Ausgleich statt Radikalität

Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.

Schokolade für den Frieden

Es scheint derzeit nicht gut bestellt um die Akzeptanz des Friedensprozesses zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung von Juan Manuel Santos. Anders ist es kaum zu erklären, dass Anfang September hunderte Radio- und Fernsehstationen, Zeitungen sowie zahlreiche kolumbianische Unternehmen eine Kampagne zur Unterstützung der seit Ende 2012 im kubanischen Havanna stattfindenden Friedensgespräche starteten. Unter dem Hashtag #SoyCapaz (deutsch: „Ich kann es“) sollen die Menschen ihre Unterstützung für den Friedensprozess kundtun und die Bereitschaft signalisieren, Feindschaften und Konkurrenzen im Sinne der Versöhnung zu überwinden. Fußballmannschaften der kolumbianischen Profiliga kündigten an, beim Stadioneinlauf in den Trikots des jeweiligen Gegners aufzulaufen und zahlreiche Lebensmittelfirmen wollen einen Tag lang ihre Produkte in den LKWs der Konkurrenz ausliefern. In den Regalen der großen Supermarktketten können die Kund_innen nun Produkte in weiß gehaltenen Verpackungen erwerben, auf die die Herstellerfirmen Sprüche gedruckt haben. „Ich schaffe es, die Hoffnung zu nähren“ heißt es da auf einer Tüte mit Kakaopulver, und die Verpackung eines Schokoriegels behauptet, dieser könne„Freude ins Leben bringen“.
Ziel der Kampagne sei es, die Kolumbianer_innen anzuregen, über ihren eigenen Beitrag zum Frieden im Land nachzudenken, hieß es von Seiten der Organisator_innen. Ins Leben gerufen wurde die Kampagne von einem Journalisten und dem mächtigen Unternehmerverband ANDI Neben zahlreichen Medien ließ sich auch die katholische Kirche einspannen. Kardinal Rubén Salazar, immerhin Erzbischof der Hauptstadtdiözese Bogotá, zog sich symbolisch die Stiefel eines Guerillero an. „Die Schuhe eines anderen anzuziehen, bedeutet, sich in die Situation dieser Person zu versetzen, sie zu verstehen und ihr die Hand zu reichen“, sagte Salazar.
Zumindest in den ersten Tagen erhielt die Kampagne viel Aufmerksamkeit in den großen Medien des Landes: Der Hashstag #SoyCapaz war – ebenso wie zahlreiche Verballhornungen – viele Tage unter den beliebtesten Tagesthemen in Kolumbien wiederzufinden.
Mehr noch als den nun bald zwei Jahre dauernden Verhandlungen zu einem Popularitätsschub zu verhelfen, gibt die Kampagne Aufschluss über eines der größten Probleme der Friedensgespräche: Auch wenn Umfragen zufolge eine Mehrheit der Kolumbianer_innen immer noch eine politische Lösung des Konfliktes unterstützt, ist die Skepsis groß, wenn es darum geht, den FARC Zugeständnisse in Form von Sitzen im Kongress oder Strafminderungen für die von ihnen begangenen Verbrechen zu gewähren. Diese Skepsis spiegelte sich auch in den guten Wahlergebnissen wider, die die Friedenskritiker_innen der extremen Rechten um Álvaro Uribe zum Teil bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen einfahren konnten.
Bei drei von insgesamt fünf vereinbarten Verhandlungspunkten – der Agrarpolitik, dem Drogenhandel und der politischen Teilhabe – haben die Verhandlungsparteien bereits Einigungen erzielt. Um dem politischen Druck gerecht zu werden, schnellstmöglich weitere Ergebnisse präsentieren zu können, konnte sich die Regierungsseite damit durchsetzen, über die zwei verbleibenden Themen parallel zu verhandeln: den Umgang mit den Opfern und die Frage nach dem Vorgehen im Falle eines Friedensschlusses, worunter unter anderem die Niederlegung der Waffen durch die Guerilla fällt. Dazu haben die Delegationen in Havanna in den vergangenen Wochen mehrfach Besuch erhalten: Zunächst reiste eine Gruppe hochrangiger Militärs in Kubas Hauptstadt, um direkt mit den Kommandeur_innen der FARC zu sprechen. Es sei einzigartig in der Geschichte der weltweiten Friedensprozesse, dass sich die Feinde gegenübersitzen und miteinander sprechen, kommentierte der für Kolumbien zuständige UN-Beauftragte Fabrizio Hochschild.
Ende August reiste nach mehreren Regionalforen erstmals eine Gruppe von Opfervertreter_innen nach Havanna, um mit ihrer Sicht auf den Friedensprozess einen Beitrag zur Überwindung des jahrzehntelangen Konflikts und der Entschädigung der Opfer zu leisten. Darunter waren nicht nur Opfer der FARC-Guerilla, sondern auch Personen oder deren Angehörige, die Menschenrechtsverletzungen von Militärs und Paramilitärs zum Opfer gefallen waren.
Rund um den ersten Besuch hatte es eine angeregte, teils heftige Debatte über den Umgang mit den Opfern gegeben. Der uribismo – dem dank zahlreicher Sitze im Senat noch mehr mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde als ohnehin schon – kritisierte, die Opfer der FARC würden bei der Auswahl der insgesamt 60 Opfervertreter_innen, die nach Kuba reisen sollten, nicht genügend berücksichtigt. Im Rahmen der Foren kam es teils zu tumultartigen Szenen. Die FARC hingegen, die kurz vor der Präsidentschaftswahl anerkannt hatten, für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, bekräftigten im Rahmen des Aufeinandertreffens mit der ersten, 15-köpfigen Opferdelegation ihren Willen zur Versöhnung. „Iván Márquez ist auf mich zugekommen und hat mich um Entschuldigung gebeten. Und es war keine automatisierte Entschuldigung“, sagte Constanza Turbay, deren Brüder und Mutter Ende der 90er Jahre von den FARC getötet wurden.
Wenige Tage später allerdings machten die Gueriller@s das möglicherweise gesunkene Misstrauen in der Bevölkerung durch gravierende Fehler in der Öffentlichkeitsarbeit wieder zunichte. Sie veröffentlichten ein Schreiben, in dem eine Rebellin, die an der Bewachung der langjährigen Geiseln Ingrid Betancourt und Clara Rojas beteiligt gewesen war, teils private Details über deren Alltag während der sechsjährigen Gefangenschaft kundtat. Über einen Polizisten, der beinahe zehn Jahre Gefangener der Guerilla war, machte sich die Kämpferin mit einem zweifelhaften Geschlechterverständnis lustig: Luis Mendieta habe „wie eine Frau geheult“. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten, ein Zurückrudern durch die FARC-Delegation wenige Tage darauf kam viel zu spät. Da hatten die Medien bereits mit empörten Kommentaren reagiert und den Kritiker_innen der Friedensgespräche die Mikrofone vor die Nase gehalten. Clara Rojas, seit wenigen Wochen Kongressabgeordnete, erklärte ihr freiwilliges Ausscheiden aus der Friedenskommission, die als Stimme des Parlaments im Rahmen der Verhandlungen gilt. „Meiner Ansicht nach ist das nicht der Weg, der uns zur Versöhnung führt“, hieß es in ihrem kurzen Statement.
Ein erfolgreicher Abschluss der Gespräche noch in diesem Jahr ist trotz des beschleunigten Verhandlungsprozesses nicht in Sicht. Selbst die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos scheint nicht mehr so recht daran zu glauben, dass sie bereits 2015 damit beginnen muss, die in Havanna beschlossenen Maßnahmen umzusetzen. Der Jahresetat für das Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, das für den Frieden wohl am entscheidendsten ist, wurde um mehr als 20% auf umgerechnet rund 1,2 Milliarden Euro gekürzt. Optimismus sieht anders aus.

„Wir sind kriegsmüde“

Am 20. Juli feierte die Nationale Befreiungsarmee (ELN) ihr 50-jähriges Bestehen. Im Rahmen dessen feuerte sie zwei explosive Zylinder auf ein Ölfeld in Arauca ab und verletzte 13 Personen. Wie wirkt sich das auf mögliche Verhandlungen mit dieser Guerilla aus?
Grundsätzlich sind mögliche Verhandlungen dadurch nicht betroffen, weil der Regierung klar ist, dass mit den FARC und möglicherweise mit der ELN mitten im Konflikt verhandelt werden muss. Einerseits ist das Militär verfassungsrechtlich verpflichtet, die Guerilla weiter zu bekämpfen, bis diese die Waffen abgegeben hat. Andererseits tun die ELN und die FARC das, was sie seit 50 Jahren tun, nämlich Krieg führen. Ein grundlegender Unterschied zwischen den aktuellen und früheren Friedensverhandlungen ist, dass wir uns zum ersten Mal der Unterzeichnung eines Friedensvertrags nähern. In Kolumbien haben wir aus der Vergangenheit gelernt: Drei verschiedene Präsidenten versuchten bereits Frieden zu schließen. Jedes Mal war der Waffenstillstand eine grundlegende Voraussetzung, die keine Seite einhielt. Unter der Präsidentschaft Pastranas (1998-2002) konnten sich beispielsweise die FARC in eine entmilitarisierte Zone so groß wie die Schweiz zurückziehen; dennoch benutzten sie das Gebiet dazu, alle Arten von Gräueltaten zu begehen und ihre militärische Macht zu festigen. So hätte man sich nie auf ein Abkommen einigen können.

Wovon hängt der Erfolg der laufenden Verhandlungen in Havanna ab?
Dass kein Waffenstillstand vereinbart wurde, ist nur ein Teil der Voraussetzungen. Der Erfolg der laufenden Verhandlungen hängt von der Art und Weise ab, wie die Diskussionen geführt werden, und von der militärischen Lage, in der sich die Guerillas zurzeit befinden. Vor den Verhandlungen, das heißt, während der zwei Amtszeiten Uribes und der ersten Amtszeit Santos’, wurden die FARC schwer getroffen. Als sie einen beträchtlichen Teil ihrer Gründer verloren hatten, wurden ihre militärische Schwäche und das Fehlen eines politischen Motivs offensichtlicher. Der „Dritte Weg“, den Santos als Alternative für Kolumbien entwirft, beinhaltet eigentlich zwei Optionen für die Guerilla: entweder weiterzukämpfen und zu versuchen, die militärische Überlegenheit zurückzugewinnen. Das wäre unter Berücksichtigung des technologischen Fortschritts der kolumbianischen Armee unwahrscheinlich. Oder sich als Guerilla die Frage zu stellen, ob ihre historische Mission bereits erfüllt ist. Das hieße, die Waffen niederzulegen und sich in das politische Leben zu integrieren.

Das Abkommen wird jedoch durch ein Referendum vom Volk bewilligt…
Ja, und deswegen ist die öffentliche Meinung entscheidend, wenn auch klar geteilt. Denken Sie daran, dass die meisten Kolumbianer die Guerillas völlig ablehnen und, nach 50 Jahren Kampf, ein allgemeiner Hass ihnen gegenüber herrscht. Die Diskussion konzentriert sich auf die Art und Weise, wie der Konflikt zu beenden sei. Ein Teil der Bevölkerung fordert die Inhaftierung und Verurteilung der Kämpfer, ohne über die Strafen zu verhandeln. Sie verlangen eine bedingungslose Kapitulation. Bis dies der Fall ist, hat die Regierung die Pflicht, die FARC militärisch weiter zu bekämpfen. Diese Position wird vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe Vélez vertreten. Auf der anderen Seite erkennt die Hälfte der Kolumbianer an, dass die Möglichkeit zu einem baldigen und friedlichen Ende des Konflikts wahrgenommen werden muss. Die Verhandlungen sollen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Guerilleros nach ihrer Entwaffnung in die Gesellschaft und in das politische Leben integriert werden.

Was bedeutet die Wiederwahl von Santos für die Friedensverhandlungen?
Mit der Wiederwahl konsolidiert sich der Friedensprozess. Wenn es Santos nicht gelingt, das Friedensabkommen in naher Zukunft zu unterzeichnen, müssen die Kolumbianer wahrscheinlich wieder mehrere Jahre auf eine neue Chance warten. Es ist wichtig zu bedenken, dass Santos im rechten politischen Lager einzuordnen ist und Uribes Verteidigungsminister war. Zwischen 2006 und 2009 führte die Armee eine Reihe von militärischen Schlägen gegen die FARC durch, die sich dadurch strukturell verändern mussten. 2012 distanzierte sich Santos endgültig vom uribismo und beschloss, über den Frieden zu verhandeln. Dies wurde von Uribe als Verrat empfunden und stellt somit einen Aspekt der jetzigen politischen Auseinandersetzungen im Land dar. Ein anderer Punkt ist, dass Santos auf die Unterstützung wirtschaftlicher Kreise zählt. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ohne das Stigma eines bewaffneten Konflikts könnte sich das Land ökonomisch entwickeln. Da die Geschäftsleute den Militarismus Uribes überdenken und beginnen ihn abzulehnen, erhöhen sich die Chancen auf erfolgreiche Gespräche in Havanna.

Allerdings gibt es Kritik in Bezug auf den Mangel an Bürgerbeteiligung. Wie sehen Sie das?
In einer Demokratie müssten die Bürger in bestimmte politische Entscheidungen mit einbezogen werden. Aber der Konflikt in Kolumbien ist sowohl wegen seiner Dauer als auch wegen der Vielfalt seiner Akteure sehr komplex geworden. Da die Verhandlungen mitten im Konflikt stattfinden, ist es wichtig, einen Rahmen der Diskretion zu schaffen, der konstruktive Gespräche in Richtung Frieden zulässt. In Kolumbien ist die Möglichkeit latent, dass die Gegner des Friedensabkommens nach dem politischen Interesse ihrer eigenen Gruppen (wie im Fall von Uribe) versuchen, die bereits gemachten Fortschritte zu boykottieren. Erst wenn alle Punkte der Verhandlungen in Havanna abgestimmt sind, werden sie der Bevölkerung als Referendum vorgelegt. Dies ist eine Maßnahme der Regierung, die für notwendig gehalten wird, obwohl sie nicht ideal für die Demokratie ist, sondern nur praktisch.

Welche Rolle spielen die Opfer des Konflikts?
Da die Opfer eine zentrale Rolle in diesem Konflikt spielen, werden sie in Havanna einbezogen. Diejenigen, die nach Kuba gereist sind oder reisen werden, sollen alle Verbrechen rekonstruieren, die im Rahmen des Konflikts begangen worden sind. Dies ist wichtig, weil bei früheren Friedensprozessen die Opfer ausgeschlossen wurden. In diesem Moment werden die direkten Opfer des Konflikts auf fünf Millionen geschätzt. Sie haben ein Recht auf die Aufklärung der Verbrechen der Guerillas, Paramilitärs und der staatlichen Armee: wer die Täter waren, wo die Vermissten sind.

Denken Sie, dass in Kolumbien ein anhaltender Frieden geschaffen werden kann?
Der Frieden in Kolumbien muss auf Basis von „Vergeben und Erinnerung“ geschlossen werden, nicht auf Basis von „Vergeben und Vergessen“. Dieser Prozess ist kompliziert, weil die Kolumbianer sich mit den Traumata von 50 Jahren Gräueltaten auseinandersetzen müssen. Ich denke, dass wir jetzt in der Lage sind, durch Dialog und Wahrheitsfindung die Wunden zu heilen. Wir sind kriegsmüde und wollen Aufklärung. Auf diese Weise kann ein Prozess der Rationalisierung unserer Traumata stattfinden und der Frieden mittels Gedenken, Konfrontierung und Wahrheitsfindung langfristig gefestigt werden.

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Carlos Miguel Ortiz
ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er lehrt in Bogotá, Paris und Valencia. Er untersucht den kolumbianischen Konflikt, die daraus entstandene Gewalt und deren Folgen für das kollektive Gedächtnis der Kolumbianer_innen.

Poet der Revolution

War es schwierig, in El Salvador Unterstützung für Ihr Filmprojekt zu finden?
Sowohl die Witwe als auch die Söhne Daltons haben das Projekt von Anfang an unterstützt. Und alle Weggefährt_innen Daltons haben mit Begeisterung ihre Erinnerungen mitgeteilt. Dalton muss wirklich ein dermaßen charmanter, witziger und humorvoller Mensch gewesen sein, dass sein Zauber die Leute bis heute entzückt. Schwierig war es nur, die Leute zu finden, die am Schluss des Films über Daltons Ermordung sprechen.

Roque Dalton ist 1975 von seinen eigenen Genossen exekutiert worden. Lange Zeit waren die genaueren Umstände seines Todes innerhalb der Linken ein Tabu. Wann und warum haben Sie sich entschlossen es aufzubrechen?
Ich habe Daltons Dichtung in den achtziger Jahren in El Salvador kennengelernt, in fotokopierten Heften und als auf die Wände der Universität gemalte Parolen. Pointierte politische Propagandapoesie aus den Poemas Clandestinos in einem sehr, sehr frechen, ironischen und selbstironischen Ton, der ein wohltuendes Gegengift gegen das allgegenwärtige Revolutionspathos darstellte. Damals wurde innerhalb der Befreiungsbewegung unter der Hand erzählt, dass die Revolutionäre Volksarmee (ERP, eine der fünf Guerillagruppen, die 1980 die Nationale Befreiungsfront FMLN gründeten; Anm. der Red.) Dalton ermordet habe. Das ist so unbegreiflich und schrecklich: Wie kann es sein, dass der radikalste und genialste Revolutionsdichter Opfer seiner Genossen wurde? Damals hat mir niemand diese Frage beantwortet, aber sie hat mich immer wieder beschäftigt, wenn mir ein weiteres der Werke Daltons begegnet ist.
In groben Zügen war ja immer bekannt, dass der mysteriös verschwundene Edgar Alejandro Rivas Mira den Tod Daltons beschlossen hat, dass Joaquín Villalobos Dalton ihn erschossen haben soll und dass Jorge Meléndez zumindest dabei war. Nicht so bekannt waren die verschiedenen Motive dafür: Eifersucht, Neid, Konkurrenz der jüngeren Guerilleros, die spürten, dass Dalton ihnen, was politischen Weitblick und Erfahrung betraf, haushoch überlegen war. Daltons Witz und Respektlosigkeit haben sich der militaristischen Engstirnigkeit der Genossen nicht unterworfen. Zudem gab es einen politischen Konflikt zwischen zwei Fraktionen. Die eine fasste einen linken Putsch mithilfe einiger linker Militärs ins Auge. Die andere setzte auf langfristige politische Arbeit mit den Massen als Grundlage für die militärischen Kämpfe. Zu ihr gehörten Dalton sowie diejenigen, die später die RN (Nationaler Widerstand, eine andere der fünf Gruppen der FMLN, Anm. der Red.) gründeten.
Dass mir die Idee, diesen Film zu machen und damit auch dieses finstere Kapitel in der Geschichte der salvadorianischen Linken in den Kamerablick zu nehmen, erst nach dem Wahlsieg der FMLN 2009 kam, das ist kein Wunder. Vorher einen Film über ein Verbrechen der Guerilla zu machen, in einem Land, in dem 95 Prozent der Kriegsverbrechen von den US-unterstützten staatlichen Sicherheitskräften begangen wurden, wäre ja fast Wahlhilfe für die Rechten gewesen. Aber jetzt, finde ich, ist die Zeit gekommen, dass auch die FMLN über ihre verdrängten und verschwiegenen dunklen Punkte nachdenken könnte.

Es gab keine juristische Aufarbeitung, angeblich ist die Tat verjährt. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass sich unter der neuen Regierung Sánchez Cerén daran etwas ändert?
Traurigerweise sieht es im Moment nicht danach aus: Dass Jorge Meléndez wieder in die Regierung berufen wurde, ist ein Skandal, der nicht nur die Familie Dalton zutiefst empört. Wie kann eine linke Regierung jemanden, der der Mittäterschaft am Mord des wichtigsten Dichters des Landes schwer verdächtig ist und sich weigert, auch nur die geringste Verantwortung dafür zu übernehmen, als Staatssekretär einsetzen? Ohne von ihm zumindest zu verlangen, dass er das Mögliche tut, um die Geschehnisse aufzuklären? Ohne dass er sagt, wo die sterblichen Überreste Daltons verscharrt wurden? Und ohne dass er sich bei der Familie Daltons entschuldigt?

Welche Facetten seines literarischen Schaffens konnten Sie während Ihrer Recherchen und der Arbeit am Film entdecken?
Als ich mit der Recherche begann, kannte ich, was auf Deutsch übersetzt war: Däumlings verbotene Geschichten, die Geschichte El Salvadors als Collage literarischer Fundstücke, seinen autobiographischen Roman Armer kleiner Dichter, der ich war und die Biographie des Schusters und Revolutionärs Miguel Mármol. Außerdem eine in Kuba erschienene Anthologie seiner Gedichte. Eine große Überraschung war es dann, die drei Bände seiner gesammelten Gedichte in den Händen zu halten: Ich war überwältigt zu sehen, welch umfangreiches Werk er in nicht einmal vierzig Jahren verfasst hat, welche Fülle an wunderschönen Liebesgedichten und scharfzüngigen politischen Erleuchtungen. Ich wusste zunächst auch gar nichts von seinem umfangreichen Werk als Journalist und politischer Analyst, das bis heute noch nicht vollständig herausgegeben ist.

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Roque Dalton (1935-1975)
Was für ein turbulentes Leben: Als Nachkömmling der berüchtigten Dalton-Familie aus den USA wurde Roque Dalton in San Salvador geboren. 1957 trat er der Kommunistischen Partei bei. Zweimal wurde er festgenommen und zum Tode verurteilt, zweimal entrann er nur knapp dem Tod durch Exekution. Er verbrachte Jahre des Exils in Mexiko und Kuba und arbeitete im Auftrag der Kommunistischen Partei für The International Review als Korrespondent in Prag. Unter dem ungerechtfertigten Vorwurf, seine eigene Organisation zu spalten, wurde er jedoch durch ein Tribunal der Revolutionären Volksarmee (ERP) zum Tode verurteilt. Genossen exekutierten ihn am 10. Mai 1975, vier Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag.

Erschießen wir die Nacht!
Höchst erstaunlich, dass Daltons Gedichte bis heute nichts an Witz und provokanter Schärfe verloren haben und bemerkenswert, dass Regisseurin Tina Leisch es geschafft hat, ihren Film ebenso verwegen, zärtlich und respektlos anzulegen: Ehefrau, Prostituierte, Geliebte, revolutionärer Elan und trauriger Suff – nichts wird ausgelassen oder gerade gebügelt in diesem Film, der aus seiner eigenen undogmatisch linken Position keinen Hehl macht. Roque Dalton, ¡Fusilemos la noche! tourt seit einem knappen Jahr erfolgreich durch globale Festivals. Beim internationalen Cine Las Americas Festival in Austin (Texas) gewann er den Jurypreis für den besten Dokumentarfilm. Im November zeigt ihn das Berliner Eiszeit Kino.

Hundert Jahre Julio Cortázar

Das Werk Julio Cortázars umfasst sechs Romane, unzählige Kurzprosabände, Essays sowie diverse Publikationen, die nicht so einfach einem einzigen literarischen Genre zuzuordnen sind. Was Cortázar vor allem ausmachte, war der Drang zur Grenzüberschreitung in jeder nur möglichen Dimension. Er vermischte nicht nur Genres, sondern erfand zudem so viele Neologismen, dass er aus ihnen eine völlig neue Sprache kreierte: das gíglico, welches dieselbe Syntax und Morphologie wie das Spanische, jedoch einen eigenen Wortschatz besitzt und in vielen Werken Cortázars Verwendung findet. So besteht beispielsweise ein Kapitel seines berühmtesten Romans Rayuela fast ausschließlich aus Neologismen, die beim Lesen eigenständig mit Sinn zu füllen sind. Das Spiel mit der Sprache trieb Cortázar immer wieder an die Schwelle zur Unverständlichkeit, ohne diese jedoch jemals zu überschreiten. Stilistisch war er so präzise, dass ganze Erzählungen ohne Verben auskommen können und dennoch einen deutlichen Sinn ergeben. Seine Strategie war es, Ambiguität zu schaffen, Verwirrung zu stiften, die Lesenden aktiv in seine Literatur mit einzubinden und deren Aufmerksamkeit während der Lektüre immer aufrecht zu erhalten. Und das ist vielleicht seine größte Qualität: den Anfang einer Suche – nach Freiheit, nach neuen Lebensentwürfen, einer Person oder sogar dem Tod – zu beschreiben, deren konkreten Verlauf und Ausgang jedoch offen zu halten. Seine Literatur dient als Impuls, gibt jedoch keine Antworten. Im Prolog zu Rayuela schlägt der Autor selbst verschiedene Lesarten vor, denen zufolge der Roman entweder auf die traditionelle Art – von Anfang bis Ende – gelesen werden könne, oder aber nach einer scheinbar willkürlich zusammengesetzten Reihenfolge der Kapitel. Heraus kommen zwei völlig verschiedene Bücher.
Es ist nahezu unmöglich, die Literatur Cortázars einem bestimmten Themengebiet zuzuordnen. In seinen Erzählungen beschäftigte er sich oft mit scheinbar banalen Dingen. So gibt er beispielsweise Anweisungen zum Treppensteigen oder Uhrenaufziehen. Dies jedoch auf eine Art und Weise, die eine humorvolle Nostalgie der Zeit und des Todes erkennen lassen, ohne jemals auch nur ansatzweise dem Kitsch zu verfallen. Die bereits erwähnte Suche, nach irgendetwas, besonders nach der Sicherheit über den eigentlichen Gegenstand der Suche, ist immer präsent. Oft geht es um die Suche nach der eigenen Identität oder auch der der anderen. Die Frage nach der lateinamerikanischen Identität ist ein roter Faden in der Literatur Cortázars, ohne allerdings jemals direkt zur Sprache zu kommen. Für ihn ist Identität in erster Linie etwas Persönliches, Individuelles, das es zunächst eigenständig zu finden gilt, bevor auf kultureller Ebene darüber gesprochen werden kann. Seine Erzählungen handeln deshalb von Individuen, deren spezifische Konditionen außerhalb der Lektüre jedoch allgemeinere Fragen aufwerfen: Wer sind wir? Was ist Lateinamerika? Cortázar sagte einmal, dass Argentinien zunächst zurückweichen, in Bitterkeit versinken, den Grund berühren müsse, um sich das Recht auf eine eigene kulturelle Identität zu erarbeiten.
Entwurzelung, Einsamkeit, Verlorenheit in der Welt, das sind die großen Themen der latinoamericanidad („Lateinamerikanität“) und es sind Cortázars Themen. Auch wenn er einen großen Teil seines Lebens in Paris verbrachte, schrieb er für Argentinien und ganz Lateinamerika. Sein selbsternanntes „Exil“ in Paris konfrontierte ihn allerdings nicht selten mit dem Vorwurf der Entfremdung von Lateinamerika und der Unmöglichkeit des Verständnisses der wahren Begebenheiten auf dem Kontinent. Möglicherweise versuchte Cortázar sich auch deswegen in den späteren Jahren seines Schaffens aktiv in die politischen Geschehnisse Lateinamerikas einzubringen. 1959 unterstützte er die Kubanische Revolution, in den siebziger Jahren die emanzipatorischen Bewegungen in Zentralamerika. Er nahm an internationalen Gerichtsverhandlungen zu Menschenrechtsfragen teil und verzichtete mehrfach auf seine Autorenrechte, um die linken lateinamerikanischen Bewegungen finanziell zu unterstützen. In der Essaysammlung Nicaragua, tan violentamente dulce (deutsch: „Nicaragua, so gewaltsam zärtlich“) beschreibt Cortázar seine Eindrücke von der Sandinistischen Revolution und seinen Reisen nach Nicaragua. Nach seinen persönlichen Erfahrungen in Zentralamerika widmete er sich ganz seiner Rolle als politischer Intellektueller. Er gab Konferenzen, schrieb Chroniken, politische Manifeste, Polemiken, trat in Kontakt mit Journalist_innen, die seiner Meinung nach die Lage in Nicaragua nicht authentisch einschätzen konnten. Auch in Erzählungen wie Graffiti, welche die Lage der unterdrückten Zivilgesellschaft zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur beschreibt, drückt Cortázar, wenn auch auf sehr subtile Art und Weise, seine Kritik an den politischen Verhältnissen Lateinamerikas aus.
Nach Castros Kuba reiste er mehrfach. Auf den Fall des inhaftierten Dichters Heberto Padilla im Jahr 1971, der die gesamte lateinamerikanische Linke und somit auch die Schriftsteller des Booms in der Literatur spaltete, reagierte Cortázar mit einer Mischung aus Essay und Gedicht, die bis heute polemisiert wird. In Policrítica en la hora de los chacales (deutsch: „Politkritik in der Stunde der Schakale“) setzt sich Cortázar von den Meinungen anderer Intellektuellengruppen ab, denen er zuvor zugeordnet wurde. Für Cortázar waren Literatur und die konkrete politische Aktion unzertrennlich, ohne dass sich jedoch dabei die Literatur bestimmten revolutionären Kriterien unterzuordnen habe. Die Schakale, auf die er sich in seiner Antwort auf den Fall Padilla bezieht, stellen weder das eine noch das andere der gespaltenen Intellektuellenlager dar, sondern einen scheinbar unsichtbaren Feind, der die Kommunikation und die geringste Übereinstimmung beider im Laufe der sechziger Jahre unmöglich gemacht hatte. Er distanzierte sich somit sowohl von den Intellektuellen, die dem Castro-Regime stalinistische Maßnahmen vorwarfen, als auch von der kubanischen Regierung, indem er die Verantwortung des Konflikts den imperialistischen Kultur- und Propagandamethoden zuschrieb und den Konflikt selbst als ein intellektuelles Missverständnis aufzudecken versuchte.
Cortázar, der Schlichter, immer auf der Suche nach Antworten auf teils unformulierte Fragen, hat vieldeutige, oft unlesbare Spuren in der Welt hinterlassen. Ihnen zu folgen ist anstrengend, verwirrend und voller Gegensätze, kann uns aber einen der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts näher bringen.

Ein Rembrandt in Kuba

Zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs versucht der Überseedampfer MS St. Louis 1939 in den Hafen von Havanna einzulaufen. An Bord befinden sich 937 aus Europa geflüchtete Juden und Jüdinnen, darunter der Arzt Jesaja Kaminsky, seine Frau Esther Kellerstein und deren Tochter Judith. Doch das Schiff darf nicht anlegen. Die Kaminskys hoffen bis zuletzt, dass sie das mitgebrachte Christus-Porträt von Rembrandt retten wird, das sich seit Jahrhunderten in Familienbesitz befindet. Doch vergebens, das Gemälde wechselt zwar den Besitzer, doch die Kaminskys werden von einem korrupten Polizisten betrogen und zusammen mit den anderen Passagier_innen zurück ins Verderben geschickt. Am Hafen wartet Jesayas Sohn Daniel mit seinem Onkel Joseph vergeblich auf seine Familie.
Im Jahr 2007 wird besagtes Rembrandt-Bild auf einer Auktion in London angeboten. Daniels Sohn, der Maler Elias Kaminsky, reist von seinem Wohnort Miami nach Havanna. Dort will er den Weg des Gemäldes rekonstruieren und herausfinden, warum sein Vater im Jahr 1958 schlagartig Kuba verlassen hat. Elias vermutet, dass Daniel in jenem Jahr einen Mord begangen hat. In Havanna wendet er sich vertrauensvoll an Mario Conde, den Ex-Polizisten, der sich mittlerweile mäßig erfolgreich als Antiquar durchschlägt. Er erzählt ihm die Geschichte der aschkenasischen Familie Kaminsky und Conde macht sich an die Arbeit.
Ketzer ist der achte Conde-Roman des kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura. Mit den Kriminalgeschichten fand der frühere Journalist, der nach wie vor in Havanna lebt, in den wirtschaftlich schwierigen 1990er Jahren eine passende Form, um die Entwicklungen in der kubanischen Gesellschaft und Politik kritisch darzustellen. Inner- und außerhalb Kubas sorgte Padura zudem 2011 mit Der Mann, der Hunde liebte, einer genialen Doppelbiografie von Leo Trotzki und seinem Mörder Ramón Mercader für Aufsehen. Nachdem der letzte Conde-Fall Der Schwanz der Schlange eher einer etwas aufgeplusterten Kurzgeschichte glich, meldet sich der Ex-Polizist mit seinem bisher umfangreichsten Fall nun fulminant zurück.
Ketzer besteht aus drei Strängen, die jeder für sich einen kleinen Roman darstellen. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte, in denen Padura historische Fakten mit Fiktion vermischt. Für sein neues Buch hat der Autor wie gewohnt akribisch recherchiert.
Das Buch Daniel handelt von Elias‘ Suche nach dem Rembrandt und der Wahrheit über seinen Vater. Mit Rückblenden in die 1930er und 1950er Jahre widmet sich Padura der jüdischen Geschichte in Kuba. Dreh- und Angelpunkt von Condes Recherchen für Elias ist das Jahr 1958. Wer auch immer den korrupten Ramón Mejias getötet hat, der Mord hat direkt mit der MS St. Louis und dem verschwundenen Rembrandt-Gemälde zu tun.
Doch eigentlich beginnt die Geschichte bereits im Jahr 1642 im Amsterdam. Im Kapitel Das Buch Elias erzählt Padura von der Entstehung des Christus-Bildes, für das Rembrandts Schüler, der sephardische Jude Elias Ambrosius, trotz des Götzenverbots im Judentum Porträt steht. Entgegen aller Widerstände ist er bei dem Meister in Lehre gegangen, der sich seinerseits von den künstlerischen Zwängen seiner Zeit befreien will. Von der jüdischen Gemeinde verschmäht, muss Elias Ambrosius den Niederlanden den Rücken kehren. Das Christus-Bild nimmt er als Geschenk von Rembrandt mit, bis es schließlich in den Besitz der Familie Kaminsky übergeht, die es erst Jahrhunderte später bei dem missglückten Bestechungsversuch im Hafen Havannas verliert.
Im dritten Kapitel Das Buch Judith begibt sich Padura in das Havanna des Jahres 2008 und lässt erneut Mario Conde ermitteln. Bei den Recherchen für Elias Kaminsky hatte dieser dessen entfernte Verwandte Yadine kennengelernt, eine jugendliche Emo. Ein Jahr später bittet sie Conde um Hilfe, um ihre verschwundene Freundin Judith zu finden. Conde, der nichts von den düster gekleideten Emos versteht und Yadine zunächst für eine Gothic hält, macht sich auf die Suche. Während er der Lösung von Judiths Verschwinden näher kommt, lernt er einiges über die gepiercten, schwarz angemalten Jugendlichen, deren Frisur die Hälfte des Gesichtes verdeckt und die entgegen gesellschaftlicher Erwartungen einfach auf der Straße rumhängen.
Das Verbindende der drei Geschichten ist die Suche nach individueller Freiheit. Das Bild des Ketzers zieht sich durch den Roman, von dem Juden Daniel, der zum Katholizismus konvertiert, über Elias, der sich über das Bilderverbot hinwegsetzt bis hin zu Yadine, die sich als Emo den gesellschaftlichen Normen widersetzt. Conde ist ohnehin ein Ketzer, der die Rolle als Polizist nicht ohne Grund aufgegeben hat. Er und seine alten Freund_innen stehen für die zerplatzten Träume und enttäuschten Hoffnungen in einem Land, das nicht das ist, was sich seine Bewohner_innen früher einmal erhofft hatten. Doch Padura ist weit mehr gelungen als „nur“ ein weiterer Kuba-Roman. Durch die Verknüpfung mit der Ketzerei im eigentlich liberalen Amsterdam des 17. Jahrhunderts zeigt er die Universalität auf, die dem Streben nach individueller Freiheit innewohnt.

Leonardo Padura // Ketzer // Aus dem Spanischen von Hans Joachim Hartstein // Unionsverlag // Zürich 2014 // 651 Seiten // 24,95 Euro // www.unionsverlag.com

„Denkweisen des Kalten Krieges“

In Lateinamerika sind mehrere Regionalorganisationen als Alternative zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten entstanden, so etwa die Celac oder das Wirtschaftsbündnis Mercosur. Welche Rolle spielt dabei die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA)?
Nun, die ALBA gibt es jetzt seit zehn Jahren und sie hat von Beginn an alle möglichen Initiativen zur Schaffung eigener lateinamerikanischer Foren unterstützt. Es ging dabei darum, unter Anerkennung bestehender Differenzen miteinander zu sprechen, ohne den Großmächten und ihren Interessen Raum zur Einflussnahme zu geben. Diese von Hugo Chávez vertretene Vision richtete sich vor allem gegen die traditionelle Dominanz der USA. Und diese Position hat uns viel abverlangt. Es wurde und wird immer wieder von den USA und ihren Alliierten versucht, Venezuela als einen der Motoren dieser Entwicklung zu isolieren, aufzuhalten oder gar zu kriminalisieren. Aber nach diesen zehn Jahren muss man auch festhalten, dass die ALBA eine wichtige Rolle bei den Integrationsprozessen gespielt hat.

Aber das ALBA-Bündnis ist nach wie vor kein Rechtssubjekt, sondern eher ein loser Zusammenschluss. Ist Ihr Handeln damit nicht auf Symbolpolitik beschränkt?
Wir haben ja eine organisatorische Struktur. Aber die ALBA ist bislang vor allem ein Dialogforum, ein Instrument, um politische Einigkeit zu fördern. Die Prinzipien sind in einem Gründungsdokument definiert. Es gibt aber bislang keinen Gründungsvertrag, dem sich Staaten anschließen könnten. Das erklärt sich aus der Geschichte: Die ALBA wurde ursprünglich als „Bolivarische Alternative“ von Kuba und Venezuela ins Leben gerufen und etliche Länder stießen dann dazu. Bolivien war der Meinung, dass es nicht nur um einen alternativen Staatenbund gehen dürfe, sondern dass man auch einen alternativen Handelsvertrag anstreben müsse. Deswegen heißen wir heute „ALBA-Handelsvertrag der Völker“, oder ALBA-TCP. Das definiert deutlich den Unterschied zu dem neoliberalen Modell und dem klassischen kapitalistischen Entwicklungsmodell. Wir streben einen gerechten Handel an. Wir versuchen, Mechanismen zur Demokratisierung der Wirtschaft zu entwickeln.

Die organisatorische Schwäche aber bleibt.
Bislang hat die ALBA ein Exekutivsekretariat, das ich ja vertrete. Ernannt wurde ich von einem politischen Komitee. Dort sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten vertreten.
Mein Sekretariat ist ursprünglich als Hilfsgremium entstanden und hat sich über die Jahre hinweg zu der Struktur entwickelt, in deren Händen das tägliche Geschäft liegt. Ich arbeite eng mit den nationalen Koordinatoren zusammen. Oft sind das die Vizeaußenminister der jeweiligen Länder. Aus dieser Zusammenarbeit sind verschiedene Initiativen entstanden: Die ALBA-Bank etwa oder die regionale Buchwährung Sucre.

Neben ALBA ist auf Chávez’ Initiative auch das energiepolitische Bündnis Petrocaribe entstanden. Stimmen die Gerüchte, dass
ALBA und Petrocaribe zusammengefasst werden sollen?
Ja, das wird angestrebt. Sehen Sie, ALBA ist zwar keine klassische Organisation, dennoch hat sie in den vergangenen Jahren viel Ansehen gewonnen. Aber die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung. Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft. Dies würde uns erlauben, in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht zu haben – ohne dass wir aber deren Struktur kopieren.

Mitunter werden die neuen Regionalorganisationen und auch ALBA mit der frühen Phase der Europäischen Union verglichen.
Nun, in ALBA haben sich fortschrittliche Regierungen vereint. ALBA strebt für Latein­amerika alternative, zukunftsorientiere politische Konzepte an.

Hängen die strukturellen Reformen von ALBA – die Fusion mit Petrocaribe und ein anvisierter Gründungsvertrag – mit der Ausdehnung der neoliberalen Pazifik-Allianz zusammen, die von der EU und den USA unterstützt wird?
Nein, denn dabei handelt es sich um ein Staatenbündnis, das offenbar vorrangig wirtschaftliche Interessen hat. ALBA hat zudem eine längere Geschichte.

Aber hat ALBA keine wirtschaftlichen Interessen?
Doch, natürlich, aber unser Ziel liegt in der Entwicklung eines Modells, mit dem der Kapitalismus überwunden werden kann und das eine neue Form der wirtschaftlichen Beziehungen etabliert. Wir lehnen diese beschönigende Annahme einer notwendigen „Konkurrenz zwischen den Staaten“ ab. Wir gehen davon aus, dass die Welt nach wie vor in ein wirtschaftliches Zentrum und eine Peripherie geteilt ist. Deswegen müssen wir Länder des Südens uns zusammenschließen und uns gemeinsam helfen sowie gemeinsame Kräfte nutzen. Damit jeder Staat vorankommt, muss er zugleich an die regionale Entwicklung denken. Deswegen unterstützen wir auch die Regionalorganisation Celac, auch wenn sie ideologisch sehr viel breiter aufgestellt ist.

Dennoch – oder vielleicht eben deswegen – stehen die USA und Deutschland den progressiven Staaten Lateinamerikas mit Ablehnung gegenüber.
Wir sind fest davon überzeugt, dass immer mehr Staaten die tiefgreifenden Veränderungen, die Lateinamerika derzeit erlebt, verstehen werden. Vor einigen Jahren wurde versucht, Kuba und Venezuela auf internationaler Ebene zu isolieren. Heute sind beide Länder ein fester Bestandteil der lateinamerikanischen Gemeinschaft. Mitunter entsprechen die Schemata, mit denen Europa oder, besser gesagt, einige Gruppen in Europa auf die Neuerungen in Lateinamerika reagieren, der Denkweise des Kalten Krieges. Ihnen liegen sehr simple Annahmen zugrunde, die oft von der extremen Rechten der USA gezielt beeinflusst werden. Aber wenn man dann mit den Parteien hier spricht, mit den Gewerkschaften, Bürgermeistern oder Intellektuellen, dann sieht man doch, dass das Verständnis für die Umbruchprozesse in
Lateinamerika wächst. Auch in Europa merkt man, dass wir Lateinamerikaner uns heute sehr viel näher stehen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wir lassen uns heute von externen Interessen nicht mehr dazu verführen, andere Staaten der Region zu kriminalisieren.

Infokasten

Bernardo Álvarez Herrera ist seit September 2013 Exekutivsekretär des linksgerichteten lateinamerikanischen Staatenbündnisses „Bolivarische Allianz für Amerika – Handelsvertrag der Völker“ (ALBA-TCP). Der Venezolaner hatte sein Land zuvor in mehreren Staaten, darunter Spanien, als Botschafter vertreten. Ihm kam 2010, wie er sagt, „die Ehre zuteil“, als Botschafter aus den USA ausgewiesen worden zu sein.

Geopolitisches Interesse an kleinen Märkten

Peru hat bereits 17 Freihandelsverträge abgeschlossen, weitere Abkommen mit Russland, Kuba, Costa Rica und Nicaragua sollen bis Ende des Jahres folgen. Ist diese Freihandelspolitik so erfolgreich, dass die peruanische Regierung nach wie vor an ihr festhält?
Nein, das kann man so nicht sagen. Peru hat das erste Freihandelsabkommen mit den USA 2004 zu verhandeln begonnen, seitdem sind zehn Jahre vergangen. Trotzdem gab es keinerlei Auswertung der positiven und negativen Effekte dieses oder anderer Abkommen. Es herrscht stattdessen eine schon fast ideologisch anmutende Überzeugung, dass diese Abkommen gut sind und dass sie „so oder so“ zu unterzeichnen sind, wie es unser Ex-Präsident Alejandro Toledo einmal sagte. Die peruanischen Funktionäre und Technokraten, die einige der Schlüsselsektoren der peruanischen Wirtschaft kontrollieren, folgen einem Entwicklungsmodell, nach dem Export und die Anziehung ausländischer Investitionen alternativlos ist. Hinzu kommt das starke Lobbying und der politische Druck, den die Profiteure dieser Politik, also die exportierenden Unternehmen in Peru und die ausländischen Investoren ausüben. Auf der anderen Seite, in der EU und den USA, sind die Gründe geopolitisch. Anders lässt sich die Frage nach dem großen Interesse an so kleinen Märkten wie denen Perus oder Kolumbien nicht erklären. Die USA und die EU sehen diese Abkommen als geopolitische Instrumente, die ihnen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in bestimmten Gebieten garantieren. Für uns ist klar: Wir brauchen eine technische Bewertung der bestehenden Abkommen, die sowohl die negativen als auch die positiven Auswirkungen berücksichtigt, denn die gibt es ohne Zweifel auch.

Als die EU kurz davor war, das Abkommen mit Kolumbien und Peru abzuschließen, wurde auch in Europa Kritik geäußert. Die bezog sich oft auf die kritische Menschenrechtslage, vor allem in Kolumbien. In welchem Zusammenhang stehen Freihandel und Menschenrechte?
Die Frage nach den Menschenrechten betrifft vor allem Kolumbien, da sich das Land nach wie vor in einem internen bewaffneten Konflikt befindet. Mit den Handelsabkommen hat das insofern zu tun, als in Kolumbien vor allem auch die Lage der Gewerkschaften sehr schlecht ist, Gewerkschafter sind einem hohen Risiko ausgesetzt, jährlich werden mehrere von ihnen ermordet. Hinzu kommt, dass das Justizsystem Kolumbiens nicht gut funktioniert und die Straflosigkeit in Fällen von Menschenrechtsverletzungen sehr hoch ist.

Und in Peru?
Auch hier gibt es große Probleme, vor allem mit den Arbeitnehmerrechten. Zum Beispiel im Agrarsektor: Dort herrscht ein bestimmtes Arbeitsregime, in dem es zur Normalität geworden ist, dass die Arbeiter nur befristete Verträge bekommen, die alle paar Monate erneuert werden, zum Teil über Zeiträume von zehn oder mehr Jahren. Das bedeutet keinen Urlaubsanspruch, keine Sozialversicherung und keine Möglichkeit sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wir sind der Meinung, dass damit internationale, von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anerkannte Arbeitnehmerrechte gebrochen werden. Große Probleme gibt es auch mit dem Recht auf eine gesunde Umwelt. Der Staat ist nicht in der Lage sicherzustellen, dass die Investitionen und damit verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten in keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung haben. In so einer Situation der Wirtschaft und den Märkten mehr Macht zuzugestehen und mit dem Ausbau des Investitionsschutzes demokratische Strukturen weiter zu schwächen ist gefährlich. Exportorientierte Sektoren wie der Bergbau aber auch die Agrar- und Textilwirtschaft profitieren von niedrigen Umweltstandards und der Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten.

Welche Rolle spielen diese Regelungen zum Investitionsschutz in den Abkommen?
In dem Freihandelsabkommen mit der EU sind keine Investitionsschutzregelungen enthalten. Sehr wohl aber in den Abkommen mit Kanada und USA und in den 13 bilateralen Investitionsabkommen mit verschiedenen europäischen Ländern. Diese Abkommen sind Grundlage für aktuell 15 juristische Verfahren, die ausländische Unternehmen gegen den Staat Peru führen, weil sie sich von ihm direkt oder indirekt enteignet sehen. Die letzten Klagen haben vor allem mit Bergbau zu tun; zum Beispiel im Fall der Klage des US-amerikanischen Unternehmens Doe Run. Der Bergbau durch das Unternehmen in La Oroya – der kontaminiertesten Stadt Perus – hat zu einer derartigen Umweltverschmutzung geführt, dass die dort lebenden Menschen krank wurden; in ihrem Blut wurden sehr hohe Werte von Blei und anderen Schwermetallen nachgewiesen. Nachdem die peruanische Regierung Doe Run wegen Verstoß gegen Umweltauflagen die Konzession entzogen hatte, verklagte das Unternehmen den peruanischen Staat auf 800 Millionen US-Dollar Schadensersatz. Der Staat ist also nicht mehr in der Lage, souverän, zum Beispiel aus Umwelt- oder Gesundheitsschutzgründen, zu regulieren, denn die Unternehmen bringen ihn sofort vor Gericht. Nicht alle Klagen werden von den Unternehmen gewonnen. Aber selbst wenn der Staat beim Prozess siegt, kann er bei diesen Klagen nichts gewinnen und allein die Prozess- und Anwaltskosten belaufen sich auf mehrere Millionen.

Welche Auswirkungen haben Freihandel und Investitionsschutz auf die lokalen Märkte in Peru und Kolumbien?
Einer der größten Widersprüche in Freihandelsabkommen mit der EU und den USA sind die Subventionen. Ländern wie Peru und Kolumbien wird immer wieder der Freihandel gepredigt und betont, dass es keine Subventionen geben sollte, da sie dem freien Handel schaden würden. Trotzdem führen die Länder des globalen Nordens ihre eigene Subventionspolitik fort, vor allem wenn es um die Agrarwirtschaft geht. Sowohl in der EU als auch in den USA. Noch können wir die Folgen der europäischen Subventionen nicht abschätzen, da das Freihandelsabkommen erst seit etwa einem Jahr in Kraft ist. Das Abkommen mit den USA ist schon sechs Jahre in Kraft und wir sehen vor allem für die Landwirtschaft schwere Folgen. In Kolumbien ließ sich das an dem Agrarstreik im letzten Jahr ablesen. Mehrere Sektoren konnten mit den Preisen der aus den USA importierten Produkte nicht mehr mithalten und wurden vom Markt verdrängt. In Peru passierte dasselbe im Baumwollsektor. Peru war immer ein wichtiges Land für die Baumwollproduktion. Das ist jetzt vorbei. Durch die indirekten Subventionen für Baumwolle in den USA ist die peruanische Baumwolle nicht mehr wettbewerbsfähig. Peru hat für solche Subventionen einfach keine finanziellen Mittel und mittlerweile auch keine legalen Möglichkeiten mehr. Für einen gerechten freien Handel und Wettbewerb müssten die Ökonomien über die gleichen Möglichkeiten verfügen, das ist aber nicht der Fall.

Die EU verhandelt momentan ein Freihandels- und Investitionsabkommen mit den USA und eines mit Kanada. Was würden Sie den Europäer_innen empfehlen, wie sie sich zu diesen Abkommen verhalten sollten?
Die verschiedenen Abkommen sind Teil derselben politischen Strategie. Ich würde die Europäer_innen aufrufen, sie auch als solche zu sehen und sich über die europäischen nationalen Grenzen und einzelnen Interessengruppen hinaus zu koordinieren. Besondere Aufmerksamkeit würde ich dem Investitionsschutz schenken, diese Regelungen sind gefährlich für die Demokratie und müssen verhindert werden. Einige Länder lehnen diese Verträge ab oder steigen wieder aus ihnen aus; Brasilien hat beispielsweise keinen solchen Vertrag abgeschlossen und trotzdem gibt es weiter Investitionen im Land. Das zeigt, dass es auch ohne geht. Außerdem würde ich raten, dem Thema geistiges Eigentum und Patente mehr Aufmerksamkeit zu schenken, besonders was pharmazeutische Produkte betrifft. In Peru ist der erschwerte Handel mit Generika zu einem großen Problem geworden. Die Preise für Medikamente sind signifikant gestiegen, weil zum Teil nur noch Markenprodukte erhältlich sind. Das hängt unter anderem mit den Regeln über den Schutz geistigen Eigentums zusammen, die in den Freihandelabkommen enthalten sind. Der beschränkte Zugang zu Medikamenten ist deutlich spürbar und trifft vor allem die ökonomisch schwachen Teile der Bevölkerung.

Die Kritik in Deutschland an den Abkommen mit den USA und Kanada dreht sich viel um Chlor-Hühnchen und die Kennzeichnung von gentechnisch modifizierten Lebensmitteln. Was halten Sie angesichts der verheerenden Probleme in Peru und Kolumbien von dieser Diskussion?
In Peru sollten die Konsumenten eine ähnliche Einstellung haben und darauf achten, wie und womit die Produkte hergestellt werden. Insgesamt fehlt es oft an einem Bewusstsein für nachhaltigen und gesunden Konsum und der Beachtung von Umweltaspekten oder Arbeitnehmerrechten. Es gibt viel zu viele Konsumenten, die sich zu Komplizen der momentanen Wirtschafts- und Handelspolitik machen und sie damit legitimieren. Wir können lange darüber reden, wie schlecht Freihandels- und Investitionsabkommen sind, solange die Konsumenten ihre Macht nicht gebrauchen, indem sie gezielt nachfragen und kritisieren. Bewusster und verantwortungsvoller Konsum sind grundlegende Voraussetzungen für akzeptable Handelsabkommen. Ich habe in Deutschland festgestellt, dass es eine aktive Diskussion auch in der Politik darüber gibt. Das sind erste Schritte, die die Unternehmen langfristig dazu bewegen werden, ihre Produktion den Umweltstandards und Menschen- und Arbeitnehmerrechten anzupassen.

„Wenn ich singe, vergesse ich alles“

Sie haben gerade im Berliner Konzerthaus gesungen, einem Ort für meist klassische Musik. Wie war das?
Ich sage Ihnen die Wahrheit: Ich fühle mich, als würde ich gerade erst anfangen zu singen, fast wie eine neue Karriere. Die Sprache und die Eindrücke des Operntheaters. Man fühlt sich nervös, aber gleichzeitig gut, denn die música de identidad eines Volkes ist – ohne viel Werbung machen zu wollen – hier an dem Ort, der ihr zusteht. Nicht alle Länder müssen auf die gleiche Weise tanzen, denn jedes Land hat seine eigenen Gebräuche und wir als Kolumbianer haben glücklicherweise eine riesige musikalische Vielfalt, die man zeigen und fortentwickeln sollte.

Die Cumbia ist zentral für Ihre Musik. Erzählen Sie, wie lief ein Cumbia-Fest früher ab?
Die Cumbia ist die Königin und der porro [auf die indigene gaita-Musik zurückgehender Rhythmus, Anm. d. Red.] ist der König. Die ruedas de cumbia [wörtlich Cumbia-Kreis] feierte man an Feiertagen. Fast immer rief der millero [Millo-Flötenspieler] des Dorfes eine rueda zusammen. Ich habe hier keinen, ich habe stattdessen die gaita [prekolumbisches Instrument] dabei. Der millero des Ortes ruft allein den Kreis der Tamborspieler zusammen. Die rueda ist ein gemeinsames Fest, die Musik ruft die Leute zusammen. Weil es einen Grund für das Fest gibt, stellt man einen blumengeschmückten Mast in die Mitte und ein Podium, auf dem die Musiker mit dem millero stehen. Da es keine Stromversorgung gab, benutzte man Büschel mit Baumwolle und Benzin oder Olivenöl. Der Mann schenkte der Frau Kerzen, um sie um den Tanz zu bitten. Dann kommt eine Art Ritual im Dorf. Die Männer übergeben den Frauen Kerzen, denn wir sind diejenigen, die das Feuer bewachen. Die Tanzschritte und Figuren entsprechen der Verführung der Frau durch den Mann. Und da Cumbiatanzen wie eine Droge ist, tanzt man bis fünf Uhr früh im Kreis. Man betrinkt sich nicht, denn es wird ein erhitzter ñeque-Rum [in Kupferkesseln destilliert] mit Rohzucker und Tee gemixt, das macht man nicht, um sich zu betrinken. Schon die Chimila [Indigene aus den Regionen Magdalena, Cesar, Santa Marta] tanzten Cumbia, ihr Periyero-Tanz ist eigentlich eine Cumbia. Später partizipierten mehr Menschen aus Kolumbien an dieser Kultur. Die ruedas wurden an der gesamten Küste Kolumbiens getanzt, vor über 50 Jahren, trotz der Probleme. In der Sábana de Bolívar heißen sie ruedas de fandango. Dabei haben die Musiker, die gleiche Figur, sie stehen erhöht und spielen für die Tänzerinnen.

Beziehungen spielen also eine große Rolle bei diesen Tänzen?
Sie sind von schönen Liebesgeschichten inspiriert. Die Cumbia ist ein Tanz, um jemandem den Hof zu machen und hat ihre eigene Sprache. Es gibt die Gaffer und die, die tanzen. Wir tanzen, und ein Tänzer sagt vielleicht, ich kaufe dir Kerzen. Wenn er Kerzen kauft, dann kauft er die für eine Frau. Und der Partner dieser Frau kommt und sagt ihm, ich verkaufe sie dir nicht. Wenn er das machen würde, könnte er seine Tanzpartnerin verlieren, aber er passt auf sie auf, mittels des Feuers. Denn die Kerzen sind ungefähr zwei Handteller groß, aber wenn sie heruntergebrannt sind, kann man sich den Arm verbrennen. Wenn er weiter mit mir tanzen will, muss er mir schon ein zweites Paket Kerzen kaufen!

Wie wurde diese Musik aufgezeichnet?
Ihr müsst euch Bauern vorstellen, die Instrumente fanden, die mit den Schiffen kamen. „La Pinta, la Niña y la Santa María“, die Schiffe des Kolumbus, und danach alle anderen. Da ihre Musik Vögel imitierte, zeichneten sie ihre Partituren in einer einzigen Linie. Sie unterschieden sie nach der Funktion des Instruments: Das Euphonium spielte zuerst, es bekam ein großes Rad gezeichnet. Dann kam die Klarinette, für sie standen kleinere Pünktchen. Die Trompete, die dem Euphonium folgte, bekam ein größeres Zeichen. So spielten sie Blasmusik, sie imitierten die Töne der gaita, die Stimmen der Cantadoras, weil man diese Musik verboten hatte. Wenn du diese Blasmusik hörst, denkt man doch, da fehlen nur noch die Geigen, die Cellos.

Was ist – angesichts all der Anerkennung, die Sie inzwischen bekommen – noch zu tun in der kolumbianischen Kulturpolitik?
Kultur ist ja keine Politik. Wird sie zur Politik, ist sie keine Kultur mehr. Es ist musikalische Strategie mittels der Kultur. Es müsste eine Institution geben, die nichts mit der Politik zu tun hat. Als ich anfing zu singen hieß es, was soll das für eine Musik sein, das existiert doch gar nicht. Aber es stellt sich heraus: Sie existiert doch!
Wenn die Menschen sich diese Musik aneignen, und diese eine wirkliche Ausbreitung erfahren hat, in dem Moment haben wir es geschafft. Damit werden die Leute in Kuba identifiziert, die Mexikaner, die Brasilianer… und dies ist die kolumbianische Musik.
Die jungen Leute sind unruhig, sie suchen, wie man einen Schatz sucht. Den kann aber nicht der finden, der sie unbedingt finden will, sondern der, der nicht auf der Suche ist. Man muss abwarten, es entstehen neue Genres, aber die können wieder verschwinden.
Die Musik der Karibikküste wird inzwischen mit neuen Elementen vermischt…
Wir haben genug Arbeiten, die wir weiterentwickeln und zeigen können. Es heißt, in dieser Musik ist das Alte neu und das Neue alt. Die Akkorde, die die Band für den Wind benutzt, sind Akkorde der Blasmusik, der traditionellen Musik der Sábana de Bolívar. Man muss nicht nach Brasilien oder nach Mexiko oder Kuba, wir haben unseren eigenen Sound. Von der Cumbia sagen sie, sie sei aus Chile oder aus Argentinien, aber sie kommt aus Kolumbien. Das ist doch klar [lacht]. Man erzählt mir, dass sie eine Menge machen mit meiner Musik, von Kalkbrenner, diesem DJ, zum Beispiel habe ich aber noch nie Tantiemen gesehen, nein.

Wie war die Erfahrung mit Calle13?
Ich nehme solche Einladungen an, weil es einen Mythos gab über uns. Die Cantadoras könnten nicht in Harmonien und Melodiestrukturen singen. Aber dieser Mythos erwies sich als falsch. Die Seele einer Cantadora ist universal. Alles ist Essenz. Calle 13 kamen an einem Montag an. Aber mir war etwas merkwürdiges passiert. Das erzähle ich zum ersten Mal. Am Freitag machte ich Fisch, und eine Gräte blieb mir im Hals stecken, zweieinhalb Zentimeter, eine Klinge! Dabei esse ich oft Fisch. Ich konnte nicht schlafen. Der Arzt konnte sie entfernen, ich hatte schon furchtbare Angst, denn ich musste ja am Montag mit Calle 13 singen!

Und der Sound des neuen Albums?
Beim neuen Album geht es um musikalische Leidenschaft. Es geht ja darum, dass viele Leute diese Musik hören sollen. Ein Song, den wir neu im Programm haben, ist „El Gallo Tuerto“ [„der einäugige Hahn“]. Ich hatte 60 Hühner, als ich in Araguara gelebt habe. Der Hahn hat immer mich als erstes begrüßt, denn ich lehnte mich immer ins Fenster und sang für die Hühner. Und er bekam sein Futter von mir.

Welche anderen Geschichten erzählen Ihre Songs?
Alle Lieder, die wir singen, sind Geschichten. Alle. Man versteht vielleicht nicht die Worte, aber mit der Gestik allein bekommt man es mit, sie sind aussagekräftig… und man gerät in eine Art Ekstase, oder? Das ist das Wichtige an der música de identidad. Es kommt ein Moment, ab dem man den tambores zuhört, dem Sound, und man bleibt dort. Als würde sie dich leiten. Wenn man mir sagt, ich kann singen, vergesse ich alles – dass ich Schulden oder ein Haus habe, alles. Hier wenigstens habe ich noch nicht zuhause angerufen, ich bin mit Singen beschäftigt.

„Ich bin sehr optimistisch!”

Bei Demonstrationen in der Hauptstadt gab es nun auch vermehrt Gewalt gegen Journalist_innen…
Das ist neu. Bis jetzt gab es nur in problematischen Zonen Konflikte mit den Medien, und das hing mit dem Drogenhandel zusammen. Aber plötzlich gibt es eine starke Veränderung im Verhalten der Regierung von Mexiko-Stadt. Einer Regierung, die mehrheitlich mit linken Stimmen gewählt wurde und seit Dezember 2012 einen starken Wechsel nach rechts begonnen hat – mit dem Ziel, die massive Präsenz von sozialen Bewegungen in den Straßen zu verhindern. Es geht nicht unbedingt darum, kleine Gruppierungen zu verprügeln, sondern ein Ambiente der Angst zu schaffen, welches die massive Beteiligung von Bürgern einschränkt. Schon bei mindestens vier Demonstrationen gab es Repressionen, bei der die Polizei Medienvertreter direkt angegriffen hat. Denn seit den medialen Kampagnen von Präsident Peña Nieto sind die angeblich „alternativen“ Medien extrem wichtig geworden.

Welche Verantwortung hat der Bürgermeister Mexiko-Stadts, Miguel Mancera von der sozialdemokratischen PRD, für diese Politik?
Die Regierung von Mancera ist ein Desaster. Es ist eine Regierung, die durch ein sehr breites Bündnis an die Macht kam. Tausende haben mitgewirkt. Auch ich habe in seiner Kampagne mitgearbeitet – mit einer sehr kritischen Sicht. Ich dachte, es wäre das kleinste Übel, das uns passieren könne. Auf jeden Fall sollte der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei, Anm. d. Red.) der Einzug in Mexiko-Stadt verwehrt werden und ein Kontrapunkt zu deren Bundesregierung geschaffen werden. Denn diese Regierung sah extrem gefährlich aus und ist es auch. Aber Mancera hat eine Regierung gebildet, ohne die politischen Kräfte in Mexiko-Stadt dabei zu repräsentieren. Und er hat systematisch die Zustimmung der Bundesregierung gesucht. Der ehemalige Chef der Polizei von Mexiko-Stadt, Manuel Mondragón y Kalb, ist im Dezember in die Bundesregierung gewechselt. Aber er behält seine Beziehungen zur Polizeivertretung und -leitung in Mexiko-Stadt, also der Politik der öffentlichen Sicherheit. Durch diesen Zug hat Mancera von vornherein die öffentliche Sicherheit der Stadt in die Hände der Bundesregierung gelegt.

Wie hat sich das Verhältnis von Journalist_innen und Politiker_innen seitdem verändert?
In letzter Zeit tritt verstärkt eine Taktik auf, die in Mexiko-Stadt eigentlich verschwunden war: Journalisten zu „kultivieren“. Es ist wie eine Pflanze zu pflegen – man gibt ihr Wasser, stellt sie ins Licht, lächelt ihr am Morgen zu. Vor einem Monat erhielt ich die Information, dass ein hoher Funktionär Mexiko-Stadts ein Sylvester-Dinner mit 20 Journalisten veranstaltet hat. Bei diesem Dinner wurden zwei Reisen nach New York verlost, jeder erhielt ein Silbertablett und es gab französischen Wein in rauen Mengen. So etwas war typisch für die Beziehungen zwischen Presse und PRI in den alten Zeiten, aber ist so lange nicht mehr vorgekommen. So wird die Presse korrumpiert und man erschafft eine Beziehung gegenseitiger Gefälligkeiten. Du willst nicht unbedingt, dass der Journalist deine direkte Stimme wird. Aber im gegebenen Moment übernimmt er deine Sichtweise und recherchiert nicht weiter.

Hat die Bundesregierung denn solche Angst vor alternativer Berichterstattung?
Nicht so sehr vor den Informationen, vielmehr vor den Massenmobilisierungen. Die Bundesregierung setzt ein großes Reformprojekt durch und will die Reaktion in der Bevölkerung bestmöglich minimieren. Ein Teil davon ist es, alternativen Medien Angst einzujagen. Aber sie hat es nicht geschafft. Die alternative Information wächst sogar. Wenn ein Monument für die compañeros von den alternativen Medien gebaut werden könnte, würde ich die Steine spendieren! Sie haben eine wunderbare Arbeit geleistet, um die Dinge aus den Schatten zu holen – oft unter Gefahr. Aber sie sind immer in der ersten Reihe und dokumentieren jeden Moment, folgen den Geschichten und verbreiten die Informationen.

Können ländliche Regionen ohne großflächige Internetanbindung überhaupt erreicht werden?
Es ist sehr seltsam. Man denkt, die Informationen würden nicht ankommen und wird dann überrascht. Auf einmal bist du in einem Dorf wie Pochutla im Bundesstaat Oaxaca und triffst einen Jungen, der die letzten sechs Videos kennt, die du für Fernsehprogramme gemacht hast. Wie hat er sie gesehen? Naja, die waren auf irgendeiner Plattform und er hat sie in irgendeinem Café runtergeladen – in Pochutla. Das ist wie ein Virus. Die Kombination von alternativen Medien, neuen Technologien und klassischen Medien potenziert die Chancen von alternativer Information um ein Vielfaches. Klar erschafft das auch künstliche Paradiese der immer gut Informierten. Es fehlt durchaus die Multiplikation, die klassische Medien erreichen. Aber man kann auch nicht erwarten, dass hier gezaubert wird – das ist ein langwieriges Problem. Und ich bin in dieser Hinsicht optimistisch. Sehr optimistisch!

Warum?
Wir haben in diesen letzten zwei Jahren Spektakuläres erlebt – Verbreitung und Mobilisierung durch nicht traditionelle Medien. Die Gegeninformation ist kein in sich geschlossenes Phänomen. Soll heißen, die Gegeninformation interagiert mit den Räumen, die es in klassischen Medien gibt. Ein Journalist der Jornada schreibt eine Meldung in seiner wöchentlichen Kolumne, diese Meldung ist am nächsten Tag von 150.000 Menschen getwittert worden. Aber irgendjemand findet einen anderen Aspekt dieser Meldung und gibt sie an Leute weiter, die irgendwo am Samstagnachmittag eine Radiosendung moderieren. Das ist ein großes Wachstum. Für die Politik ist es sehr schwierig geworden, unbemerkt zu lügen.

Welche Erfolge gab es durch die Gegeninformation?
Es gibt eine ganz konkrete Form, den Erfolg zu messen: Die Bundesregierung entwarf die Ener-giereform (siehe LN 476) und gleichzeitig eine millionenschwere Medienkampagne, um sie zu verteidigen. Das war eine spektakuläre Bombardierung im Fernsehen und im Radio. Zum Beispiel mit „Die ganze Welt modernisiert sich: Kuba modernisiert sich. Norwegen modernisiert sich. Warum sollte Mexiko seine Ölindustrie nicht auch modernisieren?“ oder „Cárdenas hätte gesagt, dass es interessant wäre, diesen Weg zu gehen, blablabla“. Es war brutal. In diesen Zeiten konntest du dir keine Cola im Laden um die Ecke holen, ohne die Werbung zu hören.
Aber am Ende, als die Reform verabschiedet wurde, waren 55 Prozent der Bevölkerung dagegen und nur 17 Prozent dafür. Trotz der ganzen Kampagne war die Regierung auf dem tiefsten Akzeptanzniveau seit Jahren. Und wer hat die Gegenkampagne produziert? Die alternativen Medien und die Aktionen auf der Straße haben den Menschen beigebracht, dass diese Reform pures Gift ist. Ich meine 55 zu 17… nie hatte die Regierung so ekelhafte Werte bekommen!

Allerdings hat die Medienkampagne Enrique Peña Nietos im Wahlkampf funktioniert: Er ist Präsident geworden…
Nein, sie hat nicht funktioniert. Kurz vor den Wahlen, im Mai 2012, gab es eine Versammlung der Gouverneure der PRI in Querétaro, in der sie genau das gesagt haben. Trotz der Medienkampagne standen sie in den Umfragen nicht gut da. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sogar hinter Manuel López Obrador. Es war diese Versammlung, auf der entschieden wurde, Milliarden von Pesos in den Stimmenkauf zu investieren. Das wiederum hat funktioniert – fünf Millionen gekaufte Stimmen in den letzten zwei Monaten vor der Wahl (siehe LN 457/458, 459/460).

Du betonst immer wieder die Wichtigkeit der Gegeninformation. Jetzt bist du Funktionär für Kunst und Kultur in der neuen Linkspartei von Manuel López Obrador, Morena. Welche Möglichkeiten siehst du hier für die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit?
Wir haben auf diesem Gebiet eine lange und sehr wertvolle Erfahrung, vor allem mit der Brigade Para leer en Libertad (Um in Freiheit zu lesen). Diesen Februar werden wir vier Jahre alt. Wir sind ein Dutzend Menschen mit einer Vision: Wenn wir mehr Leute zum Lesen bringen, werden wir das demokratische Denken in Mexiko weiter verbreiten. Der Mexikaner, der liest, ist kritischer, schlauer und weniger anfällig für die Manipulationen der Macht. Deswegen haben wir angefangen, im Großraum von Mexiko-Stadt ein Literaturnetzwerk mit verschiedenen Aufgaben zu gründen. Zuerst organisierten wir Buchmessen in problematischen Zonen, wie der Peripherie der Stadt, wo es keine Buchhandlungen gibt. Jeden Tag gab es Konferenzen, Debatten und Präsentationen und immer wieder auch Musik oder Theater. Das Programm haben wir stark politisiert. Es ging vor allem um Bücher zur organisierten Kriminalität, der Kampagne von Peña Nieto, den Zapatistas und zur Lehrerbewegung. Außerdem haben wir Gäste eingeladen und alle bekannten Schriftsteller Mexikos haben mitgemacht: Montemayor vor seinem Tod, Monsiváis, Elena Poniatowska…
Parallel organisierten wir einen Kurs zur Geschichte Mexikos für Bürger im Widerstand. Die Erfahrung, die ich in den letzten Jahren auf über 300 Konferenzen in den Slums sammeln konnte, hat mir eines klar gezeigt: Die Kulturpolitik ist eines der effektivsten Mittel linker Organisationen, um kritisches Denken zu fördern und um eine in der Linken lange vernachlässigte Arbeit wieder aufzunehmen: die politische Bildung.

Du bist Funktionär bei Morena. Die Partei hat sich dir noch nicht in den Weg gestellt?
Sie hilft mir nicht, aber sie behindert mich auch nicht. Niemand hat mich jemals aufgehalten und in der mexikanischen Linken gibt es niemanden, der mir gesagt hätte: „Du darfst nicht kommen, weil du bei Morena bist.“ Weil es bekannt ist, dass ich hingehe, selbst wenn Morena nicht hingeht.
Das Problem bei Morena ist ein anderes. Es gibt einen internen Konflikt zwischen zwei Parteimodellen. Eine Seite möchte die Partei zu einem Instrument für die nächsten Präsidentschaftswahlen machen und für die andere Seite ist die Partei eine soziale Bewegung, also weniger an Wahlen als an sozialen Kämpfen interessiert. Der Konflikt ist nicht gelöst und derzeit ist die Partei eine Ko-existenz der beiden Strömungen.

Das heißt, für dich ist Morena kein Mittel, um sich bei Wahlen aufzustellen?
Nein, überhaupt nicht. Die Wahlen sind großer Mist und wir werden die PRI nicht über Wahlen besiegen. Für mich ist Morena die Möglichkeit, eine wirkliche Volkspartei zu gründen. Ich spreche hier von drei bis vier Millionen Mitgliedern und 300.000 Aktivisten – mit der Stärke, im gegebenen Moment den zivilen Ungehorsam auszurufen, ein Moratorium beim Zahlen der Steuern einzuleiten oder einen Generalstreik zu organisieren. Und dann, in diesem Prozess, mit Erfolg bei den Wahlen zu intervenieren. Derzeit müssen Wahlen genutzt werden, um auf der kommunalen Ebene, vielleicht auf Landesebene, neue Formen der Verwaltung zu schaffen. Andere denken nicht so. Sie sehen in Morena das Mittel, um eine große Partei für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer 2015 aufzubauen. Das sehe ich nicht. Es ist die Gesellschaft, die sich bewegt. Die Partei hilft, Dinge zu artikulieren – mehr nicht.

Infokasten

Paco Ignacio Taibo II ist mexikanischer Schriftsteller und Aktivist. Neben seinen Kriminalromanen hat er sich als Historiker und Che-Guevara-Biograph einen Namen gemacht. Er gründete das Leseprojekt Para Leer en Libertad („Um in Freiheit zu lesen”) zur Verbreitung von Literatur und mexikanischer Geschichte. Seit 2012 gehört er als Kulturbeauftragter dem Vorstand der neuen Linkspartei Morena an. Auf Deutsch erschien zuletzt Die Rückkehr der Tiger von Malaysia (Assoziation A).

Wiedervereinigung auf kubanisch

„Sozialismus ist die einzige Garantie für unsere Unabhängigkeit“, mahnte der 82-jährige Präsident Raúl Castro leicht verkatert die 3.500 festlich geladenen Gäste am Rathaus von Santiago de Cuba zum Jahresbeginn. Dort hatte sein Bruder am 1. Januar 1959 den Sieg im Kampf gegen die Diktatur verkündet. In Havanna blieb der Revolutionsplatz diesmal leer und dunkel, nur die Konterfeis Che Gueveras und Camilo Cienfuegos‘ leuchteten vom Innenministerium herab. Anders auf der antiimperialistischen Tribüne am Malecón. Dort ist die Botschaft musikalisch: Meterhohe Boxen sorgen dafür, dass der Reggaeton auch Kilometer entfernt noch zu hören ist. Ein Zeichen der neuen kulturellen Hegemonie? Verschiedene Lesarten sind möglich.
Die Reden des Staatspräsidenten werden inzwischen nur noch auf einem der fünf Fernsehkanäle übertragen. Der Staat zahlt, um auch das anzubieten, was populär ist. „Wir müssen unser Gehör wieder auf den Boden richten, in Dialog mit der Bevölkerung treten“, hatte Raúl in einer anderen Rede fast hegemonietheoretisch formuliert. Öffentliche Räume und Inhalte werden neu verhandelt. Als der Jazzmusiker Roberto Carcassés im Oktober auf seinem live übertragenen Konzert von mehr direkter Demokratie sprach, wurde ihm zunächst untersagt, auf staatlichen Bühnen zu spielen. Dann schritt der renommierte Musiker Silvio Rodríguez ein, der Ende der 60er Jahre selber Auftrittsverbote erlitt, und verteidigte ihn auf seinem Blog. Das Verbot wurde zurückgenommen.
Im November verkündete die Parteizeitung Granma die Schließung der privaten, sehr beliebten 3D-Kinos wegen der dort gezeigten „Banalität“ und „niederen Kultur“. Ein Aufschrei des Publikums und vieler Intellektueller wie des Essayisten Victor Fowler folgte. Sie gestanden dem Staat das Recht der Regulierung, nicht aber der inhaltlichen Zensur zu. Kurze Zeit später war in derselben Zeitung zu lesen, die Maßnahme werde überdacht und wahrscheinlich revidiert.
Probleme werden in Kuba inzwischen offener diskutiert. Die Regierung Raúl Castros versucht, die unterschiedlichen Kulturen, die sich seit den Öffnungen, Veränderungen und Widersprüchen der 1990er Jahre ergeben haben, wieder zusammenzuführen. Und dies nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Wirtschaft.
Als Fidels Bruder Raúl 2008 zum Präsidenten gewählt wurde und der Druck einer wachsenden Mittelschicht stieg, beendete er Teile der Restriktionen, wie das Verbot für normale Kubaner_innen, Hotels zu frequentieren, Mietautos zu fahren oder Mobiltelefone zu besitzen. Die Aufhebung der Verbote sorgte zugleich für sprudelnde Staatseinnahmen. Inzwischen können auch Friseure wie Leo ihren Weihnachtsurlaub wieder in der Touristenhochburg Varadero verbringen. Leo hat bereits seinen zweiten Salon eröffnet – auf den Namen seiner Mutter, weil die Gesetzeslage bisher den Besitz auf eine Immobilie pro Person begrenzt. Einen institutionellen Rahmen auszutarieren, in dem die sozialistische Staatswirtschaft in Symbiose mit einer wachsenden Privatwirtschaft ein nachhaltiges Modell sozialer Gerechtigkeit ermöglicht, ist die Aufgabe, der sich die gegenwärtige Regierung stellt.
„Kuba legalisiert den freien Kauf von Autos“ war die Neujahrsschlagzeile 2014. Am 19. Dezember 2013 vom Ministerrat beschlossen, trat das Gesetz am 3. Januar in Kraft. Es ist Thema Nummer eins auf den Straßen Kubas. „Hast du schon die Preise gesehen?“ beginnt meist das Gespräch. „Wahnsinn!“ lautet die Antwort. Die Niederlassungen von Mercedes, Fiat und anderen internationalen Produzenten ziehen Neugierige vor die Schaufenster. Der Traum vom eigenen Auto war in Kuba mit der Revolution und dem folgenden US-Embargo in weite Ferne gerückt. 50 Jahre später ist dieser Traum „nur“ noch vom Portemonnaie abhängig. Damit bleibt es aber für die meisten vorläufig ein Traum: Lieblingsbeispiel der Kubaner ist der neue Peugeot 508, mit 262 000 CUC (etwa 191 000 Euro) veranschlagt, aber auch 51 000 CUC (etwa 37 000 Euro) für einen VW Jetta von 2010 sind astronomisch.
2013 hieß die Neujahrsbotschaft der Verzicht auf Ausreisegenehmigungen. Praktisch hatte sie für die Mehrheit der Inselbewohner_innen jedoch nur geringe Bedeutung, da für fast alle Reiseziele, die von der Insel direkt angeflogen werden, ein Einreisevisum benötigt wird. Symbolisch allerdings war es eine Errungenschaft, nicht mehr den Staat fragen zu müssen, wenn man das Land verlassen wollte. Informatiker Jorge hatte sich deshalb gleich im Januar ein teures Flugticket nach Ecuador gekauft – „nur um auszuprobieren, ob das wirklich stimmt“. Es stimmte. Sogar erklärte Regierungsgegner_innen wie Yoani Sánchez können inzwischen frei ein- und ausreisen. Das ist Teil der neuen kubanischen Normalität. Zur alten Normalität gehören politisch motivierte vor allem Kurzzeit-Festnahmen – meist für 24 bis 72 Stunden –, deren anhaltend hohes Niveau Regierungsgegner_innen gerade wieder beklagten. 2013 sollen es über 6000 gewesen sein.
Jorge ist inzwischen nach seinem Studium in Kuba nach Quito ausgewandert und plant, eine Software-Firma zu gründen. Aber auch er kann anders als früher zurückkehren und mit dem verdienten Geld seine Familie unterstützen. Bereits in Kuba hatte er für spanische Hotelketten Kontrollprogramme entwickelt, ohne offizielle Genehmigung, denn Informatiker_in steht nicht auf der Liste der 178 Berufe, die inzwischen legal in Eigenbeschäftigung ausgeübt werden können. Die fünf CUC (etwa 3,70 Euro) Stundenlohn, die er erhielt, gingen daher am Fiskus vorbei. Dem soll künftig mit der Einführung eines Steuersystems ein Riegel vorgeschoben werden.
Nach einem halben Jahrhundert steuerfreien Lebens erinnern sich nur noch die Ältesten an das republikanische – und hochkorrupte – Steuersystem vor der Revolution. Kein Wunder, dass von den inzwischen 440 000 Selbständigen – etwa ein Zehntel der arbeitenden Bevölkerung, die inoffizielle Zahl ist weitaus höher – nur rund die Hälfte überhaupt eine Steuerklärung machten. »Wir müssen erst wieder eine neue Kultur dafür entwickeln«, sagt Saira, die als Ökonomin an der Universität Havanna zu Kubas Steuersystem promoviert. Laut einer kürzlich in der Parteizeitung veröffentlichten Fallstudie für die Provinz Granma zahlen dort 92 Prozent nicht den korrekten Betrag.
Kräftiger als die Steuern fließen trotz des Embargos Gelder aus den USA. Soziologen wie der US-Amerikaner Nelson Valdés argumentieren, dass das Embargo schon deshalb aufgehoben werden müsse, weil es die exilkubanische Gemeinde ungerechtfertigt bevorteilt. Laut Valdés sind es vor allem die fast zwei Millionen Kubaner_innen in der Diaspora, insbesondere in den USA, die lukrativen Handel mit Kuba treiben, Grundstücke durch Familienangehörige erwerben und den neuen Privatsektor in Kuba wesentlich mitbestimmen. Zehn Flüge täglich bringen Unmengen an Konsumgütern auf die Insel und oftmals abgeschöpfte Gewinne zurück nach Florida. Alle anderen US-Amerikaner sind davon per Gesetz bei Strafe ausgenommen.
Kubas wirtschaftliche Prognose für 2014 ist mit 2,2 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes bescheiden. Nachdem 2013 der Zuwachs mit 2,7 Prozent fast ein Prozent geringer ausfiel als geplant und prognostiziert, ist man diesmal vorsichtiger. Stagnation des Tourismus, allgemeine Ineffizienz, andauernde Wirtschaftssanktionen und Verzerrungen durch die doppelte Währung sind einige der Hauptprobleme, die deshalb angegangen werden.
Für 2014 befürchten Ökonomen wie Pavel Vidal einen Liquiditätsengpass, der zu weiteren Reformen führen könnte, um notwendige Aus­landsinvestitionen zu erleichtern. Zwar hat Kuba zum Jahresende erfolgreich seine historischen Schulden mit Russland neu verhandelt – und zu 80 Prozent erlassen bekommen. Nach wie vor ist die Regierung aber auf Druck der USA von zinsgünstigen Krediten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank abgeschnitten. Deswegen kann die Karibikinsel zumeist nur sehr teure und kurzfristige Kredite bekommen.
Präsident Raúl Castro kündigte zudem die schrittweise Zusammenführung der zwei Währungen an, des kubanischen Pesos und der devisengebundenen CUC-Währung, die sein Bruder vor gut 20 Jahren als Antwort auf die Krise einführte. Pilotprojekte wurden bereits begonnen, bei denen der Wechselkurs zwischen CUC und Peso nicht mehr 1:24, sondern 1:10 ist. Schrittweise soll dies auf weitere Staatsbetriebe, dann auf Kooperativen ausgeweitet werden, bevor es für die gesamte Bevölkerung gelte, verkündete Castro in seiner Parlamentsansprache am 21. Dezember. Angekündigt sind für dieses Jahr zudem spürbare Gehaltserhöhungen, zunächst im Gesundheits- und Bildungssektor, dann auch darüber hinaus.
Mit venezolanischer, chinesischer, aber auch brasilianischer Hilfe wurden zudem wichtige Infrastrukturprojekte begonnen, wie der etwa 50 Kilometer westlich von Havanna gelegene Containerhafen von Mariel, der als Freihandelszone für Auslandsinvestitionen und inländische Beschäftigung sorgen soll. Ein erster Teil der Zone soll von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef und Raúl Castro im Rahmen des zweiten Gipfeltreffens der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten CELAC Ende Januar eröffnet werden.
Außenpolitisch ist Kuba weiter auf Erfolgskurs. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt – folgenlos – seit mehr als zwei Jahrzehnten mit überwältigender Mehrheit das Embargo der USA, das seit einem halben Jahrhundert die kubanische Wirtschaft drangsaliert. Kuba führte das CELAC-Präsidium und leitet erfolgversprechende Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung in Havanna. Die CELAC-Staaten haben bereits angekündigt, dass ein weiteres Gipfeltreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ohne das seit 1962 auf Betreiben der USA ausgeschlossene Kuba weitgehend boykottiert würde. Vielleicht auch deshalb sagte ihr Generalsekretär José Miguel Insulza seine Teilnahme am CELAC-Treffen in Havanna zu. Das Jahr 2014 könnte also mehr als nur zwei Währungen wieder zusammenführen.

Vom Krankenhaus in den Knast

Seit elf Monaten ist die 18-jährige Xiomara nun in Untersuchungshaft, getrennt von ihrer Familie und ihrer 4-jährigen Tochter. Ihre gerichtliche Anhörung fand am 25. September vor dem Strafgericht in Usulután statt. Sollte das Gericht der Anklage auf Antreibung folgen, droht der jungen Frau eine Haftstrafe zwischen 30 und 50 Jahren.
Am 30. Oktober 2012 hatte Xiomara am frühen Morgen starke Bauchschmerzen und blutete heftig, so dass sie in die Klinik in Jiquilisco im Osten El Salvadors eingeliefert werden musste. Aufgrund des starken Blutverlustes musste sie 16 Tage stationär behandelt werden. Die Ärzte diagnostizierten eine Abtreibung, was sie aber heftig bestritt – sie habe noch nicht mal gewusst, dass sie schwanger gewesen sei. Gemäß der gesetzlichen Vorschriften in El Salvador informierte die Klinik die Staatsanwaltschaft und setzte so ein Gerichtsverfahren in Gang: Xiomara wurde des schweren Mordes angeklagt. Der zuständige Richter in Jiquilisco ließ die Anklage trotz großer Verfahrensfehler zu.
Mit diesem Schicksal ist sie nicht alleine. In der Untersuchung „Vom Krankenhaus ins Gefängnis“ im Sommer 2013 bilanzierte die Frauenorganisation Staatsbürgerliche Gruppe für die Entkriminalisierung von Abtreibung, dass zwischen 2000 und 2011 insgesamt 129 Frauen, die Fehlgeburten erlitten hatten, fälschlicherweise wegen Abtreibungen vor Gericht gestellt wurden. 49 von ihnen wurden sogar zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind jung, arm und wenig gebildet, haben also wenig Möglichkeiten, sich gegen falsche Anklagen, unfaire Prozesse und Diskriminierung zur Wehr zu setzen.
El Salvador gehört zu den Staaten mit dem rigorosesten Abtreibungsrecht der Welt. Die rechtsgerichtete Regierung El Salvadors hatte die Verfassung 1998 und 1999 noch verschärft, um sich die Sympathien der katholischen Kirche bei den bevorstehenden Wahlen zu sichern. Seitdem ist Abtreibung grundsätzlich und in allen Situationen verboten, selbst wenn das Leben der werdenden Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet ist. Ärzte oder andere Menschen, die eine Abtreibung durchführen, machen sich ebenso strafbar wie die betroffenen Frauen selbst.
Schon einmal im Jahr 2013 machte El Salvador Schlagzeilen, weil der chronisch kranken Beatriz, die mit einem nicht lebensfähigen Kind schwanger war, durch das Verfassungsgericht die medizinische Indikation verweigert wurde. Erst ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte machte den Weg für die Gesundheitsministerin frei, einen Kaiserschnitt (inzwischen im siebten Schwangerschaftsmonat) zu genehmigen; die Mutter konnte so gerettet werden, das Kind starb – wie erwartet – wenige Stunden später.
Das totale Abtreibungsverbot ist im Kontext der Lebenssituation von Frauen in El Salvador zu sehen. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sind weit verbreitet. El Salvador hat eine der höchsten Frauenmordraten der Welt; nur in sehr seltenen Fällen wird ein Täter vor Gericht gestellt. Nach einer Studie des staatlichen Frauenentwicklungsinstituts ISDEMU aus dem Jahr 2010 ereignen sich Morde, Vergewaltigungen und Mißhandlungen von Frauen vor allem im familiären Umfeld.
Die Frauenorganisation ORMUSA berichtet von ca. 25.000 vergewaltigten und misshandelten Frauen jährlich – und auch Schwangerschaften aufgrund von Vergewaltigungen unterliegen dem Abtreibungsverbot.
Natürlich entstehen ungewollte Schwangerschaften nicht nur aus Gewaltsituationen heraus. Von den Frauen in El Salvador wird immer wieder auf fehlende oder ungenügende Aufklärung über Sexualität und Verhütungsmöglichkeiten, auf fehlende Bildung und fehlende Ressourcen zur Beschaffung von Verhütungsmitteln hingewiesen. Auch die große Zahl alleinerziehender Mädchen und Frauen, deren Partner ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern nicht wahrnehmen stellt ein Problem dar.
Während Frauen der Mittel- und Oberschicht ungewollte Schwangerschaften mit einem Klinikaufenthalt in einem Land mit liberalem Abtreibungsrecht lösen können, kann sich das die große Mehrheit der Frauen El Salvadors nicht leisten. Weil ihnen Abtreibung legal nicht zur Verfügung steht, sehen viele von ihnen die Lösung in einer heimlichen und unsachgemäßen Abtreibung, mit teilweise schweren bis tödlichen Gesundheitsrisiken. Allein im Jahr 2009 registrierte das Gesundheitsministerium 5.567 Frauen, die nach einer Abtreibung im Krankenhaus behandelt werden mussten; die Sterblichkeit nach unprofessionell ausgeführten Abtreibungen ist die höchste in der Region. „Die Frauen wollen nicht in die Krankenhäuser gehen, weil sie riskieren, dass die Ärzte sie beschuldigen, eine Abtreibung vorgenommen oder selbst provoziert zu haben,“ sagt Angélica Rivas, Sprecherin der Staatsbürgerlichen Gruppe für die Entkriminalisierung von Abtreibung
Die entscheidende Ursache aber, dass Frauen die Selbstbestimmung über ihr Leben und ihre Gesundheit verweigert wird, ist in dem von Macho-Denken und patriarchalen Strukturen geprägten Rollenverständnis zu suchen. Die überholten Moralvorschriften der einflussreichen katholischen Kirche sind die Grundlage der von Männern gemachten Gesetze, die das ungeborene Leben schützen, ohne sich um Gesundheit und Wohlergehen der Frauen zu kümmern. Die Verantwortung für Schwangerschaften wird ausschließlich den Frauen und Mädchen zugeschrieben, denen vorsorglich in Schulen auch noch die gesundheitliche und sexuelle Aufklärung verweigert wird. So kann eine ungewollte Schwangerschaft moralisch verurteilt und ein Schwangerschaftsabbruch gesetzlich geahndet werden.
Was das in El Salvador heißt, beschreibt Mónica Arango, Regionaldirektorin des Programms für Lateinamerika und die Karibik im Zentrum für Reproduktive Rechte: „Die Kriminalisierung von Abtreibung in El Salvador und die Institutionen, die sie aufrechterhalten, sind schuld an brutalen Menschenrechtsverletzungen an Frauen im ganzen Land. Dieses Verbot hat Krankenhäuser zu Überwachungsorten gemacht statt Orte für medizinische Hilfe zu sein – auch für die Frauen, die natürliche Komplikationen erleiden. Viele der Frauen finden sich plötzlich grundlos im Gefängnis wieder, ohne rechtlichen Beistand zur Verteidigung. Den Zugang zu notwendigen Gesundheitsdiensten für Frauen an solche Bedingungen zu knüpfen, sie vor Gericht zu stellen, ist ein Akt der Grausamkeit und widerspricht den internationalen Verpflichtungen der Menschenrechte.“
Die Situation ist in vielen lateinamerikanischen Ländern ähnlich und es sind die Frauen, die sich verstärkt dagegen zur Wehr setzen. Bereits 1990 stellte die Versammlung der Feministischen Bewegung Lateinamerikas fest, dass Komplikationen nach heimlichen und unsachgemäßen Abtreibungen die Hauptursache für die Sterblichkeit von Frauen in der Region ist. Die Versammlung bestimmte den 28. September zum Internationalen Aktionstag für die Entkriminalisierung der Abtreibung in Lateinamerika und der Karibik. Am diesjährigen Aktionstag machten Frauenorganisationen in El Salvador auf den Fall von Xiomara aufmerksam und forderten ihre unmittelbare Freilassung.
Die Entkriminalisierung von Abtreibungen wäre die notwendige Konsequenz aus der Erkenntnis, dass die Androhung von Strafen nicht die Zahl der Abtreibungen verringert, sondern gesundheitliche Schäden und Sterblichkeit durch heimliche und unsachgemäße Schwangerschaftsabbrüche vergrößert. Sie ist außerdem erforderlich für eine Gleichbehandlung, denn internationale Organisationen haben empirisch nachgewiesen, dass Frauen mit indigener oder afrikanischer Herkunft und Frauen, die in Armut leben und nur geringe Bildung haben, überproportional häufig unsichere Abtreibungen vornehmen.
Seit 1990 haben einige Staaten ihre Gesetzgebung etwas reformiert; Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten drei Monate sind in Kuba, Mexiko-Stadt und Uruguay legal möglich. In den meisten Staaten benötigen legale Abtreibungen besondere Begründungen, z. B. wenn das Leben der Mutter bedroht ist oder die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande kam. Lediglich in Chile, der Dominikanischen Republik, El Salvador und Nicaragua sind Abtreibungen noch immer komplett verboten. Allerdings könnte sich auch die rigide Haltung dieser Staaten lockern. Im August dieses Jahres fand in Uruguay die erste Sitzung der Regionalkonferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik statt, an der auch ca. 260 Nichtregierungsorganisationen teilnahmen. Auf der Konferenz einigten sich die Vertreter_innen der 38 Staaten im Konsens von Montevideo darauf, ihre Gesetze zu reformieren. Dazu zählen Vorsorgemaßnahmen wie Aufklärung über sexuelle und reproduktive Gesundheit, der Zugang zu modernen und wirksamen Verhütungsmethoden und die Schaffung von Voraussetzungen für sichere Abtreibungen.
Die bei der Regionalkonferenz anwesenden Frauenorganisationen bejubelten diesen Konsens als Meilenstein, um Leben und Gesundheit von Frauen zu schützen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Bis zur Umsetzung des Konsens von Montevideo in nationale Gesetzgebungen ist jedoch noch viel zu tun.

„Ändere die Welt, denn sie braucht es“

Chile im September 1973. Das Militär putscht gegen die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Tausende Menschen werden verhaftet, gefoltert, ermordet oder „verschwinden“. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen Chilen_innen ihre Heimat verlassen (siehe LN 233).
Auch in der Bundesrepublik wurden Chilen_innen aufgenommen, was sich aber von Seiten der westdeutschen Behörden zunächst auf 2.000 Kontingentflüchtlinge beschränken sollte. Deswegen wurde die Chile-Solidaritätsbewegung aktiv, um die Flüchtlinge bei dem Erlangen eines Aufenthaltsstatus‘ zu unterstützen. Bereits kurz nach dem Putsch wurde aus den Reihen der von den DGB-Gewerkschaften 1954 ins Leben gerufenen Stiftung Mitbestimmung – die Vorläuferorganisation der späteren Hans-Böckler-Stiftung – die Solidaritätsarbeit organisiert. Damals wurde der Solidaritätsfonds eingerichtet, der die benötigten Finanzen einzusammeln begann. So konnte die Stiftung dann bereits Anfang Dezember 1973 den ersten Chile-Flüchtling in die Studienförderung aufnehmen.
Dieses Hilfsprogramm der ersten Stunde zielte darauf ab, gefährdeten Kolleg_innen die Ausreise aus Chile und die Aufnahme in der BRD zu ermöglichen. Etliche von ihnen befanden sich zum Zeitpunkt einer entsprechenden Hilfszusage noch in Haft. Verfolgte Chilen_innen mussten für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die BRD entweder einen Studien- oder Arbeitsplatz nachweisen. In den Fällen, in denen kein Studium in Frage kam, kooperierte die Chile-Solidarität auch mit den Arbeitsdirektor_innen der Eisen- und Stahlindustrie. Die Koordination lag dabei in den Händen der Düsseldorfer IG-Metall. Diese und weitere stellten zudem finanzielle Unterstützung zur Verfügung.
Binnen kürzester Zeit zeigte sich, dass mit den bereits getätigten Zusagen für die Aufnahme der Flüchtlinge in die Stipendienförderung der Etat des „Chile-Solidaritätsfonds“ um mehr als das Dreifache überschritten war. Dennoch: Im Vordergrund stand das Ziel, „akute Gefahr für Leib und Leben chilenischer Kollegen abzuwenden“ – so arbeitete die Stiftung weiter. Bei der Entscheidung, in welchen Fällen eine Zusage dringlich erforderlich war, arbeitete man nicht nur mit der Vertretung der chilenischen Gewerkschaft CUT in der BRD, sondern auch mit der Internationalen Abteilung des DGB-Bundesvorstandes, mit der Botschaft in Santiago ebenso wie mit Amnesty International und der von Bischof Helmut Frenz maßgeblich initiierten „Aktion zur Befreiung der politischen Gefangenen in Chile e.V.“ zusammen.
In der ersten Zeit stand die individuelle Hilfe im Vordergrund. Diese beschränkte sich nicht allein auf materielle Absicherung von Flucht und Exil, sondern umfasste auch die Betreuung der Flüchtlinge. Diese mussten ja nicht nur ihren Verfolgern in Chile entkommen, sondern auch noch die „Sicherheitschecks“ von Seiten der BRD überwinden.
Sobald die Namen ausreisewilliger politischer Gefangener in der BRD bekannt waren, wurden Visums-Anträge über das Innenministerium gestellt. Dem schloss sich dann eine Sicherheitsüberprüfung durch den Verfassungsschutz an, der durch seine Arbeitsweise zu verantworten hatte, dass Häftlinge manchmal bis zur Bekanntgabe der Entscheidung bis zu einem halben Jahr warten mussten – in Haft in Chiles Gefängnissen. Nicht immer gelang es, Asyl für die Chilen_innen in der Bundesrepublik durchzusetzen. So unterstützte der Chile-Fonds eine größere Gruppe von Arbeiter_innen aus der Region Panguipulli im Süden Chiles. Diese hatten während des Putsches versucht, den lokalen Polizeiposten zu besetzen, um so die rechtmäßige Regierung zu verteidigen. Dies rief den Einsatz von Fallschirmspringern auf den Plan, die etliche Gruppenmitglieder unter dem Vorwurf der Rädelsführerschaft massakrierten. Den Überlebenden wurde nachgesagt, Anhänger der an Kuba orientierten Bewegung der revolutionären Linken MIR zu sein. Dies brachte die bundesdeutschen Geheimdienste dazu, dem Urteil ihrer chilenischen Kolleg_innen, wonach es sich bei den inhaftierten Arbeiter_innen um „Terroristen“ handele, zu folgen – und ihnen die Aufnahme in die Bundesrepublik zu verweigern. Während in Chile in den folgenden Jahren das „Verschwindenlassen“ Oppositioneller anhielt, beerdigte die BRD das System der Aufnahme von Kontingentflüchtlingen aus Chile mehr oder weniger stillschweigend. Im Jahr des „Deutschen Herbstes“ 1977 gelang es dann aber noch, Gladys Díaz frei und in die BRD zu bekommen. Díaz war eine international bekannte Journalistin, Mitglied des Zentralkomitees des MIR, die im Untergrund bis zu ihrer Verhaftung 1975 Widerstand geleistet hatte. Gegen den erklärten Widerstand der Deutschen Botschaft in Santiago, dem Auswärtigen Amt und des Verfassungschutzes gelang es, den öffentlichen Druck so zu erhöhen, dass Gladys Díaz in der BRD Asyl bekam.
Ab 1977 wurden nur noch wenige Flüchtlinge aus Chile aufgenommen. Der Chile-Soli-Fonds begann dann vermehrt die „Aktion zur Befreiung der politischen Gefangenen in Chile e.V.“, eine Dokumentationsstelle sowie auch einschlägige Agitprop-Aktionen hierzulande zu unterstützen. 1980 kam es im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Pinochet-Verfassung noch zu vereinzelten Fällen individueller Flucht-Hilfe, die der Fonds leistete. Daneben wurden weiterhin Deutschkurse für Exil-Chilen_innen finanziert. Hauptzweck der Solidarität war aber nun die Unterstützung von Gewerkschafter_innen in Chile. So wurden Projekte in den Bereichen gewerkschaftliche Bildung, Information und Rechtsberatung finanziert. Ab 1990, dem Jahr der Ablösung Pinochets durch Patricio Aylwin, finanzierte der Chile-Solidaritätsfonds insbesondere in die Reorganisation des Gewerkschaftsdachverbandes CUT. Gleichwohl war Chile als Thema seither nicht mehr die hauptsächliche politische Agenda des Fonds. Nach dem Ende der Ära Pinochet wurde deshalb der Fonds in den ‚weltweit’ agierenden „Solidaritätsfonds der Hans-Böckler Stiftung“ umgewandelt.
Der Fonds unterstützt seither Initiativen weltweit, die sich dem Motto verschrieben haben „ändere die Welt, denn sie braucht es“. Finanziert wird der Fonds von Stipendiat_innen, Vertrauensdozent_innen sowie der Hans-Böckler-Stiftung selbst. Vor 40 Jahren war der Putsch in Chile das auslösende Moment für die Gründung des Solifonds. Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse und Solidarität mit den Menschen, die sich an den Kämpfen um deren Veränderung beteiligen – dies war und ist die Verpflichtung des „Solidaritätsfonds“ der „Hans-Böckler-Stiftung“.

Weitere Infos: http://www.boeckler.de/

// Frage der Würde

Es gibt zwei Varianten: Lässt man sich die Anmaßungen der letzten verbliebenen Weltmacht fast klaglos bieten oder begehrt man wenigstens diplomatisch auf? Für die erstere steht die deutsche Bundesregierung, für die zweite Variante stehen jede Menge südamerikanischer Staaten, von denen Bolivien und Brasilien aus gegebenen Anlässen die Spitze bilden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel schweigt zu der Ausspähung durch den USA-Geheimdienst National Security Agency (NSA). Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab sich bei seinem USA-Besuch mit fadenscheinigen bis dummdreisten Ausreden zufrieden. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff hingegen sagte Mitte September ihren lange für Oktober geplanten Besuch in Washington ab. Das Maß war einfach voll.

Das Vorgehen von Rousseff, einer ehemaligen Stadtguerillera, ist alles andere als ein Schnellschuss. Schon vor Wochen wurde bekannt, dass die NSA die Präsidentin persönlich abgehört und ihre E-Mails abgefangen hatte. Dabei argumentieren die USA offiziell stets mit derselben Leier: Die NSA-Überwachung diene dem Anti-Terror-Kampf. Gilt Rousseff wegen ihrer Vergangenheit den USA als Terroristin? Das ist nicht anzunehmen – so wenig wie beim mehrheitlich staatlichen brasilianischen Ölriesen Petrobras, der sich ebenfalls der Ausspähung zu erwehren hat. Rousseff hat USA-Präsident Barack Obama freundlichst und mehrfach um Erklärungen bemüht und gefordert, diese Praxis doch künftig zu unterlassen. Die Erklärungen und Zusicherungen fielen so wachsweich aus wie gegenüber Friedrich. Doch während der Franke lächelt, wehrt sich die Brasilianerin. Dafür gebührt ihr Respekt.

Während Merkel bestenfalls – wenn überhaupt – hinter den Kulissen bereit ist, Obama und die USA zu kritisieren, bietet Rousseff dem USA-Präsidenten direkt die Stirn. Bei der Eröffnung der UNO-Generalversammlung im September sprach sie in seiner Anwesenheit Klartext. „Souveräne Staaten dürfen sich niemals über die Souveränität anderer Staaten hinwegsetzen“, sagte die brasilianische Regierungschefin. „Das Argument, dass das illegale Ausspähen von Informationen und Daten Länder gegen den Terrorismus schützen soll, ist nicht haltbar.“ Die Argumente sind so schlüssig, dass sich eigentlich auch die europäischen Staaten ihnen anschließen müssten. Bei der UNO-Generalversammlung war freilich von Rechtsanwalt Guido Westerwelle auf seinem Abschiedstrip darüber nichts zu hören. Rückendeckung erhielt Rousseff dagegen von ihren lateinamerikanischen Konterparts. Ob Argentinien, Bolivien oder Uruguay: Alle forderten eine Reform der Weltorganisation und prangerten die globalen Spionageaktivitäten der USA an.

Rousseff unterbreitete den Vereinten Nationen einen konkreten Vorschlag für einen Mechanismus, der die Integrität von Daten im weltweiten Netz künftig sichern soll. Informations- und Meinungsfreiheit, die Privatsphäre und Menschenwürde und insgesamt die Grundrechte sollen damit geschützt werden. Unwahrscheinlich, dass die USA sich darauf einlassen, ein Land, das gerade dem Schriftsteller und Überwachungskritiker Ilja Trojanoff die Einreise verweigert hat. „Wie kann die UNO weiterhin ihren Sitz in einem Land haben, das sie ausspioniert, die Souveränität ihrer Mitglieder nicht respektiert und seit Jahren – wie im Fall der Blockade gegen Kuba – ihre Beschlüsse missachtet“, fragte Boliviens Präsident Evo Morales in den Saal der Generalversammlung. Eine berechtigte Frage, die nur deswegen einer Antwort harrt, weil de facto niemand die Supermacht USA herausfordern kann.

Es bleiben Nadelstiche. Stoppen wird sich die einzig verbliebene Weltmacht so schnell nicht lassen. Das zeigt insbesondere die Jagd auf den Informanten Edward Snowden. Aber alles, was öffentlich wird, trifft das Imperium.

Venceremos: Vernetzte Solidarität mit Kuba

Aus Anlass des 20. Jubiläums des Netzwerks Cuba haben zwei ehemalige Vorsitzende ein Buch über die Geschichte und Aktivitäten der Solidaritätsarbeit verfasst. Das Netzwerk wurde 1993 als Koordinations- und Informationsstelle der in der BRD aktiven Kuba-Solidaritätsgruppen gegründet.
Der Band enthält zahlreiche Faksimiles von Originaldokumenten. Die 22 Kapitel sind mit prägnanten Zitaten aus Gedichten, Liedtexten und Ansprachen tituliert. Sie benennen zugleich wichtige Etappen der Solidaritätsarbeit: „Seien wir Realisten – versuchen wir das Unmögliche!“, heißt es da ebenso wie „Die Mühen der Berge haben wir hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebene“.
Ausgangspunkt des Buches ist die prekäre Lage Kubas, die Anlass zur Gründung des Netzwerks gab. Mit dem Ende der realsozialistischen Staaten Osteuropas fielen plötzlich Handelspartner für Kuba weg. So sank der Außenhandel um 85 Prozent, und viele Importgüter waren nicht mehr zu beschaffen. Zugleich verschärften die USA ab 1992 nochmals ihre aggressive Politik gegen Kuba. Aufgrund dieser Bedrohung schlossen sich dutzende Solidaritätsgruppen zusammen und stellten ideologische Differenzen hintan. Dies ist in der linken politischen Kultur nicht selbstverständlich. Gleichwohl gab es immer wieder Diskussionen, in denen von differenten Standpunkten zu klären war, welches Verhältnis zwischen materieller und politischer Solidarität besteht, ob kritische Solidarität sinnvoll ist, welche gesellschaftlichen Kräfte einzubeziehen sind oder welche Aktionen und Themen mit Priorität zu verfolgen sind.
Aber das Buch ist keine simple Auflistung von Fakten. Vielmehr „erzählen“ die Beschreibungen in Kombination mit den zahlreichen Dokumenten und Fotos teilweise sehr lebendig, in welchen Kontexten die Solidaritätsarbeit erfolgte und wie vielfältig sie war. Es berichtet auch davon, welchen Wandel in Relation zu den Weiterentwicklungen in Kuba die Netzwerk-Arbeit erlebte, wie konstruktiv die Kooperation mit den kubanischen Institutionen und wie groß letztlich die gemeinsame Basis des Netzwerkes war und ist. In manchen Dokumenten – wie bei den Reden Fidel Castros – lässt sich erahnen, dass diese Zusammenarbeit ihr Vorbild in der Politik Kubas hat. Die Beschreibungen der Autoren sind erfreulich neutral, da werden keine subjektiven Standpunkte innerhalb des Netzwerks formuliert.
Die Quintessenz des Buches besteht darin, dass die „Vielfalt“ so wertvoll war und die Aktivitäten des Netzwerks ermöglichten, dass diese aber auch zukünftig die Basis für erfolgreiche Solidaritätsarbeit bilden wird. Die Autoren resümieren: „Das NETZWERK CUBA – Informationsbüro – e.V. hat sich in die Annalen der nationalen und internationalen Cuba-Solidaritätsbewegung eingetragen und nimmt dort einen ehrenhaften Platz ein. Nicht nur, wie im vorliegenden Fall, als Objekt historischer Betrachtungen, sondern zugleich als handelndes Subjekt. Es gibt also keinen Grund, sich auszuruhen – der Kampf geht weiter.“

Hammer, Heinz-W./Schwitalla, Frank // Solidarität – Die Zärtlichkeit der Völker. 20 Jahre NETZWERK CUBA – Informationsbüro – e. V. // Papyrossa Verlag // Köln 2013 // 246 Seiten, zahlr. Abb. // 12 Euro // www.papyrossa.de

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