zwischen sechs und 24 Monaten für die Ausführenden vorsah. Allerdings wurde in der Praxis nur ein Bruchteil der Schwangerschaftsabbrüche strafrechtlich verfolgt. Auch insofern war die jetzt erfolgte Entkriminalisierung längst überfällig.
Das neue Gesetz, mit dem die Frente Amplio eines ihrer Wahlversprechen einlöst, sieht vor, dass Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ein Gespräch mit einem interdisziplinären Team aus Mediziner_innen, Psycholog_innen und Sozialarbeiter_innen führen müssen, in dem sowohl über die Risiken eines Abbruchs als auch über die Alternativen und die staatlichen Unterstützungsprogramme informiert wird. Erst nach diesem Gespräch und einer Bedenkzeit von fünf Tagen dürfen sie sich dem Eingriff unterziehen. Eine Regelung, die von den traditionell in Uruguay sehr starken Frauenorganisationen, die sich seit Jahrzehnten für einen legalen, sicheren und kostenfreien Schwangerschaftsabbruch einsetzen, kritisiert wird. Ihrer Ansicht nach werden die Frauen so einem unzumutbaren Druck ausgesetzt und es wird ihnen das Recht vorbehalten, selbst über ihren Körper zu entscheiden. Nicht das Recht auf Abtreibung wurde legalisiert, sondern die Abtreibung wird mit dem neuen Gesetz entkriminalisiert, so zusammengefasst ihre Kritik. Insgesamt überwiegt bei den sozialen Organisationen und fortschrittlichen Frauenverbänden aber die Erleichterung, dass der Kampf um die Selbstbestimmung zu einem Teilerfolg geführt hat. Das Land kehrt nun zu einer Praxis zurück, die so ähnlich schon von 1934 bis 1938 gegolten hatte. Sie war ein Resultat der zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden fortschrittlichen Sozial- und Familienpolitik in Uruguay, in dem seit 1916 eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat herrscht.
Allerdings streben Abtreibungsgegner_innen in Uruguay, die von der katholischen Kirche unterstützt werden, ein Referendum über das Gesetz an. Im seit 1964 offiziell laizistischen Uruguay bekennen sich zwar über 60 Prozent zum katholischen Glauben, aber der Einfluss der Amtskirche ist im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas deutlich geringer. Und von einer direkten Einmischung der katholischen Kirche in die Politik hält die übergroße Mehrheit der Uruguayer_innen schon gar nichts. Dementsprechend erregte eine Meldung, die am 19. Oktober dieses Jahres, nur zwei Tage nach der Zustimmung des uruguayischen Senats zur Gesetzesvorlage über die Ticker lief, mehr Aufmerksamkeit im Ausland als in Uruguay selbst. In einem Bericht der konservativen Tageszeitung El Observador wurden Erwägungen der katholischen Kirche erwähnt, die Parlamentarier_innen, die dem Gesetz zugestimmt hatten, zu exkommunizieren. Nur wenige Tage später ruderte der Generalsekretär der uruguayischen Bischofskonferenz allerdings zurück: „Kein Bischof wird irgendeinen Parlamentarier exkommunizieren“, so Bischof Heriberto Bodeant am 22. OKtober in der Tageszeitung El Pais.
Unterstützer_innen der Reform aus der Frente Amplio sehen das alles eher gelassen: Zuverlässige Statistiken gehen davon aus, dass die Straffreiheit von einer Mehrheit der Uruguayer_innen begrüßt wird. In einer jüngsten Umfrage von Mitte Oktober sprachen sich über 60 Prozent der Befragten, quer durch alle Parteizugehörigkeiten, dafür aus. Auch weil in der vorwiegend städtisch geprägten Bevölkerung die sozialen Folgen der über 33.000 illegalen Abtreibungen (tatsächlich wird die Zahl der Abbrüche auf über 60.000 geschätzt) bekannt sind. Unzumutbare hygienische und medizinische Bedingungen und viele Todesfälle in Folge der Abbrüche sind in der Öffentlichkeit des Landes schon seit Jahren ein Thema. Betroffen sind von den 800.000 Frauen im gebärfähigen Alter in dem 3,4 Millionen Einwohner_innen zählenden Land vor allem Frauen aus der Mittel- und der Unterschicht, die sich eine Abtreibung im Ausland nicht leisten können. Für eine Volksabstimmung über die Legalisierung der Abtreibung ist auch Mujica. Am 29. Oktober, nur wenige Tage nachdem er das Gesetz unterzeichnet hatte, sagte er, „dass die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in unserem Land durch das Votum des Volkes gelöst werden müsste“.

Wer umzingelt wen?

Das Renaissance Hotel im Zentrum São Paulos, in dem sich die Interamerikanische Pressegesellschaft SIP Mitte Oktober zu ihrer 68. Generalversammlung traf, ist ein exklusiver Tagungsort. Und gekommen war auch nicht irgendwer, sondern Vertreter_innen von Lateinamerikas bedeutendsten Zeitungsverlagen und Mediengruppen. Dass es sich schlichtweg um ein Stelldichein von „Konglomeraten“ gehandelt habe, wie einige kritische Nachrichtenagenturen titelten, stimmt so nicht ganz. Denn unter den über 1.300 Mitgliedern der SIP befinden sich neben auflagenstarken rechten Meinungsmacher_innen wie dem brasilianischen Rede Globo, der argentinischen Gruppe Clarín oder Chiles Tageszeitung Milenio durchaus auch links davon positionierte Presseerzeugnisse, wie etwa Página12 aus Argentinien oder die mexikanische Tageszeitung El Universal. Davon war in den Vorträgen des Treffens allerdings nicht viel zu spüren. Die Wortführer_innen beschränkten sich zumeist darauf, sich als alleinige Verteidiger_innen der Presse- und Meinungsfreiheit zu stilisieren und all jene zu rügen, die diese gefährdeten.
Als die aktuell „größte Gefahr Lateinamerikas“ wurde ausgerechnet das im Jahr 2009 verabschiedete neue argentinische Mediengesetz beschrieben, das am 7. Dezember dieses Jahres in Kraft treten soll. Dass die Gruppe Clarín wegen ihres hohen Marktanteils im Mediensektor dann wahrscheinlich einige Radio- und TV-Konzessionen abgeben muss, wird nicht als pluralititätsstiftend, sondern als „undemokratische Aggression“ bewertet. „Es handelt sich um den entfesselten Konfrontationskurs einer Regierung gegen eine Mediengruppe, um sie in ihrem Handeln einzuschränken und so zu garantieren, dass sich nur noch eine regierungsnahe Presse halten kann“, resümierte etwa Gustavo Mohme, Vorsitzender der SIP-Kommission für Presse- und Informationsfreiheit. Die SIP wird deshalb auch eine Mission nach Argentinien entsenden, um ihrem Mitglied in den nächsten Wochen beizustehen.
Dass von dem argentinischen Mediengesetz (siehe LN 442) nur „Freunde der Casa Rosada“, also dem argentinischen Regierungssitz, profitieren würden, dessen Amtsinhaberin zu einer „immer eifrigeren Schülerin des Caudillo Hugo Chávez“ werde und „zum finalen Schlag gegen die Clarín-Gruppe“ aushole, wie die brasilianische Tageszeitung O Globo polterte, war auf der Tagung der SIP Konsens. Entwertet wurden mit solchen Anschuldigungen und den gebetsmühlenartigen Warnungen vor einem „neuen kontinentalen Autoritarismus“ auch die wenigen analytischen Momente der Veranstaltung. Dazu gehörte beispielsweise der Beitrag von José Miguel Vivanco von Human Rights Watch, der Brasiliens Regierung vorwarf, gegen die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu arbeiten. Auf eine Anfrage der CIDH zu möglichen Menschenrechtsverletzungen gegen Indigene beim Bau des Belo Monte Staudamms habe die Regierung „mit dem Abzug ihres Botschafters und der Einstellung ihrer Mitgliedszahlungen“ reagiert.
Auch die problematisierte ungleiche Verteilung öffentlicher Werbung und die damit verbundene Bevorzugung „regierungstreuer Medien“, die Einschüchterung von investigativen Journalist_innen in Fällen politischer Korruption, die in Mexiko seit Beginn des „Kriegs gegen die Drogen“ ermordeten oder verschwundenen Berichterstatter_innen oder auch die Zensur unabhängiger Medien in Kuba sind der Presse- und Meinungsfreiheit zweifellos abträglich und wurden zurecht angeprangert. Doch der ideologische Unterton, der diese unterschiedlichen Themen auf dem SIP-Treffen bündelte und sie mit den politischen und ökonomischen Verlustängsten kommerzieller Medien gleichsetzte, war nicht zu überhören.
In dem gemeinsamen Kommuniqué „Botschaft an SIP: Schluss mit dem Schwindel“ stellten Schriftsteller_innen, Journalist_innen und Menschenrechtsorganisationen die Legitimität der SIP in Frage und „lehnen die neuerliche Hochstapelei ab“, bei der es „jene Regierungen auf die Anklagebank setzen“ wolle, „die sich der Verantwortung gestellt haben, in Richtung einer Demokratisierung der Information voranzuschreiten“. Diese unter anderem von dem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und dem spanischen Publizisten Ignacio Ramonet unterzeichnete Erklärung reduziert das Problem der Presse- und Meinungsfreiheit jedoch auf einen Konflikt zwischen konservativen „großen Familienunternehmen, die den Mediensektor konzentrieren und monopolisieren“, und den von progressiven Regierungen ausgelösten „Winden des Wandels in unserer Region“.
Ob die Verhängung von Haftstrafen gegen Journalist_innen wegen Amtsbeleidigung, wie dies die SIP der ecuadorianischen Regierung in mehreren Fällen vorwirft, ein sonderlich demokratischer Luftzug ist, sei dahin gestellt. Vielmehr überrascht an dem Kommuniqué jedoch, dass es ebenfalls nicht über eine synonyme und ungenaue Verwendung der Begriffe Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit hinauskommt. Denn gerade daraus schöpft die Selbstdarstellung der SIP bis heute ihre argumentative Stärke. Die Demonstrant_innen, die sich am 16. Oktober vor dem Renaissance Hotel versammelten, schienen diesen Umstand dagegen sehr wohl vor Augen zu haben. João Brant, einer der Koordinatoren des Nationalen Forums für die Demokratisierung der Kommunikation (FNDC) stellte klar: „Die Freiheit, für die wir kämpfen, ist die Freiheit aller und nicht etwas, dessen Grenzen von den Medienmonopolen gezogen werden.“
Anders als das Anti-SIP-Kommuniqué kritisieren Medienaktivist_innen und zivilgesellschaftliche Bündnisse in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern den engen Begriff der Pressefreiheit, der nicht einfach mit dem weitergehenden individuellen Grundrecht der Meinungsfreiheit zusammenfällt. Wenn die SIP deshalb eine „Umzingelung der Freiheit in Lateinamerika“ ausmacht, dann lässt sich angesichts der konzentrierten Medienmärkte und der unverhältnismäßig hohen Nutzung von Radio- und TV-Frequenzen durch private Unternehmen durchaus fragen, wer eigentlich wen in der Zange hat.
Vor dem Renaissance Hotel forderten Medienaktivist_innen und zivilgesellschaftliche Bündnisse wie das FNDC deshalb auch explizit ein „Recht auf Kommunikation“ ein, das sich nicht in einem pluralen Informiertwerden von Print- und elektronischen Medien erschöpft, sondern auch einen breiten gesellschaftlichen Zugang zu bestehenden und erwachsenden Kommunikationsmitteln umfasst. Nicht die „Freunde der Casa Rosada“, sondern Community-Radios sind die potentiellen Nutznießer_innen von Argentiniens neuem Mediengesetz. Und trotz einzelner autoritärer Ausfälle gegen Journalist_innen wird auch in Ecuador in diesem Bereich gerade intensiv an einem neuem Gesetz gearbeitet, das die Medienproduktion pluralisieren wird.
Doch von diesen Entwicklungen war weder auf der SIP etwas zu hören, noch findet sich in den 43 Millionen gedruckten Zeitungsexemplaren, die ihre Mitglieder täglich vereint in Lateinamerika distribuieren, dazu eine kontinuierliche Berichterstattung. Angesichts dieser „Nachrichtensperre“ sei es an der Zeit, „dass sich die brasilianische Regierung endlich den 20 Punkten stellt, die von einem zivilgesellschaftlichen Bündnis als Grundlage für eine neue Mediengesetzgebung“ formuliert wurde, fordert Adriana Oliveira vom Gewerkschaftsverband CUT. Diese sehen unter anderem nicht nur Maßnahmen gegen Monopole im Mediensektor, sondern auch Garantien für eine unabhängige und vielfältige Medienproduktion vor.

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