Die schier unglaubliche Mobilisierung eines Volkes

LN: Wie erklärst Du die neu erwachten Hoffnungen auf Haiti?

Pierre Toussaint ROY: Auch wenn es seltsam klingt, der erste Grund sind die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich durch die Gewalt gegen das Volk aufgestaut hatten.
Der zweite Grund ergibt sich daraus, daß die neue Regierung wirklich ein Ausdruck des Volkes ist. Es hat keine politische Partei gewonnen, an die das Volk sowieso nicht glaubt, sondern die Volksorganisationen haben ihren Kandidaten durchgesetzt. Inmitten der Hoffnungslosigkeit haben sich seit ein paar Jahren innerhalb der Kirche BäuerInnen-, Frauen- und Jugendgruppen gebildet. Die konservativen Kreise der katholischen Kirche haben den Armen ihre Strukturen zur Verfügung gestellt und kleine Entwicklungsprojekte gestartet. aber die Leute haben innerhalb dieser Strukturen ihre eigenen Organisationen geschaffen.
Die Volksorganisationen sind jetzt an die Macht gelangt, diese Regierung ist ein Produkt der Arbeit des Volkes. Zuerst waren sie gegen die Wahlen, weil es keine Alternative zu dem Kandidaten der USA gab. Doch als die Tontons Macoutes einen Kandidaten aufstellten, gingen sie auf die Suche nach einem aussichtsreichen Gegenkandidaten.
Aristide hatte schon einige Male abgelehnt. Als er diesmal zusagte, erfüllte er einen ausdrücklichen Wunsch des Volkes. In seiner Arbeit ist er mit dem Volk gegangen, hat mit dem Volk gekämpft und mit dem Volk gelitten. Deshalb stellt er eine Hoffnung dar. Auch wenn kaum Zeit war, um ein klares Regierungsprogramm auszuarbeiten, weil alles so schnell ging.

LN: In welcher Form hat das Volk Aristide unterstützt?

P.T.R.: Das läßt sich an drei Momenten der letzten Monate verdeutlichen, an den Wahlen, dem Putschversuch und der Amtsübergabe.
Haiti hat sechs Millionen EinwohnerInnen. Davon sind drei Millionen wahlberechtigt. Als die USA ihren Kandidaten, Marc Razin, einen ehemaligen stellvertretenden Direktor der Weltbank, aufstellten, erwartete man zwischen 30 und 40 Prozent Wahlbeteiligung. Als die Volksorganisationen Aristide als Kandidaten präsentierten, hatten sich 2 Millionen WählerInnen ins Wahlregister eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt blieb nur noch eine Woche bis zur verlangten eine Million Menschen, eingeschrieben zu werden, sodaß die Frist um eine Woche verlängert werden mußte. Es war also von vornherein klar, daß über ein Drittel der WählerInnen für Aristide stimmen würde. Und kein Kandidat konnte auf Wahlveranstaltungen nur ein Zehntel der Menschen zusammenbringen, die zu Aristide kamen.
Genauso spontan mobilisierte sich das Volk beim Putschversuch am 7. Januar. Dort war es deutlich: Ihr Kandidat hatte schon gewonnen und viele Hoffnungen geweckt.
Als die konservativen Kräfte mit dem Putsch versuchten, die Machtübernahme zu verhindern, gingen die Leute auf die Straße. Es war völlig erstaunlich: Ohne irgendeine Koordination reagierten die Leute in allen Landesteilen in gleicher Weise. Sie wissen genau, wer ihr Feind ist. Sie wissen genau, wer ein Tonton Macoute ist. Und so griffen sie sie sofort an. Sie zerstörten ihre Häuser, griffen sie auf und verbrannten sogar viele von ihnen.
Es gibt Versionen, denen zufolge die Militärs ihre Unterstützung für die Tontons Macoutes zurückzogen, als sie sahen, daß die Menschen auf den Straßen zum Äußersten bereit waren. Denn anstatt die reignisse vor dem Fernseher zu verfolgen, griffen die Leute ein. Einige mit ihren Fäusten, andere mit Stöcken. Sie gingen auf die Straßen, blockierten sie mit brennenden Autoreifen und bauten Barrikaden, um die Tontons Macoutes an der Flucht zu hindern. Das Volk bewachte die Barrikaden, verfolgte die Macoutes und bewegte sich auf den Nationalpalast zu. Dort hatten sich die Putschisten verschanzt.
So wurde das gemacht. Und es wurde in Port-au-Prince, in Capo Haitien und an vielen Orten überall so gemacht. Die Leute haben in den letzten sechs Jahren seit dem Sturz der Diktatur darin Erfahrungen gesammelt.
Und vor dem Nationalpalast sammelten sich immer mehr Menschen. Offiziell und auch in den Zeitungen wird behauptet, daß die Militärs nicht am Putsch teilnahmen, daß das Militär nach einem Schußwechsel den Nationalpalast besetzte und die Tontons Macoutes festnahm. Aber die Version der Volksorganisationen ist eine andere.Als der Anführer der Putschisten sich zum Präsidenten erklärte, beschlossen die Leute, zu kämpfen. Die Militärs, die sich nach dieser Version sehr wohl am Putsch beteiligt hatten, verließen den Nationalpalast und zogen sich in ihr Hauptquartier zurück. Von dort aus sahen sie, daß die Menschen viele Tontons Macoputes verbrannt hatten und dabei waren, den Nationalpalast zu stürmen. Mit all ihren Waffen hätten sie nicht Tausende von Menschen aufhalten können, die von allen Seiten kamen. Deshalb beschlossen die Militärs, die Tontons Macoutes zu verhaften.
Die gleichen Menschen gingen auch bei der Amtsübernahme auf die Straße. Dadurch, daß sie schon Tage zuvor die Wohnviertel säuberten, die Straßen schmückten und die Mauern mit Bildern bemalten, zeigten sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, sich an der Regierung zu beteiligen.
Und auch Aristide drückte dies bei seiner Rede vor dem Nationalpalast aus. Noch nie hat ein Präsident während einer offiziellen Zeremonie so geredet wie Aristide. Wie auf seinen Predigten fragte er etwas und die Leute antworteten. Zum Beispiel: “Viele Hände?”, und die Menge antwortete: “Erleichtern die Last!”.
Diese ganzen Mobilisationen sind eine Warnung an die konservativen Kräfte und auch an die USA. Sie sollen sehen, daß die Menschen mit ihrem Leben diese Volksregierung verteidigen werden.

LN: Die drei Hauptpunkte in Aristides Programm sind Gerechtigkeit, Transparenz und Partizipation. Auf welche Weise wird sich das Volk an der Regierung beteiligen?

P.T.R.: Dazu muß nur die Verfassung angewandt werden. Sie stammt von 1987 und wurde damals von fast 100% der HaitianerInnen befürwortet. Darin ist festgelegt, daß es außer dem nationalen Parlament mit zwei Kammern auch eine Nationalversammlung der Volksorganisationen geben soll. Sie setzt sich aus RepräsentantInnen der neun Provinzversammlungen zusammen. Diese wiederum werden aus den Kreisversammlungen gebildet. Die neue Regierung sieht vor, daß die Provinzversammlungen von den Gemeinde- und Stadtteilkomitees ausgehen sollen. Diese Komitees gibt es im ganzen Land und sind der vielfältige Ausdruck der Volksbewegung. So ist es im Regierungsprogramm festgelegt, das übrigens “Die Gelegenheit am Schopfe packen” heißt.

LN: Und wie gestaltet sich das Verhältnis zur Kirche?

P.T.R.: Es gibt wie fast überall in Lateinamerika den konservativen Teil der Kirche, dem die Kirche der Armen gegenübersteht, die die Theologie der Befreiung vertritt. In Haiti gibt es drei Bischöfe auf der Seite der Armen, einige Unentschiedene und drei völlig Konservative. Der schlimmste ist der Erzbischof von Port-au-Prince, Francois Ligondé. Und auch hier hat das Volk reagiert.
Am 1. Januar hat Ligondé Aristides beschimpft. Einen Bolschewisten, Sozialisten, Diktator nannte er ihn. Sechs Tage später, beim Putschversuch, erinnerte sich das Volk sofort an diese Worte und bewertete sie im Nachhinein als Signal für die Vorbereitung des Putsches. Deshalb war der Bischof einer der ersten, der am siebten Januar angegriffen wurde.
Zuerst hieß es, er sei im Sitz der Bischofskonferenz. Die Leute gingen hin, plünderten und zerstörten den Sitz. Dann hieß es, Ligondé sei in seinem Haus. Als die Leute dort angelangten, war es schon von Polizisten besetzt, und so gelangten sie nicht hinein. Aber die Polizisten meinten, er halte sich in der alten Kathedrale versteckt. Also gingen die Manschen dorthin und brannten die alte Kathedrale nieder. Und so zog die Menge zu allen Orten, an denen sie den Bischof vermutete, durchsuchte und plünderte sie. Es heißt, daß Ligondé mittlerweile das Land verlassen hat.
Dies zeigt, daß die konservativen Teile der Kirche es nicht leicht haben werden. Außerdem ist die Mehrheit des Volkes innerhalb der Kirche organisiert. Das muß die Kirchenhierarchie akzeptieren. Ihre Beziehungen zur Regierung sind eine andere Sache, das läßt sich noch nicht voraussehen.

LN: Welche Hindernisse wird die Regierung zu bewältigen haben?

P.T.R.: Ein ist völlig klar, den USA geht diese Regierung gegen den Strich. Aber diese Regierung weiß, daß die USA großen Einfluß haben. Sie hat erklärt, daß sie zur Zusammenarbeit bereit ist, gegenseitigen Respekt immer vorausgesetzt. Doch die USA warten erst einmal ab, wie sich die Haitianische Regierung “benimmt”.
Das zweite Problem sind die Tontons Macoutes. Natürlich werden auch sie alles tun, um die Regierung zu stürzen. Aber durch den langen Kampf des Volkes sind sie geschwächt. Der beste Beweis dafür ist ihr gescheiterter Putschversuch vom siebten Januar. Außerdem sind dabei die Anführer der Tontons Macoutes verhaftet worden, und das Volk hat viele von ihnen umgebracht. Und die Regierung hat vom ersten Tag an Schritte gegen die terroristischen Banden unternommen; über einhundert Personen, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, dürfen das Land nicht verlassen.
Doch das größte Problem ist die Wirtschaftslage. Es müssen Entwicklungsprogramme gestartet werden. Im Regierungsprogramm steht, daß die Mittel innerhalb Haitis ausgenutzt werden sollen. Doch für Haiti ist internationale Hilfe lebensnotwendig. Viele lateinamerikanische Länder, zum Beispiel die “Gruppe der Drei” (Mexiko, Venezuela, Kolumbien) haben angekündigt, wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen zu Haiti zu verstärken. Venezuela wird Öl liefern.
Doch trotzdem wird es viele Probleme geben. Die wirtschaftliche und soziale Situation in Haiti ist fürchterlich. Daher betone ich immer wieder, wie wichtig internationale Solidarität ist. In erster Linie muß es Solidarität von Volk zu Volk geben. Volksorganisationen, Institutionen und Personen, die für das Volk arbeiten, sollen direkten Kontakt zu den haitianischen Volksorganisationen aufnehmen und ihre Projekte unterstützen. Denn unzählige BäuerInnen-, Frauen- und StudentInnengruppen haben Entwicklungsprojekte.
Zweitens muß es auch Unterstützung von Regierung zu Regierung geben. Die Volksorganisationen und die Personen in allen Ländern sollten ihre Regierungen bitten und sie unter Druck setzen, damit sie die Regierung von Haiti unterstützen, aus dieser Misere herauszukommen.

Quellen: Sergio Ferrari, El Dia Latinoamericano 18.2.91

Geschichtliche Grundlagen

Nach der Entdeckung der Insel durch Kolumbus stand “Hispaniola” zunächst 200 Jahre unter der Herrschaft Spaniens, das 1697 nach 50jährigem Krieg ge¬gen Frankreich den westlichen Teil an die französischen Kolonialisten abtreten mußte. Im Laufe des 18.Jahrhunderts entwickelte sich dieser Teil, Sainte Do¬mingue, vor allem durch die Arbeit der Sklaven zur reichsten Kolonie Frankreichs und erlebte einen Wirtschaftsboom mit der Erzeugung von Zuc¬ker, Kakao, Kaffee, Baumwolle und Indigo.
Nach 100 Jahren französischer Kolonialherrschaft ließ die Revolution im Mutterland auch in der Kolonie erste Unabhängigkeitsbewegungen aufkom¬men, die 1791 zu einem allgemeinem Aufstand und in der Folge zum 12jährigen Freiheitskampf der MulattInnen und der schwarzen Bevölkerung führten. 1804 wurde Haiti vom schwarzen General Dessalines zum er¬sten un¬abhängigen Staat Lateinamerikas ausgerufen und stellte gleichzeitig auch die erste autonome Schwarzen-Republik überhaupt dar.
Im Verlauf des 19.Jahrhunderts wuchsen die Spannungen zwi¬schen den ethni¬schen Gruppen zu einem fast per¬manenten Bürgerkrieg. 22 Regierungen, de¬ren Präsidenten vorrangig das Mi¬litär stellte, wechselten sich ab. Politisch stand Haiti völlig isoliert da und war ständigen Interventionen von Seiten der europäischen Kolonial¬mächte und der U.S.A. ausgesetzt.
1915 intervenierten die USA, um den herrschenden Bürgerkrieg zu beenden und ihre ökonomischen Interessen zu wahren. Erst nach 20 Jahren Besatzung zogen sich die Ma¬rines wieder zurück. Es folgte ein erneut von diktato¬rischen Regimen gepräg¬ter Abschnitt. Mitte der sechziger Jahre hatte der Staat die ge¬ringste Lebenser¬wartung, den geringsten Kalorienverbrauch pro Kopf, das ge¬ringste Bruttosozial¬produkt pro Kopf und mit 10% die niedrigste Alphabetisie¬rungsrate des Kontinents zu verzeichnen.
Francois Duvalier, der 1957 durch eine Scheinwahl an die Macht kam und unter dem Namen “Papa-Doc” berühmt und v.a. berüchtigt wurde, führte die Tradition der Gewalt- und Korruptionsherrschaft noch brutaler fort. Kurz vor seinem Tod setzte er seinen Sohn Jean-Claude “Baby-Doc” als seinen Nachfol¬ger auf Lebenszeit ein. Durch den in¬zwischen stärker gewordenen Druck der Weltöffentlichkeit und vor allem, um ausländische Investoren ins Land zu locken, führte dieser eine Scheindemo¬kratie ein und machte Haiti zum Steu¬erparadies für Großunter¬nehmer. Nach dem Sturz “Baby-Docs” 1986 wurde das Land über¬gangsweise von einem Na¬tionalen Regierungsrat geführt, der ausschließlich mit Mili¬tärs besetzt war. Seine Aufgabe bestand darin, den Übergang zu einer Demokratie vorzuberei¬ten.
In den folgenden drei Jahren bekleideten nacheinander Leslie Manigat, Gene¬ral Namphy und General Avril, der durch einen Putsch an die Macht kam, das Präsidentenamt. Am 13. März 1990 übernahm schließlich die Richterin Ertha Pascal Trouillot übergangsweise die Präsidentschaft, nachdem Avril durch internationalen Druck zurücktreten mußte.

Erziehung zum Kapitalismus?

Anfang Februar dieses Jahres setzte das Rotationsroulette der argentinischen Regierungsposten wieder ein und ließ den bisherigen Außenminister Domingo Cavallo (s.LN 200) zum neuen Chef des Wirtschaftsministeriums avancieren. (s.Kasten) Damit soll versucht werden, die argentinische Bourgeoisie zum Kapitalismus zu erziehen. Zwei Wochen zuvor hatte bereits ein Korruptionsskandal zur völligen Kabinettsumbildung geführt . Der seitdem amtierende Verteidigungsminister Guido Di Tella nahm im Februar Cavallos Außenministerposten ein, der bisherige Wirtschaftsminister “Sup”-Ermán Gonzales wurde neuer Verteidigungsminister. Köpfe sind eben beliebig austauschbar. Die Wirtschaftspolitik wird unter Cavallo allerdings bezüglich des eingeschlagenen neoliberalen Kurses der peronistischen Regierung kontinuierlich bleiben. Diese drei modernisierungswilligen Ökonomen sollen unter der Leitung von Cavallo eine Art Mini-Kabinett bilden, was die starke Position des neuen Wirtschaftsministers zeigt.

Der ökonomische Putsch

Mitte Januar wurde die Position des damaligen Wirt¬schaftsministers Gonzales zunächst gestärkt. Im Zuge der Umbildungen nach dem Korruptionsskandal innerhalb der Regierung wurde das Ministerium für öffentliche Dienstleistungen und Staatsbetriebe aufgelöst und dessen Aufgaben Gonzales direkt übertragen. Gerade innerhalb dieses Ministeriums, das für die Privatisierung der Staatsbetriebe zuständig ist, war es in der Vergangenheit immer wieder zu Korruptionsfällen gekommen. Im Anschluß präsentierte “Sup”-Ermán dann eine neue Anpassung seines Wirtschaftsplans (die sechste innerhalb eines Jahres), welche vor allem rigorose Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und Korruption vorsahen. Die Steuern sollten in fast allen Bereichen erhöht werden, um das chronische Haushaltsdefizit des argentinischen Staates (4,5 Mrd. US-Dollar) zu senken. Gleichzeitig sollten Steuerhinterzieher mit hohen Strafen rechnen. Als Bonbon bot Gonzales der argentinischen Bourgeoisie zwar an, ihre Dollars nun legal auf Auslandskonten anlegen zu dürfen – geradezu eine Aufforderung zur Kapitalflucht – doch den wirtschaftlichen Machtgruppen gingen diese Ankündigungen zu weit.
“Diese ökonomischen Tendenzen können uns in eine sehr delikate Situation bringen, sollten sie nicht korrigiert werden”, sagte der Präsidentenberater für Wirtschaftsfragen und Auslandsverschuldung Alvaro Alsogaray bei seinem Rücktritt Mitte Januar. Diese Aussage des ultraliberalen Ökonomen hätten eine Warnung für den Wirtschaftsminister sein können. Gerade mit Alsogaray hatte es in den vergangenen Monaten immer wieder Differenzen bezüglich der Wirtschaftpolitik gegeben. Doch alle Warnungen schienen nichts zu helfen, Gonzales blieb bei seinen Maßnahmen.
Ende Januar wurde dann durch eine gezielte Intervention der argentinischen Wirtschaftsgruppen auf dem Finanzmarkt die Inflation erneut angeheizt. Die Wirtschaftsbosse agierten ähnlich wie im Frühjahr 1989. Damals wurde durch eine inszenierte Erhöhung der Dollarnachfrage die Hyperinflation in Gang gebracht, die nicht nur den argentinischen Austral binnen eines Monats um 200% an Wert verlieren ließ, sondern auch zu landeswei¬ten Plünderungen und dem vorzeitigen Rücktritts von Menems Vorgänger Alfonsín führte (LN 183/4). Der Dollar stieg diesmal innerhalb weniger Stunden um 25% und die Tageszeitungen konnten am nächsten Tag titeln: “Der Dollar schlug Ermán k.o.”. “Gonzales hat den Kampf gegen seine Feinde verloren”, kommentierte freimütig ein Großunternehmer. Der Wirtschaftsminister zog es vor, mit seinem gesamten Stab zurückzutreten, anstatt weitere Maßnahmen zu ergreifen.

Die grauen Eminenzen der argentinischen Politik

Inflation entsteht allerdings nicht aus heiterem Himmel, sie wird in Argentinien gezielt als machtpolitische Waffe angewandt. Um diesen Mechanismus zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die argentinische Geschichte notwendig:
Ab 1976 setzte eine der blutigsten Militärdiktaturen Lateinamerikas ein neues ökonomisches Akkumulationsmodell durch. In den vorhergehenden Jahrzehnten sorgte die traditionelle Rivalität zwischen der Agraroligarchie auf der einen und der Industriebourgeoisie auf der anderen Seite für die charakteristische politische Instabilität des Landes: Innerhalb kürzester Zeit wechselten die Regierungen, je nachdem welche politische Allianz sich aus den Wirtschaftgruppen, den Militärs und anderen gesellschaftlichen Einflusgruppen zusammengesetzt hatte. Keine dieser konkurrierenden Allianzen war in den 50er und 60er Jahren mehrheitsfähig. Entsprechend lösten sich kurze Phasen der liberalen Exportorientierung und Außenöffnung mit binnenwirtschaftlichen Entwicklungsmodellen ab. Während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) wurde dieser alte Interessengegensatz aufgehoben. Gemeinsam mit der dann entstandenen Finanzbourgeoisie, welche ihre Gewinne ausschließlich aus dem lukrativen Geschäft der Finanzspekulation auf dem argentinischen Devisenmarkt schöpft, beherrschen diese Gruppen (grupos económicos) die wirtschaftliche Entwicklung. Ihre Interessensvertretungen und Verbände bilden heute eine einheitliche Gruppe. Während der Diktatur hat sich das Kapital enorm konzentriert: Durch umfangreiche Firmenaufkäufe wurde die Anzahl der argentinischen Großkonzerne immer geringer, ihre Tätigkeit hingegen diversifiziert. So sind heute alle argentinischen Großunternehmen in mehreren Branchen gleichzeitig aktiv. Dies ermöglicht es ihnen, sich je nach Konjunktur wechselweise auf verschiedene Sektoren zu konzentrieren. Die klassische Trennung zwischen Agrar- und Industriesektor wurde aufgehoben.
Die völlige Liberalisierung der argentinischen Wirtschaft, die die Militärs durchsetzten, ließ die exportorientierten Großbetriebe wachsen, während die binnenmarktorientierte Kleinindustrie zugrunde ging. Viele Unternehmen waren durch die rigorose Öffnung für Importe nicht mehr konkurrenzfähig, so daß eine regelrechte De-Industrialisierung einsetzte.
Die Interessen der großen Wirtschaftsgruppen gehen mit denen der Auslandsbanken einher. Eine möglichst hohe Exportquote sorgt für zusätzliche Einnahmen des Staates, der dann damit die Zinsen auf die Auslandsschulden bezahlen kann. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist allerdings der parasitäre Charakter der argentinischen Bourgeoisie. Sie will zwar ihre Profite vergrößern, dies allerdings lieber mit Finanzspekulation als mit produktiven Investitionen. Entsprechend versuchte der Staat durch Investitionssubventionen diese Aufgabe der Privatwirtschaft zu übernehmen. Neun von zehn der von Großkonzernen investierten Dollars sind Subventionnen des Staates.

Der Druck auf die “demokratischen” Regierungen

Der demokratisch gewählte Präsident Alfonsín scheiterte letzlich an der Konfrontation mit den herrschenden Unternehmensgruppen. Menem setzte hingegen in offener Allianz mit dem Großkapital (sein erster Wirtschaftsminister entsprang dem argentinischen Multi Bunge y Born) das liberale Export-Modell weiter fort. Die Macht der Wirtschaftsgruppen ist letztlich für jede Regierung Argentiniens entscheidend. Sie benutzen die demokratischen Regierungen, egal welcher Couleur, lediglich dazu, ihre Profite zu sichern und zu vergrößern. Sollte es dennoch eine Regierung wagen, in Kenntnis dieses entscheidenden Machtfaktors dessen Interessen einzuschränken, etwa indem höhere Steuern eingeführt werden, so wird durch einen ökonomischen Putsch klargemacht, wer die eigentlichen Machthaber im Land sind.
Die wenigen Großkonzerne intervenieren gezielt auf dem Devisenmarkt und kaufen Dollars in Massen. Dadurch erhöht sich die Anzahl der in Umlauf befindlichen argentinischen Australes. Geschieht dies in ausreichendem Umfang, setzt umweigerlich die Inflation ein. Dieses Spiel findet zudem nicht irgendwann, sondern meistens im argentinischen Sommer statt. Das Motiv dafür ist simpel: Die Agrarexporteure erzielen in den Monaten Dezember bis Februar ihre größten Dollar-Erlöse. Diese wollen sie natürlich dann durch die Spekulation auf dem Finanzmarkt zu einem möglichst günstigen, das heißt hohen Wechselkurs tauschen. Wird der Dollar künstlich niedrig gehalten, inszenieren sie die Inflation, damit letztlich der Wechselkurs freigegeben wird und sie ihre Gewinne erhöhen können. Das Geschäft besteht darin, zunächst Dollars in Australes zu tauschen. Diese werden dann zu dem sehr hohen, über der Inflation liegenden Zinskurs für einige Tage oder Monate angelegt und dann wieder in Dollars umgetauscht. Die so vermehrten Dollars transferieren sie dann auf ihre Auslandskonten: Kapitalflucht, wie das so schön heißt.
Diese Kapitalflucht hat in Argentinien einzigartige Ausmaße angenommen. Auf den Auslandsbanken der Großkonzerne befinden sich Devisen in Höhe der Auslandsverschuldung Argentiniens, also um die 65 Mrd.(!) US-Dollar. Jährlich vergrößert sich diese Summe um 1,2 bis 1,5 Mrd. US-Dollar. Ein lukratives Geschäft.
Auf diese Art und Weise sind im Frühjahr 1989 Alfonsíns Wirtschaftsminister Sourouille, im Dezember 1989 Menems Wirtschaftsminister Rapanelli und nun “Sup”-Ermán Gonzales weggeputscht worden. Die Regeln ökonomischer Lehrbücher sind in Argentinien durch dieses Vorgehen der großen Konzerne völlig auf den Kopf gestellt worden. So kommt es zu dem für IWF- und Weltbank-Strategen ‘unerklärlichen Phänomen’, daß bei einer tiefen Rezession gleichzeitig Hyperinflation entsteht. Gewußt wie!

Cavallo sucht die Konfrontation – oder doch nicht?

“Ein frontaler Schlag gegen das Haushaltsdefizit und die Korruption. Eine große Operation ohne Anästhesie”, so bezeichnete Präsident Menem die neuen Maßnahmen seines Wirtschaftsministers Domingo Cavallo, der Anfang Februar seinen Plan verkündete. Eindämmung der Kapitalflucht, Erhöhung der Steuereinnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits und Beginn einer produktiven Wachstums- und Investitionsphase sind die wesentlichen Zielsetzungen. Erreicht werden soll all dies durch einen völlig freien Wechselkurs, die Erhöhung der Steuern und ein rigides Regime gegen die Steuerhinterziehung. Listen sollen veröffentlicht werden mit den Namen derjenigen Unternehmen, die ordnungsgemäß ihre Steuern abliefern. Andere Unternehmen sollen dann denunziert und strafrechtlich verfolgt werden. So soll der enorme Steuerbetrug in Argentinien aufgedeckt und bekämpft werden. Den Unternehmen, die ihre Preise senken und so der Inflation Einhalt gebieten, verspricht Cavallo ebenfalls Steuervergünstigungen, während Preistreiber mit besonders harten Steuerkontrollen zu rechnen haben. Parallel will die Regierung Preislisten für die Grundprodukte und Arzneimittel veröffentlichen, damit die Bevölkerung beim Einkauf einen Anhaltspunkt hat.
Die staatliche Subventionierung für Investitionen des privaten Sektors wurde von Cavallo aufgehoben. Investitionsanreize sollen vielmehr über Steuererleichterungen geschaffen werden. Gleichzeitig wurden die Tarife für öffentliche Dienstleistungen erhöht und eine Reihe neuer Steuern für viele Produkte, so zum Beispiel Benzin, eingeführt. Die ArbeiterInnen erhalten einen einmaligen Lohnzuschlag von umgerechnet 25 US-Dollar als Inflationsausgleich, die RentnerInnen nur 20 US-Dollar.
Diese Maßnahmen sind eindeutig unpopulär unter den Wirtschaftsbossen. Auch wenn Cavallo als eine seiner ersten Amtstaten die Großkonzerne konsultierte, stieß sein Plan bei ihnen überwiegend auf heftige Kritik und Ablehnung. Klar, schließlich führt Cavallo die Politik von Gonzales noch rigider fort: Die argentinischen Großunternehmen werden durch die Steuerhöhungen zur Kasse gebeten und gleichzeitig aufgefordert, produktiv zu investieren, anstatt Gewinne durch Spekulation zu erzielen. Dennoch gingen Dollar-Nachfrage und Zinssätze nach Cavallos Amtsübernahme schlagartig zurück. Einige Preise für Grundnahrungsmittel wurden ebenfallls gesenkt, die Inflation dadurch gedämpft.
Die argentinischen Kleinunternehmer reagierten hingegen positiv auf Cavallos Wirtschaftplan. Auch innerhalb des Parlaments bekam Cavallo fast ausschließlich Zustimmung: “Sollte das von Cavallo Geäußerte in Taten umgesetzt werden, wird sich die Haltung der Radikalen Bürgerunion ändern”, ließ der “grand old man” der oppositionellen UCR, Juan Carlos Pugliese, verlauten.
Die VerliererInnen dieser erneuten wirtschaftlichen Anpassung stehen auf jeden Fall schon jetzt fest: für die argentinische Bevölkerung wird sich zunächst nichts Grundlegendes ändern, denn Lohnerhöhungen oder soziale Ausgleichsmaßnahmen sieht auch Cavallos Plan nicht vor. Die permanente wirtschaftliche Instabilität, die Inflation und die Verteuerung der Lebenshaltung treiben die ArgentinierInnen massenweise in die Armut: 13 von 32 Millionen werden mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze eingestuft. Vor einem Jahr waren es noch 11 Millionen.
Es ist fraglich, ob die peronistische Regierung wirklich gewillt ist, ein produktives kapitalistisches Entwicklungsmodell in die Wege zu leiten. Dies ist nur möglich gegen die bisherigen Interessen der Wirtschaftsgruppen und indem die argentinische Bourgeoisie zur “echten Kapitalistenklasse” erzogen wird. Cavallo, so scheint es, will dem parasitären Kapitalismus in Argentinien auf die Sprünge helfen. Sollte er dies nicht schaffen würde es ihm guttun schon im voraus sein Ticket auf die Bahamas gebucht zu haben – für den nächsten Sommer.

Kurznachrichten

Menems tiefe Depressionen
Das Image des Präsidemten ist stark angeschlagen. Menems Popularitätsrate ist von 85% bei Amtsantritt auf derzeit 30% gesunken. Zur Zeit machen in Argentinien allerlei Speku-lationen über einen vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten die Runde. Wirtschaftsminister Gonzales ließ dann auch verlauten, daß Menem von tiefen Depressionen befallen sei – “ein klinischer Fall”. Derweil zog sich der Peronist zu einem Meditationswochenende der Benediktiner aufs Land zurück. “Über die schwierigen Momente, in denen wir leben”

Der “produktive Revolutionär”
“Ich bin zufrieden damit, Außenminister zu sein. Ich wollte dort arbeiten, wo ich benötigt werde. Von der Ausbildung her gesehen wäre ich am besten für den Posten des Wirtschaftsministers oder Zentralbankchefs geeignet gewesen. Nach zwei Monaten als Außenminister denke ich, daß ich besser geeignet gewesen wäre für diese Aufgaben.” So sah Domingo Cavallo im September 1989 kurz vor seiner Abreise zu Verhandlungen mit dem IWF in Washington seine Position. Mit 45 Jahren ist Cavallo der jüngste der vier Wirtschaftsminister Menems. Insgesamt 26 Jahre widmete er dem Studium der Ökonomie. 1977 machte er gemeinsam mit einigen Leuten, die er in Washington beim IWF wiedertraf, an der Harvard-Universität seinen Doktor.
Seit vielen Jahren ist Domingo Cavallo ein Mann mit den besten internationalen Kontakten. 1982 war er Zentralbankchef unter der letzten Regierung der Militärs. Unter anderem hatte er damals die Verstaatlichung der privaten Auslandsschulden der Unternehmer, die heute einen Großteil der Auslandsschulden Argentiniens ausmachen, mitzuverantworten. Seit dieser Zeit verfügt er über beste Kontakte zu Teilen der argentinischen Bourgeoisie.
Dennoch ist er innerhalb der Unternehmer umstritten. Als Wirtschaftsberater in Menems Wahlkampf 1988/9 galt er als der sichere Kandidat für das Wirtschaftsministerium. Er arbeitete den Plan der “Produktiven Revolution” Menems aus. Ihm gegenüber schickten die Großunternehmen allerdings ihren eigenen Kandidaten ins Rennen: Miguel Roig vom Multi “Bunge y Born”, den ersten Wirtschaftsminister unter Menem.

Als Außenminister ist er für den neuen Kurs der Regierung verantwortlich: Traute Allianz mit den USA, Verhandlungen über die Malvinas mit Großbritannien, regionale Integration mit Brasilien und die Entsendung der beiden Fregatten an den Golf. Gleichzeitig war er bei den Verhandlungen mit IWF und Weltbank einer der wesentlichen Strategen. Cavallo wurde zum wesentlichen Kontaktmann zwischen Washington und Buenos Aires.
Cavallo ist zwar ein neoliberaler Ökonom, sieht allerdings die Ka¬pitalflucht und Steuerhinterziehung als Hauptursachen für die Wirtschaftskrise. Entsprechend will er die parasitäre argentinische Bourgeoisie endlich zu produktiven Investitionen anstelle der Finanzspekulationen bewegen. Ein Unterfangen, das ihn seinen Kopf kosten könnte.

Die Kommunistische Partei und die verhinderte “bürgerlich-demokratische Phase”

Gretchenfrage?

Die UDN (Nationalistische Demokratische Union) stellte Anfang Februar ihre Spitzenkandidaten für die kommenden Wahlen vor: Humberto Centeno, einer der bekanntesten Gewerkschaftler des Landes und Führungsmitglied im Gewerkschaftsdachverband UNTS ist der Kandidat der UDN für das Bürgemeisteramt von San Salvador. Marco Tulio Lima, ebenfalls Mitglied des UNTS-Vorstandes, strich dagegen heraus, daß die Entscheidung Centenos und anderer UNTS-GewerkschafterInnen rein persönlicher Art sei und nicht der Position der UNTS insgesamt entspräche. Die UNTS, betonte Tulio Lima, unterstütze keine der Parteien, die sich zur Wahl stellen. Ismael Merino von der Bauerngewerkschaft ADC dazu: “Solange wir in einer militarisierten Gesellschaft leben und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, solange können Wahlen das Problem nicht lösen, sondern es nur noch verschärfen”. Selbst das breite, von kirchlicher Seite initiierte “Permanente Komitee für eine Nationale Debatte”, CPDN, gibt dem Verhandlungsprozeß Vorrang vor den Wahlen und plädiert daher für eine Verschiebung des Urnengangs, bis die zentralen Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst und ihre Einhaltung von der UNO kontrolliert und bestätigt worden sind.

Differenzierungen in den 70er Jahren

Formal hatte die Kommunistische Partei (KP) den bewaffneten Kampf seit 1932 nie aufgegeben, faktisch konzentrierte sie sich in den 70er Jahren jedoch auf Wahlen. Sie ging dabei (wie andere Kommunistische Parteien des Kontinents) davon aus, daß es zunächst einer “bürgerlich-demokratischen Phase” bedürfe, um die Macht der Oligarchie und des Militärs zu brechen. Man erhoffte sich eine “Machtübernahme”der Industriebourgeoisie, die in eigenem Interesse Reformen gegen die unversöhnliche und reaktionäre Grundbesitzerclique befürworten müsse. Die UDN wurde 1969 gegründet und sollte die ‘Wahlfront” der KP bilden.

Innerhalb der KP gab es zu jener Zeit bereits eine Opposition gegen diese Haltung der Partei. Die These von der Wirksamkeit eines breiten Wahlbündnisses, unterstützt von einer reformwilligen Fraktion des Militärs, wurde von ihr abgelehnt. 1970 tauchte diese Gruppe unter der Führung des legendären Gewerkschaftsführers Cayetano Carpio unter. Sie begann, sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten: Die FPL, die Volksbefreiungskräfte, heute eine der fünf Organisationen der FMLN.
Bei den Präsidentschaftswahlen1972 trat die UDN in einem Bündnis mit der seit 1964 existierenden sozialdemokratischen MNR (Nationale Revolutionäre Bewegung) und der PDC (Christdemokratische Partei) an. Das Bündnis nannte sich U.N.O. (!) (Nationale Oppositionsvereinigung) und nominierte José Napoleon Duarte zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Die U.N.O. erhielt trotz erheblicher Behinderungen die Mehrheit der Stimmen, doch die regierende PCN (Partei der Nationalen Versöhnung) sicherte sich das Präsidentenamt durch offenen Wahlbetrug. Ein Putschversuch von reformwilligen Offizieren schlug fehl, und Duarte ging ins Exil nach Venezuela. Trotz des Scheiterns hielten alle Parteien des Bündnisses an der Vorstellung fest, daß der Weg über Wahlen der sicherste und schnellste sei, um zu einem Sieg der reformwilligen Kräfte zu gelangen. Sowohl die verschiedenen Guerilla-Gruppen, die im Laufe der 70er Jahre entstanden, als auch die mit ihnen verbundenen großen Massenorganisationen kritisierten den “rechten Opportunismus” und die “Weinbürgerlichen Illusionen” der KP. Trotz erheblicher Zerstrittenheit dieser Organisationen untereinander, gingen sie davon aus, daß eine “Nationale Bourgeoisie”, die in der Lage wäre, ein nationales Reformprojekt durchzusetzen, nicht existiert. Daraus folgte die Ablehnung der Wahlen und der Strategie der U.N.O.

Wahlbetrug und Terror

Die nächsten Präsidentschaftswahlen fanden 1977 in einer spannungsgeladenen und zugespitzten Situation statt. Die U.N.O. hatte anstelle von Duarte den in Armeekreisen angesehenen pensionierten Offizier Claramount als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Er schien für die reformbereiten Kreise der Oligarchie und des Militärs annehmbarer zu sein. Wiederum brachten die Militärs die Opposition um den Wahlsieg, indem sie schlicht die Wahlurnen verschwinden ließen. Den massiven Protest gegen den Wahlbetrug beantwortete das Regime mit Gewalt. Militär-und Polizeieinheiten schossen gezielt in die Massendemonstrationen. Dabei starben mehrere hundert Menschen. Dies war der Auftakt für eine beispiellose Terrorwelle. Die meisten Funktionäre der U.N.O. gingen ins Exil oder in den Untergrund, wurden verhaftet oder “verschwanden”. Das Wahlbündnis war damit faktisch nicht mehr existent, nur die KP bekräftigte noch im Mai 1979 ihre Unterstützung für die U.N.O. “Der bürgerlichdemokratische Weg zur Lösung der politischen Krise”, so hieß es in der Resolution des 7. Parteikongresses, “muß heute ein untrennbarer Bestandteil wesentlicher sozioökonomischer Reformen sein.” Auf dem gleichen Kongreß wurde allerdings ein folgenlos gebliebener Beschluß von 1977 bekräftigt, nach dem sich die Partei auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten hätte.

Der Putsch

Angesichts der steigenden Mobilisierungen der Massenorganisationen und der faktischen Unregierbarkeit des Landes putschte sich eine heterogene Offiziersgruppe am 15.Oktober 1979 an die Macht. In der ersten Regierungsjunta waren drei Zivilisten vertreten, darunter Guillermo Ungo, Vorsitzender der MNR. Alle Parteien des ehemaligen U.N.0.-Bündnisses entsandten Minister in die Regierung. Die revolutionären Massenorganisationen hatten kein Vertrauen in diese Koalition von Offizieren, liberalen Technokraten und reformistischen Politikern; sie verstanden sie als einen Block der Mitte gegen die Linke. Die nächsten Wochen sollten ihnen recht geben. Die Zivilisten in der neuen Regierung konnten nicht verhindern, daß die Gewalt der Militärs gegen die Opposition immer schlimmere Formen annahm. Zunächst rechtfertigten die Zivilisten noch die Massaker, dann aber traten sie Anfang des Jahres1980aus der Regierung aus.

Einigung

Die Kommunistische Partei entschied sich jetzt sehr schnell und rief gemeinsam mit zwei der bestehenden Guerillaorganisationen zur bewaffneten Revolution auf. Im Oktober 1980 vereinigten sich die nunmehr fünf politisch-militärischen Organisationen zur Nationalen Befreiungsbewegung Farabundo Marti, FMLN. Die radikale Linke reagierte damit auf den entfesselten Staatsterror und die Beseitigung jeglichen Spielraums für Reformen.
Die Wahlprozesse der 80er Jahre waren zu sehr vom Bürgerkrieg und Ausnahmezustand geprägt, als daß linke Parteien oder Organisationen in ihnen eine Option für Frieden oder Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hätten entdecken können. Darüber hinaus waren die Wahlen offensichtlich das Produkt der von den USA konzipierten Kriegsführung der niedrigen Intensität, der Aufstandsbekämpfung, die darauf hinauslief, der FMLN auch politisch den Boden zu entziehen.
Die Situation veränderte sich erst wieder im Vorfeld der 89er-Wahlen. Anläßlich dieses Urnengangs gründeten hauptsächlich die Parteien (MPSC Sozialchristliche Volksbewegung, Linke Abspaltung der PDC) und MNR wiederum ein linkes Wahlbündnis, die Convergencia Democrática (CD). Die FMLN rief zum Boykott auf und brachte stattdessen den “Vorschlag zur Umwandlung der Wahlen in einen Beitrag zum Frieden” (dok. in LN 179)ein, in dem sie erstmals die Bedingungen definierte, unter denen sie bereit wäre, sich an Wahlen aktiv zu beteiligen. Es steht außer Frage, daß diese Bedingungen (u.a. Ende der Repression, Einkasernierung der Armee, Wahlrechtsreform) auch am 10. März keineswegs er-füllt sein werden.

Verhandlungen haben Vorrang vor den Wahlen

Auch diese Wahlen werden mit einer demokratischen Willensbildung so wenig zu tun haben wie alle vorangegangenen. Die Frage ist also, welche Ziele auf der einen Seite die Oppositionsparteien mit ihnen verbinden und was die FMLN auf der anderen Seite zu ihrer ambivalenten Haltung bewog. Es kann angenommen werden, daß über diese Frage innerhalb der FMLN lange debattiert wurde. Noch im Oktober 1990 schob Joaquin Villalobos, Chef des Revolutionären Volksheeres (ERP), einer weiteren Organisation innerhalb der FMLN,die Kontinuität dieser Wahlen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung gegenüber den möglichen Chancen in den Vordergrund (Vgl. LN 198). Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Kontroverse im wesentlichen beigelegt ist. Klar scheint auch zu sein, daß sich die Kommunistische Partei von den Positionen der 70er Jahre entfernt hat und keinesfalls ein Ausscheren der KP aus der FMLN bevorsteht. Shafick Handal: “Demokratie, die demokratische Revolution, hat für die FMLN -und da gibt es eine unzweideutige Übereinstimmung aller Organisationen -tatsächlich eine strategische Bedeutung, eine Demokratie, die sich aber wesentlich von einer bloßen Wahldemokratie unterscheidet.”
Weder die Oppositionsparteien noch die FMLN selbst erwarten einen Wandel der Kräfteverhältnisse durch die Wahlen selbst. Ein Brechen der Parlamentsmehrheit von ARENA durch die PDC, CD und UDN wird allerdings als Instrument eingeschätzt, um dem stagnierenden Verhandlungsprozeß wieder neue Impulse zu geben. Dies ist auch dringend notwendig, da die USA offenkundig versuchen, die Grundlage des Prozesses
– die Vereinbarungen von Genf und Caracas (Vgl. LN 200) – zu untergraben. Ein Artikel in der New York Times diffamierte am 1. Februar unter Berufung auf Regierungsquellen den UNO-Vermittler Alvaro de Soto, warf ihm Inkompetenz vor, und versuchte so, den Verhandlungsprozeß insgesamt zu diskreditieren. Tatsächlich kann eine parlamentarische Mehrheit der heutigen Opposition in dieser Situation neue Wege gehen, um auch international mit größerem Druck und Legitimation auf reale Verhandlungserfolge zu drängen. Die Tatsache jedoch, daß diese Oppositionsparteien CD, UDN und die PDC sich nicht auf einen gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten für San Salvador haben einigen können, verweist auf nicht unerhebliche inhaltliche Differenzen und Profilierungsgelüste. Diese könnten die gemeinsame politische Plattform, von der Shafick Handal spricht, durchaus gefährden (Vgl. Interview). Die PDC scheint zwar die Forderung nach einer Demilitarisierung als Grundlage von Demokratisierungsprozessen übernommen zu haben, doch gibt die Geschichte dieser Partei mannigfaltig Anlaß, ihr mit Mißtrauen zu begegnen.

Der Anschlag auf Diario Latino

In jedem Fall nehmen die Militärs die Entwicklungen der letzten Wochen als elementare Bedrohung wahr. Dies ist augenscheinlich die Ursache für die stark zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit. Die schlimmsten waren bisher die Morde von E1 Zapote, wo 15 Menschen regelrecht hingeschlachtet wurden und der Bombenanschlag auf die einzige noch verbliebene kritische Tageszeitung Diario Latino. In der Nacht zum 9. Februar explodierte in der Zeitung eine Brandbombe, die das dreigeschössigen Gebäude und die zur Herstellung der Zeitung notwendigen Geräte völlig zerstörte. (Wegen der großen Bedeutung dieses Anschlags für die Medienlandschaft E1 Salvadors hat das “Dritte-Welt-Haus” Frankfurt e.V. ein Spendenkonto eingerichtet: Postgiro 19991-604; BLZ 500 100 60; Stichwort: “Diario Latino”). Die Journalisten der selbstverwalteten Zeitung haben bereits angekündigt, daß sie das seit 100 Jahren existierende Blatt weiterführen werden. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe von Bombenanschlägen gegen die Volksorganisationen und Morde an AktivistInnen der Oppositionsparteien.

Repression und Wahlboykott?

Die Repressionswelle beweist noch einmal den ungebrochenen Willen der Militärs, sich keinen Zipfel ihrer Macht entreißen zu lassen und gleichzeitig die Notwendigkeit, genau dies zu tun. Die Menschenrechtsverletzungen haben ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht. Das Ziel der Hardliner im Militär ist dabei klar auszumachen: Sie wollen die Wahlen, so, wie sie derzeit konzipiert sind, verhindern. Ihre bewährte Methode war in der Vergangenheit, entweder ein Massaker zu veranstalten oder eine bekannte Persönlichkeit der (gemäßigten) Opposition umzubringen. Es mehren sich die Warnungen der Parteien – einschließlich der PDC -, daß ein Rückzug aus den Wahlen durchaus denkbar ist, wenn die Anschläge fortgesetzt werden. “Selbstverständlich”, so Shafick Handal, “würde die FMLN die Oppositionsparteien in einem solchen Fall unterstützen.” Und das auf ihre Weise.

Bomben und Proteste gegen den fernen Krieg und die nahen Yankees

Einige hundert Menschen demonstrierten in Santiago de Chile vor dem Sitz des größten chilenischen Rüstungsproduzenten CARDOEN. CARDOEN exportierte seit 1982 Waffen an den Irak, unter anderem eine Sorte C-Bomben, “Erstickungsbomben”, die ein Pulver versprühen, das den Sauerstoff in der Luft bindet. Anzahl und Preis der gelieferten Bomben sind nicht bekannt. 1986 halfen Techniker von CARDOEN beim Bau einer Bombenfabrik in Bagdad. Die Rü­stungsverkäufe dauerten nach offiziellen Angaben bis zum UN-Ultimatum gegen den Irak vom August vergangenen Jahres an. CARDOEN war unter der Militär­diktatur Pinochets unter dessen persönlicher Protegierung entstanden. Auch zur neuen Regierung Chiles dürften die Beziehungen blendend sein: Der Besitzer ist mit einer Nichte des christdemokratischen Präsidenten Aylwin verheiratet. CARDOEN versucht nun, den Ausfall der Lieferungen an den Irak zu ersetzen; es erging ein Angebot an Saudi-Arabien zur Lieferung von 30.000 Bomben.
Eine Guerilla-Gruppe “Frente Revolucionario Anti-Imperialista” hat verkündet, daß US-Einrichtungen in Chile angegriffen werden sollen. Es gab bereits An­schläge auf einen Mormonen-Tempel und auf Filialen der US-amerikanischen “Security Pacific”- und “Republic National”-Banken. Die “Patriotische Front Ma­nuel Rodriguez” (FPMR) schickte eine Raketenattrappe und Flugblätter in die Residenz des israelischen Botschafters in Santiago.
Auch die brasilianischen Rüstungskonzerne “Avibras Aeroespecial” und EN­GESA, die bisher den Irak mit einer ganzen Palette von Rüstungsgütern beliefer­ten, wollen nun den Handel mit Saudi-Arabien aufnehmen. Ein Manager be­gründete die Unbedenklichkeit der Lieferungen in den Irak in der Vergangenheit damit, daß “Deutschland und Frankreich die chemischen Einrichtungen” stellten, dann könne ja wohl gegen die Lieferung der Trägersysteme nichts einzuwenden sein.
Der Vertreter der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Bolivien warb für Unterstützung für den Irak durch Demonstrationen und “andere Kampfformen”. Die Guerilla-Gruppe “Nationales Befreiungsheer” bezeichnete in einem Kommuniqué alle US-Einrichtungen in Bolivien als anschlagsrelevante Ziele.
In Ecuador gab es Bombenanschläge gegen die US-amerikanische und die fran­zösische Botschaft. Andererseits besetzten 12 Mitglieder der Gruppe “Alfaro Vive Carajo” (AVC) kurzzeitig die französische Botschaft und forderten eine Ver­handlungslösung.
Im von den USA teilbesetzten und kontrollierten Panama übernahm das “Volksheer für die Nationale Befreiung” (EPLN) die Verantwortung für einen Bombenanschlag auf die US-Botschaft und kündigte weitere Anschläge an. Der Marionetten-Präsident Endara hatte bereits im November kurzzeitig die Durch­fahrt aller Schiffe aus oder nach Irak durch den Panama-Kanal verboten.
In Venezuela verübte eine “Internationalistische Brigade” einen Brandanschlag auf einen Mormonen-Tempel in Barquisimeto. Die Mormonen wurden als US-Spione bezeichnet. Die Menschenrechtsorganisation “Fundalatin” forderte den venzolanischen Kongreß auf, für die Dauer des Krieges alle Öllieferungen an die Länder der westlichen Allianz am Golf einzustellen.
Nach Meinung des kubanischen Präsidenten Fidel Castro ist derjenige für den Krieg verantwortlich, der zuerst schießt. Der Krieg bedeute “das Scheitern der UNO und der Politiker”. Die beteiligten Parteien hätten nicht genügend Ver­ständnis aufgebracht und der Irak habe ethische, historische, religiöse und ara­bisch-nationalistische Argumente benutzt, als eine realistische Vernunft erfor­derlich war. Kuba hat zur Versorgung der Zivilbevölkerung eine Ärztebrigade in den Irak entsandt.
(Quellen: ANN, PONAL, LA Weekly, Monitor-Dienst)

“Der Golf ist weit weg, aber den Weltpolizisten haben wir auf der anderen Seite der Grenze!”

Der mexikanische Präsident Salinas hält eine Rede an die Nation. Er stellt seine Anstrengungen für eine Verhandlungslösung heraus. Und mit sanfter Stimme versichert er den MexikanerInnen, sie hätten allen Grund, Ruhe zu bewahren. Mexiko als Ölproduzent werde keine unmittelbaren Auswirkungen spüren. Die Versorgung mit Treibstoffen und Nahrungsmitteln sei gesichert. Damit spricht er die Hauptsorge der MexikanerInnen an. “Die Leute haben Angst, daß die Preise steigen,” erzählt mir ein Straßenverkäufer der populären Schlagzeilen-Zeitungen. Die erste größere Unruhe habe er gespürt, als die Ölpreise fielen. Das war, als die CNN allen Anschein erweckte, als ob die USA den Krieg schnell gewinnen würden.
Mit den Angriffen des Irak auf Israel ändert sich die Stimmung. Die Nachrichtenbombardierung von CNN verfehlte die vorgesehene Wirkung, verbale Angriffe gegen die USA wurden nun häufiger. “Ein ganzer Kerl ist der Saddam”. “Die Yankees haben Abschußrampen aus Pappe bombardiert”. Mit Schadenfreude und einem Schuß Machismo werden die Angriffe Iraks auf Israel kommentiert. Auch der Unmut über die “Desinformation” wächst. Besonders die offensichtliche Lüge der Medien, die berichten,. im Irak seien bisher zwanzig Menschen umgekommen, erregt die Gemüter. Über die ständigen Demonstrationen vor der US-Botschaft in Mexiko informieren die großen Radiosender nur indirekt. Sie warnen vor Staus und Verzögerungen in der Gegend um die Botschaft und empfehlen, sie weiträumig zu umfahren. Diese gegen die US-Regierung gerichteten Demonstrationen hatten einige Tage vor Ablauf des Ultimatums begonnen. Spontan versammelten sich dort die Leute, denen plötzlich die Gefahr eines Krieges bewußt wurde -eine winzige Minderheit.

‘Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!’
Die erste große Demonstration in Mexiko-Stadt fand erst neun Tage nach Beginn des Krieges statt. 40.000 Menschen folgten dem Aufruf der Parteien: “Alle vereint für den Frieden”. Es war abgemacht, daß keine Parteifahnen getragen werden sollten. Daraus ergab sich das seltsame Bild von offensichtlich organisierten Blöcken, die mensch aber nicht zuordnen konnte. Die weißen Fahnen und die Friedenstauben konnten keine Einheit herstellen. Die beiden großen Oppositionsparteien rechts und links von der regierenden “Partei der institutionalisierten Revolution” (PRI) hatten ihre Mitglieder erst nach heftigen internen Auseinandersetzungen dazu aufgerufen, gemeinsam mit der PRI zu demonstrieren. Doch im Laufe der Demonstration ließ sich der vorgesehene Pazifismus nicht durchhalten, die DemonstrantInnen gingen zu antiimperialistischen Parolen über. Überall waren Plakate zu sehen, auf denen der Abzug der USA aus Panama gefordert wurde. Und sogar die PRI-Blöcke wechselten zu Sprechchören im Stil von “Hussein, seguro, al yanqui dale duro!” über (“Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!”).
Am Tag darauf fand ein nationales Treffen der mexikanischen Solidaritätsgruppen (mit Zentralamerika und Haiti) statt. Dort wurde die Unfähigkeit der Bewegung beklagt, sich in spontane Mobilisationen wie die vor der US-Botschaft einzugliedern. Die PRI dagegen habe es wieder einmal verstanden, die Friedensdemonstration unter ihrer Schirmherrschaft stattfinden zu lassen und politisch zu nutzen. Die Diskussion der Soli-Gruppen über den Golfkrieg begann sich schnell um die Frage zu drehen: Ist es besser für uns, wenn die USA gewinnen, oder wenn sie verlieren? Ein Vertreter der salvadorenischen Guerilla, der FMLN, stellte klar: “Wenn die USA schnell gewinnen, und gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen, wird der ganze Kontinent unter dieser Militärmacht zu leiden haben. In dem Maße, in dem der Krieg andauert und die USA schwächt, wird auch ihr Interesse an einem Ende des Krieges in E1 Salvador wachsen”. Bei der Diskussion mit ihm forderten die Soligruppen, die Rolle der UNO bei den Verhandlungen in E1 Salvador neu zu bewerten. Es habe sich gezeigt, daß die UNO keine Organisation für den Frieden ist, sondern daß sie dem Weißen Haus als Vorzimmer gedient und den Krieg unterstützt hat.
Die Soli-Bewegten warfen außerdem die Frage auf, ob es überhaupt richtig sei,
für Hussein Partei zu ergreifen, für einen Mann, der Ausrottungskampagnen
gegen die KurdInnen geführt habe, und von dem man nicht wüßte, ob er das
irakische Volk unterdrücke. Diese Diskussion erinnerte viele an die Auseinandersetzungen während des Malvinen-Krieges, als darum gestritten wurde, ob
eine Stellungnahme gegen die Briten die argentinische Militärdiktatur aufwerten
würde. Ergebnis der Diskussion: Jede imperialistische Unterdrückung macht es
einem Volk noch schwerer, sich gegen die nationalen Herrschaftsstrukturen , aufzulehnen.
Reisende aus den rnittelamerikanischen Ländern beschreiben die Stimmung dort als ganz anders als in Mexiko-Stadt. Die Abhängigkeit dieser Länder von Energie-Importen hat die Regierungen schon zu Sparmaßnahmen greifen lassen und bei der Bevölkerung eine viel größere Unsicherheit ausgelöst als in Mexiko. In Guatemala-Stadt beispielsweise sollen Hamsterkäufe getätigt worden sein. In E1 Salvador zeigt sich deutlich, daß jeder noch so schwachsinnigen Nachricht, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Golf-Krieg steht, eine größere Bedeutung zugemessen wird als den wirklich wichtigen Informationen. Während E1 Salvadors Präsident Cristiani einen Tag lang in den Nachrichten auftauchte, weil er die “alliierten Truppen am Golf einen Monat lang mit Kaffee versorgen” will, fand das Massaker an 15 Bauern.. und Bäuerinnen am 22.Januar nicht die angemessene Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit.
Obwohl der Krieg am Golf weit weg ist, gibt es auch hier Menschen, die ihn als eine unmittelbare Bedrohung empfinden. In der mexikanischen Region Chilapa beispielsweise treffen sich christlichen Basisgemeinden jeden Abend, um gemeinsam zu beten.
Die GuatemaltekInnen, die im Süden Mexikos in Flüchtlingslagern leben, verfolgten die Ereignisse seit August aufmerksam. Als sich das Ultimatum vom
15. Januar näherte, besorgten sich viele von ihnen Kurzwellenradios, melden die “Witnesses for Peace”. In den Lagern in den Bundesstaaten Chiapas, Campeche und Quintana Roo, in denen ungefähr 43.000 guatemaltekische Flüchtlinge leben, sei der Beginn des Krieges mit Entsetzen aufgenommen worden, “Den Führern sind all die armen Leute, die sterben werden, egal”, sagte eine Flüchtlingsfrau. “Sie sorgen sich nur um ihr Geschäft und ihre Profite.” Ein älterer Mann meinte: ‘Wenn es doch so viele arme Menschen in den USA gibt, warum schickt die US- Regierung dann soviel Geld ins Ausland, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Leute versorgen kann?” Als eine Gruppe von Jungen aufgeregt ihr Wissen über die High-Tech-Flugzeuge und die Bombardierungen austauschte, sagte ein Vater traurig: “Diese Kinder wissen nicht, worüber sie reden. Sie waren klein, als wir (vor dem Militär; d.Red) aus Guatemala fliehen mußten. Aber wir erinnern uns genau daran, was Krieg bedeutet und darum sind wir so traurig und besorgt über diesen Krieg.”

Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Stellungnahme von Radio Venceremos, offizielle Stimme der FMLN zum Golfkrieg vom 24. Januar
Die Aggression der US-Regierung gegen das irakische Volk ist eine Beleidigung der Völker der Welt. Wir können die kriegstreiberische Haltung der USA nicht billigen, weil wir, die verarmten Völker, besser als andere die klaffenden Wunden kennen, die uns die habgierige Politik der USA zufügt.
Obwohl die Vereinten Nationen im Verhandlungsprozeß zwischen FMLN und dem Cristiani-Regime als Vermittlerin fungiert, können wir doch nicht umhin, die Entscheidung der UNO zu kritisieren, den Krieg am Persischen Golf uneingeschränkt zu unterstützen. Eine Organisation, die gegründet wurde um Kriege zu verhindern, hat dieses Mal einer wahrhaft wilden Aggression ihre moralische Rückendeckung gewährt. Den Vereinten Nationen entgleitet ihr Einfluß auf die Entwicklung der Feindseligkeiten immer mehr; sie sind heute nicht mehr in der Lage einen Waffenstillstand für die Gewalt, die sie guthieß, herbeizuführen.
Weil wir den Krieg kennen und unter dem permanenten Risiko leben, unser Leben zu verlieren, lehnen wir die Infamie jener Regierungen mit allem Nachdruck ab, die unsere Völker als einfache Figuren auf ihrem unseligen Schachbrett ansieht. Wir alle haben die Pflicht, auf die Stärkung von Verhandlungslösungen zu drängen, um ein für alle Mal die Gefahren des Militarismus zu bannen.
In ähnlicher Weise äußerten sich eine Vielzahl von Organisationen von E1 Salvador. Nach der Entscheidung der salvadorianischen Regierung, die US- Truppen mit Nahrungsmitteln zu unterstützen, demonstrierten etwa 500 Bauern vor der US-Botschaft. Sie empörten sich gegen diese Entscheidung, weil unzählige Menschen in E1 Salvador an Unterernährung leiden. Marco Tulio Lima, Repräsentant des Gewerkschaftsdachverbands UNTS, rief Cristiani dazu auf, Abstand von jeder Hilfe für diesen Krieg zu nehmen. Jede Unterstützung der USA sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, betonte Tulio Lirna. In einer anderen Demonstration vor der US-Botschaft protestierten StudentInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle gegen die Angriffe auf das irakische Volk. In ähnlicher Weise äußerten sich die BewohnerInnen der Rücksiedlungsstadt “Segundo Montes”, der Gewerkschaftsverband FEASIES und die Indigenen- Organisation ANIS. ANIS kündigte an, daß sie gemeinsam mit befreundeten lateinamerikanischen und europäischen Organisationen für den Frieden am Golf beten werden und “jene verurteilen, die aus Habgier und wegen des schwarzen Goldes die Menschheit und die Erde zu zerstören versuchen.”

Anti-Imperialismus und Diplomatie

So richtig verstanden hatte es wohl niemand, als in der gespannten Zeit der rechtsextremen Offensive im Oktober/November vergangenen Jahres ausgerechnet der wichtigste Repräsentant der FSLN, der Ex-Präsident Daniel Ortega nicht im Lande war. Doch Ortega reiste in Friedensmission durch die Golfregion, während in Nicaragua ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte. Angesichts der internen Probleme Nicaraguas wurde die Krise in der Golfregion erst relativ spät zum Hauptthema der Berichterstattung der nicaraguanischen Medien. Nur in “UNIVISION, einer in den USA produzierten spanischsprachigen Nachrichtensendung, die über den mittlerweile reprivatisierten Kanal 2 des nicaraguanischen Fernsehens allabendlich ausgestrahlt wird, erschienen schon seit Beginn der US-Truppenstationierung in Saudi-Arabien Bilder von Latino-US-Soldaten in der Wüste, die in die Kamera ihre Familie grüßten.
Doch zur echten, auch innenpolitischen Auseinandersetzung über den Golf-Konflikt kam es auch in Nicaragua erst, als der Ablauf des UN-Ultimatums kurz bevor stand. Während die Regierung Vorbereitungen traf, um möglichst schnell die nicaraguanischen Erdölreserven aufzustocken, reiste Daniel Ortega am 8.Januar erneut nach Jordanien und Bagdad, um wie andere internationale Politiker einen letzten Versuch zu einer Friedensinitiative zu starten. Landesinterne Begründung für die intensive Reisetätigkeit des Ex-Präsidenten war der Versuch, das im Esquipulas-Friedensprozeß und im Prozeß der Regierungsübergabe nach den nicaraguanischen Wahlen im Februar 1990 gewonnene internationale Prestige für den Frieden in die Waagschale zu werfen. “Auf den Spuren Carlos Andres Peres’,” so ein anderer Kommentar, sei Ortega unterwegs, um über diplomatische Aktivitäten die Aufnahme der FSLN in die Sozialistische Internationale vorzubereiten. Dafür sprechen die häufigen Treffen Ortegas mit Bonner SPD-Politikern wie Wischnewski und Brandt während seiner Reise.
Anders lesen sich hingegen die nach Kriegsbeginn veröffentlichten Stellungnahmen sowohl der FSLN als auch ihrer Parteizeitung, der Bamcada. In der Zeitung hieß es in einem Leitartikel: “Es ist ein verfluchter Krieg, weil er beschämend und ungerecht ist, sogar skandalös wegen der wirtschaftlichen, zahlenmäßigen und zerstörerischen Überlegenheit der Angreifer; weil er unmoralisch und zynisch ist, denn die niederträchtigsten wirtschaftlichen und politischen Interessen werden als das gemeinsame Wohl der ganzen Menschheit ausgegeben. Durch nichts ist der unbarmherzige Charakter und die doppelte Moral dieses Krieges so deutlich zum Ausdruck gekommen wie durch die Erlaubnis des Sicherheitsrates der UNO für die Aggression gegen Irak, weil er Kuwait besetzte, ein Land, das eine Erfindung der Ölgesellschaften auf irakischem Territorium ist.” (zit. nach ANN, 23.1.91)So versucht dieser Artikel, durch die Übernahme der irakischen Version von der historischen Zugehörigkeit Kuwaits zum Irak den offensichtlichen Konflikt zwischen zwei Grundprinzipien der sandinistischen Revolution zu umgehen: nationale Souveränität und Anti-Imperialismus. Beide Prinzipien haben in Zentralamerika einen natürlichen Feind, die USA. So ist die Tatsache, daß es diesmal die Führung des von Daniel Ortega zum “Brudervolk” erklärten Irak war, die mit der Besetzung Kuwaits ganz offensichtlich die nationale Souveränität eines Nachbarlandes verletzte, im politischen Diskurs einer zentralamerikanischen Befreiungsbewegung zumindest schwer unterzubringen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund?
Die Nationalleitung der FSLN gibt in ihrer ersten offiziellen Stellungnahme vom
18. Januar wesentlich differenziertere und moderatere Töne von sich. Es wird betont, daß dieser Krieg ums Öl besonders die Länder der “Dritten Welt” trifft, die weitere Steigerungen des Ölpreises nicht verkraften können. Das Volk Nicaraguas sei wie alle anderen Völker der Welt zur Geisel dieses Krieges geworden.
Die FSLN verurteile die Invasion des Irak in Kuwait genauso wie die US-Invasionen in Panama, Grenada und Nicaragua selbst. Es seien nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, daher müsse sofort ein Waffenstillstand geschlossen werden, um die Suche nach einer politischen Lösung doch noch einmal zu ermöglichen.
Doch wer das Wechselspiel zwischen Barricada-Kommentaren und Nationalleitungserklärungen in Nicaragua über längere Zeit verfolgt hat, wird einschätzen können, daß die Solidarisierung mit dem Irak dem politischen Gefühlsleben der antiimperialistisch-radikalen FSLN-Basis weit mehr entspricht als die diplomatischen Formulierungen der Nationalleitung.
Anders die konservative und regierungsnahe PRENSA, die voll auf US-Kurs steht und Hussein als ein von seinen Eltern verlassenes Kind charakterisierte, daß in jedem Lebensalter Beweise für seine Grausamkeit erbracht habe. Stolz werden in den USA lebende NicaraguanerInnen gezeigt, die als Soldaten der US Armee im Golf eingesetzt sind.
Bereits während der zweiten Jahreshälfte1990 waren die Benzinpreise in Nicaragua auf den vorher unerreichten Stand von 2´5US$ gestiegen. Der Verbrauch ging um 20% zurück und die Inflation kletterte weiter -der Benzinpreis hat eine Leitwirkung für die anderen Preise.

“Argentinien ist im Krieg”

80% der ArgentinierInnen sind nach einer neuesten Umfrage gegen eine Beteili­gung argentinischer Truppen am Golfkrieg. Ungeachtet dieser eindeutigen Stimmung innerhalb der Bevölkerung wird Menem der Rolle des guten Verbün­deten der USA gerecht. “Dies ist ein entscheidender Schritt Argentiniens inner­halb der neuen Weltordnung, denn es erfüllt die Resolutionen, die vom UN-Si­cherheitsrat gefällt wurden”, sagte er in einer Pressekonferenz direkt nach Krie­gausbruch. Die beiden Kriegsfregatten sollen nach seiner Auffassung den kämp­fenden US-amerikanischen und britischen Truppen logitische Unterstützung lie­fern. “Länder wie Argentinien, Frankreich und Italien haben Schiffe zur logisti­schen Unterstützung entsandt, was nicht notwendigerweise Kampfbeteiligung bedeutet”, fuhr der Präsident fort. Nach dem Eintritt Frankreichs in die direkten Kampfhandlungen dürfte nach dieser Logik der argentinische Beitrag nicht lange auf sich warten lassen.
Menem spielt in Argentinien den souveränen Weltpolitiker, der “echte Verant­wortung” zu übernehmen weiß. Insgeheim hofft die Regierung allerdings darauf, daß sich diese Aufgabe des neutralen Status des Landes – eine der Prämissen der Außenpolitik unter Menems Vorgänger Alfonsín – finanziell auszahlen wird. Bis­her hat die kuwaitische Exilregierung 18 Millionen Dollar für die Entsendung be­zahlt. Doch Menem will am Krieg verdienen: “Der Krieg im Persischen Golf kann Argentinien helfen, so wie das auch beim Zweiten Weltkrieg der Fall war. Ar­gentinien hat Nahrungsmittel und einen Überschuß an Treibstoff, die in Nach­barländer exportiert werden können.” Kurz nach dem Kriegsbeginn informierte der paraguayische Industrieminister die Weltöffentlichkeit über das Angebot Ar­gentiniens, zu 100% die Ölversorgung des Nachbarlandes zu übernehmen.

Eklat im Parlament

Eine Debatte im Argentinischen Parlament nach Beginn der Krieghandlungen endete mit einem großen KrachKrach. Die regierende peronistische Partei stellte den Antrag, die logistische Unterstützung, die die argentinischen Schiffe leisten sollten, offiziell abzusegnen. Präsident Menem ging schon vor dieser Debatte da­von aus, daß “die Zustimmungdes Parlaments bei solchen sekundären Angele­genheiten nicht notwendig ist.” Das Parlament müsse lediglich einen Kriegsein­tritt Argentinien befürworten. Diesen hatte der Präsident aber kurz zuvor offizi­ell definiert: “Argentinien befindet sich im Krieg mit dem Irak”.
Die größte Oppositionspartei UCR kritisierte die Haltung der Regierung und der Vereinigten Staaten, und forderte den Einsatz von “UNO-Blauhelmen” anstelle der alliierten Truppen. Die Peronisten konterten mit der Begründung, die Ent­sendung der Schiffe im Namen der UNO sei “das Beste für das Schicksaal der Menschheit”. Gleichzeitig griffen sie die UCR für die Lieferungen der Condor-II-Raketen an den Irak an (s. Artikel im Heft). In der Erwartung eines negativen Ausgangs der Abstimmung zogen schließlich die peronistischen Abgeordneten aus und ließen die Parlamentssitzung platzen.
Die Äußerungen des Präsidenten darüber, daß das Land sich zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren im Krieg befindet, haben innerhalb der Regierung zu völliger Verwirrung geführt. Menems Bruder, Senator Eduardo, widersprach dem Präsidenten: “Nein, nein, Argentinien befindet sich nicht im Krieg!” Außen­minister Domingo Cavallo meinte dazu “Argentinien ist nicht neutral. Das heißt allerdings nicht, daß es sich im Krieg befindet.” Auf die Frage nach der Entsen­dung der Schiffe antwortete er: “Alle Länder sind verpflichtet, logistische Unter­stützung zu erteilen. Es ist richtig, daß Argentinien das einzige Land Lateiname­rikas ist, das Truppen an den Golf geschickt hat. Wir haben dies getan, weil wir am neuen internationalen Sicherheitssystem teilhaben wollen.”
Präsident Carlos Menem reagierte nach den ersten Bombenangriffen der Alliier­ten Truppen euphorisch und setzte auf einen schnellen Sieg: “Es war ein so machtvoller und starker Angriff, daß die Irakis keine Kapazitäten mehr für eine Reaktion haben.” Gleichzeitig wünschte er zwei Wochen nach der Begnadigung der Foltergeneräle Saddam Hussein “den sofortigen Tod, weil er die Menschen­rechte verletzt hat.” Diesem Zweckoptimismus wich allerdings ebenso schnell wie in den europäischen Ländern die Einsicht, daß das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist und die erste Offensive eben nicht so entscheidend war.
Wenn der Krieg sich Monate hinziehen wird, wird auch Menem in Argentinien enorme Schwierigkeiten bekommen. Die Opposition gegen die argentinische Be­teiligung am Krieg ist schon jetzt in der Mehrheit. Die Entscheidung des Präsi­denten wird sich dann spätestens bei den im Herbst anstehenden Parlaments- und Gouverneurswahlen bemerkbar machen.

EI Condor Pasa -Wie Hussein zu seinen Raketen kam

Raketentechnologie made in Argentina

Schon zu Zeiten der Diktatur liebäugelten die argentinischen Generäle mit der Produktion von Mittelstreckenraketen, die auch atomar bestückbar sein sollten: die perfekte Ergänzung zu dem seit den 50er Jahren verfolgten Atomprogramrn. Bereits 1976 wurde hierfür in drei Fabriken an der Entwicklung der notwendigen Technologie gearbeitet.
1979 bekamen die argentinischen Militärs dann tatkräftige Unterstützung. Die Firma Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) und andere bundesdeutsche Unter-nehmen lieferten die notwendige Technologie. Unter dem Deckmantel der angeblichen Entwicklung einer “zivilen” Höhenforschungsrakete, die dazu dienen sollte, Satelliten ins All zu schießen, wurde seitdem gezielt an dem Projekt “Condor” gearbeitet. Die erste Produktion, die “Condor I”-Rakete, war mit 200 km Reichweite eine Kurzstreckenrakete, die ohne Probleme weiterentwickelt werden konnte.
1984 begannen buchstäblich über Nacht in dem 200-Seelen-Dorf Falda del Carmen in der argentinischen Provinz Cordoba die Arbeiten an dem wichtigsten argentinischen Raketenforschungs-und Produktionszentrum. Arbeiterinnen, die dafür speziell aus weit entfernten Provinzen angeheuert worden waren, konstruierten in drei Schichten Tag und Nacht innerhalb kürzester Zeit dieses Werk, ohne zu wissen, für wen und was sie da bauten.
1985 präsentierten die argentinischen Militärs dann stolz ihre Forschungsrakete “Condor 1AIII”auf der Pariser Luftschau Le Bourget. Als “Antwort auf die Herausforderungen des Weltraumzeitalters” sei diese “Vielzweckrakete” entstanden. Doch die Militärs hatten vor allem ein Ziel im Sinn: die Entwicklung einer militärischen Variante dieser Forschungsrakete. In Falda del Carmen arbeiteten jetzt 200 Fachkräfte unter der Anleitung internationaler SpezialistInnen an der Entwicklung der argentinischen Mittelstreckenrakete “Condor II”. Mit einer Reichweite von 1000 km und einer Nutzlast von 500 Kg ist sie ein “ideales” Trägersystem für alle Sprengkopftypen: chemische, biologische und nukleare.

Condor for Export -Zwischenlandung in Ägypten

Nachdem 1983 der zivile Präsident Raú1 Alfonsin den Militärhaushalt auf 2,8% des BSP zusammenstrich, konnten die argentinischen Militärs das Projekt unmöglich weiter aus eigenen Mitteln bezahlen. Die Suche nach der Kooperation mit anderen Staaten führte sie in den Nahen Osten.
Ägypten hatte der argentinischen Regierung Anfang der 80er Jahre ein Kooperationsangebot für das “Condor”-Projekt gemacht. 1985 unterzeichneten beide
Staaten einen “Langfristigen Vertrag für Technologietransfer und Zusammenarbeit” mit einem Volumen von 50 Millionen Dollar. Durch ein geheimes Präsidentendekret wurde 1987 das Joint-Venture INTESA gegründet, um den Technologietransfer nach Ägypten zu ermöglichen. Ägypten baute mit dem so erlangten Know-How seine Version der Condor II, die Badr 2000.
An dem Joint-Venture INTESA sind neben der argentinischen Luftwaffe die bundesdeutsche Firma CONSULTEC zu je 40% und die DESINTEC zu 20% beteiligt. Beide gehören der CONSEN, einem internationalen Firmenkonglomerat unter bundesdeutscher Führung.
Das ägyptische Raketenforschungszentrum,welches im Rahmen des joint-ventures mit Argentinien entstand, wurde von der Firma CONSEN geliefert. Die . wichtigsten Zulieferfirmen waren hierbei MBB, MAN und die italienische Fiat-
Tochter Snia-BPD.

CONSEN: MBBs Metamorphosen

Eine Studie des Pariser Simon-Wiesental-Zentrums lieferte 1989 detaillierte Erkenntnisse über die Geschäfte von CONSEN. CONSEN hat ihren Sitz in Zug
(Schweiz) und Montecarlo und arbeitet über ein weit verzweigtes Netz von
“Briefkastenfirmenf’ an dem Projekt “Condor”. An ihrer Spitze sitzen leitende An-
gestellte von MBB. 1987 übernahm CONSEN die argentinische Produktionsanlage in Faldas del Carmen.
Der Grund für die Schaffung der CONSEN war der “offizielle” Rückzug MBBs aus dem Condor-Geschäft. Britische, israelische und US-amerikanische Geheimdienste hatten eine Vielzahl von Einzelheiten zusammengetragen, die darauf hindeuteten, daß es bei dem Projekt “Condor” nicht nur um die Produktion einer Mittelstreckenrakete in Argentinien ging, sondern um die Weiterverbreitung dieser Waffe in die Länder des Nahen Ostens. Die Bundesregierung wurde von der UC-Regierung immer häufiger gedrängt, MBB die Exporte zu untersagen. So mußte sich MBB 1987 offiziell aus dem argentinisch-ägyptischenRaketenprojekt zurückziehen. Neben der Gründung von CONSEN, mit der MBB weiterhin im Geschäft blieb, führte das Unternehmen die sogenannte “Restabwicklung” der Aufträge jedoch über seine Tochterfirma Transtechnika bis in die heutige Zeit weiter.

Der Weg nach Bagdad

Bereits 1984 hatte der Irak großes Interesse an dem Raketenprojekt “Condor” ge-
zeigt. Im Juli 1987 schloß das irakische Staatsunternehmen Teco mit einer CON-
SEN-Tochter einen Vertrag ab, der den Irak zum Hauptträger des Condor-Projekts machte. Ein Raketenforschungszentrum im irakischen Mossul war zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden. Im Rahmen der Kooperation mit CONSEN entstanden in den nächsten Jahren zwei weitere Forschungs-und Produktionszentren im Irak.
Das Forschungs-und Raketen-Test-Gelände “Sa’ad 16” in der Nähe von Mossul wurde im Frühjahr 1989 eingeweiht. Dieses größte Militärforschungszentrum des Nahen Ostens diente vor allem der Weiterentwicklung der “Condor-II”-Technologie. Die bundesdeutsche Firma Gildemeister Projecta leitete als Generalunternehmerin die gesamte Konstruktion mit einem Volumen von 1,6 Mrd. DM. Neben dem Testgelände für die modifizierten “Condor-II”-Raketen dienten zahlreiche Labors der biologischen, chemischen und nuklearen Kampfstoffproduktion. In eigenen Hörsalen unterrichteten vornehmlich deutsche Techniker(Innen?) irakische Wissenschaftler(Innen?) und Offiziere im Umgang mit der Technologie für Wad 16. Diese hatte sich der Irak über Gildemeister Projecta vor allem von MBB (Raketenmotoren, logistische Sensorik, etc.), aber auch von 37 anderen bundesdeutschen Firmen zusammengekauft (z.B. Kar1 Kolb, Consultco, Integral Sauer und Schenk). H+H Metallform lieferte für “Sa’ad 16” eine Ultra-Zentrifugen-Anlage der Firma MAN, die zur Urananreicherung für den Atombombenbau dient. Von 1985-86 wurden außerdem eine Reihe von Forschungslaboratorien über MBB an den Irak geliefert. Auch US-amerikanische Unternehmen waren an die Sen Geschäften beteiligt. Simulations-Computer der Firma Hewlett Packard dienten in den Laboratorien zur Echtzeitflugbahnvermessung von Raketen.
Mit diesem Know-How und der über Ägypten aus Argentinien stammenden “Condor-I”-Technologie entwickelte der Irak die von der Sowjetunion gelieferten Scud-B-Raketen (300 km Reichweite) weiter. So entstanden die “Al Hussein” mit 650 km und die “Al Abbas” mit 900 km Reichweite, die der Irak im derzeitigen Golfkrieg einsetzt. Beide sind sowohl mit chemischen wie mit atomaren Spreng-köpfen bestückbar.
In Mahmudiya, südlich von Bagdad, wurde dann im Frühjahr 1989 eine weitere Raketenfabrik fertiggestellt. Es ist ein absolut identischer Nachbau der von CONSEN gebauten Raketenfabrik in Ägypten und der im argentinischen Falda del Carmen. CONSEN diente in diesem Vertrag mit dem Irak offiziell nur noch als Berater. In Wirklichkeit baute sie parallel die Fabriken in Ägypten. und im Irak. Die Lieferungen waren hierbei immer nach Ägypten deklariert. Über längere Zeit konnte sie so unbemerkt an der Anlage im Irak bauen.
Die Technologie kam wiederum aus der BRD: Schaltanlagen, Transformatoren und Stromverteilungsanlagen von Siemens, Technologie von H+H Metallform, MAN/Thyssen und anderen. Auf dem Gelände befindet sich neben der Produktionsanlage für die “Condor-II”-Rakete ein Testgelände für ihre Weiterentwicklung. Durch eine zusätzliche Stufe soll dort, laut Informationen des Spiegel, aus dem Condor-Projekt eine Interkontinentalrakete entwickelt werden.
Argentinien hat mit dem Irak nie einen direkten Vertrag unterzeichnet. Vor und nach dem Regierungswechsel in Argentinien Mitte 1989 erfolgte jedoch eine direkte Lieferung von 12 bis 20 “Condor-II”Raketen (ohne Sprengkopf) von Falda del Carmen. Fünf dieser Raketen dienten als Grundlage für die Entwicklung der irakischen “Tammuz 1”. Der Prototyp dieser 25 m langen und 48 Tonnen schweren Rakete wurde am 5.Dezember 1989 erfolgreich getestet. Sie sollte eine Reichweite von 2000 km haben und wurde vornehmlich mit westdeutscher Technologie entwickelt. Zur Serienproduktion ist es nicht mehr gekommen.

Argentinien steigt aus

Den USA waren die argentinischen Raketenentwicklungen schon seit geraumer Zeit ein Dom im Auge. So mußten die UnterhändlerInnen der argentinischen Regierung auch regelmäßig bei den IWF- und Weltbankverhandlungen oder bei anderen Gelegenheiten den US-TechnokratInnen Rede und Antwort stehen. Argentiniens Regierung versuchte den USA bis 1989 das Condor-Programm als ziviles Satellitenforschungsprojekt zu verkaufen. Anläßlich der Verhandlungen mit dem IWF im Frühjahr 1990 wurde dann allerdings von der US-Regierung eine endgültige Einstellung des argentinischen Condor-Programms verlangt. Als Deal boten die USA an, über 200 der argentinischen Übungsflugzeuge “Pampa” zu kaufen, wenn das Raketenprojekt eingestellt werden würde. Am 21.April verkündete Verteidigungsminister Romero dann öffentlich: “Argentinien hat entschieden, das “Condor-II”-Projekt einzufrieren. Die Einstellung des Projektes geschieht nicht aufgrund des Drucks anderer Länder, sondern wegen haushaltstechnischer Schwierigkeiten,” fügte er dann schnell noch an, um das Gesicht zu wahren. Experten sind sich allerdings darüber einig, daß die technologische Entwicklung der “Condor-II”-Rakete abgeschlossen ist. Ein erfolgreicher Testflug in Patagonien im März 1989 bestätigt diese.Vermutungen. Darüberhinaus hat die Weiterverbreitung der Technologie über Ägypten an den Irak ohnehin längst stattgefunden. Der US-Botschafter in Buenos Aires, Todman, lehnte einen Kontrollbesuch der stillgelegten Produktionsstätte ab, da die Zweifel der USA gegenüber dem Projekt weiter bestehen würden.
Die Entsendung der beiden argentinischen Fregatten an den Golf mag zum großen Teil durch die Trübung der Beziehungen zu den USA wegen der “Condor”-Affäre motiviert worden sein. Auch Israel soll wohl mit dieser Geste beruhigt werden, hatten sich doch die Israelis seit 1986 über den “Condor”-Deal beunruhigt gezeigt.

Befürchtungen der USA

Seit 1987 verstärkte die US-Regierung ihre Bemühungen, die internationale Weiterverbreitung (Proliferation) der Raketentechnologie zu unterbinden. Vor allem die in der “Dritten-Welt” voranschreitende Technologieentwicklung von Träger- Systemen, die geeignet sind, biologische, chemische und atomare Sprengköpfe hunderte von Kilometern zu transportieren, beunruhigen die Strategen des Pentagon. “Bis zum Ende der nächsten Dekade könnten 12 bis 15 Nationen in der Dritten Welt über eigene Raketenentwicklungssysteme verfügen -das kann de-stabilisierend wirken,” äußerte sich US-Verteidigungsrninister Cheney hierzu.
Mit dem Londoner Protokoll wurde 1987 das Raketen-Technologie-Kontroll-Regime (MTCR) etabliert. Die Unterzeichnerstaaten -USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, BRD, Japan und Kanada verpflichteten sich, keine Technologie für Mittelstreckenraketen-Programme an andere Länder weiterzuliefern. Als Paradebeispiel für die gefährliche Proliferation diente immer wieder das “Condor-II”-Projekt. Bei den Verhandlungen über das MTCR wurde die Bundesregienmg daher auch aufgefordert, MBB eindeutig zur Aufgabe des Projektes zu bewegen.

BRD: Exportieren was das Zeug hält

Die BRD-Regierung hielt die Vereinbarungen des Raketen-Technologie-Kontroll-Regimes (MTCR) unter Verschluß, während alle anderen Regierungen das Übereinkommen als großen Schritt feierten. Exporte einschlägiger Komponenten und Technologien wurden nicht verboten. Die Zollausfuhrstellen und die zuständigen Ausschüsse des Bundestages wurden nicht einmal über die Beschlüsse informiert. Kein Wunder, fürchtet doch die weltgrößte Exportnation, vom 4. Platz der Weltrangliste der Rüstungsexporteure abzusteigen.
Seit 1954 verzichtet die BRD auf die Herstellung atomarer, chemischer und biologischer Waffen im eigenen Land. Dennoch ist sie weltweit über Drittländer wie Argentinien, Ägypten oder den Irak an der Rüstungsproduktion dieser Waffentypen beteiligt. Deutsche Exportinteressen haben weiterhin Vorrang vor gesetzlichen Beschränkungen, und vor moralischen Skrupeln sowieso. Nicht nur die illegalen Rüstungsexporte sind das Problem, sondern vor allem die ganz ” “normalen”. Die “Condor-Connection” ist dabei nur ein Beispiel von vielen.

Für diesen Artikel wurden unter anderem folgende Quellen benutzt:
Página/3O; Pdginall2; lnternational Defense Review; Der Spiegel; Frankfurter Rundschau;
BUKO-Materialien.

Sonderbeilage zum Golfkrieg der “Dritte-Welt-Zeitschriften”

Editorial

Angesichts der massiven Streit­macht, mit der die Sieger des Kalten Krieges im Nahen Osten auf­marschiert sind, stellt sich für uns heute die Frage, ob dieser zweite Golfkrieg binnen zehn Jahren nicht der Beweis ist, da? eben keine Weltzivilge­sellschaft im Enstehen ist. Wir vermuten, da? mit dem blutigen Waf­fengang, am Ende des zwanzig­sten Jahrhun­derts der Herrschaftsbe­reich neo-imperialisti­scher Staaten wie die USA und neuer­dings auch wieder Gro?britan­nien und Frankreich, abgesteckt werden soll. Damit hat auch der Nord-Süd Kon­flikt eine andere, militärische Dimen­sion bekommen.

Gleichzeitig hat aber auch die techni­sierte und ra­tionalisierte Kriegsfüh­rung eine neue Qualität er­reicht. Und deswe­gen verlangt sie nach ei­ner noch schärfe­ren und noch perfek­teren Zensur der Me­dien. Ver­schwiegen wer­den soll, da? hinter den zeitgemä?en Aus­drücken “Zerstörung” und “chirurgischer Ein­griff” der Tod vieler tausend Menschen steht. Damit soll erreicht werden, da? die Brutalität und der Wahnsinn des Krieges, fernab an der “Heimatfront” nicht einmal mehr per TV wahr­genommen werden kann. Der Krieg er­scheint dann als Spiel. ?ber den inzwi­schen hinläng­lich be­kannten US-Fern­sehsender können wir heute an diesem Spiel teilnehmen. Oder wir gehen heute, wie zu allen Kriegszei­ten, auf die Stra?e und rufen: “Kampf dem Krieg!”

Diesem ‘Kampf’ ist diese Sonderausgabe ge­widmet, so altmodisch das klingt.
hh

Impressum

HerausgeberInnen:

Informationszentrum Dritte Welt e.V.
Kronenstra?e 16HH, 7800 Freiburg
0761-74003

Lateinamerika-Nachrichten
Gneisenaustr. 2, 1000 Berlin 61
030-6946100

Redaktion des AG 3 WL – Rundbriefes
c/o Infoladen 3.Welt
Thomasstra?e 11-13, 1000 Berlin 44

Auflage: 10.000

Der Krieg ohne Blut

Sage und schreibe fünf Tage nach Aus­bruch des Krieges gab es für uns TV-Kriegsteilneh­merInnen das erste Mal Gelegenheit, zu er­schaudern. Zwei ame­rikanische und ein briti­scher Bomberpi­lot, die der Irak nach Ab­schu? ihrer Ma­schinen in seine Gewalt ge­bracht hat, wurden der Welt vorgeführt. Ge­brochene Menschen, ohne jede ?hnlichkeit mit den Jungs aus den Militärwerbespots, die wir nach den erfolgreichen Lufteinsätzen der er­sten Tage zu sehen bekamen.

Doch gerade die makabere Show, die Hus­sein hier inszenierte, gibt Anla? zu Hoffnung. Womög­lich trägt sie dazu bei, da? die Rech­nung der US- Führung nicht aufgeht. Die will bekanntlich keinen zweiten Krieg “am Bild­schirm verlieren” und unter­sagte es den Kriegsberichter­statterInnen, die schwachen Nerven der US-Bevölkerung mit Schreckens­bildern zu strapazieren.

Die Folgen dieser Zensur sind uns allen be­kannt: Weltweit gelangte ein kastrier­ter Krieg auf die Bildschirme, ein Krieg ohne Blut und Verstümme­lung, wie aus der Perspektive des Bomberpiloten ge­filmt, der sein auf Punkt­grö?e ge­schrumpftes Ziel ins Visier nimmt, einen Knopf drückt und wie­der abdreht.
Nennenswerte Proteste gegen diese Art von Volksverdummung sind hierzulande am sech­sten Kriegstag nicht auszuma­chen. Nur bei den Frau- und Mann­schaften in ARD und ZDF, die den Krieg mit ihren Sondersendun­gen begleiten, macht sich langsam ein gewis­ses Unbe­hagen breit. Sie be­klagen immer häufiger die Mängel des Materials, das ihnen ihre KorrespondentInnen vom Ort des Ge­schehens ins Haus schicken.
Aber die Schuld an der verzerrten Berichter­stattung über den Krieg trägt nur zum Teil die of­fene Zensur. Es wird auch dort, wo mehr Objekti­vität möglich wäre, verzerrt, beschö­nigt und ver­schwiegen – die Wirkung tiefsit­zender Vorurteile und Feindbilder. So kom­
men in etli­chen Kom­mentaren und Berichten die Streit­kräfte der USA auch noch Tage nach Kriegs­beginn nur in der Rolle der ver­nünftigen, beinahe humanen Kriegs­partei vor, die ihre Angriffe mit “chirurgischer” Prä­zision auf strategische Ziele konzentriert. Saddam Hussein hingegen trägt weiterhin die Maske des finsteren Aggressors und die Bevölke­rung seines Landes, wenn sie denn über­haupt einmal in den Berichten auftaucht, wird prä­sentiert als ein unver­besserlicher Haufen von Fanatikern.

Wieviele Aspekte dieses Krieges im Fil­ter der Zensur hängengeblieben sind und was an Falschinformation in die Welt gelangte, wird die Zeit ans Licht bringen. Man mu? jeden­falls auf herbe ?berra­schungen gefasst sein.
isar

CNN-Live –
Dabeisein ist alles

Die deutschen TV-Konsumenten, die die er­ste Kriegsnacht am Bildschirm mitver­folgten, werden sich noch gut an Bernie Shaw erin­nern, an den Mann des ameri­kanischen Nach­richtensenders CNN, der der Auforde­rung seines Arbeitgebers zum Verlassen Bagdads nicht folgte und stattdes­sen die Welt mit sei­nen Impres­sionen vom Bom­bardement der iraki­schen Hauptstadt ver­sorgte. Mit 46 ande­ren Journalisten harrte er im Rashid- Hotel in der Bagdader Innenstadt aus, nicht etwa im Luftschutzkeller, sondern im 14. Stockwerk , und beobachtete, wie sich der Himmel über Bag­dad rot färbte und von ei­nem riesigen Feuerwerk über­zogen wurde. So viel “Berufsethos” bringt nicht jeder ra­sende Re­porter auf.

Die CNN Leute haben noch andere Qualitä­ten. Sie besitzen Ellbogen und haben unter der Ge­meinschaft der Auslandskorrespon­denten in den ver­schiedenen Ländern meist die besten Connec­tions , zu Staatsmännern und an­deren wichtigen Leuten. Bei der Kon­kurrenz sind sie nicht gerade beliebt. Aber beliebt oder nicht : Die Berichte der allge­genwärtigen Frauen und Männer von CNN sind für viele andere Sendean­stalten inzwi­schen zu einer unverzichtba­ren Informati­onsquelle ge­worden.
Dem aufmerksamen TV-Kriegsteilneh­mer in der Bundesrepublik dürfte nicht entgangen sein: der Gro?teil der Be­richte, die ARD und ZDF in ihren Sen­dungen verarbeiten, stam­men von CNN.

CNN (Cable News Network) existiert erst seit 1980. Die 10 Jahre seines Beste­hens hat Be­sitzer Ted Turner genutzt, um aus CNN ein weltweit füh­rendes und in­zwischen auch sehr gewinnträchti­ges Nachrichtenunternehmen aufzubauen. Der Sender aus Alabama wird von 55 Mio US-Haus­halten empfangen und von weiteren 7 Mio Haus­halten in insgesamt 91 anderen Ländern. 120 Nicht-amerikani­sche Fernsehstationen überneh­men Beiträge von CNN und in 250000 Hotelzim­mern in der Welt kön­nen Reisende zu jeder belie­bigen Tages- und Nachtzeit CNN-Nachrichten emp­fangen.
CNN schüttet seine Nachrichtensendun­gen mit Hilfe von fünf Satelliten über der Welt aus, zu denen auch ein sowjetischer Satellit ge­hört, des­sen Ausstrahlungsra­dius über die halbe Welt reicht.

Der dressierte Weltdörfler

Was ist das Markenzeichen von CNN ? Der ame­rikanische Nachrichtensender ist zum einen allge­genwärtig, zum anderen sendet er ausschlie?lich live. Er folgt der Maxime, da? die Information oder das Bild, das den Zu­schauer mit zeitlicher Verzögerung erreicht, schon nichts mehr wert ist. Der Zuschauer soll nicht mit In­formationen ver­sorgt werden, die er ak­kumulieren kann, sondern er soll di­rekt angeschlossen werden an das Welt-ge­schehen, an eine weltumspannende Kommu­nikation.
Der Medientheoretiker Marshall Mc Lu­han soll einmal zum Besitzer von CNN, Ted Tur­ner gesagt haben :”Turner, you are creating the global vil­lage”.
Einen entscheidenden Schritt in diese Rich­tung hat “Weltdörfler” Turner da­durch getan, da? er seinem Team die Anweisung gab, künftig auf das Wort “foreign” zu verzichten. Jeder, der dieses Verbot übertritt, mu? mit ei­ner Strafe von 50 Dollar rechnen. Dieses Wortver­bot ist nur Kosmetik. Ausschlagge­bend ist die Ex-und Hopp- Berichter­stattung von CNN. Und die ist nicht gerade ge­eignet, das Verständnis anderer Gesell­schaften zu fördern.

?ber die rasende Geschwindigkeit der Nach­richtenübermittlung und den hekti­schen Sze­nenwechsel hat sich der Fran­zose Paul Viri­lio, seines Zeichens Geschwindigkeitsfor­scher, Ge­danken gemacht. Ihm zufolge för­dert eine solche Berichterstattung durch ein ?berma? an Informa­tionen beim Empfänger Desin­formation . Vor allem zerstört sie die Fä­higkeit zur Anordnung der Fak­ten auf der Zeitachse. Auf den Krieg bezogen hei?t das: Der Zuschauer wird in so schneller Ab­folge mit Informationen und Bildern versorgt, da? er `vorher` und `nachher` nicht mehr unterschei­den kann. Und damit Angriff nicht mehr von Ver­teidigung.

In diesem hektischen Bombardement mit zum Teil widersprüchlichen Informatio­nen findet der Zu­schauer nicht mehr die Gele­genheit, innezuhalten und sich eine eigene Meinung zu bilden, “sondern nur noch die Zeit, von ei­nem Reflex zum an­deren überzu­wechseln”.
Das Resultat dieser “Mediendressur”, wie Vi­rilio sie nennt, ist der denkunfä­hige Mensch ohne Ge­schichtsbewu?tsein, der wie ein “Opiomane” da­hindöst.

CNN, Feind der Diplomatie?

Kaum ein Staatsmann verzichtet heute auf die Live-Information durch CNN. Ein beson­ders treuer CNN-Kunde ist Bush, aber auch der saudische König Fahd, Hussein von Jorda­nien, Mitterand und selbst Ghaddafi emp­fangen oft CNN (Newsweek,18.6.90). In Kri­senzeiten wird der Kreis der Empfänger noch grö?er.

In vielen Fällen ersetzt die Sofort-Kommuni­kation über den CNN-Draht sogar die auf­wendigeren di­plomatischen Kontakte. So hat Gorbatschow im De­zember 1989, nachdem er von der US-Invasion in Panama erfahren hatte, sofort den Maoskauer CNN-Korrespon­denten zu sich in den Kreml ge­rufen. Dort ver­las Gorbatschows Pressesprecher eine Verurteilung der Invasion vor der Ka­mera. Erst Stunden später ging die Note dem Bot­schafter zu. Auf Nachfrage ant­wortete Gor­batschow, er sei davon aus­gegengen, da? Bush ohnehin CNN sehe (ZEIT, 21.9.90).

Die Direktkommunikation über den CNN-Ka­nal hat ihre Haken. Sie kann zu einer gefährli­chen Aufhei­zung der At­mosphäre führen und den Raum nehmen, nach diplo­matischen Lö­sungen zu su­chen. “Es ist unser Ziel”, so der Chefre­dakteur und – manager des Senders, Tom Johnson, “fair und ausge­wogen alle re­levanten Meinungen zu den Er­eignissen des Tages zu bringen.” CNN “schütze” die Zu­schauer vor nichts und nieman­dem. Da? die UN so schnell und ent­schlossen auf den ?berfall Kuwaits durch den Irak reagierten, über den CNN “sofort ” be­richtet habe, könne al­lerdings kein “Zufall” sein. Da? die politi­schen Kontrahenten über das Fernsehen mit­einander re­deten, da? nichts Entschei­dendes hinter dem Rücken des Publi­kums verabredet werden könne, das habe zur Verhinderung von Krieg beigetra­gen, so triumphierte John­son noch im Sep­tember in der ZEIT. So sei CNN mehr “Freund als Feind” des diplomati­schen Pro­zesses. Der Ausbruch des Krieges hat seine Aussage nun ins Gegenteil ver­kehrt.
dh, sw, isar

Deutsche Waffen, deutsches Geld – morden mit in aller Welt!

Kurze Geschichte des Konflikts bis zum Ein­marsch in Kuwait

Zur Entstehung der beiden Staaten bis zu ih­rer Unabhän-gigkeit

Kuwait: Das Gebiet des heutigen Kuwait war im 17. Jhd. Teil des osmanischen Reiches und wurde von der Provinz Basra verwaltet. Es begann da­mals aller­dings eine von der Osma­nenherrschaft relativ unabhänge Besie­delung durch Araber; sie ernannten einen “Shaij” (Scheich), um Verhand­lungen mit den Türken durchzuführen. Ende des 18. Jhds. bat der Scheich von Kuwait Eng­land um Un­terstützung gegen eine be­fürchtete Okkupa­tion durch die Waha­biten, die sich später mit der Dy­nastie der Saudis zusammenschlos­sen. Auch in den folgenden Jahren traten die Englän­der als die Garanten der Unabhängig­keit Kuwaits auf. Sie vereitelten 1899 den Versuch der Türken, die Ei­senbahnlinie Ber­lin- Bagdad durch kuwaitisches Ge­biet bis an den Golf zu verlängern.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ku­wait ein au­tonomer Staat unter briti­schem Protek­torat. Als 1938 das erste ?l zu flie?en be­gann, überzeugten die “Kuwait Oil Com­pany”, be­stehend aus “British Petrol” (“BP”) und “Gulf Oil” (USA) den Emir, ?l­bohrungen zuzulas­sen. Daraufhin unterzeich­nete das Par­lament die ?lkonzessionen. Ku­wait blieb bis 1961 britisches Protektorat.

Irak: Unter den Abbasiden, die 750 von in Damas­kus residierenden Ommayaden das Kalifat über­nommen hatten, wurde Bagdad zur Hauptstadt des arabischen Gro?reichs. Drei Jahrhunderte lang war die “Stadt von tausend und einer Nacht” das kulturelle Zen­trum in der Region. Dem Zerfall des arabi­schen Reiches folgte abwechselnd eine Herr­schaft der osmanischen Türken, Mongolen, Tur­komanen und Kurden. Die Region wurde im 16. Jhd. schlie?lich unter osmanischer Herrschaft geeinigt.

Zu Beginn des 20. Jhds. entwickelte sich ein “arabischer Widerstand”, der auch im Irak sehr stark wurde und während des Ersten Weltkriegs die osmanische Herr­schaft ab­schüttelte. Nachdem die Türken besiegt wa­ren, gab es erste Hoffnun­gen auf Unabhän­gigkeit. Die allerdings machte England zu­nichte, das in Persien seine ?linteres­sen zu wahren versuchte und die arabischen Ge­biete nach dem Er­sten Weltkriegs unter sich und Frankreich aufteilte. Syrien fiel Frankreich zu, Me­sopotamien (das heu­tige Gebiet des Irak) Eng­land. 1920 er­klärte Win­ston Chur­chill die Grün­dung des Königreichs Irak. Erst 1955 wurde je­doch dessen endgül­tige Unabhän­gigkeit erreicht. Ein Militär­putsch im Juli 1958, angeführt von Ge­neral Kas­sem, führte zum Sturz des Königs und zur Hin­richtung der kö­niglichen Familie.

Erste Auseinandersetzungen
zwischen Irak und Kuwait

Sofort nachdem Kuwait 1961 aus dem engli­schen Protektorat entlassen wurde, meldete Irak Ansprü­che auf dessen Staatsgebiet an mit dem Argu­ment, Ku­wait wäre Teil der os­manischen Provinz Basra gewesen und damit ein Teil Iraks. Der iraki­sche Premierminister Kassem erklärte Kuwait zum integralen Be­standteil des Irak und drohte mit ei­ner gewalt­samen “Befreiung” des Gebiets. Zunächst wurden britische und saudiara­bische Truppen in Kuwait stationiert, danach übernahm die Arabische Liga die Verteidigung Kuwaits. Ku­wait wurde gegen den Widerstand Iraks in die Ara­bische Liga aufgenommen. Kassem er­neuerte seine Gebietsansprüche nicht, wo­rauf die Präsenz arabischer Truppen auf ein Mini­malma? reduziert wurde.

Zwei Jahre später wurde Kassem von Anhän­gern der Baath-Partei gestürzt und erschos­sen. Die Baath-Partei konnte je­doch erst 1968 unter der Führung von General Hassan Al-Bakr endgültig die Macht übernehmen. Sie führte eine Landre­form durch und nationali­sierte 1972 den Erdöl­sektor. Am 4. Oktober 1972 wurde die Unabhän­gigkeit Kuwaits an­erkannt. 1973 gab es jedoch weitere Konflikte zwischen beiden Ländern. Die Grenzfrage blieb weiter umstritten.

1979 trat Al-Bakr aus gesundheitlichen Grün­den zurück, Saddam Hussein, bis dahin Vize­präsident, übernahm sein Amt. Ein Putsch­versuch gegen ihn scheiterte; Hussein ver­sprach, die bishe­rige Politik seines Vorgän­ders fortzuset­zen. 1980 fanden di­rekte Wah­len zur er­sten Nationalversammlung statt.

Der irakisch-iranische Krieg

Ende 1980 startete der Irak eine Blitzoffen­sive ge­gen Iran mit dem Ziel, die seit 1823 um­strittene Grenzfrage am Schatt el-Arab für sich zu ent­scheiden. Nach der iranischen Re­volution 1979 be­anspruchte der Irak die An­erkennung seiner Souveränität über den Schatt el-Arab; offensicht­lich versuchte der Irak eine vermeintliche Schwä­che des Iran nach der Revolution auszunutzen. Im Verlauf dieses Krieges starben minde­stens 500.000, über eine Million wurden verletzt. Die Waf­fen für die Kriegsfüh­rung kamen hauptsäch­lich aus dem Ausland, da zu dem Zeitpunkt kei­nes der beiden Länder über eine eigene Rü­stungsproduktion verfügte. Hauptlie­ferant des Irak war Frankreich, gefolgt von der So­wjetunion. Mit der Annahme einer Resolution des UN-Sicher­heitsrats im Juli 1987 (Iran) bzw. Juli 1988 (Irak) endete dieser Krieg.

Nach Ende des Krieges begann der Irak seine Vormachtstellung in der Region mit ei­nem weite­ren Ausbau seines mili­tärischen Potenti­als und ei­gener Rü­stungsproduktion zu stär­ken, in der Ab­sicht, so zur arabischen Füh­rungsmacht aufzu­steigen. Unter den Waffen­lieferanten aus dem Ausland standen wieder Sowjetunion und Frankreich an erster Stelle. Aus der BRD kam vor al­lem Techno­logie für die Produktion chemischer Kampf­stoffe.

Irakische Rakete: Entwicklungshelfer MBB

Im Frühjahr 1990 bot der kuwaitische Scheich Dschaber as-Sabah dem Irak die umstritte­nen In­seln Bubijan und Warba für einen unbefri­steten Zeitraum zur Pacht an. Er for­derte als Gegenlei­stung die erneute Aner­kennung der Unabhängig­keit Kuwaits von Saddam Hus­sein, was dieser ablehnte. Unter Vermittlung Arafats und König Husseins von Jordanien fanden Verhandlungen statt, die im März 1990 scheiterten. Im Juni warf der Irak Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emi­raten vor, die von der OPEC festgesetzte För­dermenge für Rohöl zu überschreiten und den Welt­marktpreis zu drücken. Der Irak be­hauptete, durch die ?berproduk­tion beider Länder sei ihm ein Schaden von 14 Mrd. Dollar entstan­den und ver­langte den Erla? der Schulden aus dem Golf­krieg. Am 1. Au­gust scheiterten die Versöhnungs­gespräche zwi­schen Irak und Kuwait, ohne da? neue Verhandlun­gen ver­einbart wurden. Am 2. Au­gust marschierten irakische Truppen in Ku­wait ein, besetzten den Palast des Emirs, den Flugha­fen sowie in der Folge das ge­samte Territorium des Scheichtums. Der Emir flüchtete mit seiner Familie nach Saudiara­bien.
tl

“Ich werde mich nicht dazu hergeben, Lei­chen zu zählen”
General Schwarzkopf

Wir aber Herr General!

Es ist Krieg. Fassungslos sind wir einer bei­spiellosen Mediensimulation, Zensur und Propa­ganda ausgeliefert. Ohnmäch­tige Wut wechselt sich mit Resignation und Zynismus ab. Es ist in diesen Tagen schwierig gewor­den, einen klaren Kopf zu behalten. Trotz­dem, der Versuch sei ge­wagt, einige erste Thesen aufzustellen.

Die Diktatur im Irak bot den idealen Vor­wand für die USA und ihre Verbün­deten, in einer neuen weltpolitischen Si­tuation ihre Bedin­gungen für die Zukunft zu diktieren.
Der Krieg im Nahen Osten ist in dieser Form die erste echte militärische Nord-Süd Kon­frontation nach dem Auseinan­derbrechen der Ost-West- Weltordnung. Saddam Hussein konnte sich gegen die USA auflehnen, da da­von auszugehen war, da? die Sowjetunion sich nicht ein­mischen würde und ihn zu ei­nem Frieden zwingen könnte. Aller­dings ha­ben die USA und GB schon 1982 ange­deutet, was es hei?t, wenn staatliche Diplomatie am Ende zu sein scheint und die militäri­sche Lo­gik am Ende des 20. Jahrhun­derts das Ge­setz des Handelns über­nimmt. Der Falkland-Kon­flikt war ge­wisserma?en die militärische “Generalprobe” für den Angriff auf den Irak. Er wurde fälschlicher­weise als letzter Krieg der imperialistischen Kano­nenbootpolitik des 19. Jahrhunderts be­zeichnet. Heute sprechen viele Anzei­chen dafür, da? dieser Konflikt zwischen GB und Argentinien nicht die letzte ko­lonialistische, sondern die erste spezifi­sche Form einer neuen postkolonialen Auseinan­dersetzung war.

Hintergründe der Alliierten

Auf der einen Seite stehen in erster Linie die USA und GB und nicht die zivile Weltgesell­schaft, die in jeder “Kriegs- Talk Show” be­schworen wird. Auf­fallend ist die Strategie beider Länder, andere di­plomatische Aktivi­täten seit dem zweiten August zu negieren, unab­hängig davon, ob der Irak auf sie anders reagiert hätte: innerarabische Lösungsversu­che, z.B. Algeriens und der Arabi­schen Liga wurden durch den schnellen und mas­siven militärischen Aufmarsch in Saudi Arabien im Ansatz erstickt. Die französische Diplomatie wurde von den USA und GB hart kriti­siert, da sie die vom Irak geforderte Ein­beziehung der palästinensi­schen Seite in ihre ?berlegungen mit aufnahm. Die UNO-Missionen dienten in erster Linie dazu, in der ?ffentlichkeit Ver­handlungswillen zu demonstrieren. Im Grunde nahm sie keiner ernst, was sich an den ein­geschränkten Möglichkeiten des UN- Generalsekretär zeigte. Die EG wurde an der kurzen Leine gehalten, und die einzelnen Mit­gliedsländer zogen sich in ihr nationalstaatli­ches Schneckenhaus zurück. Die Diplomatie steuerte so zwangsläufig auf einen Krieg zu. Warum gab es keinen Versuch von Sei­ten der USA, mit Sad­dam selbst ins Ge­spräch zu kommen? Bei einem Kom­promi?vorschlag hätte sein eigener innenpoli­tischer Hinter­grund mit berück­sichtigt werden müssen.Er selbst brachte sein Dilemma auf den Punkt: “Wenn ich mich aus Kuwait ohne Ergebnis zu­rückziehe, werde ich von meinen Offi­zieren als Verräter erschossen. Kommt es zu Krieg, ende ich schlimmstenfalls als Märty­rer.” Das Verhindern anderer Möglichkeiten, aus der Krise zu kom­men, spiegelt die Unfä­higkeit wi­der, ara­bisches Selbst­verständnis zu verste­hen. Ein anderes Umgehen mit dem Irak hat nicht automatisch etwas mit Nachgiebig­keit oder dem Münchner Ab­kommen von 1938 zu tun. (sog. Appease­ment- Politik)

Das Versagen der Diplomatie kann aber auch an­ders interpretiert werden. Die USA lie?en den Irak in eine Falle laufen und wollen kei­neswegs die weltweite Staatengemeinschaft schützen, sondern verfolgen schlicht eigene Interessen in diesem Krieg.
Erinnern wir uns! Die konkrete Idee, sich der ?l­quellen zu bemächtigen, um an den wichti­gen Rohstoff billig heranzu­kommen, existiert seit 1974. Die Stäbe von Henry Kissinger er­stellten Pläne für die Besetzung der wichtig­sten ?lquellen auf der arabischen Halbinsel. Diese ?berlegungen führten zu verschie­denen Doktrinen, die die Region als lebens­wichtig für die USA darstellten. Schnelle Ein­greiftruppen, die in der ägyptischen Wüste Ma­növer abhielten, wurden auf­gestellt und stehen heute wie die 82. Luftlandedivision als Kerntrup­pen im Krieg gegen den Irak. So­lange sich ent­scheidende Länder der OPEC den Inter­essen der USA und Europas beug­ten, konnte auf eine Inter­vention verzichtet wer­den. Mit der Revolution 1979 im Iran er­höhte sich die Gefahr für die Regierun­gen der USA schlagartig. Für die Herr­schenden ent­wickelte sich nach der kommunistischen eine zweite Domi­noSituation: die islamische. Alles, was sich dem islamischen Fundamen­talismus wider­setzte, wurde daraufhin mit Waffen aus der halben Staatenwelt über­häuft. Die fürch­terlichen Folgen werden mit je­dem Kriegstag deutlicher.

Seit Anfang der 70er Jahre schwindet die He­gemonie der USA im globalen Kapi­talismus, da ihre ?konomie in produkti­ven Bereichen von ande­ren kapitalisti­schen Staaten über­rundet wurde. Sie ha­ben seit dieser Zeit ihre Macht immer mehr zugunsten ihrer jewei­ligen internen Interessen eingesetzt. Vermut­lich diente dazu auch der “Kriegskeynesianismus” der 80er Jahre. Rie­sige staatliche Sum­men wurden in die Kriegstechnolo­gie in­vestiert. Die Ergebnisse werden heute vorgeführt, um einen Teil die­ser verlore­nen He­gemonie zu­rückzuerobern.

Die Hintergründe im Irak

Im Gegensatz zur CDU, die das diktato­rische Re­gime im Irak erst seit August letzten Jah­res kennt (kein Wunder, ei­nige ihrer Bundestags­abgeordneten fun­gieren als Lob­byisten wich­tiger Rü­stungslieferanten), haben wir die Ver­nichtungspolitik des Irak gegen­über der eige­nen Opposition und der kurdi­schen Bevölke­rung schon immer kritisiert – lei­der mit wenig Resonanz.

Neben der moralischen Empörung müs­sen wir aber auch die strukturellen Zwänge analy­sieren, denen nicht nur der Irak in den letzten Jahren zu­nehmend ausgesetzt ist. Die Herr­schenden und die Bevölkerung in fast allen Staaten der “Dritten Welt” sehen sich einer konstant sich verschlech­ternden nationalöko­nomischen Situation gegen­über. Tradi­tionelle Wege nationaler Entwicklung, ob in der alge­rischen, vietnamesischen oder brasi­lianischen Variante wurden, trotz aller miteinbezo­genen internen Schwierigkeiten, durch die Schul­denkrise (Nettokapitaltransfer in den Nor­den), der Abschottung der Märkte der Industrielän­der und der Auflagenpo­litik des IWF er­schwert bis verun­möglicht. Für die Mehrheit der arabi­schen Bevöl­kerung kommt zu der zu­nehmenden ökonomi­schen Misere eine psychologische. Die letzten vierzig Jahre werden als eine Aneinanderkettung von Nie­derlagen wahrgenommen. Das Ende des Kalten Krieges verstärkt diesen Ein­druck noch: “Das Gefühl, nur noch als ?llieferant wahrgenom­men zu werden, trotz des Reich­tums, arm und ohnmäch­tig zu sein, bestimmt die politische und psychische Befindlichkeit der Araber” (Ahmed Ta­heri). Da kam Sad­dam gerade recht. Er stand ge­gen den Imperialis­mus und die Israelis auf. Der selt­sam befrei­end anmutende Jubel nach dem er­sten Ein­schlag der Scud-Raketen erklärt sich vor die­sem Hintergrund.

Der Irak ist nicht die einzige Diktatur, die jah­relang unterstützt wurde. Die erste Forde­rung aus der BRD kann daher nur lauten: Stop den Waffenex­porten! Zweitens können die Kon­flikte in der Re­gion nur von den Men­schen längerfri­stig und fried­lich beigelegt werden, die dort leben und nicht durch eine Einmi­schung von au?en.

Das Militär

Den Militärs – und wir lassen uns in die­sen Tagen und Nächten von ihnen, wenn auch nur optisch, unsere Köpfe verne­beln – ist ihr “Job” klar. Die Kampfma­schinen der White Anglo Saxon Allies haben in den Nord/Süd – Kriegen meh­rere militär­technologische Vor­teile. Sie werden uns von kal­ten Technokra­ten er­läutert. Wir bekommen z.B. die Auf­nahmen von in Marschflugkörpern eingebau­ten Kamaras vorgeführt. Mit diabolischem Grinsen zeigt man uns die “chirurgischen Schnitte”, mit denen das gegneri­sche Haupt­quartier zerstört wird.

Wir müssen uns lösen aus der militäri­schen Logik, so hart die Propaganda der Bilder aus diesem “High Tech – Krieg” auch auf uns ein­stürzt. Vom Fernseher weg, befallen uns ne­ben Verzweiflung über die Zerstörung und das menschliche Leid, das bewu?t ausge­blendet wird, eine dunkle Vorahnung über das, was nach dem Krieg bleiben könnte. Der Irak und Kuwait eine Wüste, unbe­wohnbar!

Politiker hier beschworen mit ihren willfähri­gen In­tellektuellen am Ende des letzten Jah­res die her­aufdämmernde Weltzivilgesell­schaft. Dabei wurde er­stens der grö?te Teil der südlichen Halb­kugel ausgeblendet und zweitens verges­sen, da? kapi­talistische Inter­essen sich in spezifisch histori­schen Situatio­nen mit Gewalt durchsetzen.

Wir konnten diesen Krieg mit unseren be­scheidenen Mitteln nicht aufhalten, aber jetzt gilt um so mehr KAMPF DEM KRIEG !

GEGEN HEILIGE UND GERECHTE KRIEGE
Georg Lutz

Weiterführende Literatur:

Zum irakisch-iranischen Golfkrieg:
– Blätter des iz3w 146 (Dezember 1987)
– A. Malanowski, M. Stern (Hrsg.): “Bis die Gottlo­sen vernichtet sind”; rororo aktuell, Hamburg 1987
Zur Politisierung des Islam:
– Blätter des iz3w 147 (Februar 1988)
Zu den Aktuellen Ereignissen bis Herbst 1990:
– B. Nirumand (Hrsg.): “Sturm im Golf. Die Irak- Krise und das Pulverfass Nahost”; rororo aktuell, Hamburg 1990
– “Chronik eines angekündigten Krieges”;
Arbeiterkampf Nr. 325, Hamburg 1990
Zu Rüstungsexporten:
– Die Todeskrämer. Bundesdeutsche Rü­stungsexporte an den Golf; BUKO-Kampa­gne “Stopt den Rüstungsexport”; Bremen No­vember 1990

Für weiter Interessierte: Wir (d.h. das Infoma­tionszentrum Dritte Welt, Frei­burg) planen die Er­stellung einer Arti­kelsammlung, die bei uns an­gefordert werden kann. Au?er­dem wird der Schwerpunkt der nächsten Ausgabe der “blätter des iz3w” der Golfkrieg und seine Hintergründe sein.

Ein Jahr Demokratie – geht es uns jetzt besser?

Im ersten Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen seit 20 Jahren war es unsere Hauptaufgabe, den Demokratisierungsprozess in das alltägliche Leben der Menschen einzubringen.Stadtverwaltungen und Nachbarschaftsorgansiatioen waren noch von der Diktatur eingesetzt und zum Teil wurden auch Räumlichkeiten und Geldmittel nur für die Anhänger Pinochets zur Verfügung gestellt. Aber, um ehrlich zu sein, die Erfahrung von 17 Jahren autoritärem Regime hat auch in vielen Organisationen sehr undemokratische Strukturen hervorgebracht, Vorsitzende, die sich als Alleinherrscher gebärden, Vetternwirtschaft und gönnerhafte Manieren – und viel autoritäres Gehabe.
Das heißt, wir müssen noch vieles verändern und wir müssen lernen, uns und unser Handeln kritisch zu betrachten und in Frage stellen zu lassen. Und wir müssen die Volksorganisationen entmystifizieren, mit denen wir zusammenarbeiten.
Noch viel schwieriger ist die wirtschaftliche Lage: der Verarmungsprozess der untersten Klassen hat sich 1990 nicht verlangsamt, das Jahr endete mit der hohen Inflationsrate von über 30% (“Inflationsrate der Armen” auf der Basis der 64 wichtigsten Konsumgüter, die die Ärmsten benötigen). Die Arbeitslosenrate sank keineswegs, doch die Löhne sind real niedriger als im Vorjahr.
Bei unserer täglichen Arbeit mit den pobladores in Santiago stellen wir fest, daß es den Leuten schlechter geht als vor einem Jahr: Ende November führten wir eine kleine Umfrage durch bei den Frauen der Volksküchen von Renca/Hirmas. Sie und ihre Familien haben – wenn sie alle Einkünfte aus allen unterschiedlichen Tätigkeiten aller Familienmitglieder, der Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, zusammenzählen und die kleine Unterstützung durch die Stadtverwaltung dazuzählen – ein monatliches Einkommen von $ 19 000 (=ca 100 DM). Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt derzeit bei $ 26 7oo.
Vor einem Jahr, ebenfalls Ende November, machten wir die gleiche Umfrage bei fast den gleichen Leuten. Damals war das Ergebnis, daß sie pro Familie monatlich über ca. $ 16 300 verfügten. Wenn wir die Preissteigerungen für die Hauptnahrungsmittel der Armen und ihre sonstigen wichtigsten Ausgaben (Busfahrten, Schulkosten, Elekrizität, Wasser, Gas) mit nur 35% ansetzen – in Wirklichkeit ist die Verteuerung für die meisten noch höher -, können wir sagen, daß die Familien in Renca monatlich $ 22 005 bräuchten, um unter den gleichen armseligen Bedingungen wie in den letzten Monaten der Diktatur weiterleben zu können – aber sie verfügen nur über durchschnittlich $ 19 000 monatlich.
Die Gruppe Gesundheitserziehung von KAIROS, die die Kinder des Kindergartens in San Luis betreut, alarmierte uns mit der Information, daß fast 80 % der untersuchten Kinder Symptome der Unterernährung, Untergewicht und Entwicklungsstörungen aufweisen. In anderen Worten: Sie bezahlen den Preis für den Hunger, den sie in den ersten Lebensjahren erleiden.
Die schreckliche soziale Schuld bedeutet, daß es 5,5 Millionen (5 500 000) “Arme” in Chile gibt, 44,4 % der Gesamtbevölkerung (1970 betrug der Prozentsatz der “Armen” im Land rund 20 %). Die Forscher von CEPAL, die diese Zahlen vorgelegt haben, nennen als schlimmstes Resultat dieser Verarmung des chilensichen Volkes die Zahl von 16,8 % der Bevölkerung, die in “extremer Armut” leben – d.h., diese Menschen können nicht einmal die Grundernährung von 2 187 Kalorien pro Tag sichern.
Es wäre ungerecht, der “Regierung des Übergangs” von Patricio Aylwin die Schuld an dieser dramatischen Entwicklung zu geben – sie ist ein Erbe der “goldenen Jahre” des ökonomischen Modells der Diktatur, das Erbe einer neoliberalen Politik – und man kann manchmal die Klage hören, daß das alte Regime der neuen Regierung noch nicht mal die schwarze Kasse für die Briefmarken überlassen hat.
Aber es ist uns wichtig, festzustellen, daß neben dem begrenzten politischen Wandel, der in Chile stattfand, das hoch gelobte “Entwicklungsmodell” der neuen Regierung im Makrobereich “Fortschritte” erzielt, Rekordzahlen bei der Ausfuhr von Rohstoffen, Obst, ganzen Wäldern und den letzten Meeresfrüchten und Fischen. Heute können wir stolz sein, außerordentliche Gewinnspannen zu haben in einem Land, in dem es pro Kopf die gleiche Anzahl Farbfernseher gibt wie in den USA und eine beeindruckende Anzahl von Autos und Videogeräten. Wir können stolz sein, daß jeder mittlere Angestellte einer Bank oder eines Betriebes, der sich für wichtig hält, und sogar Kollegen von Hilfsorganisationen, mit drahtlosen Telefonen herumlaufen … aber gleichzeitig ist die Verarmung ebenso beeindruckend wie die “Entwicklung”, das neue Elend ist die arme Schwester des strahlenden Zwillings.
Und bis jetzt sehen wir weit und breit keine Vorschläge oder auch nur den Willen der Verantwortlichen in der Regierung, – und natürlich erst recht nicht bei den Protagonisten des derzeitigen ökonomischen Modells-, ein alternatives Entwicklungsmodell zu fordern und zu fördern – ein Modell, das es wirklich ermöglichen würde, die Armut zu überwinden.

Warten auf die Begnadigung

Oberst Seineldin -der Anführer der vorhergehenden drei Rebellionen gegen Alfonsin 1987 und 1988 -hatte die vollständige Verantwortung für die Rebellion am 3.Dezember übernommen und sich eigentlich schon auf die Todesstrafe eingestellt. Verurteilt wurde er am 8.Januar als “Motor und Kopf’ des vierten Aufstandes zusammen mit sechs anderen Anführern zu unbefristeten Haftstrafen, was lebenslänglich bedeutet bzw. bei guter Führung Entlassung nach 20 Jahren. Sechs weitere Hauptangeklagte kamen mit Haft zwischen 12 und 20 Jahren davon und zwei wurden freigesprochen. Alle Angeklagten wurden degradiert und aus dem Dienst entlassen. “Während meiner Amtszeit werden sie nicht begnadigt werden, sie haben keine Zukunft”, verkündete Präsident Menem, doch wer mag dies dem Weltrekordler in Sachen Begnadigung schon glauben.
21 Tote, über 200 Verletzte und 30 Millionen US-Dollar Sachschaden hatte der letzte Aufstand der Carapintadas gekostet. Bei dieser Rebellion gab es zum ersten Mal Tote auf Seiten der Militärs. Die loyalen Truppen reagierten von Anfang an kompromisslos und schlugen den Aufstand in weniger als 18 Stunden nieder. Das Agieren der ultranationalistischen Militärs war in den Augen der Heeresführung nicht mehr opportun, hatten doch die Militärs mit der Begnadigung und dem Zugriff auf die Innere Sicherheit längst ihre Hauptforderungen durchgesetzt.
Den entstandenen Sachschaden von 30 Millionen US-Dollar sollen die Carapintadas nun in einem zweiten Gerichtsverfahren angelastet bekommen. Für Menem war der Aufstand “ganz klar als Staatsstreich gedacht”. Als Beweis muß eine angebliche Liste, mit den Namen der jeniger, die die Carapintadas ermorden wollten herhalten. Der Geheimdienst will diese Liste, auf der alle hohen Regierungsbeamten und die Armeespitze stehen, gefunden haben.
Die Beteiligung an dem Aufstand lag mit über 500 Unteroffizieren über der bei den vorhergehenden Rebellionen. Doch diesmal waren es fast ausschließlich junge Soldaten, die sich erhoben. Die vorherigen Rebellen fanden sich diesmal auf der Seite der loyalen Truppen. Die 500 Unteroffiziere müssen lediglich mit milden Arreststrafen rechnen. Sie sind für den Apparat noch “reformierbar” und müssen sich jetzt gezielten Schulungen unterziehen. Der Kern der Carapintadas sollte hingegen ausgeschaltet werden.

Abstruse Konstruktionen und unliebsame Äußerungen

Innerhalb des Schnellgerichtsverfahrens gab es mehrere Besonderheiten: Nach den langen Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit -zivile oder militärische Gerichtsbarkeit -für die Verurteilung der Aufständischen, setzten sich die Militärs mit einer abstrusen Konstruktion durch. Die Bundesgerichtskammer wertete die Tat als Rebellion. Nach dieser Definition hätte nur ein ziviles Gericht das Ur-teil fällen können, da das Delikt in den Geltungsbreich des “Gesetzes zum Schutz der Demokratie” gefallen wäre. Die Militärs plädierten auf Meuterei, um den Militärgerichten die Zuständigkeit zu geben. Dies forderte auch Präsident Menem. Der Oberste Gerichtshof führte nun die abstruse Konstruktion einer “rebellischen Meuterei” ein und überführte die Zuständigkeit an die Militärgerichte. Dahinter stand der Versuch, die negativen Enthüllungen möglichst gering zu halten und das Verfahren schnell durchzuziehen.
Der zweite heikle Punkt im Verfahren war die Anklageschrift des militärischen Staatsanwalts Carlos Horacio Domínguez. Er rollte mit der Anklage gegen die 15 Anführer die argentinische Geschichte seit 1973 auf. Ausgehend von der damaligen Amnestie für “5000 Terroristen”, die er als “großen politischen Fehler” bezeichnete, gab er seine Meinung über die letzte Militärdiktatur wieder: Zum ersten Mai in der argentinischen Geschichte griff ein General die Menschenrechtsverletzungen der Militärs während der 70er Jahre an und denunzierte Korruption innerhalb des Militärs. Dieser “Mangel an Führung und Professionalität” schwäche seit 20 Jahren das Militär und machte “Chaos und Anarchie unvermeidlich”. Schließlich verurteilte er aufs schärfste die Aktionen der Carapintadas und forderte für die Anführer die Todesstrafe. Gleichzeitig bezichtigte er zivile Politiker und Unternehmer, die Carapintadas unterstützt und zu ihren Aktionen motiviert zu haben.
Diese Äußerungen lösten in der Regierung und Militärführung erhebliche Unruhe aus. Der stellvertretene Verteidigungsminister bezeichnete seine Anklage als “Unverschämtheit”. Domínguez gehört keinem der Flügel im Heer an und ist innerhalb des Militärs eine umstrittene Figur. Um den “Schaden” gering zu halten, wurde der General dann im Januar nach seinen Äußerungen aus seinem Amt entlassen -so einfach geht das.

Der Pakt Menem-Seineldin

Aber die Bemerkungen des Staatsanwalts erhielten weitere Unterstützung durch die Aussagen der Angeklaten: Der Reihe nach erklärten alle Soldaten, daß hohe Regierungsvertreter im engen Kontakt mit den Carapintadas gestanden hätten.
Die Beziehungen zwischen Präsident Menem und Oberstleutnant Seineldin reichen weit vor Menems Amtsantritt zurück Beide debattierten in der Gewerkschaftszeitung “Acción Nacional“ über ihre Positionen. In der heißen Wahlkampfphase trat Menem nicht nur gemeinsam mit Seineldín auf, er ließ sich auch massiv von dem Einfluß Seineldíns im Militär unterstützen. Noch während des ersten Regierungsjahres verfolgten einige Minister ein Konzept zur Umstrukturierung der Streitkräfte, bei dem Seineldín zum neuen Oberstabschef ernannt werden sollte. Nach der Begnadigung des Putschoberst durch Menem im Oktober 1989 kam die Idee der Bildung einer “Schnellen Eingreiftruppe” zur Drogenbekämpfung auf, die Seineldin leiten sollte.

Die USA verlangten schließlich von Menem, daß er die Beziehungen zu dem Rebellen aufgeben solle, weil Seineldin ein ähnliches Profil aufweise wir Noriega in Panama. So brach auch der direkte Kontakt nach Menems erster US-Reise relativ schnell ab. Regierungsvertreter, wie z.B. Verteidigungsminister Romero hielten allerdings weiterhin den Dialog aufrecht.
Außerhalb der Regierung stehen ebenfalls eine Reihe von Zivilistlnnen in engem Kontakt mit dem Oberst. Menems Frau Zulerna Yoma hat nach eigenen Aussagen “eine sehr enge Beziehung” zu Seineldin. Auch andere Freunde Menems pflegen diesen Kontakt.
Delikat ist diese Angelegenheit vor allem deswegen, weil seit dem letzten Auf-stand massiv über die Beteiligung von ZivilistInnen an den Carapintadas spekuliert wird. Klar ist, daß die Nationalisten sich von UntemehmerInnen und anderen Privatpersonen ihre Aktionen -so auch den massiven Propaganda-Apparat-finanzieren lassen. Eine Namensliste hält die Regierung unter Verschluß, vor allem deswegen, weil sich eine Vielzahl engster Vertrauter der Regierung Menem darauf befinden sollen.
Ende Januar bestätigten dann die publizierten Aussagen Seineldins vor dem Militärgericht diese Spekulationen: Seineldin erläuterte explizit und mit vielen Details, daß er mit verschiedenen Regierungsvertretern und dem Präsidenten in engem Kontakt gestanden habe. “Menem wollte einen guten Verteidigungsminister haben, der das Heer beruhigen sollte. Ich schlug ihm Italo Luder und Humberto Romero vor. Dr. Menem sagte zu mir:’Akzeptiert.'”
Dennoch wirbelten all diese Enthüllungen im Zuge des Prozesses nicht genug Staub auf, daß der Präsident und seine korrupte Regierung mit ernsten Schwierigkeiten rechnen müssen. Sein Image ist vielmehr durch die kompromisslose Niederschlagung und den schnellen Prozeß aufgebessert, auch wenn er durch seine Amnestie Ende letzten Jahres sicherlich wieder an Popularität verloren hat.

Die neuen argentinischen Streitkräfte

“Argentinien hat am 3.Dezember die Gründung seiner neuen Streitkräfte erlebt”, verkündete Menem in seiner Rede zur Umstrukturierung des Militärs knapp eine Woche nach dem Aufstand. Mittels eines Präsidentendekrets will der Peronist im Zuge seiner allgemeinen “Modernisierung” der argentinischen Gesellschaft auch die Streitkräfte umgestalten. innenpolitisch soll endgültig “die Vergangenheit annulliert werden” und neben der militärischen Einheit das Verhältnis der Militärs zu den Bürgerinnen verbessert werden. Daneben soll über eine Föderalisierung ein Teil der Armee neu über das Land verteilt werden. Vor allem die dünn besiedelten südlichen Regionen des Landes sollen dadurch laut Menem “die Ansiedlung von BewohnerInnen fördern”. Die Daseinsberechtigung soll das Militär so künftig durch die nationale Verteidigung aller Ecken und Winkel des Landes erhalten. Darüberhinaus soll der gesamte Apparat durch Privatisierungen, Investitionen und Professionalisierung technisch modernisiert werden. Außenpolitisch spielen die Waffenträger “eine entscheidende Rolle zur Erhaltung des Friedens” und sollen als “strategische Säulen” die regionale intergration mitunterstützen.
“Die Streitkräfte haben niemals leichte Aufgaben übernommen, sie haben niemals risikolos gelebt und ihre Taten sind nicht mühelos erzielt worden. Aus diesem Grund rufe ich zu einer entscheidenden Schlacht, der wichtigsten und bedeutendsten Schlacht, die unsere Streitkräfte schlagen müssen.”
Ganz so unrecht hat der Präsident mit seinen Bemerkungen nicht, nur daß sich am 3. Dezember die Militärs nicht neugegründet haben, sondern sich vielmehr die alten Liberalen durchgesetzt haben, die nun konform mit der liberalen Wirtschaftspolitik des Präsidenten gehen. Weggefallen sind die nationalistischen Carapintadas als innermilitärischer Machtfaktor, auch wenn ihre Ideen sicherlich noch lange bleiben werden. Seineldin und seine Rädelsführer sitzen für’s erste im Knast. Aber vielleicht kommt dann ja in ein paar Jahren wieder einmal ein populistischer Präsident, der die Einheit der Streitkräfte und ihre Integration in die Gesellschaft dadurch herstellen will, daß er erst einmal alle Verbrecher begnadigt.

Kasten:

La Tablada-Gefangene zum Putschvenuch
Am 3.Januar 1989 überfiel eine Gruppe des “Movimiento Todos por La Patria” (MTP) die Kaserne von La Tabada, um nach eigenen Angaben einen bevorstehenden Putsch zu verhindern. (s. LN 197,180,181) Die Begründung für ihre Aktion war, da in einem Komplott zwischen dem zukünftigen Staatschef Menem und den Carapintadas der damalige Präsident Alfonsin
gestürzt und die demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt werden sollte. In einem Gerichtsverfahren unter der Regie der Militärs wurden sie zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.(s. LN 186) Im folgenden dokumentieren wir nur ihre Stellungsnahme zu dem erneuten Aufstand der Carapintadas, der ein anderes Licht auf ihre Argumentation wirft.
“Knast von Caceros, 04.12.1 990”

“Die politischen Gefangenen von La Tablada wollen erreichen, daß das Volk Fakten erfährt, vom Montag, dem 3.Dezember 1990. 1) Der Putschversuch der Carapintadas hat die Realität bestätigt: Die Denunzierungen, die gemacht wurden, waren wahr. Es war kein internes Problem der Armee, wie in diesem Moment behauptet wurde, sondern es umfaßte die gesamte Gesellschaft, wie es Präsident Carlos Menem anerkannt hat. Diese Situation wie die letzte Rebellion der Carapintadas manifestiert ein weiteres Mal, daß das Problem verdeckt war durch die Schwäche der Alfonsín-Regierung, durch die Spitze der Armee, durch die sensationalistische Presse sowie durch die Führungen der Parteien. Sie konnten nicht zulassen, daß eine revolutionäre Gruppe den Putsch vom 23.Januar 1989 verhindern könnte. Das zuzulassen, hätte das gleiche bedeutet, .wie seine Schwächen zuzugeben, das Lavieren zwischen den Bremsen der Übermacht des Militärs und dem Versuch, die ernsten Probleme des Volkes zu lösen. 2) Wir denunzieren noch einmal wie falsch die Beweise sind, die sie benutzen, um uns zu bestrafen. Diese Beweise wurden erbracht, von dem Pfarrer Moisés Jardin und den Arcangeles (paramilitärische Gruppierung, Anm. LN), die Verbunden sind mit den Carapintadas. Die aktive Teilnahme Jardins an dem Aufstand vom 3.Dezember, seine Präsenz der “Albatros”-Gruppe von der Hafenpräfektur (Hauptstützpunkt der Carapintadas, Anm. LN) bestätigt den Grund unserer Anklage. 3) Wir denunzieren auch, daß es eine psychologische Kampagne von Gerüchten und Falschmeldungen gegen die MTP und Gorriaran (Anführer des ERP, linke Guerilla der 70er Jahre, Anm. LN) gegeben hat in den Tagen vor dem 3.12.1990, an der Geheimdienste sowie nahestehende Gruppen der Carapintadas beteiligt waren. Z.B. die Veröffentlichungen eines Ministers aus der Provinz Buenos Aires, Díaz Bancaiari, und die letzte Nummer der Zeitschrift E1 Porteno. Hierin haben sie uns in Sachen beschuldigt, mit denen wir nichts zu tun haben und von einer möglichen Flucht von uns gesprochen. Mit diesen Lügen bringen sie unsere Sicherheit und unsere physische Integrität in Gefahr und schaffen ein günstiges Klima für einen Putschversuch. 4) Wir bekräftigen, daß diese Aufstände mit politischen Allianzen und Unternehmen zählen und mit der absoluten Stille von Ubaldini (Gewerkschaftsführer, Anm. LN) und anderen Gewerkschaftssektoren, gegenüber anderen so schwerwiegenden Ereignissen wie dem vom 3.Dezember. 5) Wir können nicht die Repression gegen die Carapintadas vergleichen mit der brutalen Repression der wir ausgesetzt sind. Diese haben die legalen Garantien zugesagt bekommen, die wir entbehrten. Ohne Richter, mit Ermordeten, brutal Gefolterten und Genossen, die immer noch verschwunden sind, weigert sich die Justiz trotzdem noch, die schweren Vergehen an den internationalen Konventionen und Menschenrechten zu untersuchen. 6)Noch einmal fordern wir die Untersuchung der Akten und der Umstände, in denen unsere Genossen ermordet wurden und daß Iván Ruiz, Jos6 Diaz, Juan Murua, Carlos Burgos und Carlos Samojedny lebend wieder auftauchen und wir fordern unsere Freiheit als ein Akt der Gerechtigkeit.”

“Politische Gefangene von La Tablada”

Wechselnde Konjunkturen im “Vormärz”

Erst Reformen – dann Waffenstillstand

Zur Erinnerung: Im April 1990 vereinbarten die beiden Konfliktparteien in Genf, politische Reformen in den Bereichen Armee, Menschenrechte, Verfassungs-, Justiz- und Wahlsystem sowie Veränderungen der sozialen und ökonomischen Lage zu beschließen. Dabei sollte der UNO-Generalsekretär bzw. sein Vertrauter Alvaro de Soto eine “sehr aktive Rolle” spielen. Neu in der Kette der erfolglosen Verhandlungsrunden seit 1984 war auch die Übereinkunft, daß die oppositio­nellen Parteien und Organisationen sich an dem Verhandlungsprozeß beteiligen sollten. Erst nach diesen Übereinkünften – so die Vereinbarung von Genf – könne es zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Integration der FMLN in das legale politische Leben des Landes kommen. Diese Reihenfolge wird von de Soto in einem Beitrag für die Wall Street Journal vom 11. Januar besonders unterstrichen: “Selbstverständlich ist ein Waffenstillstand vor der Verabschie­dung tiefgreifender Veränderungen wenig wahrscheinlich.”
Schon nach den ersten Zusammenkünften wurde deutlich, daß die Militärs und die Regierung nicht die geringste Bereitschaft zeigten, in dem zentralen Punkt der Säuberung der Armee einzulenken. Im Oktober, als nicht mehr zu verheimli­chen war, daß die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen und Hintermänner des Mordes an den Jesuiten im Sande verlaufen würden, verkündete die US-Regierung die Kürzung der Militärhilfe um 50% auf 42,5 Mio US-$. Einen Monat später lancierte die FMLN eine begrenzte militärische Offensive, in der sie sich auf militärische Ziele in wenig besiedelten Regionen konzentrierte um zu ver­hindern, daß die Armee die Zivilbevölkerung als Faustpfand benutzt, wie sie es mit den Bombardierungen von San Salvador im November 1989 getan hatte. Dabei setzte die FMLN erstmals Boden-Luft-Raketen ein, die die absolute Luft­hoheit der Armee empfindlich einschränkten. Ziel der FMLN-Aktivitäten ein Jahr nach den Jesuitenmorden war die Bestrafung der Militärs und ein verstärkter Druck zugunsten eines Verhandlungsfortschrittes noch vor den Wahlen. Das dahinter stehende Kalkül war durchaus plausibel: Immerhin hatte die 1989er Offensive den Weg für die Verhandlungen unter UNO-Aufsicht geebnet.

Teilnehmen oder nicht?

Die Verknüpfung der Verhandlungen mit den Märzwahlen tritt seit Monaten immer stärker in den Vordergrund. In der Frage Teilnahme der Opposition oder nicht scheiden sich jedoch die Geister (Vgl. LN 198). Die KP-nahe Oppositions­partei UDN kündigte bereits ihre Wahlteilnahme an, während verschiedene Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände betonen, daß die Wahlen in der aktuellen Situation keinerlei friedensstiftende Funktion haben könnten. Auf der anderen Seite geben einzelne Funktionäre des von den Christdemokraten (PDC) gegründeten Gewerkschaftsverbandes UNOC und einer weiteren ArbeiterInnen­vertretung (CTS) bekannt, daß sie auf der Liste der PDC kandidieren werden, was die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der Gewerkschaften gefährdet. Diese befürchten wie die FMLN, daß die bescheidenen Reformen des Wahlrechtes (z.B. Erhöhung der Parlamentssitze von 60 auf 84, verstärkte WählerInnenregistrie­rung, begrenzte Wahlpropaganda) kaum ausreichen werden, um das Klima des Terrors zu beseitigen. Darüber hinaus ist auch kaum zu erwarten, daß die Regie­rungspartei ARENA sich an all die Vereinbarungen halten wird. So beklagten die wichtigsten Oppositionsparteien (PDC, UDN und das linke Wahlbündnis Con­vergencia Democrática – CD -) bereits Anfang Januar den vereinbarungswidrigen frühen Beginn der Wahlkampagne durch ARENA.
Um wählen zu können, müssen die Wahlberechtigten im Wahlregister stehen. Wer registriert ist, kann einen Wahlausweis beantragen, der erst die Stimmab­gabe ermöglicht. Gemeinsam mit ARENA ist beschlossen worden, daß alle, die lediglich im Wahlregister stehen, wählen können, wenn die Differenz dieser Gruppe zu jenen, die bereits über einen Wahlausweis verfügen, am 17. Februar mehr als 10% ausmacht. Ob sich die Regierungspartei am 17. Februar noch an diese Vereinbarung erinnern möchte, darf ebenfalls bezweifelt werden. Mögli­cherweise ist der Bruch dieser Übereinkunft die letzte Klippe, an der die Opposi­tion (gemeinsam oder einzelne Parteien?) aus dem Wahlprozeß aussteigen kön­nen, um diesem Urnengang insgesamt seine Legitimation zu entziehen.
Mittlerweile haben PDC und CD (am 19. Januar) in einer gemeinsamen Erklä­rung verbreiten lassen, daß die Auflösung aller paramilitärischen Gruppen die Mindestbedingung für ihre Teilnahme an den Wahlen sei. Ob diese – unter den gegebenen Bedingungen – unrealistische Forderung einen Ausstieg dieser Par­teien vorbereiten soll, darf allerdings angesichts der wankelmütigen PDC in Frage gestellt werden. Mit wachsender Spannung wird darauf gewartet, daß die FMLN ihre Position zu den Wahlen definiert.

Wechselwirkungen

Das Problem liegt auf der Hand: Aller Voraussicht nach werden die Wahlen stattfinden. Sie werden keinesfalls frei und gleich und vermutlich noch nicht einmal geheim sein (Vgl. LN 191). Dennoch wird der Ausgang der Wahlen erhebliche Rückwirkung auf den Verhandlungsprozeß haben, wenn die Opposi­tionsparteien teilnehmen und damit grundsätzlich ihr Einverständnis dokumen­tieren. Gewinnt ARENA, wird sie mit einem Hinweis auf das Wahlergebnis wei­terhin Verhandlungsfortschritte torpedieren. Gewinnt trotz aller Behinderungen und Einschüchterungen die Opposition in der einen oder anderen Konstellation, könnte eine neue und durchaus vielversprechende Dynamik in diesem Prozeß entstehen.
In diese außerordentlich schwierige Situation fielen nun im Januar einige bemer­kenswerte Ereignisse:
– Mit dem nicaraguanischen Raketendeal, der nur durch die offene Kollaboration der Sowjetunion mit den USA an die Öffentlichkeit geraten konnte, bekommen die USA das erste Mal den langersehnten Beweis, daß nicaraguanische Stellen (Einzelpersonen?) die FMLN mit Waffen versorgten.
– Am 2. Januar schoß eine FMLN-Einheit einen Hubschrauber ab, in dem sich drei US-Militärberater befanden. Wie die FMLN inzwischen zugab, überlebten zwei von ihnen den Absturz; sie wurden später im Widerspruch zu den Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen getötet.
– Baker und Schewardnadse gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie – eindeutig gegen den Geist der vereinbarten Verhandlungslogik – einen Waffen­stillstand noch vor den Wahlen fordern.
Die Ereignisse wurden weidlich ausgeschlachtet, um die FMLN als politische Kraft zu marginalisieren. Natürlich fragt niemand, was die US-Berater im Hub­schrauber taten; natürlich schweigen die USA zu den Folterungen an FMLN-Angehörigen in den salvadorianischen Kerkern, niemand erinnert sich mehr an die Aussagen ehemaliger Angehöriger der salvadorianischen Sicherheitskräfte, nach denen US-Militärberater bei Folterungen zugegen waren, diese sogar ange­ordnet und geleitet haben. Die Zeichen stehen auf Sturm; Schadensbegrenzung ist angesagt. Die FMLN hat bereits ein unabhängiges Gerichtsverfahren ange­kündigt, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit die zwei mutmaßlichen Mörder der Militärberater verurteilt werden. Diese schnelle Reaktion wird von vielen Seiten positiv aufgenommen, zumal am 9. Januar zwei Staatsanwälte, die mit dem Fall der Jesuiten befaßt waren, zurückgetreten sind. Sie begründeten ihren Schritt mit der Unmöglichkeit, die Ermittlungen gegen den Widerstand des Generalstabes zu führen. Nur die Militärs besäßen den Schlüssel zur Enthüllung der Hintergründe des Massakers.

Kein “Jesuitenfall der FMLN”

Erzbischof Rivera y Damas und Oppositionspolitiker lobten den Rücktritt der Staatsanwälte als sehr mutig und strichen die Unterschiede bei den Ermittlungen im Fall der Jesuiten und der Militärberater heraus. Mit diesen Äußerungen traten sie auch Vorwürfen entgegen, die FMLN habe nun in ihren eigenen Reihen einen “Jesuitenfall” produziert und damit jede Legitimation verwirkt, Menschenrechts­verletzungen der Armee anzuklagen.

Die Einsamkeit der “Dritten Welt”

Die angekündigte Wiederaufnahme der vollen Militärhilfe durch US-Außenmi­nister Baker aufgrund der obengenannten Vorkommnisse stieß in El Salvador und in Washington auf Protest und Besorgnis. Die Washington Post warnte am 8. Januar davor, kurz vor den Wahlen eine so eindeutige Wahlkampfunterstützung für ARENA zu leisten wie es die Wiederaufnahme der Hilfe wäre. Repräsentan­ten des Gewerkschaftsdachverbandes UNTS und anderer Einzelgewerkschaften betonten, daß die Wiederaufnahme der Militärhilfe lediglich die Jesuitenmörder ermutigen und stärken würde und eine politische Lösung des Konfliktes in weite Ferne rücken würde. Allerdings ist die Entscheidung noch einmal bis nach den Wahlen vertagt worden. Das Signal an die FMLN ist deutlich: “Wenn Ihr die Wahlen boykottiert, wird das Geld wieder zu 100% ausgezahlt werden”. Darüber hinaus wird die FMLN implizit aufgefordert, innerhalb der nächsten 60 Tage einem Waffenstillstand zuzustimmen – unabhängig vom Verlauf der Verhand­lungen. Falls es in dieser Frist zu keinen substantiellen Verhandlungsfortschritten kommt, widerspräche ein Waffenstillstand Geist und Buchstabe des UNO-Ver­handlungsprozesses, den sowohl die USA wie die Sowjetunion vorgeben zu unterstützen.

Rechtsstaat und Revolution

Aufgeflogen war die Raketenlieferung an die FMLN, nachdem das salvadorenische Militär Reste einer von der FMLN abgefeuerten SAM 14-Rakete gefunden und an die USA weitergeleitet hatte. Die Sowjetunion identifizierte auf Anfrage der USA die Rakete anhand ihrer Fabrikationsnummer als Teil einer Raketenlieferung an Nicaragua aus dem Jahre 1986.
In ungewöhnlich scharfer Form verurteilte die Generalkommandatur des Sandinistischen Volksheeres die eigenmächtige Raketenlieferung durch vier ihrer langgedienten Offiziere. Deren Vorgehen stelle einen Angriff auf den revolutionären Prozeß in Nicaragua und den Frieden Zentralamerikas dar. Ex-Präsident Daniel Ortega warf den inkriminierten Offizieren Unverantwortlichkeit vor und befürchtete, daß die USA nunmehr die Sowjetunion dazu drängen werde, alle Raketen aus Nicaragua zurückzufordern..
Das sowjetische Militär entsandte wenige Tage nach Bekanntwerden der Waffenlieferung eine Kommission nach Nicaragua: laut Vertrag durften die von der Sowjetunion an Nicaragua gelieferten Waffen nicht weitergegeben werden.

Die Entpolitisierung des EPS

Die Raketenaffaire lieferte den USA und der ultrarechten Fraktion in der regierenden Rechtsallianz U.N.O. (Nationale Oppositions-Union) um den Vizepräsidenten Godoy neue Argumente in ihrem Versuch, den sandinistischen Ex-Verteidigungsminister Humberto Ortega von der Spitze des EPS abzulösen und eigene, von ihnen selbst kontrollierte Einheiten aufzubauen.
An der integrität der nach der Revolution aufgebauten Streitkräfte hat die FSLN naturgemäß ein vitales Interesse. Die ‘Professionalisierung” des EPS, d.h. sein Charakter als nationales, “unpolitisches”, Verfassung und Regierung verpflichtetes Militär, stand laut Humberto Ortega sogar unabhängig von der sandinistischen Wahlniederlage des vergangenen Februars auf der politischen Tagesordnung. Kürzlich konnte die FSLN zwei Erfolge im ständigen Tauziehen um das EPS erringen: Bei der Haushaltsdebatte Ende letzten Jahres wollten die Abgeordneten der U.N.O.-Parteien drastische Mittelkürzungen für das EPS verfügen, scheiterten aber am Veto der Präsidentin Violeta Chamorro und einer neuerlichen Abstimmung, die die Militärkürzungen in erheblich geringerem Umfang vornahm. Zudem wurde die gesamte EPS-Führung von der Präsidentin in ihren Ämtern wieder bestätigt, das Verteidigungsministerium bleibt weiterhin von der Präsidentin selbst verwaltet.
Während die Attacken von Verbänden der ehemaligen Contra in verschiedenen Landesteilen anhalten und die Kriminalitätsrate weiterhin steigt, schreitet die nach den Wahlen zwischen neuer Regierung und FSLN vereinbarte Reduzierung des EPS voran. Von 90.000 im Januar 1990 ist das EPS nun auf 28.000 Mitglieder. und zur kleinsten Armee Zentralamerikas geschrumpft. Zudem geben viele PolizistInnen ihren Dienst in der Sandinistischen Polizei auf, da die Gehälter kaum zum Überleben reichen.

Revolutionäre Prinzipien im Wandel der Zelten

Trotz der nach wie vor gespannten Situation im Land und der permanenten Versuche von seiten der Ultrarechten, die Sicherheitskräfte zu destabilisieren, wurde die Verhaftung der 4 Offiziere. die die Raketenlieferung an die FMLN mit revolutionären Prinzipien begründeten, vor allem aber der verurteilende Ton des entsprechenden EPS-Kommuniqués von Teilen der FSLN scharf kritisiert. Die “Sandinistische Jugend solidarisierte sich mit den Verhafteten und berief sich auf das Verfassungsgebot der internationalen Solidarität. Arián Meza, der Rechtsberater der sandinistischen Gewerkschaft CST,erlaubte sich den Hinweis, daß auch der Befreiungskampf der FSLN illegal war, und verwahrte sich gegen die moralische Disqualifizierung der Verhafteten, wie sie das EPS-Kommuniqué nahegelegt hatte. Auch innerhalb des EPS rührt der Waffentransfer an zweifelsohne bestehende Meinungsverschiedenheiten, die mit der Entlassung
des dem radikalen Flügel der FSLN zuzurechnenden Luftwaffenchef Pichardo im vergangenen Jahr (vgl. LN 196) ihren Höhepunkt erfahren hatten. Pikanterweise zählt mit dem schon im September in Ruhestand versetzten Ex-Major Odell Ortega einer der engsten Vertrauten Pichardos zu den Verhafteten. “Im EPS bekennt niemand mehr Farbe”, machte Odell seinem Unmut über die Entpolitisierung des EPS Luft.
Einig waren sich die meisten KommentatorInnen darin, daß die Unterstützung der FSLN für den Befreiungskampf E1 Saivadors in der Forcierung einer Verhandlungslösung bestehen müsse. Die Waffenlieferungen seien ein Verstoß gegen das Abkommen von Esquipulas, der nicht damit begründet werden könne, daß sich außer Nicaragua kein Land der Region, am wenigsten die USA an Esquipulas gehalten hätten.

Antiimperialismus und Soziale Marktwirtschaft -Die Programmdebatte in der FSLN

Die Diskussion um den Raketentransfer wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Neuorientierung sandinistischer Politik geführt, die -wenige Monate vor dem Programmkongreß der FSLN -zunehmend an Tempo und Scharfe gewinnen. Manche Kommentare konstatierten in den vergangenen Wochen eine tiefe Identitätskrise der FSLN, andere fanden gerade in der Gegensätzlichkeit der Positionen Positives.
Victor Tirado, Mitglied der nunmehr 7-köpfigen Nationalleitung der FSLN, erklärte den Antiimperialismus mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus für gestorben und sah in freien Wahlen, der sozialen Marktwirtschaft und regionaler Zusammenarbeit den derzeitigen Rahmen für die Politik Nicaraguas. “Was wir in der Vergangenheit als bürgerlich und reaktionär einschätzten, müssen wir heute als Mittel des revolutionären Kampfes im Rahmen der internationalen Legalität betrachten.” Nationalleitungs-Kollege Luis Carrión widersprach Tirados These vom verblichenen Antiimperialismus entschieden: “Der Antiimperialismus verliert erst dann seine Gültigkeit,. wenn der Imperialismus aufhört, Imperialismus zu sein.”
Die Raketenaffaire hat jedenfalls weiteren Zündstoff in die programmatischen Diskussionen der FSLN gebracht.
Die FMLN äußerte sich sehr zurückhaltend zum Waffentransfer. In einem Kommuniqué wies sie die Aussage der verhafteten nicaraguanischen Militärs zurück, FMLN-Kommandant Villalobos sei direkt an der Abwicklung des Geschäftes beteiligt gewesen: vielmehr hätten mittlere Führungskader in der Angelegenheit auf eigene Faust gehandelt.
Immerhin bedeuten die Boden-Luft-Raketen, wie die FMLN mit ihrer Offensive vom vergangenen November bewies, einen enormen militärischen Trumpf. Ein beträchtlicher Teil der SAM-Raketen stammt übrigens nicht aus Beständen des EPS, sondern -wie FMLN-Kommandant Facundo Guardado in einem Interview betonte -von den USA: die hatten die Raketen an die Contra geliefert, welche sie dann an die FMLN verkaufte.
Das Verhalten der UDSSR, die den USA bereitwillig bei der Identifizierung der Raketen zur Hand ging und sich nur sehr zurückhaltend zur US-Politik in E1 Salvador. und Zentralamerika äußerte, wurde in Kommentaren der sandinistischen Presse als unangenehmer Nebenaspekt der Raketenaffaire bewertet. Der Rechtsberater der Nationalen Arbeiterfront (FNT) Augusto Zamora schrieb in Barricada: “Was die UDSSR gemacht hat, zeigt, wie einsam wir jetzt in der Dritten Welt sind. Mit Bestürzung erleben wir die Kollaboration der Mächtigen, bei der wir, die Schwachen, die Verlierer sind.”
Diese Bitterkeit war in den meisten Kommentaren zu spüren; gerade auch in jenen, die keine Alternative zum Vorgehen der EPS-Führung sahen in einer Situation, da die Stabilität des nicaraguanischen Militärs, abhängig von seiner Loyalität zu Verfassung und Regierung, unabdingbar für die Stabilität Nicaraguas ist.

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