Wahltriumph für die Regierung

Von der im Wahlregister erfaßten knappen Million JamaicanerInnen beteiligten sich lediglich 58 Prozent an der Wahl. Über 100.000 ließen sich Schätzungen zufolge nicht einmal registrieren. Ausdruck eines weitverbreiteten Desinteresses an einer Wahl, in der sowohl die PNP als auch die Oppositionspartei Jamaican Labour Party (JLP) mit nahezu identischer neoliberaler Programmatik antraten. Ungeachtet der zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wird die PNP, bestärkt durch das Wahlergebnis und verbesserte Wirtschaftsdaten, das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktierte Liberalisierungsprogramm fortsetzen.
Wenigstens das Vorhaben, soziale Probleme verstärkt anzugehen, und der bereits praktizierte Versuch, die unpopuläre Politik auf Bürgerversammlungen vor Ort transparent zu machen, unterscheidet die PNP im Positiven von der JLP. Dieser maßgeblich auf Patterson zurückgehende neue Politikstil hat seit seinem Antritt als Nachfolger von Präsident Michael Manley (LN 215) für einen Simmungsumschwung in der Bevölkerung gesorgt, der nun in dem überwältigenden Wahlsieg gipfelte.

Wahlgeschenke, Patterson-Style: Steuern runter, Löhne rauf

Überrascht waren auf Jamaica über die vorgezogenen Wahlen am 30. März nur wenige. Spielte der alte und neue und zudem erste schwarze Ministerpräsident Jamaicas, P. J. Patterson, doch schon seit einer im November 1992 veröffentlichten Meinungsumfrage mit dem Gedanken, seine Präsidentschaft von den WählerInnen bestätigen zu lassen. Sieben Monate zuvor war er zum höchsten Staatsamt nur aufgrund einer Mehrheit bei den Parteitagsdelegierten der PNP gelangt – die Bevölkerung bevorzugte damals eindeutig die Arbeitsministerin Portia Simpson (siehe LN 215). Die Meinungsumfrage des renommierten Meinungsforschers Carl Stone, der seit Mitte der siebziger Jahre alle Wahlen korrekt prognostizierte, offenbarte nach zwei Jahren erstmals wieder eine wachsende Zustimmung für die PNP, bei gleichzeitigem Sympathieverlust für die konservative JLP. Um die von den Befragten bezeugte Gunst zu erwidern, wurden mit Beginn des Jahres 1993 diverse vetrauensverstärkende Maßnahmen vorgenommen.
Vor dem Beginn der Wahlkampfphase, die von Patterson zur Gewalteindämmung auf drei Wochen reduziert worden war, schnürte die Regierung ein auf Wahlstimmen abzielendes Paket von Maßnahmen. Dieses beinhaltete eine Senkung des Einkommenssteuersatzes von 33,3 auf 25 Prozent, eine Erhöhung des diesbezüglichen Freibetrags sowie bis zu 160-prozentige Zollsenkungen beim PKW-Import. Ferner wurde ein Sraßenbau- und Straßeninstandsetzungsprogramm in Höhe von 20 Millionen US-Dollar und kräftige Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor beschlossen. Vor allem der als Wahlklientel umkämpfte Mittelstand profitiert von diesen Maßnahmen, während die Unterschicht weder die Möglichkeit hat, Autos zu importieren, noch mit ihrem Einkommen in zu besteuernde Kategorien fällt.

Wahlkampf im Zeichen der Hautfarbe

Zum ersten Mal in der bald 50jährigen Geschichte der parlamentarischen Demokratie auf Jamaica standen sich nicht zwei weiße Präsidentschaftskandidaten gegenüber. Waren Wahlen bis 1967 gar eine reine Familienangelegenheit zwischen Alexander Bustamente und seinem Vetter, Norman Manley, so bestimmte ab 1972 das ewige Duell zwischen Normans Sohn Michael und dem in den USA geborenen Edward Seaga das politische Geschehen auf Jamaica.
Mangels programmatischer Differenzen spielte die Hautfarbe der Kandidaten nun eine wesentliche Rolle im Wahlkampf. Eigens hierfür kreierte Reggae-Lieder mit Inhalten wie “To be young, gifted and black” (“Jung, begabt und schwarz”) und “My Leader born ya” (“Mein Anführer ist hier geboren”) sollten der zu fast 90 Prozent schwarzen Bevölkerung vermitteln, daß sie erstmals Gelegenheit hätte, einen schwarzen, auf der Insel geborenen Jamaicaner zu wählen. Für das Wahlverhalten der JamaicanerInnen ausschlaggebender, dürfte indes der von Patterson seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr verfolgte bürgernahe Politikstil sowie das Abbremsen des jähen Kursverfalls des Jamaica-Dollars seit 1989 sein.

Ein neuer politischer Stil

Pflegten Michael Manley und Edward Seaga BürgerInnenkontakt lediglich zu Wahlkampfzeiten, so hält P. J. Patterson auch in Zwischenwahlkampfzeiten selbigen aufrecht. Öffentliche Treffen vor Ort und im ganzen Lande, bei denen die TeilnehmerInnen ihre Kümmernisse äußern können und der Ministerpräsident selbst seine Politik zu übermitteln sucht, brachten ihm den Ruf eines Demokraten ein, der “dem Volk zuhört”.
Zudem ist seine Politik auf Kompromisse statt auf Konfrontation ausgerichtet. Nach dem parteiinternen Machtkampf um die Nachfolge Michael Manleys integrierte er seine RivalInnen Portia Simpson und Hugh Small in seine Regierungsmannschaft. Bei der Bekämpfung von nationalen Mißständen, insbesondere der Kriminalität, fördert er Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinaus. Daß bei der Bekämpfung der Kriminalität die gutsituierten “Schreibtisch-Kriminellen” polizeilich erstmals ernsthafter verfolgt werden, ist ebenfalls eine Neuerung, die ihm Sympathiepunkte bei der Bevölkerung einbrachte, so daß er inzwischen als der populärste Politiker gilt.

Ökonomische Krise abgebremst

Bei seinem Amtsantritt im vorigen März war P. J. Patterson mit einer anhaltenden Wirtschaftskrise konfrontiert. Ihren Ausdruck fand die Krise in einem rapiden Wechselkursverfall und immer schneller steigenden Inflationsraten. Seit Michael Manley nach seinem Wahlsieg 1989 eine forcierte Liberalisierungspolitik vorantrieb, verfiel der Wechselkurs von 5,5 Jamaica-Dollar zu 1 US-Dollar auf fast 30 zu 1 im Mai 1992. Eine Folge der Freigabe der Wechselkurse, die seit September 1991 noch verstärkt wurde, als die Exporteure die Möglichkeit erhielten, Devisenkonten zu unterhalten und somit legal Kapitalflucht zu begehen. Der Wechselkursverfall verteuerte nun die Importe, was einerseits die Inflation im Inland ankurbelte und andererseits den Lebensstandard infolge steigender Lebenshaltungskosten gewaltig senkte. Während ein Mindestgehalt Ende der siebziger Jahre noch eine fünfköpfige Familie ernähren konnte, so reichte es 1992 gerade mal für eine Person.
Erst eine Initiative von Butch Stewart, Chef von Jamaicas größtem Devisenerwirtschafter, der Hotelkette “Sandals”, sorgte für Linderung. Bei fortlaufender Inflation fürchtete er ähnliche Unruhen wie bei den Anti-IWF-Riots 1985. Da die Hotelbelegung damals sprunghaft zurückging, wollte er drohendem Unbill diesmal rechtzeitig vorbeugen. Zu diesem Zwecke beabsichtigte Stewart ab dem 1. Mai 1992 1 Million US-Dollar wöchentlich an die Banken zu verkaufen, um die jamaicanische Währung zu stützen und andere DevisenerwirtschafterInnen zu gleichem anzuspornen.
Die Initiative zeigte vorerst Erfolg. 1992 stabilisierte sich der Wechselkurs bei 22,2 Jamaica-Dollars je US-Dollar. 1993 sank der Kurs erst leicht auf 24,3 zu 1. Die Wechselkursstabilität wirkte sich erwartungsgemäß inflationshemmend aus, da durch sie die Preise für Importe stabil blieben und die Inflation nicht mehr anheizten. So betrug die Inflationsrate 1992 nur noch 40 Prozent gegenüber 80 Prozent im Vorjahr. Diese verbesserten Daten wirkten sich positiv auf die einjährige Regierungsbilanz und die Wahlchancen Pattersons aus, wenngleich sie überwiegend nicht auf seine Politik zurückzuführen sind.

Ehrgeizige Ziele für die nächste Regierungsperiode

Die von Patterson für die nächsten fünf Jahre anvisierten Ziele sind hoch gesteckt. Die Wachstumsrate soll 1993 auf 3,5 Prozent hochgeschraubt werden, die Inflation auf eine einstellige Ziffer gedrückt und der Wechselkurs stabil gehalten werden. Weiter soll die Arbeitslosenrate im Verlauf der kommenden fünf Jahre von 20 auf 12 Prozent gesenkt werden.
Bei der trotz der Abwertungen chronisch defizitären Handelsbilanz Jamaicas wird die dauerhafte Verteidigung des Wechselkurses jedoch schwerfallen. Unlängst entstand der Verdacht, daß die Zentralbank über SubagentInnen auf dem Schwarzmarkt zu einem über dem offiziellen Kurs liegenden Preis US-Dollars aufkauft, um damit auf dem regulären Markt die eigene Währung zu stützen. So sind solche Praktiken derzeit Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Der offiziell mit dem Kauf von Devisen beauftragte Agent der Zentralbank soll demnach eigenständig SubagentInnen zur derlei ungesetzlichem Tun aufgefordert haben. Eine langfristig taugliche Strategie zur Wechselkursverteidigung wird darin allerdings wohl niemand sehen.
Soziale Aspekte sollen zukünftig verstärkt Berücksichtigung finden. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei dem Bildungswesen gewidmet werden. Die ins Auge gefaßte 60prozentige Lohnerhöhung für die LehrerInnen soll dabei ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wie sich diese Lohnerhöhungen, die bereits angesprochenen Steuer- und Importerleichterungen mit einem dem IWF versprochenen sinkenden Haushaltsdefizit vereinbaren lassen, bleibt offen. Zumindest bis zur Verabschiedung des nächsten Haushalts im Mai.

Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.

Verwirrung um Finanzstopp

Seit einem Jahr hat Nicaraguas Rechte in Parlamentspräsident und Ex-Contra-Führer Alfredo César einen neuen Wortführer. Spätestens seit die Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro im September 1991 einen von César eingebrachten und von der rechten Mehrheit des Parlamentes verabschiedeten Regierungsentwurf zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse stoppte, gilt Parlamentspräsident César als unumstrittener Führer der rechten Opposition zur Regierung.
Am 20. Mai verkündete César, er wisse von einem Brief, den 24 US-Abgeordnete an die Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro geschrieben hätten. Laut César enthielt dieser Brief den Vorwurf an die Regierung, die den USA gegebenen Versprechen nicht eingehalten zu haben. Namentlich: Armee und Polizei seien noch immer unter sandinistischer Kontrolle, die Umstrukturierung sei nicht weit genug gegangen. Sandinistische Unternehmen würden von den staatlichen Banken bei der Kreditvergabe bevorzugt, die mit US-Mitteln finanziert werde. Die USA würden nicht eine “Doppelregierung” mit den SandinistInnen finanzieren wollen, sondern die Politik der bei den Wahlen erfolgreichen “Nationalen Oppositions-Union (U.N.O.). Dies könne dazu führen, so César, daß die USA ihre Hilfe für Nicaragua überdenken könnten.
Die angesprochenen RegierungsvertreterInnen reagierten heftig. Heereschef Humberto Ortega erklärte vor dem Parlament, César betreibe einen Plan, um die ausländische Hilfe zu blockieren und die Regierung unter Druck zu setzen. Der Minister für Auslandskooperation Erwin Krueger betonte, daß die Banken ausschließlich nach finanzwirtschaftlichen Kriterien agieren würden. Außerdem sei es “in Nicaragua kein Verbrechen, Sandinist zu sein.”
Doch der Zug war bereits angefahren. In der “Washington Post” griff die ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Jeane Kirkpatrick, Césars Stellungnahmen auf. Kirkpatrick, zu Zeiten Präsident Reagans eine der vehementesten UnterstützerInnen der Contra, wiederholte damit ein Vorgehen, das in der Vergangenheit so oft geklappt hatte: Von den USA gestützte nicaraguanische PolitikerInnen werden als “authentische Stimmen” zitiert. Diese wiederum greifen die Kritik aus den USA auf, um ihre eigene Position zu stärken. Die Contra-Connections funktionieren noch.
Aber noch war nichts geschehen. Die Geschichte hätte als plumpe Provinzposse enden können, wäre nicht wenige Tage später dem Kongreßabgeordneten und Vorsitzenden des Unterausschusses für Auslandshilfe David Obey die Idee gekommen, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die bevorstehende Auszahlung von 100 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe an Nicaragua zu blockieren. Obeys Begründung: Das nicaraguanische Bankwesen habe im letzten Jahr zu große Verluste erwirtschaftet, die Hilfe sei mehr für den Import von Konsumgütern als für Investitionen ausgegeben worden. Gleichzeitig kündigte Obey an, die US-Regierung würde sich noch wundern, was alles am Bewilligungsausschuß scheitern könnte. Die Demokraten wollen insgesamt 1,2 Milliarden Dollar aus den Anträgen der Bush-Regierung für Auslandshilfe für das kommende Jahr streichen. Offenbar empfehlen sie sich so als zum Sparen fähige Partei – es ist Wahlkampf.
Ein weiterer Punkt: Nach dem Rücktritt des bisherigen US-Botschafters in Managua, Harry Shlaudeman, steht die Neubesetzung dieses Postens aus. Vorgesehen dafür ist Joseph Sullivan, der im Verdacht steht, in einen CIA-Deal während des nicaraguanischen Wahlkampfes verwickelt zu sein. Ein Betrag von 600.000 US-Dollar soll an den offiziellen Kanälen vorbei an die U.N.O. geflossen sein. Ein Parlamentsausschuß fertigte einen Untersuchungsbericht über die Vorwürfe an, der unmittelbar nach Abschluß als “streng geheim” klassifiziert wurde. Offenbar auch, um die Veröffentlichung dieses Berichtes zu erzielen, verfügte der Demokrat Obey die Sperrung der Gelder.
Damit sei Obey “voll in die Falle der Ultra-Rechten getappt”, kommentieren US-Solidaritätsgruppen diesen Vorgang. Es scheint tatsächlich, als ob die Gruppe der 24 Abgeordneten rechtzeitig von Obeys Plänen erfahren habe und Alfredo César informierte. Gemeinsam wurde dann ein propagandistisches Klima geschaffen, in dem es bei Bekanntwerden des Hilfestopps so scheinen mußte, als würden die “Warnungen” von César sich bewahrheiten.
In der öffentlichen Debatte in Nicaragua ist das auch genauso verstanden worden. Als Verantwortliche für die Mittelsperrung werden Alfredo César und der republikanische US-Senator Jesse Helms gesehen, der schon in der Vergangenheit bei Besuchen Violeta Chamorros in den USA auf eine härtere Gangart gegen die SandinistInnen gedrängt hatte.

Druck und Gegendruck

Der Zeitpunkt des Hilfestopps war auch deshalb entscheidend, weil das Geld dringend für eine im Juni fällige Zinszahlung an den Internationalen Währungsfonds benötigt wurde. Ein Ausfall dieser Zahlung hätte den Stopp weiterer internationaler Gelder bewirken können, der angesichts des hohen Finanzbedarfs zu Beginn der Regenzeit, wenn in der Landwirtschaft die Aussaat ansteht, katastrophale Folgen haben könnte. Zwar sind durch vorgezogene Finanzierungen aus anderen internationalen Quellen diese Gefahren zunächst abgewendet worden. Doch reagierte die nicaraguanische Gesellschaft prompt. Auf dem Schwarzmarkt schnellte der Dollarkurs, seit nunmehr fünfzehn Monaten stabil, von 5,15 auf 5,50 Córdobas pro Dollar nach oben. Supermarktketten brachen Stabilitätsabkommen mit der Regierung: Der Preis für Speiseöl stieg innerhalb kurzer Zeit um 15 %.
Die Regierung mobilisierte nationale und internationale politische Kräfte, um gegen den Stopp der Hilfe zu protestieren. Die zentralamerikanischen PräsidentInnen nutzten ihr lange geplantes Gipfeltreffen am 4. und 5. Juni, um die USA eindringlich zur Fortführung der Hilfe an Nicaragua aufzufordern. Zwei Tage zuvor hatten sich bereits die zentralamerikanischen Wirtschaftsminister “besorgt” über die Aussetzung der Hilfe geäußert.
Auch in Nicaragua kritisierten die meisten Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft den Schritt des Kongresses. Kardinal Obando y Bravo sprach sich für die Wiederaufnahme der Hilfe aus, ebenso wie der somozistische Bürgermeister von Managua, Arnoldo Aleman. Letzterer hat auch kaum eine andere Wahl, denn gerade seine Verwaltung ist eine der Hauptempfängerinnen von US-Hilfe.
Geteilter sind die Ansichten im nicaraguanischen Parlament. Ein von der Präsidentin eingebrachter Resolutionsentwurf wäre zunächst fast an der Weigerung von Parlamentspräsident César gescheitert, ihn überhaupt auf die Tagesordnung zu setzen. Aber auch in der Abstimmung schlossen sich nur 52 von 92 Abgeordneten der Erklärung an – große Teile der U.N.O.-Fraktion stimmten dagegen. Diese verfaßten stattdessen einen “offenen Brief” an Violeta Chamorro, in dem es unter anderem heißt:
Wir “wenden uns erneut an Sie, in tiefer Sorge über die außerordentlich ernste Lage, die in Nicaragua entstanden ist aufgrund des destabilisierenden und archaischen Verhaltens führender Mitglieder der FSLN, die nach wirtschaftlichen Vorteilen und wachsender Teilhabe an der Macht streben, und infolge der geduldigen und beschwichtigenden Haltung Ihrer Regierung gegenüber der FSLN. […] Das Verhalten Ihrer Regierung, die jedes Maß verloren hat, und über Präsidialminister Antonio Lacayo ständig und öffentlich politische Kontakte zu FSLN-Generalsekretär Daniel Ortega und dem Chef des Sandinistischen Volksheeres, General Humberto Ortega, pflegt, untergräbt die demokratische Grundordnung unseres Staates. […] All dies hat das demokratische Image Ihrer Regierung befleckt und ist der Grund für die Entscheidung des US-Kongresses, die die so notwendige internationale Hilfe für unser Land blockiert.” (Quelle: Monitor-Dienst 110/92)
Und wieder funktionierte das alte System: Offenkundig unter Bezugnahme auf diesen Brief, in dem an anderer Stelle vom “Entstehen einer neuen Diktatur in Nicaragua” die Rede ist, bewirkte der Rechtsaußen-Senator Helms mit einem Brief an die Führung der “US-AID”, die die Projekthilfe für Nicaragua kanalisiert, daß nunmehr auch diese einen Betrag von sechzehn Millionen Dollar gestoppt hat. Der nicaraguanische Minister Erwin Krueger zu Jesse Helms: “Er akzeptiert nicht, daß wir den Konflikt hier politisch und nicht militärisch gelöst haben, wie er sich das gewünscht hätte.

Trübe Aussichten

Bei Redaktionsschluß ist nicht abzusehen, wie das Dilemma enden wird. Zwar berichten Quellen, daß der 100-Millionen-Stopp bereits Anfang Juli aufgehoben werden könnte, doch ist dies bislang nicht bestätigt. Hält die Aussetzung an, muß befürchtet werden, daß die Inflationsbekämpfung, einzig sichtbarer Erfolg der Chamorro-Wirtschaftspolitik, bald zusammenbrechen wird. Schließlich basiert die Stabilität des Córdobas nicht auf einer gefestigten Produktion, sondern auf der Finanzierung der Währung durch internationale Gelder. So hat Finanzminister Pereira auch schon angekündigt; wenn die Hilfe ausbliebe, müßten Steuern erhöht und öffentliche Investitionen gestoppt werden. Seine Beschwichtigung klingt jedoch fast zynisch: “Wir werden die geplanten 5 % Wachstum nicht erreichen, aber die Situation wird nicht viel schlechter.” Vielleicht hat er recht: Viel schlimmer kann’s nicht mehr werden. Und doch bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Ein nicht zuletzt aus taktischen Gründen des US-Wahlkampfes unternommener Schritt bringt die Stabilisierungsbemühungen eines ganzen Landes ins Wanken.
Wer politisch als Sieger aus dem Konflikt vorgeht, ist noch nicht ausgemacht. Wieder rücken Regierung und FSLN gegen die Hardliner der U.N.O. enger zusammen, doch hat die Kritik an dieser “Doppelregierung” neue internationale Foren gefunden. Ob sich der Versöhnungskurs gegenüber den SandinistInnen, der zur Durchsetzung des neoliberalen Modelles notwendig ist, angesichts dieser Anfeindungen wird halten können, steht permanent zur Disposition. Schon kursieren Gerüchte, die nicaraguanische Rechte plane die Durchführung einer Volksabstimmung über Neuwahlen noch vor Ende der Legislaturperiode 1996.

Auf dem Weg nach Rio

Die panamaische Regierung konnte gar nicht genug betonen, welche Ehre dem Land mit dem Besuch des US-Präsidenten und seiner Frau zuteil wurde, und unter Federführung der Bürgermeisterin der Hauptstadt, Mayín Correa, wurde ein öffentliches Spektakel auf einem zentralen Platz, der Plaza Porras, organisiert. Die öffentlichen Bediensteten hatten frei bekommen, um zum Fähnchenschwenken bereitzustehen – immerhin herrschte keine Anwesenheitspflicht, was einer der Vorzüge der Demokratie vom Dezember 1989 ist.
Im Vorfeld des Besuches wurde deutlich, daß nicht alle Panameños/as die Einschätzung ihrer Regierung zum Besuch des Befehlshabers der Invasion teilten. Tage zuvor fanden Demonstrationen von SchülerInnen und StudentInnen statt, mit Straßensperren und verbrannten Autos. Auf das Wachhäuschen einer US-Kaserne wurden Schüsse abgegeben, und am Tag vor Bushs Besuch starb ein US-Soldat im Kugelhagel einer AK-47, während sein Mitfahrer schwer verletzt wurde. Den US-Militärs und ihren Familien wurden daraufhin Ausgangsbegrenzungen auferlegt.

Ambivalente Haltung zu den USA

Die Einstellung vieler Panamaños/as zu den USA ist ambivalent, nicht erst seit der Invasion. Auf der einen Seite existiert die Geschichte einer jahrzehnte- und jahrhundertelangen Erniedrigung, der Versuch, das Selbstbewußtsein einer eigenständigen Nation zu erlangen und dabei immer wieder mit Gewalt oder “gesetzlich” vom Imperium in die Schranken gewiesen zu werden. Selbst die Kanalverträge Torrijo-Carter, gegenwärtig der Prüfstein sowohl der panamaischen als auch der US-Regierung, sieht weitgehende Eingriffsmöglichkeiten der USA vor.
Auf der anderen Seite wird unterschwellig die Macht bewundert, die Vorbild für Technik und Konsum ist. Wichtig sind die politischen Interessen, die in der panamaischen Geschichte in der bewaffneten US-Präsenz immer wieder die beste Garantie zur Erhaltung des Status Quo sahen, und natürlich das Kalkül einzelner, daran zu verdienen.
Die Invasion hat diese Ambivalenz bei vielen noch vertieft. Zum einen wurde die Invasion begrüßt, da sonst kein Ausweg aus der innen- und außenpolitischen Sackgasse gesehen wurde. Mit schaudernder Bewunderung wurde nach der Invasion auch von deren GegnerInnen über den erstmaligen Einsatz der Stealth-Bomber gefachsimpelt. Zum anderen leiden viele unter der Arroganz der Macht, dem Bewußtsein, wer die eigentlichen Herren im Lande sind, verstärkt durch die Schwäche der Regierung Endara. So warnten denn auch durchaus regierungsnahe Zeitungen, ein öffentlicher Akt wie der auf der Plaza Porras sei zu riskant und müßte von vielen als Provokation angesehen werden.

Rohrkrepierer

In der Tat versammelten sich einige Hundert GegendemonstrantInnen in den der Plaza Porras benachbarten Straßen, um gegen den Besuch Bushs zu protestieren. Die verschiedenen panamaischen Polizeistellen und Bushs Bodyguards hatten um den Platz herum, der nur über drei kontrollierte Zugänge zu betreten war, massiv Stellung bezogen. Jedoch erst als die GegendemonstrantInnen dem Platz sehr nahe kamen, griff die Polizei ein – mit Tränengas. Der Tränengaseinsatz erfolgte somit praktisch auf dem Platz selbst, und die Windverhältnisse taten ein Übriges dazu, alle Personen auf dem Platz, unabhängig von politischer Überzeugung und Nationalität, mit Schwaden zu überziehen. Bürgermeisterin Correa begann gerade die ersten Sätze vom warmen Empfang des Präsidenten von sich zu geben, da begannen die Ersten schon, sich die Augen zu reiben. Auch das Publikum wurde unruhig, Panik kam auf. Brüsk brach die Bürgermeisterin ihre Rede ab, und unter gezogenen Waffen ihres Sicherheitstrupps zogen die tränenden Bushs in gepanzerten Limousinen von dannen – des Präsidenten Rede, mit der er die Panameñas/os zu Demokratie und Aufschwung beglückwünschen wollte, blieb ungehalten. Zum Ausgleich ließ er sich dann in der US-Basis Albrook von seinen Landsleuten bejubeln.

Die späte Rache des Generals?

Die offizielle Einschätzung auf US- und panamaischer Seite war eindeutig: Die Randale von kleinen Gruppen von Linken und AnhängerInnen Noriegas könne nicht die Freundschaft und den Zusammenhalt der Völker beeinträchtigen. Die Panameñas/os fragen sich allerdings zugleich, wie es zum Eklat auf der Plaza Porras kommen konnte: War es einfach ungeschicktes Verhalten der Polizei, war es der Wind, der Bush präventiv für sein Verhalten in Rio bestrafte, oder haben die PolizistInnen, die mehrheitlich aus Noriegas Fuerzas de Defensa (Verteidigungskräfte) stammen, gezielt die öffentliche Veranstaltung des Befehlshabers der Invasion gestört? Es werden – wie üblich – Konsequenzen gefordert, Köpfe sollen rollen. Es besteht nur noch keine Klarheit darüber, welche. Bushs Punktesammeln in Panama, zu dem ihm seine WahlmanagerInnen geraten, vor dem seine Sicherheitsleute jedoch gewarnt hatten, endete jedenfalls in Tränen. In den Meinungsumfragen wird der Ausgang der Veranstaltung auf den Plaza de Porras breit verurteilt; aber bei vielen Panameños/as ist ein bißchen Genugtuung zu spüren. Wie gesagt, ein ambivalentes Verhältnis.

“Weniger Staat – mehr Gerechtigkeit”

Salinas nähert sich der Halbzeit seiner Amtszeit, und schon jetzt ist deutlich geworden, daß selten zuvor ein mexikanischer Präsident so viele Weichen für tiefgreifende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Sektoren gestellt hat wie er. Mit der Privatisierung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft (Banken, Telekommunikation und rentable Unternehmen, wie z.B. der Kupfermine Cananea) sowie die weitere Öffnung der Tore für ausländische Investoren bzw. Investitionen (einschließlich in der Erdölindustrie), werden radikale Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen vorgenommen. All diese Schritte bedeuten eine klare Abwendung von der bisherigen mexikanischen Politik, in der der Staat oder seine Institutionen einerseits die Kontrolle über die Schlüsselsektoren hatten und andererseits die wirtschaftliche Entwicklung mitbestimmten. Erklärtes Ziel dieser Politik ist erstens die Vereinheitlichung der Strukturen mit denen der US-amerikanischen Wirtschaft. Dies ist für Salinas einer der entscheidenden Schritte, um sein historisches Projekt, die Bildung einer Freihandeiszone mit den USA bzw. Kanada, zu verwirklichen. Zweitens soll das Vertrauen der ausländischen und mexikanischen Privatwirtschaft in das Land verstärkt werden. Mexiko hat inzwischen Brasilien von Platz 1 auf der Liste der lateinamerikanischen Länder mit den höchsten ausländischen Investitionen verdrängt. Und drittens soll die Privatisierung der staatlichen Unternehmen die materielle Basis der alten PRI-Bürokratie treffen, die einen Teil ihrer Existenz auf die Nutznießung dieser Unter- nehmen baute. Mit der Schwächung der alten Garde der Partei (die “Dinosaurier”) sollen vor allem die traditionellen Gewerkschaften innerhalb der PRI getroffen werden. Hier befinden sich auch die meisten GegnerInnen der Privatisierungspolitik von Salinas, nicht zuletzt weil diese von einer Reform der PRI begleitet wird. Der letzte Parteikongreß Ende letzten Jahres verabschiedete denn auch eine Reform der Partei. Diese schränkt die Möglichkeiten der drei Volkssektoren innerhalb der PRI (Gewerkschaften. BauerInnen und Volksorganisationen) bei der KandidatenInnenaufstellung für die Gemeinde und Gouverneurswahlen ein. Die Hegemonie der neuen Führungsgruppe (Technokraten) innerhalb der PRI, die schon unter de la Madrid deutlich wurde, wird dann nicht mehr gestärkt sein.
Salinas’ Modernisierungs- bzw. Privatisierungspläne schaffen nicht nur innerhalb der Partei GegnerInnen, sondern ebenso bei einem Großteil der Bevölkerung. Einerseits konnte die Inflation unter Kontrolle gebracht werden (1990 lag sie bei 30% und 1989 bei 19,7%) und 1990 erzielte die mexikanische Wirtschaft ihre größte Wachstumsrate (3,9%) seit 9 Jahren. Andererseits liegt des Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 14% unter dem von 1981 und 8,4% unter dem von 1983. Fast die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Diese Pläne werden nämlich von einer Politik des Einkommens- und Lohnver- falls begleitet, die die Abwertung der mexikanischen Arbeitskraft fortsetzen wird. In Mexiko liegt der Mindestlohn mit 1/57 US$ pro Tag unter dem von Korea, Singapur, Hongkong und Taiwan.

Seit 1940 die Erdölindustrie verstaatlicht wurde und dies als ein Akt von nationaler Souveränität in die Geschichte Mexikos einging, hat kein mexikanischer Präsident es gewagt, die Verstaatlichung rückgängig zu machen. Jüngst, vor allem im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA, stellte die mexikanische Presse die Frage, ob auch die Privatisierung von PEMEX am Verhandlungstisch behandelt werde. Der mexikanische Präsident hat dies bisweilen vehement verneint. Inzwischen soll er auf diese von JournalistInnen gestellte Frage schon allergisch reagieren. Diesem Präsidenten traut man/frau inzwischen alles zu. Der politische Preis könnte jedoch zu hoch sein. So ließ sich Salinas etwas einfallen womit er die mexikanische Verfassung unterlaufen konnte. Dort ist die Verstaatlichung der PEMEX festgeschrieben.
Daran soll zwar nichts verändert werden, doch hat die mexikanische Regierung die Tore für ausländische Investitionen in diesem Sektor weit geöffnet. Das “schwarze Gold” selbst soll mexikanisch bleiben, während die Förderung durch- aus mit Hilfe von US-Firmen realisiert werden soll. So hat die mexikanische Regierung einen US-Kredit in Höhe von 5,6 Mrd US$ von der Eximbank erhalten, mit deren Hilfe technische Mittel aus den USA angeschafft werden und die Erdölförderung mit US-Hilfe realisiert werden soll. Damit werden die ausländischen Investoren ihren Einfluß auf PEMEX verstärken können. Daß auch dieser Schritt äußerst gewagt war, zeigt die Tatsache, daß dieses Vorhaben der Öffentlichkeit möglichst verschwiegen werden sollte. Anfang Februar wurde der stellvertretende Energieminister Escofet Artigas gefeuert, weil er das Vorhaben der Regierung, PEMEX für ausländische Investitionen und Investoren zu öffnen, publik machte.
Im Zusammenhang mit der Öffnung der Tore von PEMEX für das ausländische Kapital sollte nicht vergessen werden, daß eines der ersten Schritte in der Regierungszeit von Salinas die Verhaftung des Vorsitzenden der Erdölarbeitergewerkschaft (STPRM) La Quina war. Seine kritische Haltung gegenüber Salinas und seine Sympathie für den Oppositionsführer Cárdenas hätten eine zu große Bedrohung für Salinas’ Politik darstellen können.

Vollzogen wurde im Februar diesen Jahres die Privatisierung der mexikanischen Telefongesellschaft (TELMEX). Dieser Schritt zeigt die Entschlossenheit und das politischen Geschick, mit der Salinas seine Politik umsetzt. Gerade bei Telmex stellt sich die Frage, wieso auch höchstrentable staatliche Unternehmen verkauft werden. TELMEX war nach PEMEX das wichtigste und größte staatliche Unternehmen. Es stand 1990 auf Platz 31 auf der Liste der größten Unternehmen Lateinamerikas. Somit zeigt sich, daß vor allem die Privatwirtschaft weiter gestärkt und ausländische Investoren angelockt werden sollten. Die Mehrheitsanteile der TELMEX wurden unter das mexikanische Konsortium “Grupo Carso”, an die “Southwestern Bell Co. aus den USA und an die “Telecom” aus Frankreich aufgeteilt. Die Privatisierung von TELMEX hatte außerdem noch einen wohlüberlegten Nebeneffekt. Sie stärkte nämlich die Position der Telefonarbeitergewerkschaft (STRM). Sie gehört dem Dachverband der dem öffentlichen Sektor angehörenden Gewerkschaften FESEBES (Federación de Sindicatos de Empresas de Bienes y Servicios) an. Dieser wurde gegen den Willen von dem Führer des mexikanischen Gewerkschaftsverbandes (CTM), Fidel Velázquez, und mit Unterstützung von Salinas in den Arbeiterkongreß (CT) aufgenommen. Die Strategie der FESEBES, ist es die Notwendigkeit einer Modernisierung und Flexibilisierung der Industrieproduktion anzuerkennen, gleichzeitig eigene qualitative Politikkonzepte für eine Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsbeteiligung zu entwickeln, sowie die Beziehung zur Staatspartei PRI zu lockern, ohne jedoch den Rahmen staatlich vermittelter Sozialpakete zu verlassen.

Der Noriega-Prozeß im Vorlauf

Die beiden Angeklagten, der Immobilienhändler Brian Davidow aus Miami und der kolumbianische Yachtvermieter William Saldarriga, wurden der Verschwörung und des Schmuggels von 732 Pfund Kokain schuldig befunden, ihnen drohen Gefängnisstrafen bis zu 30 Jahren. Im Tausch für die Drogen sollen Davidow und Saldarriaga, so die Anklage, der kolumbianischen Guerilla rund 1.000 M-16-Gewehre beschafft haben – ein Deal, bei dem Noriega tatkräftig mitgeholfen haben soll.
Das Verfahren gegen die ersten Angeklagten im “Noriega-Komplex” beschrieb die liberale Washington Post allerdings als “full of mystery”. In dem wohl spektakulärsten “Zwischenfall” des Prozesses stirbt am 27. Februar der von der US-Regierung als “Star-Zeuge” aufgebaute Drogenhändler Ramón “El Turco” Navarro bei einem Verkehrsunfall, just einen Tag bevor die Zeugenanhörungen beginnen sollten. Die Zeugen – darunter sieben verurteilte Drogendealer und vier Gefängnisinsassen – würden einer “Galerie der Unterwelt” Ehre machen, befindet die Post. Und die meisten der Angeklagten können als “Kronzeugen” mit ihren Aussagen und der fleißigen Belastung der Mitangeklagten – insbesondere Noriegas natürlich – ihr eigenes Los erheblich erleichtern.
So ist es kein Wunder, daß in den Zeugenaussagen der dreiwöchigen Verhandlungen in Miami immer wieder der Name Noriega fiel. Und dies ist offensichtlich ganz im Sinne der Washingtoner Politiker: Für die Anklage gegen Noriega, er habe für 4,6 Millionen Dollar Bestechungsgeld vom Drogenkartell in Medellín Panama in ein Drogen-Eldorado und die Drehscheibe der Kokainlieferungen in die USA verwandelt, ist die juristische Beweislage alles andere als üppig; und so wird der für den 24. Juni angesetzte Prozeß gegen Noriega selbst wohl ganz wesentlich mit diesen Aussagen aus den vorgeschalteten Verfahren gegen “kleine Fische” wie Davidow und Saldarriaga bestritten werden.

Ökoterrorismus als Befriedungsstrategie

Der Umweltkrieg wird in Guatemala auf direkte und indirekte Weise betrieben. Die direkte Form ist der sogenannte Kampf gegen den Drogenanbau. Guatemala ist das Extrem-Beispiel für US-unterstützte Sprühaktionen aus der Luft, die sich offiziell gegen Drogenanbaugebiete richten, tatsächlich aber Langzeit-Anti-Guerilla-Strategie sind. Seit Frühjahr 1987 werden diese Einsätze geflogen, seit 1989 begleitet von vietnamerprobten Kriegshubschraubern. Ein Großteil der Gebiete, in denen Sprüheinsätze geflogen werden, sind geographisch und klimatisch für den Mohn- und Marihuana-Anbau ungeeignet. Aufschlußreich bezeichneten RegierungssprecherInnen die Einsatzgebiete selber als “Konfliktzonen”. Diese Regionen sind Hauptoperationsgebiete der Guerilla. Dies verdeutlicht die eigentliche Absicht der Pestizidbombardements. Mit den Entlaubungseinsätzen soll der Guerilla der natürliche Schutz, durch andere Giftbesprühungen die Nahrungsgrundlage entzogen werden. Deswegen besprüht das Militär gezielt auch die Felder der Zivilbevölkerung.
Bei den Sprühaktionen wurden die Pestizide Glyphosate und 2,4 D in stärkerer Konzentration als in den USA erlaubt verwendet. Dies hat den aus Vietnam bekannten “Agent-Orange-Effekt”, der Krebs und Mißbildungen bei Neugeborenen provoziert. Außerdem wurden das die Parkinson’sche Krankheit verursachende Paraquat, Manathion, EDB, 2,4,5-T und Methylparathien verwendet. Wenn diese Gifte in die Umwelt gelangen, verseuchen sie Wasser, Nutzpflanzen und -tiere, und es kommt zu akuten Pestizidvergiftungen bei Menschen, die in häufigen Fällen zum Tod zumindest aber schweren Erkrankungen der Atemwege und Verdauungsorgane führen. Zusätzlich zu diesen chemischen Verwüstungen wurden im Norden Guatemalas 1500 Hektar des Petén durch Napalmbombardements zerstört.

Maisanbau-Verbot und chemische Keule

In indirekterer Form tritt der Ökoterror beim Anbau nicht-traditioneller Agrarexportgüter auf. Anstelle von Produkten wie Bohnen, Chili, Tomaten und vor allem Mais, müssen jetzt Broccoli, Erd- und Himbeeren, Spargel, Rosenkohl etc. angebaut werden. Diese werden in unzähligen Modelldörfern angepflanzt. Dort wird seit Anfang der 80er Jahre ein großer Teil der Bevölkerung zwangsangesiedelt, der der “Politik der verseuchten Erde” zum Opfer fiel. Hier wird ideologisch und agrarpolitisch nach westlichen Vorstellungen gesät.
Geplant wurden diese Lager mit Hilfe israelischer Militärberater. Große finanzielle Unterstützung haben sie vor allem von US-amerikanischen und bundes¬deutschen Entwicklungsorganisationen (AID und COGAAT – “Guatemaltekisch-Deutsche Zusammenarbeit Lebensmittel gegen Arbeit”). Die Lager stehen unter strikter militärischer Kontrolle. Die Indígenas arbeiten hier in Food-for-Work-Programmen. Das heißt, sie sind in keiner Weise am Ertrag beteiligt. Von Anfang an haben die Militärs in den Modelldörfern den Anbau von Mais sowie anderer traditioneller Produkte verboten. Dadurch entziehen sie den Indígenas die Möglichkeit zur Selbstversorgung. Mittlerweile importiert Guatemala Mais aus den USA. Das Verbot, Mais anzupflanzen, erfüllt für die Militärs einen doppelten Zweck: Zum einen erzielen sie mit den statt dessen angebauten Produkten bes¬sere Preise auf dem Weltmarkt. Zum anderen bringen sie die indianische Bevölkerung in eine völlige wirtschaftliche Abhängigkeit und versetzen der Ideologie und Kultur der “Maismenschen” einen empfindlichen Schlag.
Um dem Land die “exotischen Früchte” zu entreißen wird es – wie auch bei der Drogenbekämpfung – mit Pestiziden traktiert. Zu 98 Prozent sprühen die PflanzerInnen nach dem Kalendersystem. Das heißt, ohne abzuwarten, daß sich Schädlingskulturen bilden, und diese dann zu vernichten, sondern sozusagen vorbeugend. Das Kalendersprühsystem ist Hauptursache für exzessiven Pestizidgebrauch und der daraus resultierenden Schädlingsresistenz. Darüberhinaus werden auch die natürlichen Feinde der Schädlinge mit zerstört. Zehn Prozent der BäuerInnen verwenden Pestizide, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als extrem giftig eingestuft werden. Mindestens sechzehn der verwendeten Pestizide stehen im Verdacht, Mißbildungen, Krebs, Organschäden und andere chronische Krankheiten hervorzurufen. Die WHO stellte bei Muttermilchuntersuchungen an Frauen von der Südküste Guatemalas die höchsten Werte des krebserzeugenden DDT fest, die jemals bei Menschen ge¬messen wurden.
Die Pestizidrückstände bei den Agrarprodukten sind teilweise so hoch, daß die USA den Import verbieten. Die – englischen! – Warnungshinweise auf den Verpackungen der Pestizide sind für die mit Anbau und Ernte beschäftigten ArbeiterInnen völlig nutzlos. Weder können sie sie lesen, noch haben die Arbeitgeber irgendein Interesse daran, sie auf die Gefährlichkeit der Pestizide aufmerksam zu machen. Um die Gewinnspanne aus den Exporten so hoch wie möglich zu halten, wird munter zwölf Monate im Jahr das Gift gesprüht. Das Land kommt nicht mehr dazu, sich zu erholen, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann sich das “Land des ewigen Frühlings” in das “Land der ewigen Sommerdürre” verwandelt. Ganz zu schweigen von den Tausenden GuatemaltekInnen, die in bewährter, jahrhundertealter Tradition ihr Land bestellen könnten, ohne mit jedem Atemzug giftige Chemikalien aufzunehmen, wären sie nicht in den sogenannten “Befriedungsprozeß” gezwungen.
Quelle: cerigua

Der Krieg ohne Öffentlichkeit

Kolumbien: Die Mauer von Medellín

Hinter der Nationaluniversität beginnt das andere Me¬dellín, das der barrios populares: unvollendete Hütten ohne Strom und Wasserversorgung, eingeschlagene Fensterscheiben, aufgebockte Autos und die BewohnerInnen, meist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie nennen die Trennung zwischen Reich und Arm, zwischen Kommerz und Slums die “Mauer von Medellín”.
Pablo Escóbar, Chef des Kartells von Medellín, hat hier in den barrios Straßen, Häuser und sogar einen Sportplatz gebaut und gibt den Leuten Arbeit im Drogengeschäft: “Wenn dir hier jemand eine Arbeit anbietet, wenn du z.B. etwas basuco (umgangssprachlich für pasta básica de cocaina = Vorprodukt von Kokain) verkaufst und damit deiner Familie überleben hilfst, dann fragst du nicht, ob das legal oder illegal, moralisch oder unmoralisch ist. Mann, das kannst du dir gar nicht leisten, sonst macht jemand anders den Job und du hörst noch Vorwürfe, daß du faul seist usw.. Außerdem, hat irgendjemand von Moral geredet, als Escóbar Kongreßabgeordneter war und die Kartelle die politischen Kampagnen der Liberalen und Konservativen finanziert haben?”
Die staatliche Antwort auf die Machtposition des Kartells im Stadtviertel ist rein repressiv. Zum einen werden die barrios zu illegal besetzten Zonen erklärt und so von der Versorgung abgeschnitten, zum anderen findet eine Militarisierung des Gebietes statt. So wurden vermehrt sog. Centros de Atención Inmediata, CAIs, errichtet, feste Polizeiposten zur Verbrechensverhütung und -bekämpfung. Ein Sportplatz wurde von der 4.Brigade des Heeres als Stützpunkt besetzt. Drei Blöcke entfernt vom CAI im barrio 12 de octubre fand vor etwa einem Jahr ein Massaker in der Kneipe Billar Acapulco statt. Drei schwarze Wagen fuhren vor, fünf bis sechs in Zivil gekleidete Männer stiegen aus und eröffneten das Feuer auf die Gäste. AnwohnerInnen beschuldigen das für den Drogenkrieg gebildete Elitekorps der Nationalpolizei der Tat, das damit wieder einmal eine “soziale Säuberung” durchgeführt habe. Auf die Frage nach Beweisen für die Verwicklung der Polizei und anderer Sicherheitskräfte in solche Massaker entgegnet ein Sozialarbeiter: “Was nützt denn ein CAI, wenn drei Blöcke weiter ein Massaker stattfindet und die Polizisten, die die Schüsse und Schreie hören, nicht zu Hilfe kommen?” In einem Flugblatt der hier arbeitenden Organisationen werden zwischen Januar und August 1990 120 Tote in Medellín gezählt, die meisten in den barrios: “Welch ein -Widerspruch”, so das Flugblatt, “je mehr Polizei, Soldaten und Waffen, umso mehr Unsicherheit, Gewalt und Tote in Medellín.”
Die immer wieder reißerisch von den Massenmedien dargestellte unpolitische Bandenkriminalität haben die von den BewohnerInnen der barrios gebildeten Selbstverteidigungskomitees erfolgreicher uner Kontrolle, als die Polizei, zu der hier ohnehin niemand Vertrauen hat. Gegenüber der politischen Kriminalität der gekauften Killer fühlen sich die Menschen nur als Opfer der von oben inszenierten Gewalt. “Für die Menschen hier, die Armen der kolumbianischen Gesell¬schaft”, so eine Sozialarbeiterin, “ist dieser sog. Drogenkrieg der Regierung ein Krieg, der sie nichts angeht, in dem sie aber die meisten Opfer bringen.”
Es handelt sich um einen Krieg zwischen der traditio¬nellen kolumbianischen Oligarchie und dem Medellín-Kartell, das sich erlaubt hat, politische Teilhaber-Ansprüche zu stellen, deren Erfüllung einen Machtverlust der etablierten Eliten bedeuten würde. Alvaro Camacho Guizado, Drogensoziologe aus Cali, beschreibt das sich aus Angehörigen der Unterschicht rekrutierende Medellín -Kartell als “aufstrebende Bourgeoisie”, das der traditionellen Bourgeoisie und dem ihr entstammenden bzw. mit ihr verbundenen Cali-Kartell die politische und wirtschaftliche Macht streitig macht und deswegen bekämpft wird. So erklärt sich auch, daß polizeiliche Erfolge nur gegen das Medellín-Kartell zu verzeichnen sind; niemand spricht in diesem Krieg von den Kartellen von Cali, Bogotá oder der Küste.
Es heißt, es habe Verhandlungen auf höchster Ebene zwi¬schen Escó¬bar und der Regierung gegeben. Es mag dadurch in Medellín zeit¬weise ruhiger geworden sein. Es ist eine Ruhe für das Medellín der Privilegierten. In den barrios gehen die Exzesse des Elitekorps und der 4.Brigade weiter, es interessiert sich nur niemand mehr dafür.
Bolivien: Koka, was denn sonst?
Von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, aus sind es rund 200 km bis ins Herz des Chapare, der größten Kokaanbauregion des Landes, und zu dem aus einigen Häusern und Projekten des Fonds der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs (UNFDAC) bestehenden Dörfchen Chimoré.
In Isinuta, das etwa zwei Stunden nördlich von Chimoré liegt, findet die bolivianische Variante des US-Drogenkrieges statt. Offiziell spricht hier zwar niemand von Krieg, sondern von “integraler Entwicklung durch Substitution des Kokablattes” oder, so der Slogan der Koalitionsregierung Paz Zamora-Banzer, “Koka für Entwicklung”. Aber die Realität sieht anders aus: “Die Regierung”, so ein Bauer aus der Region, “nimmt uns auf den Arm. Seit drei Jahren sprechen sie von Substitution und versprechen uns Entwicklung. Wir warten vergeblich darauf.” Im Rahmen des “integralen Plans zur Entwicklung und Substitution” hat die Regierung pro zerstörtem Hektar Koka 2000 US$ bezahlt. Die campesinos haben auch Tausende von Hektar zerstört, aber Entwicklung in Form von rentablen Alternativprodukten blieb aus. “Statt Entwicklung”, so ein anderer Bauer, “findet Zerstörung statt.”
Bomben auf Straßen
Die Zerstörung läßt sich auf dem Weg nach Insinuta erkennen: große Schlaglöcher an den Wegrändern, zerstörte Häuser, herumliegende Gebäudeteile. Am 20.August des vergangenen Jahres hat UMOPAR, die bolivianische Landesdrogenpolizei, zusammen mit der US-amerikanischen Drogenbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) zuletzt die von den Bauern und Bäuerinnen als Verbindung hergestellte Straße bombardiert, weil, so ihre Version, diese “als Piste von Drogenhändlern genutzt werden kann.” KennerInnen der Region behaupten, die wirklichen Pisten lägen versteckt in dichtem Dschungel, aber man müsse nun einmal der US-Öffentlichkeit gewisse Erfolge im Drogenkrieg vorweisen. Die von der DEA geleisteten Entschädigungen in Höhe von 200 US$ reichen kaum für neue Dächer, geschweige denn für neue Häuser.
Doch die Bombardierungen sind nur ein Element der von der DEA dirigierten Politik. Die von der Menschenrechtsversammlung von Cochabamba dokumentierten Menschenrechtsverletzungen reichen von direkter Körperverletzung bis zu willkürlichen Verhaftungen. Zwei Beispiele:
– Am 15.8.1990 wurde der Busfahrer Lucio López Claros von der Drogenpolizei ohne Haftbefehl verhaftet und mehrere Stunden verhört. Danach wurde sein Haus einschließlich ihm nicht gehörender Räume durchsucht, schließlich wurden Fingerabdrücke genommen und eine schriftliche Erklärung angefertigt.
– Am 26.7.1990 wurde Víctor Soria Galvarro von der Drogenpolizei festgenommen, danach wurde eine Haussuchung durchgeführt. Bei der Protokollaufnahme auf der Wache wurde ihm bedeutet, daß er für 5000 US$, die von seiner Schwester, einer Apothekerin, in ihrer Apotheke übergeben werden sollten, freigelassen würde. Falls er dieses “Angebot” bekannt werden ließe, würde er erneut festgenommen und ins Gefängnis geworfen.
In vielen dieser Fälle werden einfache Bauern und Bäuerinnen als schwächstes Glied in der Drogenkette Opfer der Korruption in Poli¬zei und Militär. Wer mit Dollars oder pasta básica zahlen kann, wird laufengelassen, wer nichts hat, wird dem Richter übergeben.
Die im Ansatz richtige Substitutionsstrategie leidet aber nicht nur an den oft willkürlichen Verboten durch die DEA und die UMO¬PAR, sondern vor allem unter dem Fehlen wirklicher Produktionsalternativen für die Bauern. “Wir haben”, so Evo Morales von einer der Bauernorganisationen, “den politischen Wil¬len zur Kokareduzierung bewiesen. Die Regierung hat uns jedoch keine wirklichen und praktikablen Lösungen angeboten. Wir sind zur Zeit einfach gezwungen, Koka anzupflanzen, um zu überleben.” So gibt es auf fast jedem Hof in der Region neben den anderen Produkten wie Mais, Reis, Zucker, Kakao, Kaffee etc. ein bis zwei Hektar Koka als eine Art “Überlebensversicherung”, da die Kokapflanze leichter anzubauen ist und einen weit höheren Verkaufspreis hat. Dabei handelt es sich um ein rein marktwirtschaftliches Verhalten.
Trotzdem spricht das “Subsekretariat zur alternativen Entwicklung”, das dem Landwirtschaftsministerium untersteht, vom Erfolg der Substitutionspolitik. “Wir haben”, meint Rechtsberaterin Nancy Romero, “die gesteckten Ziele bei weitem übertroffen, was die Reduzierung angeht.” Das ist zwar richtig, doch gleichzeitig ist die Gesamtanbaufläche ständig gestiegen, was Romero auf weitere illegale Anpflanzungen zurückführt. “Nur wenn wir den Bauern mittels technischer und ökonomischer Hilfe reale Alternativen bieten, werden sie die Substitution unterstützen.” Damit appelliert sie an die Mitverantwortung der Industrienationen, denn nur sie können für eine profitable weltweite Vermarktung der Alternativprodukte sorgen, etwa durch direktere Vermarktungsmechanismen.
Peru: Im Gefängnis San Jorge in Lima
Vom nationalen Strafvollzugsinstitut (INP) geht man am Justizpalast vorbei durch La Victoria, ein unfreundliches Armenviertel mitten im Zentrum von Lima, und gelangt nach etwa 15 Minuten zum Gefängnis San Jorge. Das Tor wird von einem Mitglied der Guardia Republicana widerwillig geöffnet, der Ausweis eingezogen und das Tor wieder geschlossen. Da hilft es auch nichts, daß man vor¬her den Gefängnisdirektor angerufen hat und dies der Guardia mit¬teilt: Seit den Gefängnismassakern von 1986 ist die Guardia alleine für die “innere und äußere Sicherheit” der Gefängnisse zuständig, eine vom zivilen INP und Fachkreisen als “krasse politische Fehlentcheidung” des Ex-Präsidenten García charakterisierte Situation. So bedarf es großer Überredungskunst, um überhaupt zum Chef der Gefängnispolizei zu gelangen, der wiederum die Erlaubnis zum Eintritt in den Innenbereich erteilen muß.
Im Innenbereich mit Polizeibegleitung (zu wessen Sicherheit?) und ohne Kamera und Aufnahmegerät (warum so viel Mißtrauen?) sieht man das typische Bild lateinamerikanischer Gefängnisse: Überfüllung (bis zu acht Personen in einer Zelle), katastrophale hygienische Bedingungen, fehlende Waschgelegenheiten und unzureichende Wasserversorgung, mangelhafte medizinische Versorgung und Gefangene, die zu 80% nicht einmal verurteilt sind und sich – teils auf Hilfe hoffend, teils deprimiert – über die Situation beklagen. “Wir haben alle das Recht, glücklich zu sein”, so ein Gefangener, der wegen “illegaler Ausübung der Medi¬zin” in Untersuchungshaft sitzt: “Der Coronel, der mich festgenommen hat, wollte 5000 US$. Weil ich nicht zahlen konnte, bin ich hier. Seit 40 Tagen habe ich keinen Richter gesehen.” Jeder und jede prangert hier die Korruption an, als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre: “Wenn Du Geld hast, regelst du hier alles, du hast eine bessere Zelle, Frauen, Drogen und du kommst auch früher raus.” Der Satz ist stereotyp, findet auf alle in Kolumbien, Peru und Bolivien besuchten Gefäng¬nisse Anwendung: Ob “El Modelo” in Bogotá, das Frauengefängnis in Medellín, “San Pedro” in La Paz oder “San Jorge” – das System krankt an Korruption, Willkür der Sicherheitsorgane, einer zu langsamen Justiz und der allgemeinen wirtschaftlichen Misere (in den Strafvollzug wird zuletzt Geld investiert, das brächte kaum Wählerstimmen).
Nie war es so leicht, an Drogen heranzukommen, wie im Gefängnis…
Und der Drogenkrieg? Der endet an den Toren der kolumbianischen, peruanischen oder bolivianischen Gefängnisse. In keinem der Länder existiert ein Rehabilitationsprogramm für Drogenabhängige im Strafvollzug, nur in Kolumbien wird zur Zeit ein Entwurf diskutiert. In der Praxis werden die Gefangenen wahllos auf die Zellen verteilt. Die aufgrund der Drogengesetze Festgenommenen werden nicht von den übrigen Gefangenen getrennt, geschweige denn beson¬ders behandelt. Das Ergebnis ist erhöhter Drogenkonsum in den Ge¬fängnissen auch durch Mitgefangene, die vorher keine Schwierigkeiten mit Drogen hatten. Die wenigen PsychologInnen sind völlig überfordert. “Ich kann”, so eine von ihnen, “vielleicht sechs bis acht Patienten am Tag sehen, aber das sind nicht nur Leute, die Probleme mit Drogen haben. Es gibt überhaupt keine Kontrolle. Wenn der Gefangene nicht selbst auf sich aufmerksam macht, wissen wir überhaupt nicht, ob er ein und welches Problem er hat.” Außerdem gibt es überall Drogen: “Ich bekomme”, so ein Gefangener, “hier jeden Tag meine Dosis pasta básica. Du brauchst nur etwas Geld und gute Beziehungen zur Guardia. Hier ist der Konsum viel leichter als draußen.”
Die Frage, wie denn die Droge ins Gefängnis gelangt, wird mit vielsagenden Gesten und Augenzwinkern beantwortet. Es gibt nicht viele Möglichkeiten: BesucherInnen werden in der Regel sehr genau kontrolliert – außer in “San Pedro” in La Paz -, das zivile Personal hat wenig direkten Kontakt mit den Gefangenen, aber die Guardia…Da gibt es jedenfalls genügend Indizien: kaum zum Leben reichendes Gehalt und Verzehn- oder Verzwanzigfachung mit geringem Risiko, niedrige Schulbildung, direkter Kontakt mit den Gefangenen. Im übrigen beschuldigt jeder die Guardia.
Weiter ist interessant zu sehen, wie die soziale Zusam¬mensetzung der Gefange¬nen ist. Nach offiziellen Statistiken verfügt die Mehrzahl über keine oder nur geringe Schulbildung, fast alle stammen aus den Armenvierteln der großen Städte, sie sind diejenigen, die der Polizei ihre Freiheit nicht bezahlen können. Das gilt auch für die aufgrund von Drogendelikten Festgenommenen, was einen Rechtsanwalt beim Gefängnisbesuch in Medellín zu der Bemerkung veranlaßte: “Siehst du, hier wird die Armut bestraft, die Tatsache, daß du kein Geld zur Bestechung hast….deswegen wirst du nie einen größeren Dealer im Gefängnis treffen.
Von denen werden, so ist zu ergänzen, allerdings viele an die USA ausgeliefert und einige, jedenfalls in Kolumbien, ohne Verfahren liquidiert. Tatsache ist jedoch, daß nur ein einziger wirklich “Großer” sitzt, und zwar Roberto Suárez, ehemaliger Kokainkönig Boliviens, in La Paz. Er genießt jedoch eine Sonderbehandlung, lebt in einem eigens für ihn eingerichteten Kellergeschoß und empfängt alle alle BesucherInnen, einschließlich JournalistInnen, sofern er will (bei mir wollte er nicht). Im übrigen, so wird erzählt, hat er sich freiwillig der Polizei gestellt, da er auf der Todesliste des Medellín-Kartells stand (sein Sohn war schon liquidiert worden). Als die Polizei schwerbewaffnet sein Haus betrat, soll er, eine Zigarre rauchend und ein Glas Wein trinkend, sie mit den Worten empfangen haben: “Meine Herren, ich habe Sie etwas früher erwartet.”

In der “Musterdemokratie” zer­bröckeln die Illusionen

Venezuela fällt aus dem lateinamerikanischen Rahmen: Die großen Erdölvorräte veränderten seit dem Beginn ihrer Ausbeutung in den 30er Jahren die politische und ökonomische Struktur des bis dahin armen Agrarstaates im Norden Südamerikas. Vorher war das Land in von einzelnen Caudillos regierte Regionen zersplittert, die Bevölkerung war abhängig von ihren jeweiligen Grundherren. Mit dem Öl folgte eine Phase der Diktaturen mit wenigen demokratischen Zwischenphasen. 1958 besiegelte der Pacto de Punto Fijo die bis heute gültige Partei­endemokratie, der viele einen Mustercharakter in Lateinamerika attestieren.
Dennoch kann von einer Musterdemokratie in Venezuela keine Rede sein. Der venezolanische Staat ist, vergleichbar mit anderen lateinamerikanischen Ländern, zutiefst populistisch-paternalistisch geprägt. Kurz vor den Wahlen werden in ei­nem finanziell und inhaltlich bizarren Wahlkampf plötzlich Straßen geteert oder Stromleitungen gelegt. Da erreicht die staatliche “Fürsorge” sogar die “Ranchos”, die Armenviertel von Caracas, in denen mehr als die Hälfte der rund sechs bis sieben Millionen Caraceños lebt.
Durch die hohen Öleinkommen war eine Rentenideologie, die auf Pump lebte und strukturelle Entwicklungsprobleme weitgehend ausblendete, bislang in hohem Maße konsensfähig und ohne große Konflikte möglich. Korruption und Pa­tronage im großen Stil prägen nicht nur die Regierungsgeschäfte und das Rechts­system, sondern sind auch im täglichen Leben maßgeblich. Doch nicht nur des­halb ist die öffentliche Meinung über Politiker, Regierung und Behörden auf dem Nullpunkt angelangt.
In den 70er Jahren konnte der Staat seinem paternalistischen Anspruch, für seine BürgerInnen “zu sorgen”, zumindest zeitweise gerecht werden, da der öffentliche Sektor durch die gerade vonstatten gegangene Nationalisierung des Erdöls und eine hohe Neuverschuldung noch über ausreichend Geld verfügte. Heute jedoch hat die permanente Erfahrung uneingelöster Versprechungen ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber dem demokratischen System und den Politikern ausgelöst: “Prometen, pero no cumplen”, sie versprechen viel, aber halten’s nicht.
Zusätzlich führte die Tatsache, daß die Parteien und damit der Staat sich lediglich vor den Wahlen ernsthaft um die Wähler und ihre Probleme kümmern, ins­besondere in der letzten Zeit zu einem weitgehendem Vertrauensverlust in den Staat, zu Hoffnungslosigkeit und Resignation in den unteren sozialen Klassen. Immer weniger glauben sie daran, daß der Staat ihre Le­benssituation verbessern könne oder dies überhaupt ernsthaft wolle.

Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation liegen dicht beieinander

Gleichzeitig und vordergründig widersprüchlich beherrscht viele Menschen eine Art “Tellerwäschermentalität”, die jede Armut auf individuelles Versagen zurückführt, den Staat und die Gesellschaft von jeder Schuld freispricht und die Hoffnung auf den “großen Sprung nach oben” manifestiert. Man hofft, eines Tages dem Elend entrinnen zu können; wer dies nicht schafft, ist selber Schuld und hat seine Chance verpaßt. Auch das venezolanische Fernsehen läßt kaum eine Möglichkeit verstreichen, den Armen zu zeigen, wie unfähig sie sind, und ver­stärkt damit die gesellschaftliche Spaltung und Hierarchie nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch innerhalb der marginalisierten Gruppen selbst.
Unter solchen Bedingungen liegen Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation dicht bei­einander. Ein “Klassenbewußtsein” ist in Venezuela kaum ver­breitet. Maßgeblichen Einfluß hatte in dieser Hinsicht die enge Anlehnung an die USA, auch über die Erdölgesellschaften und ihre Arbeiter (Trotzdem sind die “Gringos” in Venezuela, wie auf dem gesamten Subkontinent, äußerst unbeliebt).
Diese Mentalität trug mit dazu bei, daß soziale Bewegungen und Selbsthilfeinitiativen lange Zeit ein Schattendasein führten. Auch der zentralisierte Staat verhinderte bisher trotz der Wahlen und der Verankerung der Parteien eine echte Partizipation an den Entscheidungen. Neue Bemühungen um eine staatliche wie institutionelle Dezentralisierung könnten die Voraussetzungen für eine stärkere Bürgerbeteiligung schaffen; wohin sich die Reformen jedoch tatsächlich entwic­keln, ist momentan noch nicht absehbar.
Als die mit großen Hoffnungen gewählte Regierung von Carlos Andres Pérez in vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem IWF im Februar 1989 harte wirtschaftliche Maßnahmen durchsetzte, waren gewaltige Unruhen und immense Plünderungen die Folge (vgl. LN Nr. 180). Sowohl das Militär als auch im Unter­grund in den Ranchos arbeitende Gruppen nutzten die Gelegenheit zu einer of­fenen Konfrontation, in deren Folge durch das brutale Vorgehen der Militärs – auch gegenüber Unbeteiligten – mehrere Hundert Menschen ermordet wurden. Nach wie vor gibt es zahlreiche Verschwundene und immer noch fast täglich To­desanzeigen in den Zeitungen von den Kämpfen.
Diese Ereignisse haben zwar nicht zu einer breiteren Opposition geführt, hatten aber dennoch Auswirkungen auf die poltische Kultur. Hand in Hand mit den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen der Mehrzahl der Bevölkerung, haben fast alle inzwischen den letzten Rest Vertrauen in den Staat und seine Akteure verloren. Die Menschen glauben an praktisch nichts mehr, was “von oben kommt”. Steigende politische Repression und die traumatischen Ge­schehen vom Frühjahr 1989 machen Angst und hemmen politische Aktivitäten.
Die zunehmende Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf den “großen Sprung”, den sozialen Aufstieg, vor allem unter den Jugendlichen der städtischen Barrios, und der Vertrauensverlust in bezug auf die Politik begünstigt nun eine Entwicklung, die ihren eigentlichen Anfang einmal in der Mittelschicht nahm: die Stadtteilinitiativen (Asociaciónes de vecinos) oder auch Selbsthilfegruppen.
Sie sind eine Form von Bürgerinitiativen, die sich um alle Belange des eigenen Stadtviertels kümmern, vor allem jedoch um die von den zuständigen Behörden vernachlässigten Probleme. Einen unmittelbar an der Verbesserung der Lebens­bedingungen orientierten Ansatz haben die Vecino-Gruppen in den Barrios pobres, während die Gruppen der Mittelschicht zudem allgemeiner politisch und partei­enunabhängig wirken wollen. In Caracas sind die Wohnlagen klar getrennt: Die unteren Schichten wohnen ganz oben an den Hängen; je weiter unten die Woh­nung, desto besser gestellt sind die Leute.
Ein Hindernis der Stadtteilarbeit in den Barrios war vor allem deren heterogene Zusammensetzung, die immensen Einkommensunterschiede auch innerhalb der “Unterschicht”, und die daraus folgende Hierarchisierung. Diese erschwerte oft eine Solidarisierung, die ihrerseits jedoch Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit ist.
Die staatliche Haltung den Gruppen gegenüber ist charakteristisch für das System Venezuelas: Zwar wurden die Vecino-Vereinigungen 1979 und verstärkt dann 1990 durch eine Gesetzesreform institutionalisiert, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und 1988 sogar in die Stadt- und Gemeindeplanung miteinbezo­gen; doch werden ihre Aktivitäten vielfach nur solange begrüßt, wie sie propa­gandistisch ausgenutzt werden können. Ansonsten erfolgen die typischen Maß­nahmen, die übliche Hinhalte-Taktik, Versprechen und Nicht-Einhalten oder auch Einschüchterungsversuche. Manche Gemeinden jedoch versuchen auch, ernsthaft mit den Vecinos zusammenzuarbeiten.
Auch im Umweltbereich gibt es verstärkte Initiativen “von unten”, weil die Umweltsituation in Venezuela sich katastrophal darstellt und wenige staatliche Be­mühungen ernst zu nehmen sind. Ein Beispiel ist die Sociedad Conservacionista Aragua, die es in über 17 Jahren Arbeit geschafft hat, basisorientiert zu arbeiten, ohne sich etwa von den Parteien korrumpieren zu lassen – eine Gefahr, die bei allen Gruppen latent existiert und wodurch viele, auch der Vecino-Gruppen, ihre Glaubwürdigkeit und politische Energie verlieren.

Je weniger Funktionen der Staat noch erfüllt, desto wichtiger werden die Basis-Organisationen

Die Sociedad Conservacionista arbeitet im wichtigen Bereich Umwelterziehung direkt an den Schulen, mittels der Lokalzeitung und mit Hilfe ihrer Umweltbiblio­thek; daneben aber beispielsweise auch mit arbeitslosen Jugendlichen, die in der Feuerbrigade helfen, im naheliegenden Nationalpark während der Trockenzeit Brände zu löschen und in der Regenzeit bei der Aufforstung tätig sind. Die Zu­sammenarbeit mit anderen Umweltgruppen und der Versuch, auch die staatli­chen Institutionen für dieses Thema zu sensibilisieren, werden immer unerläßli­cher.
Diese zwei Bereiche – Asociaciones de vecinos und die Sociedad Conservacionista Aragua als ein Beispiel für Umweltorganisationen – zeigen, daß auch in einem Land mit traditionell wenig Basisorganisation wie Venezuela, diese umso wichtiger wird, je weniger der Staat solche Funktionen erfüllt.
Die Illusion seitens der Bevölkerung, einmal den großen Sprung in die reiche Gesellschaft schaffen zu können, die Wunschträume, der Staat sorge dann wenig­stens für diejenigen, die aus eigenem Versagen arm bleiben, und die Hoffnung der Politiker, die Widersprüche kapitalistischer Entwicklung mit Hilfe des Öl­reichtums umgehen zu können – alle diese während 30 Jahren Demo­kratie ge­pflegten Illusionen zerbröckeln langsam.
In Venezuela wird seit einigen Jahren immer deutlicher, daß bei sich verschlechternden ökonomischen und konfliktiver werdenden politischen Verhältnissen die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, immer größer wird. Hierin liegen auch Chancen, die politische Kultur partizipativer und damit demokratischer zu gestalten. Inwieweit es gelingt, den äußerlich negativen Entwicklungen eine sol­che positive Wendung zu geben, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob der Staat ohne Eingreifen des Militärs die Freiräume läßt, daß die Menschen immer mehr Vertrauen in die eigene Kraft und die eigenen Erfolge entwickeln können.

Kasten:

Wir, die Gesellschaft für Umwelt- und Naturschutz in Venezuela (GUNV) sind ein 1990 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich bislang noch überwiegend aus StudentInnen der Geographie in Bonn zusammensetzt, was aber nicht so bleiben soll. Wir wollen vor allem zwei Hauptaufgaben erfüllen: Die finanzielle Unterstützung von Projekten im Bereich Umwelterziehung in Zusammenarbeit mit der Sociedad Conservacionista Aragua als einen Beitrag zur Verbesserung der Umwelt- und Lebensbedingungen dort. Schon seit längerem pflegen wir sehr enge Beziehungen zu dieser Organisation.
Der zweite Teil ist die Sensibilisierung von Menschen hier in bezug auf Umwelt- und Entwicklungsprobleme über eine möglichst breite Öffentlichkeitsarbeit, be­sonders zu dem in der “Entwicklungsszene” ziemlich vernachlässigten Vene­zuela. Für an diesem Land interessierte Leute wollen wir gerne Ansprechpartner sein, neue Mitglieder und Spenden würden wir sehr begrüßen!

Kontaktadresse: Hilde & Martin Selbach, Burbacher Str. 80, 5300 Bonn, Tel. 0228/231643 oder bei Autorin: 02222/63261;
Kontonummer: 251140 bei Sparkasse Bonn BLZ: 38050000.

BRDDR: Dem Rostocker Lateinamerika-Institut droht die Abwicklung

Das Lateinamerika-Institut in Rostock, das nach Prüfung aller Unterlagen zur schon begonnenen Umstrukturierung von Lehre und Forschung durch die frei gewählten Gremien der Universität der Hansestadt als ein selbständiger Fach­bereich bestätigt worden war, tauchte Anfang Dezember 1990 auf der Liste der in Mecklenburg-Vorpommern “abzuwickelnden” Einrichtungen des Hochschul­wesens auf. Damit droht einer in ber 30 Jahren gewachsenen, international re­nommierten Lehr- und Forschungsstätte das Aus. Gerade heute, nach der Auf­hebung des Ost-West-Gegensatzes und dem verheerenden Krieg am Golf, müßte der Blick auf den sich seit Jahren verschärfenden Nord-Süd-Konflikt freigegeben sein. Es ist unerklärlich und widersinnig, in dieser Situation ein sich der Ent­wicklungsländerproblematik annehmendes Zentrum einzustampfen.
Die Einrichtung wurde 1958 als Romanisches Institut gegründet. Fünf Jahre spä­ter enstand daraus das Lateinamerika-Institut. Im Rahmen der dritten Hoch­schulreform der DDR von 1968, die insgesamt zu ähnlich unverantwortlichen dirigistischen Eingriffen in die Bildungslandschaft im Ostteil Deutschlands fhrte, wie sie das beabsichtigte “Abwicklungs”verfahren unter anderen Vorzei­chen wieder zum Inhalt hat, wurde das Institut in “Sektion Lateinamerikawissen­schaften” umbenannt. Heute bestehen hier zwei Lehrsthle für Ökonomie mit den Schwerpunkten “Volkswirtschaft der Länder Lateinamerikas” sowie “Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik in Lateinamerika”, zwei Lehr­sthühle für Geschichte, die sich einmal auf die historischen Entwicklungen in der Kolonialzeit und im 19.Jahrhundert, zum anderen auf die Geschichte Lateiname­rikas im 20.Jahrhundert konzentrieren, die selbstständigen Fachgebiete für Philo­sophie, Soziologie und Literatur Lateinamerikas sowie der Wissenschaftsbereich Hispanistik-Lusitanistik. Kleinere Gebiete wie Staats- und Völkerrecht, ökono­mische Geographie, Wirtschaftsgeschichte, Ökologie, indianische Sprachen und Kulturen sowie Kirche und Religion sind diesen Lehrstühlen bzw. Fachgebieten untergeordnet.
Viele der vielfältigen ein breites Wissenschaftsspektrum abdeckenden Arbeiten konnten seit 1965 im “Semesterbericht der Sektion Lateinamerikawissenschaften”, seit 1987 Zeitschrift “Lateinamerika”, veröffentlicht werden. Sie ist inzwischen die am längsten erscheinende Fachzeitschrift zu Lateinamerika im deutschsprachi­gen Raum. Eine wichtige Grundlage für Forschung, Aus- und Weiterbildung ist die Zweigstelle Lateinamerikawissenschaften der Universitätsbibliothek. Auf der Grundlage von Tauschbeziehungen und Schenkungen lateinamerikanischer wis­senschaftlicher Einrichtungen und diplomatischer Missionen wurden unter denkbar schwierigen finanziellen Bedingungen und bei zahlreichen bürokrati­schen Hindernissen mehr als 43.000 bibliographische Einheiten zusammenge­tragen. In mühevoller Kleinarbeit, d.h. ohne moderne technische Hilfsmittel ent­stand zudem eines der umfangreichsten zeitgeschichtlichen Lateinamerika-Ar­chive in Deutschland.
Das Institut unterhält wissenschaftliche Beziehungen in ber 40 Länder. Wissen­schaftlerInnen weilten zu Studien- und Vortragsreisen sowie zur Ausbung von Gastdozenturen in den meisten Ländern des Subkontinents, in den USA und ver­schiedenen Staaten Ost-und Westeuropas. Die Sektion ist Mitglied der europäi­schen Lateinamerikanistenvereinigung CEISAL und hat den Antrag auf Auf­nahme in den deutschen Verband ADLAF gestellt. Einzelne HistorikerInnen ge­hören dem europäischen Fachverband AHILA an. Gäste aus zahlreichen Staaten besuchten das Institut. Seit die DDR in den 80er Jahren ihre schizophrene Ab­schottungspolitik schrittweise auflockerte, verbreiterten und vertieften sich auch die Kontakte zu KollegInnen im Westteil Deutschlands.

Keine absatzgerechte AbsolventInnenproduktion mehr

Schwerpunkt der Arbeit der Sektion ist die Ausbildung von StudentInnen, die immer einer breiten Interdisziplinarität Rechnung trug. Wie in der Planwirtschaft blich, wurde die Zahl der Immatrikulationen auf den voraussichtlichen Absatz von AbsolventInnen am Ende der fnfjährigen Studienzeit abgestimmt. Die be­grenzte Außenwelt der DDR erlaubte nur jedes zweite Jahr eine Einschreibung auf der Basis von Sprachprüfungen und Eignungsgesprächen. Von 1990 an sollte nun jährlich immatrikuliert werden. Der Numerus Clausus wurde abgeschafft. Bewerbungen aus den alten Bundesländern, in denen die Hörsäle aus den Näh­ten platzen, liegen bereits vor. Das Institut hat in den vergangenen Monaten eine umfassende Konzeption zur Neugestaltung des Studiums ausgearbeitet. Danach soll es zukünftig einen Hauptstudiengang (Lateinamerikastu­dien/Entwicklungspolitik), verschiedene Nebenstudiengänge mit vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten, ein postgraduales Studium und vielfältige Weiter­bildungsangebote geben. Da die Strukturkommission noch dar­ber zu entschei­den hat, soll hier nicht näher darauf eingegangen werden. Auf jeden Fall möchte das Institut an der bewährten Praxis festhalten, die StudentInnen frühzeitig und zielgerichtet in die Hochschulforschung einzube­ziehen; für diese Arbeit standen ihnen immer vorlesungsfreie Ausbildungsab­schnitte zur Verfügung. Wenn Kul­tusminister Oswald Wutzke eine “notwendige politische Säuberung” und ein in allen Bundesländern vergleichbares akademi­sches Niveau fordert, kann ihm nur zugestimmt werden. Der demokratische Neubeginn kann jedoch nicht aus Pau­schalverurteilungen von der Landeshaupt­stadt Schwerin aus erwachsen. Ein “Abwicklungs”verfahren wird nicht mehr, sondern weniger Ehrlichkeit und Transparenz im Umgang miteinander schaffen. Es ignoriert die von innen und unten begonnenen Erneuerungsprozesse, schafft neue Anpassung, wo individu­elle Auseinandersetzung mit dem eigenen Op­portunismus, der eigenen Mitver­antwortung als Rädchen im Getriebe eines Sy­stems nottun wrde. Während es innerhalb der “abzuwickelnden” Bereiche alle MitarbeiterInnen ber einen Kamm schert, verletzt es an den Hochschulen insge­samt das im Grundgesetz fixierte Gleichheitsgebot. So werden Bauernopfer be­nannt, so als ob es die vielzitierten “alten Seilschaften” nur in ausgewählten Sek­tionen gegeben hätte.

Reform von innen ist möglich

Nicht um eine sentimental rückwärtsgewandte Kritik an geplanten und ohne Frage notwendigen strukturellen und personellen Veränderungen an den Hoch­schulen ging es in dem offenen Brief, der durch StudentInnen der Lateinameri­kanistik an Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker in Bonn bergeben wurde, bei ihren Gesprächen mit Ministern der Landesregierung und schließlich – in einem verzweifelten Zustand von Ohnmacht und Selbstzweifeln und keines­falls unberlegtem Revoluzzertum – bei ihrem Hungerstreik im Dezember. Sie klagten nicht mehr als die in einem Rechtsstaat notwendigen gleichen Bedingun­gen fr alle, Mitbestimmung und die Wahrung der Wrde des Menschen ein. Dabei waren die StudentInnen von anbeginn peinlich bemüht, nicht den Ein­druck zu erwecken, sie ließen sich vor einen Karren spannen, den sie nicht zu ziehen bereit waren. Als durch den “Abwicklungsbeauftragten” festgelegt wurde, daß zur Absicherung der Ausbildung der “jetzt Studierenden” am Lateinamerika-Institut 13 Feststellen verbleiben sollten, drückten die StudentInnen unmißver­ständlich aus, wen sie von den Lehrkräften für die fachlich besten und integer­sten halten und wen sie nicht weiter akzeptieren wollen. Im Ergebnis von ehr­lichen und in der Sache harten Auseinandersetzungen wurden diese Stellen an einen von ehemals vier Professoren, drei von fünf DozentInnen, vier von sechs OberassistentInnen, drei von zehn AssistentInnen und zwei von acht LehrerInnen im Hochschuldienst vergeben. Gewiß, diese personellen Konse­quenzen kamen spät, aber schließlich sind sie auch an die Vorgabe der künftigen Größe des Instituts gebunden. Doch viel wichtiger ist es, daß sie in der Tat von innen heraus geleistet wurden.

Beitrag zum Export der Weltrevolution?

Es bleibt die Frage, warum die Sektion Lateinamerikawissenschaften zu den Bau­ernopfern im Hochschulwesen Mecklenburg-Vorpommerns gehören soll. Fragt man nach, hört man vor allem, das Institut habe zum Export der Weltrevolution beitragen wollen. Es soll gar nicht in Abrede gestellt werden, daß solche und ähnliche Gedanken in den Köpfen einiger SED- und Staatsgrößen gespukt haben mögen, als im Angesicht der sozialen und nationalen Bewegungen in den Ent­wicklungsländern an der Wende zu den 60er Jahren die regionalwissenschaft­lichen Institute (neben der Rostocker Sektion die Afrika- und Nahostwissen­schaften in Leipzig, die Asienwissenschaften in Berlin und die Nordeuropawis­senschaften in Greifswald) gegründet wurden. Eigentlicher Hintergrund waren jedoch die zunehmenden kulturellen, kommerziellen und schließlich auch diplomatischen Beziehungen der DDR zu den Ländern der “Dritten Welt”. Der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften mit breiten Regional- und Sprachkennt­nisssen wuchs beträchtlich. Kontakte zu staatlichen- und Parteiinstitutionen waren angesichts zahlreicher Auslandsverbindungen, der Ausrichtung von nationalen und internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen zu außenpo­litisch, außenwirtschaftlich, und kulturpolitisch relevanten Fragen, die allein durch die Gästeliste immer einen gewissen offiziellen Charakter hatten und da­durch in die Schlagzeilen kam, der Ausbildung von AbsolventInnen für staatlich- gesellschaftlichen Bereiche (nur im Ausnahmefall aber – ein weiteres Vorurteil – für den diplomatischen Dienst) und der mehr oder weniger vorausgesetzten – obgleich nie zwingend notwendigen – Parteimitgliedschaft der Lehrkräfte gege­ben. Hinzu kam sicherlich auch das subjektive Selbstverständnis die Völker Lateinamerikas auf dem Wege zu ihrer “zweiten, wahren Unabhängigkeit” soli­darisch begleiten zu wollen. Die Sektion war jedoch immer eine rein universitäre Einrichtung und folglich auch nur dem Hochschulministerium unterstellt, nicht dem Außenministerium oder sogar dem Parteiapparat. Wenn behauptet wird, die Sektion habe Diversanten (was ist das? d.K.), Guerillas, Terroristen, o.ä. ausgebildet, ist dies böswillige Irreführung der Öffentlichkeit. In der gesamten Geschichte der Bil­dungseinrichtung waren lediglich ein polnischer, ein ungarischer und zwei bul­garische StudententInnen immatrikuliert. Die Hilfe des Instituts für Kuba und Nikaragua beschränkte sich auf Solidaritätsaktionen im Rahmen der Universität, z.B. lateinamerikanische Abende, deren Erlös gespendet wurde, Dolmetscherein­sätze von StudentInnen und jungen AssistentInnen in einem DDR-Krankenhaus in Managua und Vorträge und Gastlehrtätigkeit von MitarbeiterInnen im Hoch­schulwesen. Diese Unterstützung zur Rechtfertigung von “Säuberungs”aktionen anführen zu wollen, so die “Norddeutschen Neuesten Nachrichten” am 21.12.1990, “kann nur als barbarischer Akt bezeichnet werden”.

Die Sache mit den Reisen…

Wir haben in einem Land gelebt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung einge­sperrt war. So mußte jedes Sprachstudium von StudentInnen in Havanna und jede Reise von MitarbeiterInnen der Lateinamerikanistik auch völlig verständlich Neid und Zorn hervorrufen, der teilweise bis heute nachwirkt. Es sollten jedoch drei Aspekte beachtet werden: Erstens gehört die unmittelbare Kenntnis Latein­amerikas und seiner Völker zum Berufsbild des Lateinamerikanisten. Davon hing der Grad der Sprachbeherrschung und letztendlich auch die Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Arbeit ab. Sicher hat das Institut alle ihm gebotenen Mög­lichkeiten, die mit denen im “Westen” nie vergleichbar waren, genutzt, man sollte es jedoch nicht für das geschlossene System des Stalinismus verantwortlich machen. Zweitens hat jeder, der eine Studienreise machen konnte, anschließend im Kreise seiner eigenen Familie, seiner Freunde und KommilitonInnen erlebt, wie schmerzhaft es ist, Eindrücke und Begeisterung nicht teilen zu können. Das freie Reisen für alle, unabhängig von vorherigem Wohlverhalten, und die unbe­spitzelte, persönliche Fortführung von Kontakten in die Gastländer wiegen in der Werteskala schwer. Und drittens darf nicht vergessen werden, daß Reisen auch innerhalb des Instituts ungleich verteilt waren, und dies keineswegs nur wegen der Leistung. Viele WissenschaftlerInnen haben das Land, ber das sie arbeiten, nie gesehen. Auch bei der Lateinamerikanistik gab es als “Reisekader” gesperrte MitarbeiterInnen.
Gewiß waren auch die Regionalwissenschaften wie alle Geisteswissenschaften (und nicht nur sie!) marxistisch orientiert. Doch will man berhaupt eine Dif­ferenzierung in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Landschaft der ehema­ligen DDR vornehmen und eine Evaluierung nicht schlechthin zum Politikum werden lassen, kann diese nur zwischen denen erfolgen, die Marx zum Dogma verkommen ließen und Fakten nur passend zurecht bogen, um bereits vorher feststehende Schlußfolgerungen und Kategorien “illustrieren” zu können; und jenen, die Marxismus als Methode verstanden und auch andere, moderne Strö­mungen der Philosphie und Gesellschaftstheorie zur Kenntnis nahmen und zu­mindest in die Lehre einbauten (Publikationen waren stärker der Zensur unter­worfen). Letzteren dürften schon früher Zweifel an der “real-sozialistischen” Politik auch und gerade gegenber den Entwicklungländern, gekommen sein. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Propaganda nach Parteivorgaben, wie sie im Bereich der DDR- und SED-Geschichte überwog (auch hier sind Pau­schalverurteilungen sicher fehl am Platz) und Wissenschaftlichkeit, wie man sie der Lateinamerikanistik bei allen notwendigen Differenzierungen bestätigen muß. Studienpastor Dietrich beobachtete diesen Differenzierungsprozeß schon vor Jahren. Was die StudentInnen der Sektion anbetrifft, so waren sie von jeher ein sehr kritisches Potential. Insbesondere in den Jahren der perestroika und glasnost’ empfanden und artikulierten sie immer deutlicher und öffentlicher den augenscheinlichen Widerspruch zwischen offizieller Propaganda und erlebter Wirklichkeit in der DDR. Mit der Konsequenz, daß sich der Zentralrat der FDJ eigens in Rostock mit den renitenten Lateinamerikanistik-StudentInnen “beschäftigte”. Ohne den gewünschten Erfolg der “Einsicht” und Katzbuckelei.
Die Rostocker WissenschaftlerInnen haben die Hoffnung auf den Fortbestand der traditionsreichen Institution nicht aufgegeben. Aber solange keine Entscheidung ber die Möglichkeit der Neuimmatrikulation gefallen ist und der Zustand all­gemeiner Verunsicherung andauert, dürfte sich kaum ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin auf größere, langfristige Forschungsvorhaben einlassen. Viele Wis­senschaftlerInnen, nicht zuletzt die talentierten jungen Leute, die für ein Viertel des Gehaltes ihrer westlichen KollegInnen und selbst nur ein Bruchteil dessen, was mancher Arbeiter und Arbeiterin in den neuen Bundesländern erhält, in der Hoffnung in Rostock geblieben sein, daß man gerade hier ihre Arbeit braucht und schätzt, würden dann gewiss verbittert weggehen. Sie finden auch in Eng­land, Frankreich oder den USA einen Markt. Die Zeit drängt, Solidarität ist ge­fragt.

Die Kommunistische Partei und die verhinderte “bürgerlich-demokratische Phase”

Gretchenfrage?

Die UDN (Nationalistische Demokratische Union) stellte Anfang Februar ihre Spitzenkandidaten für die kommenden Wahlen vor: Humberto Centeno, einer der bekanntesten Gewerkschaftler des Landes und Führungsmitglied im Gewerkschaftsdachverband UNTS ist der Kandidat der UDN für das Bürgemeisteramt von San Salvador. Marco Tulio Lima, ebenfalls Mitglied des UNTS-Vorstandes, strich dagegen heraus, daß die Entscheidung Centenos und anderer UNTS-GewerkschafterInnen rein persönlicher Art sei und nicht der Position der UNTS insgesamt entspräche. Die UNTS, betonte Tulio Lima, unterstütze keine der Parteien, die sich zur Wahl stellen. Ismael Merino von der Bauerngewerkschaft ADC dazu: “Solange wir in einer militarisierten Gesellschaft leben und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, solange können Wahlen das Problem nicht lösen, sondern es nur noch verschärfen”. Selbst das breite, von kirchlicher Seite initiierte “Permanente Komitee für eine Nationale Debatte”, CPDN, gibt dem Verhandlungsprozeß Vorrang vor den Wahlen und plädiert daher für eine Verschiebung des Urnengangs, bis die zentralen Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst und ihre Einhaltung von der UNO kontrolliert und bestätigt worden sind.

Differenzierungen in den 70er Jahren

Formal hatte die Kommunistische Partei (KP) den bewaffneten Kampf seit 1932 nie aufgegeben, faktisch konzentrierte sie sich in den 70er Jahren jedoch auf Wahlen. Sie ging dabei (wie andere Kommunistische Parteien des Kontinents) davon aus, daß es zunächst einer “bürgerlich-demokratischen Phase” bedürfe, um die Macht der Oligarchie und des Militärs zu brechen. Man erhoffte sich eine “Machtübernahme”der Industriebourgeoisie, die in eigenem Interesse Reformen gegen die unversöhnliche und reaktionäre Grundbesitzerclique befürworten müsse. Die UDN wurde 1969 gegründet und sollte die ‘Wahlfront” der KP bilden.

Innerhalb der KP gab es zu jener Zeit bereits eine Opposition gegen diese Haltung der Partei. Die These von der Wirksamkeit eines breiten Wahlbündnisses, unterstützt von einer reformwilligen Fraktion des Militärs, wurde von ihr abgelehnt. 1970 tauchte diese Gruppe unter der Führung des legendären Gewerkschaftsführers Cayetano Carpio unter. Sie begann, sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten: Die FPL, die Volksbefreiungskräfte, heute eine der fünf Organisationen der FMLN.
Bei den Präsidentschaftswahlen1972 trat die UDN in einem Bündnis mit der seit 1964 existierenden sozialdemokratischen MNR (Nationale Revolutionäre Bewegung) und der PDC (Christdemokratische Partei) an. Das Bündnis nannte sich U.N.O. (!) (Nationale Oppositionsvereinigung) und nominierte José Napoleon Duarte zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Die U.N.O. erhielt trotz erheblicher Behinderungen die Mehrheit der Stimmen, doch die regierende PCN (Partei der Nationalen Versöhnung) sicherte sich das Präsidentenamt durch offenen Wahlbetrug. Ein Putschversuch von reformwilligen Offizieren schlug fehl, und Duarte ging ins Exil nach Venezuela. Trotz des Scheiterns hielten alle Parteien des Bündnisses an der Vorstellung fest, daß der Weg über Wahlen der sicherste und schnellste sei, um zu einem Sieg der reformwilligen Kräfte zu gelangen. Sowohl die verschiedenen Guerilla-Gruppen, die im Laufe der 70er Jahre entstanden, als auch die mit ihnen verbundenen großen Massenorganisationen kritisierten den “rechten Opportunismus” und die “Weinbürgerlichen Illusionen” der KP. Trotz erheblicher Zerstrittenheit dieser Organisationen untereinander, gingen sie davon aus, daß eine “Nationale Bourgeoisie”, die in der Lage wäre, ein nationales Reformprojekt durchzusetzen, nicht existiert. Daraus folgte die Ablehnung der Wahlen und der Strategie der U.N.O.

Wahlbetrug und Terror

Die nächsten Präsidentschaftswahlen fanden 1977 in einer spannungsgeladenen und zugespitzten Situation statt. Die U.N.O. hatte anstelle von Duarte den in Armeekreisen angesehenen pensionierten Offizier Claramount als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Er schien für die reformbereiten Kreise der Oligarchie und des Militärs annehmbarer zu sein. Wiederum brachten die Militärs die Opposition um den Wahlsieg, indem sie schlicht die Wahlurnen verschwinden ließen. Den massiven Protest gegen den Wahlbetrug beantwortete das Regime mit Gewalt. Militär-und Polizeieinheiten schossen gezielt in die Massendemonstrationen. Dabei starben mehrere hundert Menschen. Dies war der Auftakt für eine beispiellose Terrorwelle. Die meisten Funktionäre der U.N.O. gingen ins Exil oder in den Untergrund, wurden verhaftet oder “verschwanden”. Das Wahlbündnis war damit faktisch nicht mehr existent, nur die KP bekräftigte noch im Mai 1979 ihre Unterstützung für die U.N.O. “Der bürgerlichdemokratische Weg zur Lösung der politischen Krise”, so hieß es in der Resolution des 7. Parteikongresses, “muß heute ein untrennbarer Bestandteil wesentlicher sozioökonomischer Reformen sein.” Auf dem gleichen Kongreß wurde allerdings ein folgenlos gebliebener Beschluß von 1977 bekräftigt, nach dem sich die Partei auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten hätte.

Der Putsch

Angesichts der steigenden Mobilisierungen der Massenorganisationen und der faktischen Unregierbarkeit des Landes putschte sich eine heterogene Offiziersgruppe am 15.Oktober 1979 an die Macht. In der ersten Regierungsjunta waren drei Zivilisten vertreten, darunter Guillermo Ungo, Vorsitzender der MNR. Alle Parteien des ehemaligen U.N.0.-Bündnisses entsandten Minister in die Regierung. Die revolutionären Massenorganisationen hatten kein Vertrauen in diese Koalition von Offizieren, liberalen Technokraten und reformistischen Politikern; sie verstanden sie als einen Block der Mitte gegen die Linke. Die nächsten Wochen sollten ihnen recht geben. Die Zivilisten in der neuen Regierung konnten nicht verhindern, daß die Gewalt der Militärs gegen die Opposition immer schlimmere Formen annahm. Zunächst rechtfertigten die Zivilisten noch die Massaker, dann aber traten sie Anfang des Jahres1980aus der Regierung aus.

Einigung

Die Kommunistische Partei entschied sich jetzt sehr schnell und rief gemeinsam mit zwei der bestehenden Guerillaorganisationen zur bewaffneten Revolution auf. Im Oktober 1980 vereinigten sich die nunmehr fünf politisch-militärischen Organisationen zur Nationalen Befreiungsbewegung Farabundo Marti, FMLN. Die radikale Linke reagierte damit auf den entfesselten Staatsterror und die Beseitigung jeglichen Spielraums für Reformen.
Die Wahlprozesse der 80er Jahre waren zu sehr vom Bürgerkrieg und Ausnahmezustand geprägt, als daß linke Parteien oder Organisationen in ihnen eine Option für Frieden oder Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hätten entdecken können. Darüber hinaus waren die Wahlen offensichtlich das Produkt der von den USA konzipierten Kriegsführung der niedrigen Intensität, der Aufstandsbekämpfung, die darauf hinauslief, der FMLN auch politisch den Boden zu entziehen.
Die Situation veränderte sich erst wieder im Vorfeld der 89er-Wahlen. Anläßlich dieses Urnengangs gründeten hauptsächlich die Parteien (MPSC Sozialchristliche Volksbewegung, Linke Abspaltung der PDC) und MNR wiederum ein linkes Wahlbündnis, die Convergencia Democrática (CD). Die FMLN rief zum Boykott auf und brachte stattdessen den “Vorschlag zur Umwandlung der Wahlen in einen Beitrag zum Frieden” (dok. in LN 179)ein, in dem sie erstmals die Bedingungen definierte, unter denen sie bereit wäre, sich an Wahlen aktiv zu beteiligen. Es steht außer Frage, daß diese Bedingungen (u.a. Ende der Repression, Einkasernierung der Armee, Wahlrechtsreform) auch am 10. März keineswegs er-füllt sein werden.

Verhandlungen haben Vorrang vor den Wahlen

Auch diese Wahlen werden mit einer demokratischen Willensbildung so wenig zu tun haben wie alle vorangegangenen. Die Frage ist also, welche Ziele auf der einen Seite die Oppositionsparteien mit ihnen verbinden und was die FMLN auf der anderen Seite zu ihrer ambivalenten Haltung bewog. Es kann angenommen werden, daß über diese Frage innerhalb der FMLN lange debattiert wurde. Noch im Oktober 1990 schob Joaquin Villalobos, Chef des Revolutionären Volksheeres (ERP), einer weiteren Organisation innerhalb der FMLN,die Kontinuität dieser Wahlen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung gegenüber den möglichen Chancen in den Vordergrund (Vgl. LN 198). Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Kontroverse im wesentlichen beigelegt ist. Klar scheint auch zu sein, daß sich die Kommunistische Partei von den Positionen der 70er Jahre entfernt hat und keinesfalls ein Ausscheren der KP aus der FMLN bevorsteht. Shafick Handal: “Demokratie, die demokratische Revolution, hat für die FMLN -und da gibt es eine unzweideutige Übereinstimmung aller Organisationen -tatsächlich eine strategische Bedeutung, eine Demokratie, die sich aber wesentlich von einer bloßen Wahldemokratie unterscheidet.”
Weder die Oppositionsparteien noch die FMLN selbst erwarten einen Wandel der Kräfteverhältnisse durch die Wahlen selbst. Ein Brechen der Parlamentsmehrheit von ARENA durch die PDC, CD und UDN wird allerdings als Instrument eingeschätzt, um dem stagnierenden Verhandlungsprozeß wieder neue Impulse zu geben. Dies ist auch dringend notwendig, da die USA offenkundig versuchen, die Grundlage des Prozesses
– die Vereinbarungen von Genf und Caracas (Vgl. LN 200) – zu untergraben. Ein Artikel in der New York Times diffamierte am 1. Februar unter Berufung auf Regierungsquellen den UNO-Vermittler Alvaro de Soto, warf ihm Inkompetenz vor, und versuchte so, den Verhandlungsprozeß insgesamt zu diskreditieren. Tatsächlich kann eine parlamentarische Mehrheit der heutigen Opposition in dieser Situation neue Wege gehen, um auch international mit größerem Druck und Legitimation auf reale Verhandlungserfolge zu drängen. Die Tatsache jedoch, daß diese Oppositionsparteien CD, UDN und die PDC sich nicht auf einen gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten für San Salvador haben einigen können, verweist auf nicht unerhebliche inhaltliche Differenzen und Profilierungsgelüste. Diese könnten die gemeinsame politische Plattform, von der Shafick Handal spricht, durchaus gefährden (Vgl. Interview). Die PDC scheint zwar die Forderung nach einer Demilitarisierung als Grundlage von Demokratisierungsprozessen übernommen zu haben, doch gibt die Geschichte dieser Partei mannigfaltig Anlaß, ihr mit Mißtrauen zu begegnen.

Der Anschlag auf Diario Latino

In jedem Fall nehmen die Militärs die Entwicklungen der letzten Wochen als elementare Bedrohung wahr. Dies ist augenscheinlich die Ursache für die stark zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit. Die schlimmsten waren bisher die Morde von E1 Zapote, wo 15 Menschen regelrecht hingeschlachtet wurden und der Bombenanschlag auf die einzige noch verbliebene kritische Tageszeitung Diario Latino. In der Nacht zum 9. Februar explodierte in der Zeitung eine Brandbombe, die das dreigeschössigen Gebäude und die zur Herstellung der Zeitung notwendigen Geräte völlig zerstörte. (Wegen der großen Bedeutung dieses Anschlags für die Medienlandschaft E1 Salvadors hat das “Dritte-Welt-Haus” Frankfurt e.V. ein Spendenkonto eingerichtet: Postgiro 19991-604; BLZ 500 100 60; Stichwort: “Diario Latino”). Die Journalisten der selbstverwalteten Zeitung haben bereits angekündigt, daß sie das seit 100 Jahren existierende Blatt weiterführen werden. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe von Bombenanschlägen gegen die Volksorganisationen und Morde an AktivistInnen der Oppositionsparteien.

Repression und Wahlboykott?

Die Repressionswelle beweist noch einmal den ungebrochenen Willen der Militärs, sich keinen Zipfel ihrer Macht entreißen zu lassen und gleichzeitig die Notwendigkeit, genau dies zu tun. Die Menschenrechtsverletzungen haben ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht. Das Ziel der Hardliner im Militär ist dabei klar auszumachen: Sie wollen die Wahlen, so, wie sie derzeit konzipiert sind, verhindern. Ihre bewährte Methode war in der Vergangenheit, entweder ein Massaker zu veranstalten oder eine bekannte Persönlichkeit der (gemäßigten) Opposition umzubringen. Es mehren sich die Warnungen der Parteien – einschließlich der PDC -, daß ein Rückzug aus den Wahlen durchaus denkbar ist, wenn die Anschläge fortgesetzt werden. “Selbstverständlich”, so Shafick Handal, “würde die FMLN die Oppositionsparteien in einem solchen Fall unterstützen.” Und das auf ihre Weise.

Eskalation der Armut – Versagen der Politik

Die Entwicklung der 80er Jahre

Die Ausschreibung freier Wahlen war sicherlich auch ein Erfolg der immer stärker werdenden Volksbewegung, die 1977 in einem erfolgreichen Generalstreik vorläufig kulminierte. Doch selbst die Solidaritätsbewegung war sich bewußt, daß das Militär auch deshalb auf die Macht verzichtet hatte, weil es keine politischen Konzepte zur Sanierung der “ruinierten” Wirtschaft besaß. Im demokratischen Spektrum boten sich drei Grundströmungen an, die allerdings stark zersplittert waren: eine aus einer Vielzahl von Parteien bestehende Linke (später IU), eine mit großer Vorsicht als sozialdemokratisch zu bezeichnende Mitte (Apra), und eine populistische, neoliberale Rechte (AP und PPC). Alle drei Gruppierungen waren in der Wählergunst etwa gleich stark. Zur allgemeinen Überraschung gewann die Präsidentschaftswahl von 1980 der 12 Jahre vorher in einem unblutigen Putsch aus dem Regierungspalast gejagte Belaúnde Terry von Acción Popular (AP).
Belaúnde Terry tat nicht viel anderes als sein diktatorischer Vorgänger, nähmlich die rigurosen Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF anzuwenden. Durch die Streichung von Subventionen und die schrittweise Anhebung der Preise für zentrale Güter (z.B. Benzin) auf Weltmarktniveau sollte die Wirtschaft konkurrenzfähig werden. Eine Reduzierung der Inlandsnachfrage war gewünschter Bestandteil des Modells, wobei die Rezession die Inflation bremsen sollte. Belaúnde erreichte weder die Umstrukturierung der Wirtschaft noch eine Eindämmung der Inflation, die vielmehr von rund 30% Ende der 70er Jahre auf 100% im Jahr 1985 geklettert war. Das einzige, was er erreichte, war eine tiefgreifende Rezession mit gleichzeitiger Umverteilung der ohnehin verminderten Einkommen von unten nach oben. Bis 1985 wurde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung auf den Stand von 1969, dem ersten Jahr der peruanischen Revolution, gesenkt.
Bei diesen verheerenden Resultaten einer weltmarktorientierten Politik war es kein Wunder, daß bei den Präsidentschaftwahlen von 1985 die AP in der Versenkung verschwand. Die APRA unter Alan García konnte die Massen hinter sich bringen mit ihrem Programm zur Erhöhung der Inlandsnachfrage und Beschäftigung bei gleichzeitiger Reduzierung der Schuldendienstleistungen. Die Vereinigte Linke (IU) wurde zweitstärkste politische Kraft.
Die Regierung Belaúndes hatte das Land derartig ruiniert, daß der Journalist Victor Hurtado den Satz prägte, daß jede folgende Regierung zwangsläufig besser sein wird. Er täuschte sich. Nach zwei Jahren staatlich stimulierten Wirtschaftswachstum zeichneten sich der schleichende Bankrott des Staates und der beschleunigte Verfall der Wirtschaft ab.
Daß es nicht übertrieben ist, inzwischen vom völligen Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft zu sprechen, mögen folgende Daten belegen: 1988 und 1989 sank das BIP pro Kopf um jeweils rund 12% und liegt nun bei dem Stand von 1961, allerdings bei wesentlich ungleicherer Verteilung der Einkommen. Die Hyperrezession war verbunden mit einer Hyperinflation von rund 3.000 %, 1990 gar von 10.000 %. Die Staatsreserven waren vollständig aufgebraucht und die Steuereinnahmen lagen nur noch bei 4% des BIP (USA und BRD rund 25%). 40% der Landstraßen sind nicht mehr befahrbar und weitere 30% sind in sehr schlechtem Zustand. Das Elektrizitätssystem wird nicht nur durch die beständigen Angriffe von Sendero Luminoso, sondern auch durch die staatliche Politik selbst beschädigt. Die Investitionen sanken von 2% des BIP 1985 auf 0,6%, und die staatlichen Strombetriebe haben einen Verlust von 600 Mio. US$ eingefahren. Die Agrarbank, die trotz Hyperinflation zinslose Kredite gegeben hat, ist ruiniert und inzwischen liquidiert. Die Ausgaben für Gesundheit sanken von 6% des Staatshaushalts auf 3,5%. Dies sind nur einige Beispiele, die sich endlos fortsetzen ließen.

Szenarium der Armut

Einer der wichtigsten Indikatoren für eine Veränderung der Situation der Armen ist die Entwicklung des Mindestlohns. Dieser, der schon 1980 nur ein Überleben in gewöhnlicher Armut erlaubte, sank bis 1989 auf nur noch 23,2% des Wertes von 1980 (vgl. Graphik). Wer nun glaubt, daß viele Beschäftigte zwei oder drei Mindestlöhne verdienen, irrt leider. Das Gegenteil ist der Fall: 33,5% Erwerbsbevölkerung Limas erhalten nur ein Drittel des offiziellen Mindestlohnes!
Laut Angaben der UNICEF leben heute 60% der Bevölkerung in kritischer Armut mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen pro Person von 15,5 US$. Im ländlichen Raum sinkt dieser Wert noch auf 12,3 US$, und 83% der Landbevölkerung sind extrem arm.
Eine Vorstellung von der extrem ungleichen Verteilung der Einkommen, und somit auch des inzwischen auf den Wert von 1961 gesunkenen BIP, mögen folgende Zahlen verdeutlichen: Die 10% reichsten Haushalte konzentrieren 37,3% der nationalen Einkommen auf sich, während die 10% Ärmsten nur über 0,45% der Einkommen verfügen, und die reichsten 2% verdienen das 24-fache von den zwei Drittel Armen. Für die Kinder stellt sich diese Situation noch schlimmer dar: 89% der Kinder unter fünf Jahren leben in Armut (Caretas 1140).

Ein Beispiel der Überlebenswirtschaft: städtische Schweinezüchter

Der größte Teil der Armen sucht sein Überleben durch sogenannte informelle Wirtschaftsformen zu sichern. Es handelt sich meist um Kleinbetriebe, die zum Teil auch mit Lohnarbeitern wirtschaften. Die Arbeitsverhältnisse sind “ungeschützt”, es bestehen keine schriftlichen Arbeitsverträge, es werden keine Sozialabgaben bezahlt und es gibt keine gesetzlichen Sicherheiten. Der neue Staatspräsident Fujimori sieht in ihnen eine aufkommende Schicht von Kleinunternehmern.
Wie prekär das informelle Wirtschaften ist, zeigt sich an einer Gruppe dieser Kleinunternehmer, städtischen Schweinezüchtern des Großraums von Lima. Am Strand Oquendo in Callao, vor den Mauern der chemischen Fabrik El Pacífico, halten 80 “Kleinbetriebe” ingesamt 4.000 Schweine. Sie kaufen illegal den Abfall der “städtischen” Müllabfuhr aus den Vierteln der Wohlhabenden. Jede Fuhre wird zunächst nach wiederverwertbarem Material durchsucht. Metall, Plastik, Textilien, Glassplitter und Altpapier werden aussortiert und an ebenfalls informelle Kleinhändler verkauft. Anschließend werden die Schweine in der Müllhalde “geweidet”.
Die gesundheitlichen Gefahren dieser Art von “Überlebenswirtschaft im Abfall” sind natürlich sehr groß. Auch die Kinder “spielen” im Müll und freuen sich gelegentlich über einen Bonbon, den sie finden. Die Leute sind sich der Gefahren zumindest ansatzweise bewußt. Sie versuchen ständig, die Kinder vom Müll fernzuhalten. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation ist auch die Sterblichkeitsrate unter den Schweinen sehr hoch. Die “SchweinezüchterInnen” impfen deshalb nach Angaben der Zeitung „El Peruano“ diejenigen Schweine gegen Cholera, die das Überlebenskapital darstellen, gegen Cholera.
Schon vor Ausbruch der Cholera-Epidemie versuchte die Regierung, diese Abfallwirtschaft zu unterbinden. Sie drohte den Leuten mit Vertreibung und stellte die Lieferung von Abfall unter Strafe. Das einzige Resultat ist eine Verschlechterung der ohnehin prekären Situation der “Schweinezüchter”, weil seitdem nur noch wenige LKWs als “Blokadebrecher” in das Elendviertel kommen.
Daß die Leute sich gegen ein Verbot ihrer Abfallwirtschaft wehren, liegt nicht nur an ihrer verzweifelten ökonomischen Situation. Eine viel größere gesundheitliche Gefahr birgt für sie die chemische Fabrik, vor deren Mauern sie leben. Hochgiftige Abwässer laufen unmittelbar an ihrer Siedlung ungeklärt vorbei ins Meer, und die Bewohner sind ständig auf der Hut, Tiere und Kinder von den tödlichen Abwässern fernzuhalten. Außerdem läßt die Fabrik immer wieder Chlorgas in die Luft ab. Das Gas kriecht dann am Boden durch die Siedlung zum Meer. Um sich vor diesem Giftgas zu schützen, haben die Leute ein Haus aus Zement gebaut – alle anderen Häuser sind aus Abfallstoffen – und dieses hermetisch abgedichtet. Läßt die Fabrik Gas ab, so stürzen alle in diesen “Bunker”. Wenige Tage bevor die regierungsamtliche Zeitung EL Peruano die zitierte Reportage erstellte, schaffte es ein alter Mann nicht mehr rechtzeitig und starb auf halber Strecke (EP 2-12-90).
Dieses sicherlich extreme, aber durchaus glaubwürdige Beispiel der Überlebenswirtschaft der Armen verdeutlicht hoffentlich, was es heißt, wenn innerhalb nur eines Jahrzehnts das ohnehin niedrige Bruttosozialprodukt per capita um 25% und der Mindestlohn gar um 77% gefallen sind. Vor diesem Hintergrund scheint es nur verwunderlich, daß die Cholera-Epidemie nicht schon früher ausgebrochen ist.

Die gegenwärtige Krise ist offenbar nicht konjunturell, sondern Resultat einer 15-jährigen kontinuierlichen Abwärtsentwicklung, von ein- bis zweijährigen Boomphasen abgesehen. Fujimori war angetreten, mit der Politik seiner Vorgänger zu brechen, auf die Wirtschaftskraft der Informellen zu vertrauen und die staatlichen Funktionen wiederherzustellen. Weil er jedoch Peru in das internationale Finanzsystem zurückführen will – dies ist sein wichtigstes politisches Ziel für 1991, so Fujimori in einer programmatischen Rede zum Jahreswechsel -, ist er gezwungen, die Politik des IWF zu übernehmen. Zwar sind einzelne Silberstreifen am Horizont zu erkennen, wenn man sich jedoch vor Augen hält, daß die bislang noch nicht erfolgreich abgeschlossenen Bemühungen um einen 800 Mio. US$ Überbrückungskredit vornehmlich dazu dienen, die seit letztem Jahr überfälligen Zinsen an internationale Finanzorganisationen zu zahlen, so scheint die massive Verelendung ungebrochen weiterzugehen.

Peru in den Zeiten der Cholera

Es ist ja richtig, daß die Cholera-Epidemie in Peru zu einem Zeitpunkt ausgebrochen ist, als es wahrlich genug andere Probleme im Land gab und gibt (mensch lese nur den Artikel in dieser Nummer). Auch sprechen viele Indizien dafür, daß die peruanische Regierung, möglicherweise aus Furcht vor sozialen Unruhen, die Bekanntmachung des Ausbruchs der Epidemie verzögert hat, und erst, als die Zahl der Erkrankten schon in die Hunderte ging, öffentlich Maßnahmen verkündete. Daß inzwischen über 18.000 Menschen in Peru an Cholera erkrankt (in den Statistiken werden allerdings nur diejenigen “Krankheitsfälle” gezählt, die in Krankenhäusern oder -Stationen registriert sind) und offiziell bereits 144 gestorben sind, Tendenz steigend, könnte möglicherweise mit dieser Politik zusammenhängen.
Cholera ist nämlich eine vergleichsweise leicht zu bekämpfende Seuche, wenn die Erkrankten erstens sofort ausreichend medizinisch versorgt werden, und zweitens, wenn sofort Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Seuche ergriffen werden. Besonders letzteres ist in Peru versäumt worden.
Was ist Cholera? Krankheitsträger dieser Bakterienkrankheit sind “Vibrio cholerae”, die den Darm angreifen und eine äußerst heftige Durchfallerkrankung verursachen. Die hohe Sterblichkeit bei Infizierten, die keine medizinische Betreuung erhalten, ist durch den Flüssigkeitsverlust verursacht. Bis zu 70% sterben an Cholera, wenn sie nicht sofort behandelt werden. Die Chancen, eine Choleraerkrankung zu überleben, sind dagegen bei sofortiger ärztlicher Behandlung hoch. Die Therapie besteht vor allem aus Flüssigkeitszufuhr, das heißt, die Kranken müssen sofort viel trinken und Infusionen bekommen. Das Feldlazarett aus Frankreich, das nach Lima geschickt wurde, ist eine sehr sinnvolle Hilfe, weil die Kranken in der Tat gut in einer solchen Massenunterbringung versorgt werden können, geht es doch vor allem darum, sie schnell an Infusionströpfe zu hängen.
Als sogenannte Pandemie gehört Cholera zu den Krankheiten, die sich von Zeit zu Zeit wellenförmig über die ganze Erde verbreiten. Die letzte große Pandemie brach im 19. Jahrhundert im Gangesdelta in Indien aus, und erreichte damals auch Hamburg. Die jetzige Weile begann 1961 in Indonesien und verschob sich von dort nach Afrika und Europa. 1973 wurden Erkrankungen aus Portugal ge-meldet, in Afrika traten in praktisch allen Ländern Erkrankungsfälle auf. (In Zambia sind zwischen Oktober 1990 und Februar 1991 ca. 600 Menschen an Cholera gestorben, kaum wahrgenommen von den hiesigen Medien. Bis auf einige wenige Fälle an der Küste von Nordamerika blieb der amerikanische Doppelkontinent bis zum Ausbruch in Peru verschont.
Bis vor kurzem war als einzigeR TrägerIn der Bakterien der/die Mensch bekannt. (Eine Choleraimpfung von Schweinen, wie aus Peru berichtet, ist demnach völlig sinnlos). Zwischen den Epidemien “überwintern” die Bakterien auf “asymptomatischen TrägerInnen”, das heißt, daß sie von Menschen weiterhin ausgeschieden werden, die selber aber nicht (mehr) krank sind. Weitergegeben werden sie vor allem über Fäkalien, verseuchtes Trinkwasser und verschmutzte Nahrungsmittel. Zum Ausbruch der Krankheit ist aber jeweils eine große Menge von Bakterien nötig. Es ist also klar, daß Cholera eine Krankheit der Armen ist, weil sich sozial bessergestellte Menschen durch sauberes Trinkwasser und bessere hygienische Bedingungen vor der Ansteckung schützen können. Durch schon abgekochtes Wasser, Gemüse oder Fleisch können die Bakterien nicht weitergegeben werden.
In jüngster Zeit wird allerdings auch Zooplankton verdächtigt, Bakterienträger zu sein. Die paar Cholerakranken in den USA holten sich die Krankheit durch den Verzehr von Krabben. insofern macht es Sinn, daß die peruanische Regierung den Fang und Verkauf von frischem Fisch für drei Monate verboten hat. Allerdings dürften die sozialen Folgen, vor allem Arbeitslosigkeit unter den Fischern, fatal sein; allein schon der Verzicht auf rohen Fisch (sprich: die lokale Spezialität Cebiche) läßt einen Markt zusammenbrechen. Besonders aus Chibote, der Hafenstadt im Norden Perus, die von Öl- und fischverarbeitender Industrie lebt, werden verheerende Folgen gemeldet. Dort soll die Epidemie auch angeblich begonnen haben. Alles in allem macht dieses Verbot eher den Eindruck einer hektischen, aber sinnlosen Betriebsamkeit. Was versäumt wurde (möglicherweise durch die Taktik des Nicht-bekanntgebens), war, rasch den “Index-Fall” zu ermitteln, also die Person, die zuerst infiziert wurde. Wenn er oder sie bekannt ist, dann können in einem zweiten Schritt die möglicherweise angesteckten Personen festgestellt und überwacht werden. Auf diese Weise wurde in den USA und auch in Portugal die Ausbreitung der Krankheit verhindert. In Peru geschah dies nicht, und wenn die Bakterien einmal in das öffentliche Trinkwassersystem gelangt sind, ist es für eine systematische Eindämmung bereits zu spät.
Nach Auskunft von Frau Dr. Harms vom Tropeninstitut Berlin hat die peruanische Regierung sehr lange (bis Anfang Februar) erklärt, sie bekämen die Epidemie selbst in den Griff. Unterdessen hat sie sich aber im ganzen Land ausgebreitet, auch aus dem Hochland (z.B. Huancayo) werden Erkrankungen gemeldet. Besonders betroffen sind “natürlich” pueblos jovenes und alle Wohnviertel, die unter schwieriger Wasserversorgung leiden.
Von Cholera sind zwar hauptsächlich “die Armen” betroffen, der Ausbruch steht jedoch nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise, denn die hygienischen Bedingungen haben sich in den letzten Monaten nicht so gravierend verschlechtert, als daß die Krankheit nicht genauso gut oder schlecht vor einem Jahr hätte ausbrechen können. Schlimm nur ist, daß jeder Todesfall verhindert werden könnte, bei guter ärztlicher Versorgung, einem besseren Trinkwassersystem und bei sofortiger Eindämmung; der Epidemie, wozu rasche Aufklärung vonnöten gewesen wäre. Und das alles ist eben nicht geschehen.

“Das Volk marschiert”

Das peruanische Volk marschiert unter Führung der kleinen Linksparteien UDP und BPR auf den Straßen Limas gegen die imperialistische Intervention der USA. Dies könnte man jedenfalls glauben nach der Lektüre der Zeitung Cambio, Sprachrohr der Guerilla MRTA, der beide Parteien nahestehen, vom 31.Januar. Allerdings läßt sich aus dem Artikel auch entnehmen, daß die “Izquierda Unida” zusammen mit ver¬schiedenen Gewerkschaften ebenfalls demonstrierte. Dies ist dann aber selbstverständlich nicht “das Volk”. Schließlich richte sich einzig die UDP/BPR-Demo gegen die interven¬tionistische Politik des Imperialismus, während die anderen nur für den Frie¬den demonstrierten. In aller Ausführ¬lichkeit wird berichtet, wie eine US-Flagge nach der anderen verbrannt wurde. Der spektakulärste Auftritt des MRTA dürfte ein Anschlag auf die US-Botschaft am 26.Januar gewesen sein.

“A guerra é nossa”

Diese erste größer angelegte Demonstration nach dem Beginn des Krieges zeigte einen Mikrokosmos der Probleme, die eine Mobilisierung verhindern. Innere Streitigkeiten, Segmentierung und platter Antiimperialismus bestimmten das Bild. Zusammen mit der PT hatten die beiden kommunistischen Parteien PCB und PCdoB zur Demonstration aufgerufen. Der greise Vorsitzende der PCdoB Joao Amazonas (einer Partei, die gerade mitansehen muß, wie der letzte Leuchtturm ihres Sozialismus, Albanien!, dem Revisionismus verfällt) war in seinem Element. Wilde Attacken gegen den Imperialismus, dessen Kriegsziel eindeutig ist: Vernichtung des Volkes, das gegen den Imperialismus kämpft. Offene Pro-Saddam Parolen waren allerdings nicht zu hören oder zu sehen, obwohl Teile der Trotzkisten innerhalb der PT und andere Gruppierungen (MR-8) die Solidarität mit Saddam proklamieren. Dafür aber ein gigantischer Parolenmix: “Raus mit dem Imperialismus aus dem Golf und aus Brasilien!” oder “Weg mit Bush und Collor, für Generalstreik!”
Positiv von diesen angesichts der versammelten “Massen” nur noch lächerlichen Parolen setzte sich die Rede Lulas ab. Er ging auf die Situation Brasiliens ein, auf die Bomben Collors und der Wirtschaftsministerin Zelia, die das Land verwüsten. “Brasilien befindet sich im Krieg, in einem Krieg, der durch Rezession die Industrie zerstört, die Menschen durch Entlassungen ins Elend treibt, in einem Krieg, der vom IWF aufgezwungen wird.” Lula markierte damit das Dilemma der brasilianischen Antikriegsbewegung: ein ferner Krieg interessiert wenig, wenn der tägliche Kampf so grausam ist. Zur Gewöhnung an die Gewalt trägt auch das Fernsehen bei durch die Unzahl von Zeichentrickfilmen und japanischen Metzelserien, die einer der Renner im Tagesprogramm sind. Warum dann aber “a guerra é nossa”? Weil, so Lula, die imperialistischen Staaten offensichtlich bereit sind, eine Milliarde US $ pro Tag in den Krieg zu stecken, während in der “Dritten Welt” die Kinder sterben, und die imperialistische Aggression jederzeit auch Brasilien treffen könnte, etwa durch eine Intervention in Amazonien.

PT zerstritten

Lula umschiffte in seiner Rede eher die Punkte, die in der PT hef¬tig diskutiert werden. Die in einer Resolution des Parteivorstandes festgehaltenen Positionen (siehe Kasten) werden vor allem von den Trotzkisten innerhalb der PT kritisiert. Sie sehen darin eine Abweichung vom Antiimperialismus, fordern (teilweise) “Solidarität mit Saddam” und halten die Besetzung Kuwaits für eine gerechte Sache. Insbesondere unter den Intellektuellen in der PT befinden sich andererseits zahlreiche Juden, die sich in einer “Kommission für jüdische Fragen” zusammengeschlossen haben. Sie sorgten dafür, daß bei aller Kritik an der Politik Israels, das Existenzrecht des Staates Israel in offiziellen Verlautbarungen der PT anerkannt wird. Aber auch außerhalb des Lagers der harten Trotzkisten fordern viele Mitglieder eine bedingungslose Unterstützung der PLO durch die Partei.
Noch andere Streitpunkte wurden auf der Demonstration sichtbar: Eine kleine Gruppe wohlorganisierter DemonstrantInnen trat plötzlich auf, als die Redner loslegten. Es waren BesetzerInnen einer Wohnsiedlung, adventista II. Angeblich von einer Tendenz innerhalb der PT (“o trabalho”) haben sie mit öffentlichen Mitteln gebaute Wohnungen für BezieherInnen kleiner Einkommen (COHAB) besetzt. Die Stadtverwaltung von Sao Paulo, auch von der PT gestellt, fordert den Abzug der BesetzerInnen, da sie nur anderen Armen, die durch Wartelisten einen Anspruch erworben haben, die Wohnungen wegnähmen. Ein Anführer der BesetzerInnen spricht mich an: Er zeigt mir Bilder von verstümmelten und verletzten Kindern – Opfer der Räumungen in Diadema (Industriestadt bei Sao Paulo) vom Ende letzten Jahres. (Offiziell) vier Tote, viele Verletzte, einige Verschwundene waren das Resultat: “Das ist unser Bagdad”, sagt er. Diadema wird von der PT regiert. Auch wenn es die Landesregierung war, die die Räumungen angeordnet hatte, geriet die PT-Verwaltung in der Stadt doch zusehends in den Strudel der Beschuldigungen. Natürlich war die Demonstration vom 22.2. nicht die einzig Aktion gegen den Krieg im Golf, aber die anderen waren genausowenig signifikant. Bezeichnend ist der Charakter der größten Manifestation für den Frieden: Ein gemeinsamer Gottesdienst der vier großen Konfessionen (evangelische und katholische Christen, Moslems, Juden), zu dem die Folha de Sao Paulo aufgerufen hatte. 2000 Menschen fanden sich ein, inklusive der politischen Prominenz Sao Paulos von links bis rechts. Bei allgemeinem Friedensgesäusel fiel nur der Rabbiner aus der Rolle: Zum Entsetzen (nicht nur) der linken Juden verteidigte er die Aktionen der Alliierten als gerechten Krieg.
Schlußbemerkung: Am selben Tag (22.2.) trafen sich 1000 Personen zu einer ganz anderen Demonstration, einer Veranstaltung mit dem Titel “Em Defesa do Marxismo”.

Kasten:

Die Partei der Arbeiter – Resolution
der PT zum Golfkrieg (27.1.1991 – Auszüge)

Unter dem Vorwand, die Integrität des kuwaitischen Territoriums zu vertei¬digen, haben die Vereinigten Staaten und ihrer Alli¬ierten die größte Mordma¬schinerie seit dem Zweiten Weltkrieg in Aktion gesetzt. Die Vereinten Natio¬nen dienen als Schutzschild für die Kriegspolitik von Bush. Was im Golf auf dem Spiel steht, sind die gigantischen Interessen der Ölkonzerne, die die Fol¬gen einer Konzentration von Macht in den Händen eines Dikta¬tors fürchten, der die Verhandlungen über den Ölpreis erschwe¬ren kann. Aber grundsätzli¬cher geht es bei diesem Krieg um die Fähigkeit der Regierung der USA, sich zur einzigen Großmacht im Weltmaßstab zu erheben und eine neue ökonomi¬sche, politische und militärische Weltordnung zu etablieren.
Wir verurteilen die Versuche der USA und ihrer Verbündeten, den Konflikt militärisch zu lösen…
Wir verurteilen die Invasion des Iraks in Kuwait…
Wir verurteilen, daß die UNO den USA und den Alliierten einen Freibrief für ihre Kriegspolitik gegeben haben. Die Rolle der UNO ist es, Frieden zu suchen und nicht, Krieg zu legitimieren.
Wir verurteilen die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Is¬rael, im Irak, in Saudi Arabien oder jedem anderen Land der Re¬gion.
Wir verteidigen eine Verhandlungslösung als einzigen Ausweg, um den Frie¬den in der Region wiederherzustellen.

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