Weniger Öffentlichkeit

Genau wie mit der El Salvador-Solidaritätsbewegung ging es auch mit dem ides steil nach oben. Erst ein Jahr zuvor waren die SandinstInnen in Managua eingezogen und hatten die Somoza-Diktatur weggefegt, und so lautete die Parole nicht nur in Zentralamerika: “Wenn Nicaragua gesiegt hat, dann wird auch El Salvador siegen!” Allerorten entstanden neue Komitees und Soligruppen und so wuchs auch die Zahl der LeserInnen des ides. In seinen besten Tagen erschien er Woche für Woche mit einer Auflage von über 4.000 Exemplaren.
Bezeichnend für die Zeit zu Beginn der achtziger Jahre war auch, daß von fast allen Engagierten für die vom ides initiierte Kampagne “Waffen für El Salvador” gesammelt wurde: GewerkschafterInnen, StudentInnenorganisationen und selbst Kirchenleute unterstützten explizit den bewaffneten Kampf der FMLN. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die taz, die die Kampagne von Beginn an unterstützte und damals auch personell noch mit der Solibewegung verflochten war. (So verlor die Kampagne später nicht nur deshalb an Schwung, weil die FMLN den Triumph der FSLN nicht wiederholen konnte, sondern auch, weil die taz zunehmend ihre Unterstützung entzog. Auf dem Weg in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft sollten potentielle neue LeserInnen nicht verschreckt werden.)
Seit 1982 berichtete der ides auch über die anderen zentralamerikanischen Länder, später kamen schwerpunktmäßig noch Mexiko und Kolumbien dazu. Der ides war für die Zentralamerika-Solidaritätsbewegung ein unverzichtbares Medium, die wenigsten ließen sich von den wöchentlichen Bleiwüsten abschrecken. Das Informationsbedürfnis war groß und Mailboxen in der Szene noch unbekannt.
Infos aus erster Hand, direkt von den zentralamerikanischen Befreiungsbewegungen und Volksorganisationen, waren die große Stärke des ides. Eine solidarische Diskussion über den revolutionären Prozeß in Zentralamerika gelang hingegen nur selten. Rückblickend schreibt einer vom ides dazu: “Wir taten uns schwer, die Widersprüchlichkeiten der revolutionären Prozesse in LA darzustellen. Wir diskutierten sie, hatten aber oft Schiß, das, was wir als Wahrheiten begriffen hatten, im ides zu benennen.” So schwieg der ides – wie fast die gesamte Bewegung – auch erstmal zur Ermordung der Guerilla-Comandantin Melida Anaya Montes durch ihre eigenen GenossInnen im März 1983. Der Mord, Resultat von Machtkämpfen innerhalb der FPL (eine der fünf FMLN-Organisationen), bedeutet nicht nur einen Einschnitt in der Geschichte der FMLN. Auch in der El Salvador-Solidaritätsbewegung ändertes sich einiges. Über Monate hinweg wurde von Seiten der FPL die Wahrheit verschwiegen oder je nach politischem Kalkül eine andere Version geliefert. Die Solibewegung reagierte anfangs mit Nicht-wahr-haben-wollen und Verdrängen. Die Auseinandersetzung mit dem Ungeheuerlichen kam nur langsam in Gang und hatte unterschiedliche Konsequenzen: ein Teil der Gruppen löste sich auf, andere unterstützten nicht mehr ausschließlich die FMLN. Die Bewegung hatte in der BRD ihren Zenit überschritten. Der ides war zumindest teilweise Forum dieser Diskussionen.
Das Ringen um die richtige Haltung und die Suche nach einer möglichen solidarischen Kritik beschäftigte den ides immer wieder. So auch in der Nummer 300: “Wir müssen endlich Kriterien erarbeiten, mit denen wir weg von der Jubelsolidarität kommen, nach der alles richtig, weil in der Situation verständlich ist, was die Befreiungsbewegungen unternehmen. (…) Aber auch weg von den ‘Kritischen’, die hinter der Kritik ihren eigenen Unwillen verstecken, weiterzuarbeiten, die heimlich eben doch ein bißchen den Kloses glauben, die Gewalt, wie die Ausweisung von Vega [reaktionärer nicaraguanischer Bischof, den die sandinistische Regierung vorübergehend nicht mehr ins Land ließ, nach dem er in den USA auf Unterstützungstournee für die Contra gegangen war; Anm. LN], schon immer verabscheut haben.”
Damals (1986) war die Zahl der zahlenden AbonentInnen jedoch bereits auf ca. 500 gesunken. Die El Salvador-Solidaritätsbewegung war klein und für die wesentlich größere Nicaragua-Solidarität war der ides nie von großer Bedeutung. Der ides verstand sich immer als Teil der Solibewegung, doch die löste sich in West-Berlin nach und nach auf, so im Herbst 1990 auch das El Salvador-Komitee. Die direkten Verbindungen nach Zentralamerika gingen zunehmend verloren und die meisten Informationen waren auch über andere Medien zu bekommen. Außer einigen Einzelpersonen arbeitete zum Schluß nur noch das Guatemala-Komitee beim ides mit.
In diesem Sinne ist die Entscheidung, den ides dicht zu machen, richtig. Für die wöchentlichen Infos gibt’s den Nachrichtendienst Poonal. Wieso also eine Zeitschrift machen, die keine LeserInnen mehr hat? In der BRD des Sommers 1993 gibt es genug zu tun.

Für den Chicle!

Harte Worte waren gefallen: “Primitiv-Cumbia” sei es, hatte der geschätzte Kollege P. im letzten Heft der LN abschätzig geschrieben (LN 228, S.72), wenn sich ein Sänger “minutenlang darüber ausläßt”, daß er “an einem Kaugummi festgeklebt” ist: “Se me pegó el chicle, el chicle se me pegó”. Ich war empört. So leicht lass’ ich mir einen meiner Lieblingstexte aus langen lateinamerikanischen Busfahrten nicht miesmachen! Primitiver Eurozentrismus ist das, Kollege P. Mindestens!
Ein Sandkorn kann die ganze Welt enthalten, all the wisdom of the world fits in a nutshell, und so weiter oder so ähnlich, und also können auch an einem Chicle die existentiellen Probleme des Lebens verhandelt werden! Ich muß hier aus dem Gedächtnis rekonstruieren: Ein Mann, eine Frau, die Frau tanzt, begeisternd, leidenschaftlich, der Mann ist begeistert, von Leidenschaft erfüllt, sie tanzt mit anderen, doch dann bekommt er seine Chance, und er weiß um seine Stärke, seinen “Paso”, seinen unglaublichen Tanzschritt, den keiner wie er beherrscht und dem keine Frau widerstehen kann, er tanzt, er setzt an zu seinem unwiderstehlichen Schritt, “pero el paso no me salió, porque un chicle se me pegó”, ein “primitiver” Kaugummi, doch fortan nimmt das Schicksal unbarmherzig seinen Lauf, sie geht mit einem anderen davon, er hat verloren, versagt.
Hier finden wir Dramatik von Shakespeare’scher Größe, organisch verbunden (Gramsci) mit der Lebenswelt (Habermas) der “clases populares”. Die zerstörerische Kraft des Chicle – eine offenkundige Metapher für den aggressiven Kulturimperialismus der USA – wird hier noch in den Liebesbeziehungen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, jener Verdammten dieser Erde (Fanon) deutlich gemacht und von der authentischen Volkskultur unerbittlich an den Pranger gestellt, während gleichzeitig der eigene, verinnerlichte Machismo in Frage gestellt wird, mit subtiler Selbstironie statt mit anklagendem Zeigefinger. Wie brisant dieser Text ist (dessen AutorInnen uns im übrigen unbekannt sind), wird schon dadurch belegt, daß das Lied hierzulande kaum in den Radios zu hören ist. Auch im einschlägigen Berliner Fachhandel war es nicht erhältlich.
So appellieren wir an unsere Leserinnen und Leser: Wer kennt das Lied und kann uns eine Aufnahme davon zuschicken? Wir wollen, damit sich jeder und jede ein eigenes Urteil in dieser bewegenden Kontroverse bilden kann, in den LN den vollständigen Text veröffentlichen. Und zur Belohnung gibt’s einen Supersonderpreis: Eine Kassette mit allen Liedern (oder zumindest fast allen), die in dem “Beweg deinen Hintern!”-Artikel in den letzten LN erwähnt wurden. Auch mit dem Chicle-Song, por supuesto.

Nachholende Privatisierung

Zwar haben seit Beginn der Schuldenkrise 1982/83 auch alle ecuadorianischen Regierungen die Bedingungen der internationalen Gläubiger akzeptieren müssen, haben die Preise von Treibstoffen und Grundnahrungsmitteln erhöht und Sozialleistungen gestrichen. Doch die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Rodrigo Borja (1988-1992) ließ sich eben nur im Strom der Zeit treiben, während Sixto Durán Ballén nun offensiv auf den neoliberalen Kurs setzt. “Wir wußten, daß sie etwas unternehmen würden”, so Marta Pazmino von einem Gewerkschaftsdachverband. Doch das Schock-Paket vom 3. September machte seinem Namen alle Ehre.
Um das Haushaltsdefizit zu verringern und die Inflation unter Kontrolle zu bekommen, die auf monatlich 50 Prozent geklettert war, wertete die Regierung den Sucre um 35 Prozent ab, erhöhte die Preise für Benzin um 124 Prozent, die Preise für Strom um bis zu 90 Prozent und für Medikamente um 500 bis 600 Prozent. Trotz dieser unerwartet hohen Steigerung der Lebenshaltungskosten enthielt das Paket nur eine Lohnerhöhung von 5 Dollar monatlich, das entspricht durchschnittlich 10 Prozent. (Der Mindestlohn beträgt 30 Dollar, der Durchschnittlohn für BeamtInnen 40 Dollar). Politologe Acosta, der ein Buch zur Privatisierung veröffentlicht hat, kritisiert auch die orthodoxe Interpretation der Inflation, wonach die Schuld allein bei einer zu großen Nachfrage liege. Durch die einseitigen Mechanismen zur Senkung der Nachfrage nehme die Regierung bewußt eine starke Rezession in Kauf. Wohin die erhöhten Einnahmen aus dem staatlichen Benzin-, und Stromverkauf fließen sollen, wurde während der Haushaltsdebatte im Dezember 1992 deutlich. Der einzige Posten, der für 1993 erhöht wurde, war die Zahlung der Auslandsschuld, für die jetzt 38 Prozent des Haushalts vorgesehen sind (für Erziehung sind es 19 Prozent, für Gesundheit 8 Prozent und für Soziales 3,5 Prozent).

Geplante Begriffsverwirrung

Die nächste Initiative wurde mit Hilfe von US-Regierung und Weltbank vorbereitet: Im Oktober 1992 wurde der “Nationale Rat für Modernisierung” (CONAM) ins Leben gerufen. Mit Geldern der staatlichen US-Entwicklungsagentur AID und besetzt aus Regierungsmitgliedern und Unternehmern brütete dieser Rat den Gesetzesvorschlag aus, den der Vizepräsident Alberto Dahik am 8. Februar 1993 unter dem Namen “Gesetz zur Modernisierung des Staates” vorstellte: “Jahrzehntelang und unter dem Einfluß von Ideologien, die die Freiheit und das kreative Potential des Menschen negierten, wurden ein Staat und eine Gesellschaft geschaffen, die auf interventionistischen Mechanismen, auf Protektion für privilegierte Sektoren und irrationalen Führungsattitüden beruhten, sowie auf der Ordnung … des sozialen Lebens durch die Zerstörung jeglicher Einzelinitiative”.
Die Regierung versucht, das Wort “Privatisierung” zu umgehen und durch “Modernisierung” zu ersetzen. Sie beabsichtigt damit, die Stimmung gegen die wirklich schlechten staatlichen Dienste auszunutzen, in denen es geschmiert nur gegen Bestechung läuft. Wer in Ecuador zu telefonieren versucht, gerät unweigerlich in schlechte Stimmung. Wer zehnmal wählt, landet bei zehn verschiedenen Anschlüssen, nur nicht bei dem gewünschten. Und die Knappheit macht Telefone zu einem so begehrten Gut, daß sie schon in Eigeninitiative privatisiert werden: In der Innenstadt von Guayaquil verlegen die glücklichen BesitzerInnen ihr Telefon auf die Straße. Ein Anruf kostet 20 Pfennig, genausoviel wie in der Post – nur die Schlangen sind kürzer. Diese kleinen Geschäftemacher meint die Regierung nicht, wenn sie die Privatisierung der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft EMETEL vorschlägt. Sie hofft auf Käufer wie die AT & T aus den USA oder die STET aus Italien.
Die Ineffizienz von EMETEL ist ein Beispiel, das in die Argumentation der Regierung paßt. Darin kommen ineffiziente private Unternehmen genausowenig vor wie effiziente staatliche. Das Dogma, daß staatliche Eingriffe in die Wirtschaft Planwirtschaft bedeuten und schädlich sind, schert die einflußreichen Privatunternehmen allerdings nicht, wenn sie bankrott gegangene Unternehmen aus der Staatskasse wieder aufpäppeln lassen.

Privatisierungen: Verspätet und ungeschickt

Außer der Telefongesellschaft hat die Regierung noch zwei weitere der 176 staatlichen Unternehmen für die ersten Privatisierungen aufs Korn genommen: Die Häfen und die Fluggesellschaft Ecuatoriana. Allerdings kann sie hier von vornherein mit Schwierigkeiten rechnen: Die Hafenarbeitergewerkschaft ist eine der kämpferischsten des Landes und Ecuatoriana ist nicht nur bankrott, sondern konkurriert direkt mit SAETA, der zweiten nationalen Luftgesellschaft. Die gehört dem Innenminister Roberto Dunn, und so mag kaum jemand glauben, daß die Privatisierung von Ecuatoriana “im Interesse der Nation” entschieden wird. Angeblich gibt es KaufinteressentInnen wie die costaricanische Lacsa und die niederländische KLM (beide staatlich!). Der Politologe Acosta meint, daß “wir wie immer zu spät auf den Markt gehen, nämlich jetzt, wo sich bereits viele Käufer zufrieden zurückziehen”. Es sei beunruhigend, daß die Regierung wie im Fall Ecuatoriana Unternehmen öffentlich schlecht mache, die sie verkaufen wolle, “und das in dem Augenblick, in dem es ein Überangebot an bankrotten Staatsunternehmen gibt”.
Das politische Ungeschick der Regierung Durán Ballén zeigte sich zuerst an den Reaktionen im Parlament, wo der Präsident über den Rückhalt von nur einem Drittel der Abgeordneten verfügt. Den politischen Gewinn des Modernisierungsvorschlages kann zunächst vor allem die sozialchristliche Partei PSC einstreichen. Dieser Partei gehörte auch Durán Ballén an, bis er die Republikanische Einheitspartei PUR gründete. In der Stichwahl zur Präsidentschaft gewann er gegen den Kandidaten der PSR, Jaime Nebot. Der wiederum bastelt schon an seinem Image als künftiger Präsident. Dabei wird er heftig vom repressiven Ex-Präsidenten León Febres Cordero unterstützt, der ebenfalls der PSR angehört und von 1984 bis 1988 den “andinen Thatcherismus” prägte. Febres agiert mittlerweile als Bürgermeister von Guayaquil mit spektakulären Militärkommandos gegen die Kriminalität in Ecuadors größter Stadt und verspricht Ordnung, Sicherheit und “ein Guayaquil ohne Löcher in den Straßen”. Was ihm einen Platz in der Geschichte der Stadt sichern würde, aber wofür er erstmal wieder Straßen bauen müßte, so spotten viele Guayaquileñas, wenn sie selbst mitten im Stadtzentrum durch metertiefe Schlammlöcher fahren. Die PSC hat sich zur größten Partei und bislang stärksten Opposition aufgebaut – rechts von der Regierung. Sie benutzt geschickt die schwammigen Schlagworte von Durán Ballén und unterstützt dessen “Modernisierung”, kritisiert aber seine Unfähigkeit und technischen Fehler.
In ihrer Kritik können sich die ParlamentarierInnen auf die Verfassung berufen. Darin sind “strategische Bereiche” wie Telekommunikation und Öl von Privatisierungen ausgenommen. Auch die vorgeschlagene Klausel, die die Entscheidung über Privatisierungen ausschließlich in die Hände des Präsidenten legt, stößt auf Widerstand.

Gewerkschaften zunächst sprachlos

Die ecuadorianische Gesellschaft scheint mit der Wahl von Sixto Durán Ballén einen Rechtsruck vollzogen zu haben. Die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen sind schwer gebeutelt von den Härten der Verschuldungskrise seit Anfang der 80er Jahre sowie der Vereinnahmungsstrategie der sozialdemokratischen Regierung Borja. So hat sich um die geplanten Privatisierungen erst langsam und zögerlich Protest entzündet. Das mag an dem schlechten Ruf der Gewerkschaften liegen, deren Führer sich immer wieder bereichert haben. Sie haben es auch nicht geschafft, sich auf die neuen Interessen von ArbeiterInnen in einer gewandelten Gesellschaft einzustellen, die immer mehr von informeller Arbeit und Arbeitslosigkeit geprägt wird (69 Prozent Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung). Auf der Demonstration zum 1. Mai vertrat der Gewerkschaftsdachverband FUT das Motto: Modernisieren Ja – Privatisieren Nein! Die FUT versucht, das Konzept Modernisierung anders zu definieren als die Regierung: “Den Staat modernisieren heißt vor allem, ihn in Einklang mit dem Charakter unserer Nation zu bringen. Er soll multiethnisch und multikulturell sein, um die koloniale Vergangenheit zu überwinden, die auf allen sozialen Beziehungen lastet und ungeheuerliche Vorurteile und Diskriminierungen der wichtigen Ethnien bedeutet”.
Die Gewerkschaften haben eine “Koordination für das Leben” gegründet, um die Rechte der ArbeiterInnen bei den Privatisierungen zu vertreten, besonders derjenigen, die entlassen werden sollen. Die Koordination will eine Million Unterschriften sammeln, um eine Volksbefragung durchzuführen, so wie jüngst in Uruguay, wo die Mehrheit sich gegen die Privatisierungen aussprach. Doch in Ecuador sind die legalen Möglichkeiten für ein Referendum ungleich schlechter, und Präsident Durán Ballén und sein Vize Dahik haben bekanntgegeben, daß es bereits ein Referendum für die Modernisierung gegeben habe: ihre Wahl an die Regierung.

Die Indigenas: Die aktivste Volksbewegung

Die Indígena-Bewegung, die als einzige in den 80er Jahren angewachsen ist, meldete sich als erste gegen die Modernisierungs-Initiative zu Wort. Im Namen des Dachverbands CONAIE erklärte der Indígena-Führer Rafael Pandam im März vor dem Parlament: “Es wird nicht einmal festgelegt, wohin das Geld aus den Privatisierungen fließen soll… Alles was in Händen des Volkes ist, wird als ineffizient und unnütz abgestempelt. Auf der anderen Seite verschweigt das Projekt, daß seit Geburt der Republik der Staat immer von Interessen der Privatunternehmer und der Banken geleitet wurde. Sie sind für das Anwachsen des Staates verantwortlich.”
Die Feuerprobe für die Mobilisierungskraft der Volksbewegung gegen die Privatisierung wurde dann auch durch die Indígena-Bewegung entschieden. Der landesweite Streik der Angestellten des Sozialversicherungsinstituts IESS begann am 12. April. Die Streikenden forderten vor allem die Auszahlung des Haushalts für 1993, der vom Finanzminister Mario Ribadeneira gekürzt und eingefroren worden war. Außerdem fordert die Gewerkschaft des IESS von der Regierung die Rückzahlung ihrer Schulden. Die verschiedenen Regierungen hatten sich immer wieder der Rücklagen des IESS bedient, so daß der Staat mit 500 Millionen Dollar beim IESS verschuldet ist. Von diesem Geld lagert ein großer Teil in der Zentralbank, um den Geldumlauf zu senken und so die Inflation zu hemmen. “Das Zurückhalten des Haushalts geschieht mit der Absicht, die Sozialversicherung zu schädigen und die Versicherten gegen das IESS aufzubringen, um es dann privatisieren zu können”, meint Diego Ordóñez von der Gewerkschaft des IESS. Die Gewerkschaft erklärte, daß das IESS den ArbeiterInnen gehöre und daher bereits eine private Institution sei. Auf jeden Fall ist das IESS die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Durch die Pflichtversicherung der öffentlichen Angestellten bezahlen die Mittelschichten gewisse soziale Dienste wie Renten und staatliche Krankenversorgung für alle. Es gibt jedoch auch lautstarke Kritik am IESS, besonders an der auf 14.000 Angestellte aufgeblähten Bürokratie.
Im Laufe des Streiks gingen immer mehr IESS-Angestellte auf die Straße und forderten andere Staatsangestellte zum Mitmachen auf, doch bei den Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und Regierung schien sich solange nichts zu bewegen, bis sich am 27. April die im Dachverband CONAIE zusammengeschlossenen Indígena-Organisationen anschlossen. Im Hochland besetzten Indígenas wieder einmal wichtige Straßen und legten Teile des Landes lahm. Sie forderten Garantien für die Beibehaltung der freiwilligen Sozialversicherung für Bauern und Bäuerinnen. Und zum ersten Mal schlossen sich ihnen die nicht indianischen Bauern und Bäuerinnen an der Küste an und legten die gesamte Küstenstraße der Halbinsel Santa Elena mit Barrikaden und brennenden Autoreifen vor strategischen Punkten lahm. Die Straße von Guayaquil nach Santa Elena wurde von Militäreinheiten “freigehalten”. Das gelang ihnen auf der Küstenstraße nicht (siehe Kasten). 36 Stunden nachdem die Indígenas begonnen hatten, Barrikaden zu bauen und nach 15 Tagen Streik erkannte die Regierung ihre Schulden beim IESS an, bestätigte die Auszahlung des Haushalts für 1993, versicherte, die Sozialversicherung für Bauern und Bäuerinnen beizubehalten und zu verbessern und alle beim Streik Festgenommenen freizulassen. Die Verhandlungsergebnisse führten zum Streit in der Regierung, da Finanzminister Ribadeneira nicht mit der nachgiebigen Verhandlungsführung von Innenminister Roberto Dunn einverstanden war und wütend eine Treffen mit diesem und Präsident Durán Ballén verließ.
Egal ob die Regierung sich tatsächlich an die Verhandlungsergebnisse hält, oder nur kurzfristig den Konflikt entschärfen wollte: Der erste politische Sieg im Privatisierungsstreit ging überraschenderweise an die Gewerkschafts- und Indígena-Bewegung. Damit haben sich erste Ansätze für eine gesellschaftliche Opposition zur Privatisierungspolitik eröffnet. In Zeiten des Neoliberalismus wäre der Aufbau einer starken Opposition schon ein großer Erfolg. Selbst das würde sich allerdings kaum auf der parlamentarischen Ebene ausdrücken, da die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft kaum noch größer werden kann. Auf der parlamentarischen Ebene ist es die Rechtsopposition unter Jaime Nebot, die vom sich auch in Ecuador bewahrheitenden Effekt profitiert, nach dem sich in Lateinamerika jede Partei an der Regierung verschleißt. Eigentlich verwunderlich, daß sie es trotzdem immer wieder versuchen. Ist es der Reiz der Macht? Oder sind diese Regierungen allesamt mit der Mentalität jenes dicken römischen Präfekten aus “Asterix in der Schweiz” ausgestattet: “Ich habe vier Jahre Zeit, um reich zu werden…”

Kasten:

Schon 10 Kilometer hinter der Stadt Santa Elena an der Brücke vor dem kleinen Fischerdorf Jambelí ist Schluß mit der schönen Fahrt entlang der Küste westlich von Guayaquil. Hier haben sich Bauern und Bäuerinnen hinter Baumstämmen und brennenden Autoreifen verbarrikadiert. Was umso erstaunlicher ist, als sich in dieser armen Küsten-Gegend niemand an größere politische Organisierung erinnert außer einigen Versuchen von Fischern, Handwerkern, Bauern und Busfahrern, Kooperativen zu bilden. Es dauert eine Weile, bis einer der Streikführer von der anderen Seite durch die Rauchwolke springt, um zu erklären, daß die Mitglieder der freiwilligen Sozialversicherungen von Bauern und Bäuerinnen sich aus verschiedenen Dörfern um den jeweiligen staatlichen Gesundheitsposten versammelt haben. Vor allem die Frauen hätten dies organisiert, da der Zusammenschluß der Dörfer lieber mit der Regierung verhandelt hätte, als Blockaden zu organisieren. Jetzt stünden hinter jeder Blockade Tag und Nacht 200 Menschen, die immer wieder abgelöst würden. Es gebe 9000 Versicherte auf der Halbinsel Santa Elena und obwohl die Versicherung mies sei, sei das immer noch besser als gar nichts, erklärt er. Schon jetzt kämen die meisten ÄrztInnen nur widerwillig zu ihrem Pflichtjahr nach dem Studium aufs Land, und Medikamente gebe es fast nie. In dieser Gegend sterben ständig Kinder an Durchfallerkrankungen auf dem langen Weg zum nächsten Gesundheitsposten. Er kündigt an: “Wir wollen 48 Stunden streiken und geben nicht auf, bis die Regierung auf unsere Bedingungen eingeht”. Das klingt hier noch vermessener, weil die Medien die Blockaden an der Küste verschweigen, während die Aktionen der Indígenas in Fernsehen und Zeitungen gezeigt und gemeldet werden, da die Indígena-Bewegung für ihre Stärke gefürchtet ist. Die vor der Barrikade steckengebliebenen Lastwagenfahrer, Händler und eine Gruppe von ausländischen Ingenieuren versuchen ihn dazu zu bewegen, die Barrikade wenigstens am nächsten Morgen einmal zu öffnen. Höflich aber bestimmt und gleichzeitig typisch erwidert er: “Dahinten steht das Volk – und das Volk entscheidet, wie wir weiter vorgehen!”

Ein Virus kennt keine Grenzen

In Brasilien stieg die Zahl der AIDS-Erkrankten von 1000 im Jahre 1986 auf 31.949 Ende 1992. Die Zahl der Neuinfizierten wird von der WHO, ebenso wie von der interdisziplinären brasilianischen Vereinigung gegen AIDS, ABIA (Associacâo brasileira interdisciplinar de AIDS) auf 500.000 – 700.000 Menschen geschätzt.
Lange Zeit hat der brasilianische Staat das Problem ignoriert und zum Problem von Randgruppen degradiert; der öffentliche Gesundheitssektor verweigerte sich. Als Reaktion gründeten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen, wie das Betreuungsprojekt “Fazenda da Esperança” (Hof der Hoffnung), der “Grupo PELA VIDDA” (Gruppe Kampf für das Leben) und im Juni 1991 der “Coalizao Global de Políticas contra AIDS” (Globale Koalition der Politiker gegen AIDS).

Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden

Seit 1981 wurden 5,6 Milliarden US-$ für die Bekämpfung des Virus ausgegeben. Davon entfiel ein Anteil von 97 Prozent auf die Industrienationen. Pro Person wurden 1991 in den USA 2,7 US-$, in Europa noch 1,18 US-$ verwendet, während in Afrika 0.07 US-$ und in Lateinamerika ganze 0.03 US-$ zur Verfügung standen.
Eine AZT-Behandlung (Azidothymidin – gegenwärtig die einzige medizinische Behandlungsmethode, die den Krankheitsverlauf verlängert) wird mit ca. 2.500 US-$ pro Jahr veranschlagt. Unbezahlbar für die meisten Menschen im Süden, wo das Bruttonationalprodukt pro Person durchschnittlich bei 700 US-$ liegt. AIDS ist nur ein Problem unter vielen, nebensächlich selbst im Gesundheitssektor. Dabei verdoppelt sich die Zahl der Infizierten alle 3-4 Jahre, in Deutschland hingegen alle 6-8 Jahre. Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden.

….zwischen arm und reich

Solange AIDS in Brasilien als Krankheit der homosexuellen Elite galt, konnten Randgruppen stigmatisiert werden. Mittlerweile ist AIDS eine Gefahr für die Ärmsten des Landes geworden. Die Ober- und Mittelklasse Brasiliens besteht überwiegend aus Weißen. Mischlinge, Schwarze und Indios bilden die große Mehrheit der benachteiligten Schichten; Klassenschranken erweisen sich als Rassenschranken. Dies spiegelt sich auch im Erziehungs- und im Gesundheitssektor wider. Während die Oberschicht und die wohlhabenden Teile der Mittelschicht dank ihrer besseren Ausbildung empfänglicher für die Aufklärungsarbeit gegen AIDS sind, herrscht in den weniger gebildeten, oftmals des Lesens und Schreibens unkundigen unteren Schichten ein mit groben Fehlinformationen durchsetztes Halbwissen vor. Die Ansicht, daß derjenige, der ein Kondom benutzt, infiziert sei, ist gerade in den Favelas fest verwurzelt, eine Präventionsarbeit somit erschwert.
Personen, die in einer teueren privaten Krankenversicherung Mitglied sind, können im privatwirtschaftlichen medizinischen Sektor nach westlichem Standard behandelt werden, während die Versorgung im öffentlichen Sektor auf Notfälle beschränkt bleibt. Konsequenz: Für Angehörige der Unterschicht beträgt die Überlebenszeit nach einer AIDS-Diagnose 1-2 Monate, für jene der Mittelklasse hingegen 1 1/2 – 2 Jahre . Das Virus unterscheidet zwischen arm und reich.

Doch eine Intelligenz besitzt es nicht !

Diese strukturellen politischen und sozialen Mißstände veranlaßte die “Coalizâo Global de Políticas contra AIDS” eine neue Strategie für die neunziger Jahre zu formulieren: effektivere Prävention, angepasst an die örtlichen Verhältnisse. Eine Betreuung und Behandlung aller HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten, da oftmals AIDS-Erkrankte in öffentlichen Hospitälern abgewiesen werden. Verlangt wird der Abbau von sozialen Schranken im Erziehungs- und Gesundheitsbereich.
Wirksame Präventionsarbeit wird von der Qualität des sozialen System bestimmt: Nur wenn offen und ohne Vorurteile gegenüber anderen Lebensmodellen diskutiert werden kann, kann sie erfolgreich sein. Das soziale Klima Brasiliens steht dem jedoch im Wege – so dokumentierte die brasilianische Schwulengruppe “Grupo Gay de Bahia” 1.200 Morde in den achtziger Jahre an Schwulen und Lesben.
Im März 1989 gründete sich die “Grupo PELA VIDDA”, die gegen diesen “morte social” kämpft und die offizielle AIDS-Politik kritisch begleitet. Ihr Hauptziel ist es, das Leben der Infizierten und Erkrankten zu garantieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Zudem versucht sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit die politische und soziale Dimension von HIV/AIDS zu thematisieren und die Betroffenen von ihrem Stigma zu befreien. Neben Frauentreffen, Gymnastik- und Kunstunterricht bieten sie psychologische Erstberatung und juristische Hilfe an. Ein monatlich erscheinendes Bulletin soll zur Diskussion anregen: Mittlerweile existieren in fünf weiteren brasilianischen Städten ähnliche Gruppen – in Sâo Paulo, Caritiba, Vitória, Goiânia und Niterói.

Land der Hoffnung

Vornehmlich drogengebrauchende Straßenkinder finden seit 1983 auf der “Fazenda da Esperança” die Möglichkeit zum Entzug sowie medizinische Betreuung bei AIDS-Erkrankung.
Der Franziskanerpater Frei Hans Stapel und der damals neunzehnjährige Nelson Giovanelli begannen zunächst im Umfeld des Pfarrhauses Stapels in Guaratiguetá mit der Betreuung von Straßenkindern. Seit Beginn des Projekts wird auf überwiegende Eigenfinanzierung gesetzt. Anfangs schnitten die Jungs und Mädchen die Hecken der Reichen der Stadt, pflegten deren Gärten und hüteten deren Kinder. Dank einiger Landschenkungen in der näheren Umgebung Guaratinguetás, darunter ein riesiges Bergbauareal in der Serra de Mantiquiera, gewann das Projekt rasch an Eigendynamik. Heute, neun Jahre nach Beginn, leben ca. 270 Personen in den verschiedenen Häusern des Sozialwerkes, darunter ca. 90 HIV-Infizierte und AIDS-Erkrankte, von denen sich 21 Personen im Endstadium befinden.
Sie verwalten sich selbst und wählen bei regelmäßigen Versammlungen die zweiköpfige Leitung eines ihrer jeweiligen, nach Geschlechtern getrennten Gemeinschaftshäusern.
Verschiedene Produktionszweige, wie Möbelschreinerei, Schweine- und Geflügelzucht, eine Brauchwasser-Produktion, eine Müllverarbeitung finanzieren nicht nur das Projekt, sondern erhöhen und festigen das Selbstwertgefühl der ehemaligen Straßenkinder.
Mit einem eigenen LKW holen die Arbeiter der Obra den sortierten Müll von 30.000 Haushalten Guaratinguetás ab, der zuvor von rund 60 Familien aus einem Elendsviertel der Stadt eingesammelt wurde. Glas wird zerkleinert, Papier und Dosenblech werden zu tonnenschweren Frachtquadern gepreßt, Kunststoff sortiert, “gebacken” und zu Granulat verarbeitet. Die erzielten Gewinne fließen immer dorthin, wo Mangel herrscht. Das Fazenda-Projekt ist, sich für den täglichen Bedarf nicht auf Spenden zu verlassen, sondern ihn selbst zu erarbeiten und zu erwirtschaften. Das “Prinzip Hoffnung” mag für die Errichtung der Infrastruktur gereicht haben und noch reichen, für die tägliche Versorgung wäre ein Verlaß darauf sträflich.
HIV-Infizierte sind in die Arbeitsprozesse integriert, selbst die Erkrankten entscheiden sich bei zwischenzeitlicher Genesung in der Regel zur Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit, ggf. wird ihnen eine leichtere Arbeit, z.B. die Pflege der Gemeinschaftshäuser übertragen. Arbeit, Mitarbeit schafft Kommunikation, Herumsitzen bedeutet Isolation.

Anläßlich des Welt-AIDS-Tages 1991 der WHO unter dem Motto “Sharing the challenge” (Die Herausforderung gemeinsam annehmen – weltweit) ging die Berliner AIDS-Hilfe mit der “Fazenda da Esperança ein Partnerschaftsprojekt ein.

Spendenkonto:
Berliner AIDS-Hilfe
Sonderkonto Brasilien
Bank für Sozialwirtschaft
BLZ 100 205 00
Konto-Nr. 3 132 203)

“Die Leute können vergeben, aber niemals vergessen”

LN: Welche Bedeutung hat der Bericht der Wahrheitskommission für das Land und für die Arbeit der CDHES?
Celia Medrano: Für uns bedeutet der Kommissionsbericht die Bestätigung von fünfzehn Jahren Arbeit. Seit unserer Gründung 1978 haben wir auf nationaler und internationaler Ebene die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador angeklagt, weshalb wir immer wieder selbst Opfer der staatlichen Repression wurden. Zu Beginn wurde unseren Berichten – vor allem im Ausland – nicht viel Glauben geschenkt. Wenn wir berichteten, daß zwei bis drei Monate alte Babies massakriert und Frauen von einer ganzen Gruppe von Soldaten vergewaltigt wurden, bevor die Soldaten sie auf bestialische Weise ermordeten, dann trafen wir auf Ungläubigkeit. Viele dachten, so etwas könne gar nicht stimmen. Nach und nach wurden unsere Berichte auch von anderen Organisationen bestätigt, und der Öffentlichkeit wurde bewußt, wie schlimm es um die Menschenrechte in El Salvador wirklich steht. Nachdem zunehmend Ausländer zu Opfern der Repressionen wurden, stellten auch Regierungen anderer Länder Untersuchungen an. Dabei erfuhren sie, daß die Regierung El Salvadors die Aufklärung der Fälle behinderte und log, um die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen nicht übernehmen zu müssen.
Als die Repression während der Regierungszeit von Napoleon Duarte quantitativ zurückging, wurde uns zuerst wieder nicht geglaubt, wenn wir die Brutalität des Krieges anklagten. Mit Duarte kam das Projekt der Aufstandsbekämpfung, und vor allem im Ausland hieß es, daß mit dem christdemokratischen Präsidenten alles besser werden würde. Und auch nach Duarte hat sich die Situation nicht verändert. Die Menschenrechtsverletzungen gingen immer weiter, auch wenn die Propaganda das Gegenteil behauptete. In diesem Sinne wurden wir durch den Friedensprozeß und den Bericht der Wahrheitskommission tatsächlich in unserer Arbeit bestätigt.

Euch wurde immer wieder vorgeworfen, einseitig zu sein und euch nicht um die FMLN zu kümmern. Was meinst du dazu?
Jetzt liegt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen für alle schriftlich vor, bestätigt von einer unabhängigen Kommission, die im Rahmen des Friedensprozesses von den Vereinten Nationen ausgewählt wurde. Uns wurde früher oft vorgeworfen, wir seien einseitig und würden die Menschenrechtsverletzungen der FMLN nicht im gleichen Ausmaß wie die der Regierung anklagen. Der Kommissionsbericht macht aber deutlich, daß die FMLN nur für einen kleinen Teil der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Die Wahrheitskommission erhielt 22.000 Aussagen und schreibt dem Militär und den Todesschwadronen davon in 87 Prozent der Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung zu, der FMLN jedoch nur in fünf Prozent der Fälle. Für uns bedeutet dies, daß der Vorwurf der Einseitigkeit jetzt auch offiziell widerlegt ist. Die Wahrheitskommission ist weitgehend zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie wir in den letzten Jahren. Das ist für uns natürlich eine Erleichterung. Das Militär hat gleich nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts ein Dokument mit dem Titel “Der Kommunismus ist nicht tot” vorgelegt, in dem sie den Vereinten Nationen vorwerfen, der Kommissionsbericht sei eine Verschwörung gegen die salvadorianischen Streitkräfte. Die Beschuldigungen sind dieselben, wie wir sie fünfzehn Jahre lang immer wieder hören mußten.

Wo siehst du die Schwächen des Berichts der Wahrheitskommission?
Der Bericht hat einige Lücken. Er geht kaum auf die Rolle der USA ein, die den Genozid in El Salvador finanziert haben. Er untersucht auch nicht die Rolle der Christdemokraten, als diese die Regierung stellten. Im Fall der FMLN wurden nur einige der Morde an Bürgermeistern untersucht, und die Schuldzuweisung geht lediglich an die Führungsspitze des ERP [eine der fünf Mitgliedsorganisationen der FMLN], ohne auf die Verantwortung der anderen FMLN-Organisationen einzugehen. Bei den Todesschwadronen wissen wir, daß die Kommission eine Liste der Namen von Unternehmern hat, die die Todesschwadronen finanziert haben, aber diese Namen werden nicht genannt. Der Bericht hat also ganz klare Mängel; er verschweigt einige sehr wichtige Aspekte. Aber wir wollen ihn nicht diskreditieren, er enthält keine Lügen. Alle Fälle im Bericht sind klar belegt, und es werden keine unüberlegten Einschätzungen oder Verurteilungen vorgenommen.

Glaubst du, daß der Kommissionsbericht den Friedens- und Demokratisierungsprozeß unterstützen kann?
Auf jeden Fall. Trotz seiner Lücken ist der Kommissionsbericht ein wichtiges Dokument zur Beurteilung dessen, was in den letzten Jahren in El Salvador geschehen ist. Es ist von enormer Bedeutung, daß der Bericht nicht nur Ereignisse untersucht, sondern auch die Namen der Verantwortlichen nennt. Es war ein offenes Geheimnis, daß d’ Aubuisson die Ermordung von Erzbischof Romero befahl und General Ponce und andere für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich sind. Aber heute sind diese Fakten in einem anerkannten Bericht der Vereinten Nationen nachzulesen, das hat eine ganz andere Qualität.
Der Bericht hat auch bewiesen, daß die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador System hatten. Auch wenn nur 30 Fälle detailliert im Bericht aufgelistet sind, werden die unzähligen anderen Fälle doch nicht vergessen. In einem Anhang von 300 Seiten sind die Namen von ungefähr 22.000 Menschen aufgeführt, die in El Salvador ermordet wurden oder die spurlos verschwunden sind.

Im Bericht wurde auch die Reform des Justizsystems und die Absetzung aller Mitglieder des Obersten Gerichtshofes gefordert. Welche Reaktionen gab es darauf?
Der ARENA-Vorsitzende Calderon Sol hat eine Reform genauso abgelehnt wie Verteidigungsminister Ponce. Am schlimmsten war aber die Reaktion des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, der ja selbst im Kommissionsbericht genannt wird. Er sagte, daß er gar nicht daran denke, zurückzutreten und daß nur Gott ihn da wegbringe. Aber auch Cristiani will eine Reform des Justizsystems vermeiden. Das jetzige Justizsystem ist ja die legale Grundlage für das System der Straffreiheit der Militärs und anderer Verantwortlicher von Menschenrechtsverletzungen.

Nach der Veröffentlichung des Berichts hat das Parlament eine Amnestie beschlossen…
Diese Amnestie ist nicht rechtens. Das Amnestiegesetz ist die klarste Antwort der Rechten auf den Kommissionsbericht. Es darf doch für einen Gerichtshof keine Amnestie geben. Am gleichen Tag als das Amnestiegesetz in Kraft trat, wurden Oberst Benavides und Leutnant Mendoza [die wegen der Ermordung der Jesuiten zu dreißig Jahren Haft verurteilt wurden; die Red.] freigelassen. Bezeichnend ist, daß die beiden Guerilleros, die wegen des Mordes an zwei US-Militärberatern im Gefängnis sind, noch immer nicht freigelassen wurden. Die Amnestie soll jegliche gerichtliche Untersuchung der im Kommissionsbericht genannten Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen verhindern. Wir haben beim Obersten Gerichtshof bereits Einspruch gegen das Gesetz erhoben. Aber bei diesem Gerichtshof glauben wir natürlich nicht daran, daß sie unserer Klage stattgeben.

Nach der Veröffentlichung des Berichts ist der Diskurs der Streitkräfte wieder härter geworden, so wie in früheren Zeiten. Es scheint, daß sich beim Militär nicht viel verändert hat. Wie kann heute verhindert werden, daß sich die Geschehnisse aus der Zeit des Krieges demnächst wiederholen?
Vor allem müssen natürlich die Empfehlungen der Vereinten Nationen erfüllt werden. Zusätzlich sind Aktionen der sozialen Bewegungen nötig, um Druck auszuüben, damit die Friedensvereinbarungen alle erfüllt werden. Entscheidend sind hier einerseits die Reformen im Militär, andererseits das, was im ökonomischen Bereich passiert. Es gibt zur Zeit harte Auseinandersetzungen zwischen den ArbeiterInnen und den UnternehmerInnen im “Wirtschaftlich-Sozialen-Forum” [im Rahmen des Friedensvertrages gebildetes Forum, in dem Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Regierung sitzen. Eigentlich sollen hier Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit gefunden werden, die Unternehmerverbände haben das Forum jedoch lange Zeit boykotiert; bislang wurden kaum konkrete Ergebnisse erzielt; die Red.]. Die UnternehmerInnen weigern sich, die arbeitsrechtlichen Übereinkommen der “Internationalen Arbeitsorganisation” (ILO) anzuerkennen, die die Rechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder und die Rechte der ArbeiterInnen festlegen. Die Anerkennung dieser Rechte hätte natürlich negative Folgen für die UnternehmerInnen, weshalb sie zur Zeit die Arbeit des Forums wieder blockieren.

Eines der Ziele des Kommissionsberichtes ist es, in El Salvador Gerechtigkeit herzustellen. Auf der Grundlage der Gerechtigkeit sollen die Menschen lernen, einander zu verzeihen. Glaubst du, daß dies nach allem, was passiert ist, möglich sein wird?
Die Menschen können vergeben, aber sie werden niemals vergessen, was passiert ist, was das Leben so vieler Familien geprägt hat. Wie soll ein Mensch die Schreie seiner Kinder vergessen, die er aus einem Versteck heraus hörte, während die Soldaten sie gerade umbrachten. Wie sollen wir eine Mutter bitten zu vergessen, die nach einer Bombardierung in ihre Hütte zurückkehrte und dort die zerfetzte Leiche ihres Kindes fand. Wie sollen wir von der Tochter eines Bürgermeisters, der von der Guerilla ermordet wurde, verlangen, das zu vergessen. Wie sollen wir von all diesen Menschen erwarten, daß sie vergessen, was geschehen ist. Das Verzeihen ist möglich und auch notwendig, aber es ist unmöglich zu vergessen. Aber wie sollen die Menschen heute noch vergeben, nachdem der Staat mit dem Amnestiegesetz bereits alle Verbrechen vergeben hat. General Ponce zum Beispiel sieht sich nicht dazu verpflichtet, um Verzeihung zu bitten, obwohl doch klar bewiesen wurde, das er für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich ist. Was wirklich notwendig ist, daß der Staat, die Regierung jetzt die Bevölkerung um Vergebung bittet.

Dann müßte aber die FMLN genauso um Vergebung bitten!
Die FMLN hat das bereits getan. Die gesamte (ehemalige) Generalkommandantur hat sich dazu verpflichtet, zehn Jahre lang keine öffentlichen Ämter auszuüben. Der Kommissionsbericht hat das nur von Joaquin Villalobos verlangt, aber auch Shafik Handal, Leonel Gonzalez, Roberto Roca und Ferman Cienfuegos haben sich dazu verpflichtet. Sie wollen die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen kollektiv übernehmen. Und Jorge Melendez hat bei einer öffentlichen Veranstaltung der FMLN, die Anwesenden im Namen der Frente um Verzeihung gebeten und erklärt, daß er sogar bereit wäre, mit Ponce in einer Gefängniszelle zu sitzen.
Ich glaube wirklich, daß die FMLN in Bezug auf den Kommissionsbericht eine klare Haltung eingenommen hat und daß sie im Gegensatz zum Militär wirklich an das Wohlergehen des Landes denkt und weniger an irgendwelche Vorteile für sich als politische Kraft.

Wie wird sich die Lage der Menschenrechte weiterentwickeln?
Die Repression hat in den letzten Monaten wieder zugenommen. Wahrscheinlich wird die ganze Zeit des Wahlkampfes in einem Klima der Gewalt stattfinden. Und das, obwohl die Vereinten Nationen (ONUSAL) im ganzen Land präsent sind. Wir haben vor allem Angst, daß sich die Situation weiter verschlechtert, wenn die BeobachterInnen der ONUSAL das Land verlassen haben werden. Es wäre natürlich auch ganz wichtig, daß die Straffreiheit der Militärs endlich ein Ende hat und ein effizientes Justizsystem entsteht. Wenn du dein Haus sauber machen willst, muß der Müll raus und darf nicht unter dem Teppich verschwinden. Sonst kommt er wieder zum Vorschein, wenn du den Teppich hebst.

Sozialismus oder Tourismus

Die Versorgungskrise, in Kuba gemeinhin als ‘período especial’ – Sonderperiode – umschrieben, bestimmt seit drei Jahren zunehmend das Leben der KubanerInnen. Grundnahrungsmittel und Artikel des täglichen Bedarfs sind rationiert und nur über Bezugsscheine erhältlich – oder für teures Geld auf dem Schwarzmarkt. Benzin wurde an Privatleute zum letzten Mal im vergangenen Dezember ausgegeben. Der öffentliche Nahverkehr liegt weitgehend brach. Während in mehreren Provinzstädten kein Autobus mehr fährt, kann in der Hauptstadt dank großzügiger Spenden aus Kanada und Spanien immerhin ein Drittel des Betriebs aufrechterhalten werden. Entsprechend lang sind die Schlangen an den Haltestellen, Warten gehört zu den alltäglichsten Dingen in Kuba.
Erstaunlich ist in Anbetracht dieser Schwierigkeiten allerdings die Geduld, ja Gelassenheit, mit der die meisten KubanerInnen die Einschränkungen des ‘período especial’ hinnehmen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Unzufriedenheit über die schwierige Lage spürbar wächst. “Hier in Kuba läuft gar nichts mehr, es gibt nichts zu kaufen, und die Bevölkerung hat nicht genug zu essen,” beschwert sich ein junger Intellektueller. Er erzählt, wieviel Mühe es ihn jeden Tag kostet, die Milch für sein Kleinkind zu besorgen, obwohl sie ihm per Bezugsschein zusteht. “Und das mit dem Soja ist auch so eine Sache, weißt Du. Das Mehl, was hier in Kuba verteilt wird, hat einen gefährlich hohen Kupferanteil, aber wir bekommen eben kein Fleisch mehr!”
Von einer Kupferbelastung des Sojamehls hat eine dem Ökumenischen Kirchenrat Kubas nahestehende Kinderärztin noch nichts gehört. Ihr Bruder, der längere Zeit in Berlin gelebt hat, sieht in dieser Diskussion einen Beweis für die ablehnende Haltung der KubanerInnen gegenüber allen Maßnahmen der Regierung, die im Gegensatz zu ihren Eßgewohnheiten stehen: “Die meisten Leute hier würden die biologische Ernährung der Alternativen in Deutschland ablehnen, weil sie ihnen fremd ist und die KubanerInnen immer an Fleisch gewöhnt waren.” Er berichtet, daß jedeR im Land pro Woche zwei Kilo aller jeweils erhältlichen Obst- und Gemüsesorten, ein Pfund mit Sojamehl verlängertes Gehacktes oder Fisch sowie täglich ein Brötchen erhält.
Was passiert aber, wenn es im Land gerade mal nichts oder kaum etwas gibt? Achselzucken – dann wird der Speiseplan noch etwas ärmlicher. Und eigentlich gibt es ja auch immer viel mehr, als über die Lebensmittelkarten erhältlich ist. Da es nun keinen Kleinbauernmarkt mehr gibt, auf dem Lebensmittel privat verkauft werden, sind die LandwirtInnen bemüht, ihre Produkte illegal gegen bare Münze an die Hausfrau zu bringen. Das bringt allemal mehr als die bescheidene Bezahlung durch die staatlichen Verteilungsstellen.

“Wir brauchen keine Parteien, sondern mehr soziale Bewegungen”

In den angeführten Äußerungen zur Ernährungslage wird ein Problem deutlich, das in Kuba überall spürbar ist. Es ist nahezu unmöglich, sich ein objektives Bild von der Situation auf der Karibikinsel zu machen, zu unversöhnlich stehen sich die verschiedenen Positionen gegenüber. Während die einen kein gutes Haar an der Regierung von Fidel Castro und deren Krisenpolitik lassen, verteidigen die anderen die Sparpolitik, die notwendig sei, um die Erfolge der sozialistischen Revolution zu erhalten. Die ersteren machen vor allem wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und die paternalistische Selbstüberschätzung des “Comandante en jefe” für die Krise verantwortlich, die anderen neben der Blockadepolitik der USA in erster Linie den Niedergang des Ostblocks, mit dem Kuba seit 1961 enge Wirtschaftsbeziehungen unterhalten hatte. Für eine vernünftige und ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen und anderen Themen gibt es in Kuba keinen Freiraum. Es fehlt an Foren, wo sich Opposition und RegierungsanhängerInnen austauschen und konstruktiv Auswege aus der verfahrenen Situation suchen könnten.
“Was wir in Kuba brauchen, sind nicht in erster Linie mehr Parteien, wie es die USA fordern”, meint denn auch der protestantische Pfarrer Raimundo García aus Cárdenas, “wir brauchen mehr soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, um über die bestehenden Probleme reden zu können.” So errichtet seine Gemeinde – mit Unterstützung aus dem Ausland – eine Begegnungsstätte, die den BürgerInnen der Stadt die Möglichkeit geben soll, sich auch außerhalb der hegemonisierenden Kommunistischen Partei mit der kubanischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. “Aufgrund der wachsenden Versorgungsschwierigkeiten verlieren viele Menschen das Gefühl für die Errungenschaften der Revolution. Dabei steht hier so viel auf dem Spiel.”
Wege aus der heutigen Krise lassen sich nur unter Einbeziehung aller demokratischen Kräfte Kubas, der Ausschöpfung aller Fähigkeiten und der Nutzung aller Erfahrungen finden. So wie es innerhalb des protestantischen Gemeindezentrums versucht wird, bedarf es intensiver Diskussionen nicht nur unter den Intellektuellen des Landes. Weder die Regierung noch die Opposition werden 1993 der Sonderstellung gerecht, die Kuba nach wie vor auf dem ganzen Kontinent einnimmt und der selbst konservative PolitikerInnen zwischen dem Rio Grande und Feuerland Respekt zollen. Es fehlt eine stärkere Einbindung in den Diskurs der Linken Lateinamerikas und der Karibik. Gerade aus dem Vergleich mit der Situation in den anderen Ländern des Subkontinents könnten für Kuba gangbare Wege aus der Krise erwachsen. Bei seinen guten Kontakten zu dem brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto dürften Fidel Castro die Auseinandersetzungen nicht unbekannt sein, die es in dessen Heimat um die Agrarreformen, um alternative Landwirtschaftsformen, um die Qualifizierung von Kleinbauern und -bäuerinnen, die sogenannte Modernisierung der Landwirtschaft und nicht zuletzt um die Frage nach einer ökologisch verträglichen Entwicklung gibt. Während die Agrarwirtschaft weiterhin an den Folgen jahrzehntelanger Monokultur und ebenso ehrgeiziger wie für das Land ungeeigneter Tierhaltung leidet, finden sich zumindest im industriellen Bereich überall auf der Karibikinsel Ansätze einer Modernisierung, die auch umweltpolitische Gesichtspunkte berücksichtigt. So stehen für die traditionsreiche Zucker- und Rumfabrik Echeverría in Cárdenas, dem Geburtsort des berühmten Bacardi-Rums, die Verhandlungen über die Errichtung einer Biogasanlage vor ihrem Abschluß. Mit Hilfe deutscher Technologie soll nach brasilianischem Vorbild der reichliche Abfall aus der Zukkerproduktion zur Energiegewinnung genutzt werden. Gleichzeitig wird in der Rumfabrik eine moderne Abfüll- und Etikettiermaschine installiert, mit der die Jahresproduktion von derzeit 200.000 auf 1 Million Flaschen gesteigert werden soll. Doch bevor diese Modernisierungsprojekte Erträge bringen, werden noch mehrere Jahre vergehen, in denen sich an der Versorgungslage der Bevölkerung nichts ändert.

Tribut an den Weltmarkt

Noch fühlt sich der/die ausländische BesucherIn in Cárdenas in vergangene Tage zurückversetzt. Nichts läßt ahnen, daß in der Zuckerdestille der Stadt eine der bekanntesten Rummarken der Welt geboren wurde. Doch seit der Revolution und der nachfolgenden Enteignung wird der Bacardi in der Dominikanischen Republik hergestellt. Andere Rummarken verlassen nun die Zucker- und Rumfabrik von Cárdenas, doch sie alle haben mit ihrem berühmten Vorläufer eines gemeinsam: sie werden mit denselben Maschinen, in denselben Gärfässern produziert. Die ganze Fabrikanlage wirkt wie ein Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert, die rostigen und ölverschmierten Maschinen gäben eine wunderbare Kulisse für einen Film über die industrielle Revolution ab. Mit der sichtbaren Ausnahme der erwähnten vollautomatischen Abfüll- und Verpackungseinheit aus deutscher Produktion, die einen kleinen Schritt in Richtung Weltmarkt darstellt. Die an sich positive Entwicklung im Sinne einer Modernisierung darf jedoch nicht über ein zentrales Problem hinwegtäuschen: Kuba ist gezwungen, sich wesentlich stärker als bisher in die ungerechten und ausbeuterischen Weltmarktstrukturen zu integrieren. Im Land selber wirft dies die Frage auf, wie die Errungenschaften der kubanischen Revolution im sozialen Bereich erhalten werden sollen, was schließlich auch von vielen Oppositionellen gefordert wird.
Was Raimundo García damit meinte, als er von dem Verlust der Errungenschaften der Revolution sprach, wird beispielsweise beim Besuch eines Kinderhorts in Cárdenas klar: Alle Kinder bis zu 7 Jahren erhalten trotz der schwierigen Versorgungslage täglich einen halben Liter Milch (allerdings aus Milchpulver), die Portionen auf den Eßtabletts sind reichlich: Neben Reis gibt es Fisch, Kochbananen und frisch gepreßten Orangensaft. Die 260 Kinder verschiedener Hautfarben werden von insgesamt 53 Angestellten versorgt, das Spielzeug ist aus Pappmaché hergestellt und bietet den Kindern die Möglichkeit, spielend bestimmte Rollen kennenzulernen. Ein Kaufladen, ein Frisiersalon und ein Krankenzimmer sind auf der Terrasse aufgebaut.
Ein Schwerpunkt der kubanischen Regierung war traditionell das Gesundheitswesen. Und gerade hier wird der allgegenwärtige Mangel besonders deutlich. Trotz der Devisenknappheit und der erschwerten Versorgung vor allem mit spezielleren Medikamenten und technischen Geräten wird zwar auf der Insel ein medizinischer Standard aufrechterhalten, der in Mittelamerika und der Karibik seinesgleichen sucht und in anderen Ländern nur für eine kleine Oberschicht zugänglich ist. Dennoch sind an allen Ecken und Enden die Schwierigkeiten zu spüren, und die Ausstattung mit medizinischem Gerät und Material ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Während im Vorzeigekrankenhaus Hermanas Almejeiras in Havanna alles vorhanden ist, was das Herz von A(e)rztIn und PatientIn höher schlagen läßt, stehen in der zwölf Betten umfassenden Intensivstation des Provinzkrankenhauses in Cárdenas nur 4 Überwachungsmonitore und ein einziges Beatmungsgerät zur Verfügung, es mangelt an Kathetern, Spritzen und anderem Einwegmaterial. Dank der guten Ausbildung des medizinischen und Pflegepersonals überleben auch heute noch viele KubanerInnen schwere Krankheiten – so wie eine erst 51jährige Patientin, die einen schweren Herzinfarkt mit Komplikationen überlebt hat und gerade von der Intensivabteilung auf eine normale Station verlegt wird. Gleichzeitig werden an verschiedenen Stellen in Kuba Folgen der Mangelernährung sichtbar. Tausende von KubanerInnen sind aufgrund der Vitamin-B-armen Nahrung von ernsthaften Erkrankungen des Sehnerven bedroht. In zunehmendem Maße wird Beriberi beobachtet, eine Vitamin-B1-Mangelerkrankung, die das Herz und das Nervensystem betrifft. Seit einigen Wochen werden nun monatlich 30 Vitamin-B-Dragées ausgegeben. Die Frage ist nur, wie lange sich Kuba in der jetzigen Situation diesen Luxus leisten kann. Daher ist es naheliegend, daß die Bevölkerung zum Verzehr pflanzlicher Vitamin-Träger aufgefordert wird.
Nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft RGW muß sich Kuba nun auf dem internationalen Markt versorgen, um die Grundversorgung der Bevölkerung zu sichern. Dazu braucht das Land Dollars, und die sind auf der Insel rar geworden. Der Gewinn aus dem wichtigsten Exportprodukt, dem Zucker, ist wegen des niedrigen Weltmarktpreises auf etwa 700 Mio US-$ jährlich zurückgegangen. Das reichlich vorhandene Nickel kann nicht effektiv ausgebeutet werden, da die USA sämtliche Waren boykottieren, in denen nur ein Milligramm kubanischen Nickels verarbeitet wurde. Nach dem Torricelli-Gesetz werden neuerdings in den Häfen der Vereinigten Staaten alle Schiffe mit empfindlichen Strafen belegt, die in den zurückliegenden sechs Monaten einen kubanischen Hafen angelaufen haben. Angesichts dieser Schwierigkeiten setzt die Castro-Regierung nun auf den Tourismus als Devisenquelle. Überall im Land wurden Hotels errichtet, es entstand eine ganz eigene Infrastruktur, die AusländerInnen vorbehalten ist: Bezahlt wird hier ausschließlich mit der Währung des Erzfeindes, dem Dollar. Der Umsatz dieser Branche lag 1992 bei 350 Mio US-$ und zeigt weiterhin eine steigende Tendenz, obwohl der Urlauberstrom aus Deutschland im letzten Jahr bereits wieder abgenommen hat.

Hoher Preis für Devisen

Trotz der weitgehenden Abtrennung vom normalen Leben in Kuba beginnt der Tourismus, das soziale Gefüge auf der Karibikinsel zu zersetzen, das in der Vergangenheit dadurch stabil war, daß alle gleich wenig hatten – mit Ausnahme der mittleren Kader. Gerade diese haben nun auch den Tourismus in der Hand, viele KubanerInnen sprechen offen von einer regelrechten Mafia, die nicht nur das Geschäft kontrolliert, sondern auch Zugriff auf besondere Waren und auf Dollars hat. Gleichzeitig suchen viele in Anbetracht der daniederliegenden Wirtschaft ihr Glück als fliegende oder Zwischenhändler. Ganz allmählich entsteht auch in Kuba ein bisher nicht existierender informeller Sektor, auch in diesem Punkt gleicht sich Kuba den anderen Ländern Lateinamerikas an. In der Innenstadt von Havanna kann mensch als AusländerIn kaum 20 Meter gehen, ohne angesprochen zu werden: Kinder bitten um Kaugummi, das für drei Pesos weiterverkauft wird; überall werden kubanische Zigarren angeboten, die im Intur-Laden das Zehnfache kosten. Im ganzen Land stößt man auf diese Intershops, in denen es nach dem Vorbild der ehemaligen DDR gegen “frei konvertierbare Währung” alles zu kaufen gibt. Freien Zutritt haben KubanerInnen nur in Begleitung ausländischer BesucherInnen, die beim Bezahlen danebenstehen müssen, um den Schein zu wahren. Eine ebenso lächerliche wie entwürdigende Situation!
Und noch ein Geschäft blüht auf der Zuckerinsel. Überall werden männliche Besucher von ‘jineteras’ angesprochen, attraktiven und oft erschreckend jungen Frauen, die ihre Begleitung anbieten. In vielen Fällen geht es dabei um bloße Begleitung im Austausch gegen einige Drinks oder ein Essen in den ansonsten unzugänglichen Hotelanlagen, ohne an Rationen oder Bezugsscheine denken zu müssen. Der Traum vom schnellen Dollar, oft genug auch der Wunsch nach Verbesserung der Lebenssituation oder die blanke Not, bringen aber in zunehmendem Maße die professionelle Prostitution mit sich.
“Was sollen wir aber machen?”, fragt denn auch der Staatssekretär des kubanischen Wirtschaftsministeriums, Jaime Casanova, “der Zucker bringt nichts mehr ein, Nickel können wir wegen des US-Embargos nicht verkaufen, unser Erdöl reicht nicht aus, so daß wir es sogar importieren müssen. Wir haben nichts anderes anzubieten als unsere Strände. Die Regierung ist sich der daraus entstehenden Probleme durchaus bewußt, es gibt aber keine Alternative!”
Genau an diesem Punkt könnte das letzte sozialistische Land auf dem amerikanischen Kontinent scheitern. Daß alles bald besser wird, wie der Staatssekretär mit unverbesserlichen Optimismus behauptet, mag mensch nicht so recht glauben. Dazu liegt die kubanische Wirtschaft zu sehr am Boden. Auch die forcierte Öffnung gegenüber ausländischem Kapital wird daran nicht so schnell etwas ändern – wenn überhaupt. Zwar kommen vor allem aus Kanada und Spanien dringend benötigtes Know-how und Kapital ins Land, doch die Gewinne fließen ungehindert wieder in die Heimatländer der joint-venture-PartnerInnen ab. Wenn es nicht gelingt, die wirtschaftlichen Ressourcen des eigenen Landes zu mobilisieren, ist der Preis für das wirtschaftliche Überleben Kubas die allmähliche Aushöhlung des sozialen Gefüges auf der Karibikinsel. So könnte die Freiheit in Kuba in einigen Jahren darin bestehen, daß die BettlerInnen und die neuen MillionärInnen das gleiche Recht haben, auf der Straße betteln zu dürfen.

Staatsfeind No 2

Mitte Februar herrschte in offiziellen Kreisen überschwenglicher Optimismus. Nach zweieinhalb Jahren der Eingeständnisse (seit Fujimoris Regierungsantritt, G.L.), stand Peru kurz davor, auf dem Treffen des Internationalen Währungsfonds den Status eines kreditwürdigen Landes wiederzuerlangen. Aber plötzlich kündigte die USA am Vorabend des für den 24. Februar angesetzten Treffens Einwände bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte und gegenüber der gesamten Gültigkeit der repräsentativen Demokratie in Peru an. Der Fall Peru wurde von der Tagesordnung des IWF gestrichen. Ein tosende radikale, antiimperialistische Rhetorik, wie sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr zu hören war, betäubte daraufhin das Land.
Der Regierung zufolge bewies diese Maßnahme der USA, daß die neue US-Politik gegenüber Lateinamerika von “Amateuren” gestaltet würde, von Angehörigen anachronistischer akademischer Zirkel, von übriggebliebenen “Fundamentalisten” und “Dinosauriern” der Carter Ära. Nach ihrer Meinung war die nordamerikanische Haltung entscheidend von den Menschenrechtsorganisationen sowie einigen Schriftstellern und Journalisten beeinflußt worden, insbesondere von Mario Vargas Llosa und Gustavo Gorriti. Diese wurden als pro-senderistisch und als Verräter des Vaterlandes denunziert, die mit “Halbwahrheiten” ihrem Land schadeten. Die besagten Halbwahrheiten bestanden darin, die Verletzung der Menschenrechte in Peru als “systematisch” zu bezeichnen, nicht nur Sendero Luminoso als Hauptschuldigen verantwortlich zu machen und zudem nicht anzuerkennen, daß sich die Situation gebessert habe.
Nach der regierungsamtlichen Position ging es vor allem um eine Imagefrage. Die peruanischen Botschaften haben es nicht geschafft, die “Wahrheit” über Peru zu verbreiten. In den darauffolgenden Tagen, während verschiedene Minister Verhandlungen in Washington aufnahmen, entfesselte sich in Peru ein wahres Progrom gegen die Menschenrechtsorganisationen. Dieses wurde sogar noch stärker, als sich die Regierung verpflichtet sah, die nordamerikanischen Konditionen anzunehmen: Beaufsichtigung durch Spezialeinheiten der UNO und der OAS; ein monatliches Treffen mit der vielgescholtenen Nationalen Menschenrechtskoordination (CONADEH); Untersuchung der zwölf gravierendsten bisher unaufgeklärten Fälle von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und Garantien für das Rote Kreuz, das wegen angeblicher Kontakte zu Sendero unter Beschuß geraten war.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen gaben die USA Peru grünes Licht für die Mitarbeit in den multilateralen Organisationen. Diesen Wandel präsentierte die peruanische Regierung sogleich als Triumph der “guten Peruaner” und als Rückzug der USA. Die Ernennung von Botschafter Alexander Watson zum Subsekretär für Angelegenheiten Lateinamerikas im US-Außenministerium wurde als Höhepunkt dieses Sieges und als Triumph des Pragmatismus interpretiert.
Pragmatismus zeigte die peruanische Regierung tatsächlich, nachdem sie schließlich die Bedeutung des Themas begriffen hatte. Schon vor der IWF-Tagung hatte es Anzeichen für eine Änderung ihrer Haltung gegeben, sowohl bezüglich der miserablen Situation in den Gefängnissen als auch der Bestrafung von Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt worden waren. Im Februar wurde zum ersten Mal ein Offizier verurteilt, und in den letzten Wochen folgten weitere. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, demzufolge die verurteilten Militärs und Polizisten ihre Strafe in normalen staatlichen Gefängnissen absitzen müssen. Aber das Progrom gegen Menschenrechtsorganisationen geht weiter.

MenschenrechtlerInnen mit weltweitem Prestige

Die Menschenrechtsorganisationen sind aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Vielerorts konnten sie mit der Unterstützung der Kirche rechnen. Ihre Legitimität gewinnen sie durch die Qualität ihrer Berichte, die sorgfältig von internationalen Institutionen überprüft werden. Eine merkwürdige Situation. Diejenigen, die es nicht wagen würden, die Professionalität des IWF oder der IDB (International Development Bank) zu hinterfragen, glauben, die UNO oder die Regierungen Europas oder der USA ließen sich von oberflächlichen oder böswillig verfälschten Berichten “betrügen”.
In den letzten 13 Jahren ist in Peru eine ganze Generation von weltweit anerkannten MenschenrechtsexpertInnen herangewachsen. Die CONADEH hat mehrere internationale Preise gewonnen. Der Peruaner Enrique Bernales ist einer der fünf Sonderbeauftragten für Menschenrechtsangelegenheiten der UNO. Peruaner bilden außerdem die größte Gruppe in der Friedens- und Wahrheitskommission der UNO in El Salvador, wo Javier Pérez de Cuéllar für die Friedensverhandlungen verantwortlich war. Pilar Coll – bis Januar Präsidentin von CONADEH – wurde im Februar vom spanischen König ausgezeichnet, zweifellos eine Antwort auf die Angriffe, denen sie vorher immer wieder ausgesetzt war.
Aber die Regierung nutzt diesen Erfahrungsschatz nicht als Grundlage für eine antisubversive Strategie, die auf Respektierung gegenüber der Menschenrechte beruhen könnte. Schon seit Präsident Belaúnde sich damit brüstete, die Berichte von Amnesty International ungelesen in den Müll zu werfen, hat sich die Regierung darauf verlegt, die Menschenrechtsorganisation, wo immer es geht, schlecht zu machen.
Dabei ist es nur zu begrüßen, wenn die Regierung selbst Institutionen besitzt, um die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Aber der Staat darf hier kein Monopol haben. Außerdem haben die staatlichen Institutionen bis heute nie funktioniert. Das liegt zum einen daran, daß sie nicht Produkt eines nationalen Konsenses sind. Zum anderen haben sie nie besonderen Eifer bei der Kontrolle der Menschenrechtssituation gezeigt und auch keine staatliche Unterstützung für ihre Arbeit erhalten. Der gegenwärtig existierende “Nationale Rat für den Frieden” beschränkt sich darauf, einige Fernsehspots zu produzieren und besitzt keine Führung, die in Peru oder auf internationaler Ebene auch nur die mindeste Legitimation besitzt.

Die Menschenrechtsorganisationen und Sendero Luminoso

Der wohl irritierenste Aspekt der Arbeit innerhalb der Menschenrechtsgruppen ist, daß sie den Staat von Grund auf kritisieren, die terroristischen Gruppen aber nicht mit dem gleichen Nachdruck. Deswegen klagt man sie, sei es aus Ignoranz oder aus mangelndem Vertrauen, einer pro-senderistischen Haltung an. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen beruht auf dem internationalen Recht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsstandards und dem Flüchtlingsrecht. Nach Internationalem Recht sind einzelne Gruppen oder Personen nicht Gegenstand von zwischenstaatlichen internationalen Verpflichtungen.
Letztlich kontrolliert man den Staat, damit er sein Wort halte und seine Aufmerksamkeit auf die Verbrechen der Rebellen lenke. Das bekräftigt auch die “Kommission Wahrheit und Versöhnung in Chile”: “Es lenkt die Aufmerksamkeit von der besonders wichtigen Tatsache ab, daß der Staat, der sich das Gewaltmonopol vorbehält und gleichzeitig für den Schutz der Rechte seiner Bürger verantwortlich ist, gerade diese Gewalt zur Verletzung der Menschenrechte einsetzt.”
Mit anderen Worten kann der Staat sich nicht mit terroristischen Gruppierungen auf die gleiche Stufe stellen, um gegeneinander aufzurechnen, wer die Menschenrechte weniger verletzt.
Tatsächlich haben die Menschenrechtsorganisationen, die aus dieser Tradition heraus entstanden sind, Sendero Luminoso während der ersten Jahre nicht verurteilt. Ab 1985 allerdings begann sich die Situation zu ändern. Die Menschenrechtsgruppen grenzten sich von Sendero ab. Sie haben es sogar geschafft, einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis der internationalen Menschenrechte zu leisten, indem sie Einfluß darauf nahmen, wie die internationalen Organisationen ihre Konzeptionen neu gestalteten. So bezieht beispielsweise Amnesty International seit 1991 aufständische Gruppen als Objekt der Überwachung in ihre Arbeit ein. Die Aktivitäten Sendero Luminosos waren für Amnesty International ein wichtiges Beispiel für die Notwendigkeit, ihren Ansatz zu erweitern. Auch die Vereinten Nationen bezogen in den letzten Jahren subversive Gruppen in ihre Kritik an der Verletzung von Menschenrechten ein, nicht zuletzt auf Druck der peruanischen Delegation unter Leitung von Enrique Bernales hin.

Was sind “systematische” Menschenrechtsverletzungen?

Die Regierung und ihre Helfershelfer haben in letzter Instanz zwar zugegeben, daß der Staat die Menschenrechte verletze, aber gleichzeitig bekräftigt, es handele sich um Einzelfälle. Tatsächlich gab es in Peru glücklicherweise weder ausufernde Aktivität von paramilitärischen Gruppen, noch staatliche Einrichtungen wie die berühmt-berüchtigte “Escuela de Mecánica de la Armada” in Argentinien, wo man tagtäglich Folter praktizierte.
In Peru entwickelte der Staat eine Strategie, die man “autoritär, aber nicht massenmörderisch” (“autoritaria no-genocida”) nennen könnte. Unter den Ordnungskräften gibt es zweifellos einige Mitglieder, die für Massaker oder für das Verschwinden von Menschen verantwortlich sind. Diese hatten zum Teil hohe Posten in den Gebieten des Ausnahmezustand, und konnten auf das stillschweigende Einverständnis der Armeeführung rechnen, die aus einer übersteigerten Haltung und der Überzeugung, “daß der Krieg eben so ist”, zu extremen Maßnahmen griff. In einigen Fällen von Menschrechtsverletzungen ist es nicht nur so, daß die Angeklagten straffrei ausgingen, sondern sogar noch befördert wurden, ohne daß die zivilen Autoritäten irgendetwas unternahmen.
Diese Kombination des Aufstiegs der Militärs zu einer der mächtigsten gesellschaftlichen Insitutionen und ziviler Selbstaufgabe haben Peru seit Jahren an weltweit erste Stelle rücken lassen, was Verhaftete und Verschwundene sowie den alltäglichen Mißbrauch wie Folter, Prügel oder auch Vergewaltigung von inhaftierten Frauen angeht.
Francisco Eguiguren hat diese Situation als einen “systematischen Verzicht auf Strafe” definiert. Im Februar 1993 wurde ein Offizier der Menschenrechtsverletzungen angeklagt – ohne Zweifel aufgrund von internationalem Druck und nicht aus demokratischer Einstellung heraus. Die immer gleichen staatlichen Handlungsmuster auf diesem Gebiet über Jahre hinweg zeigen Kontinuität. Nach dem Wörterbuch definiert das ein systematisches Handeln.

Die Gefahren des Newspeak

Die aktuelle Debatte über die Menschenrechte haben ein Klima enthüllt, das einige als “faschistisch” bezeichnen. Dieser Begriff ist maßlos, aber was wirklich ans Licht kam, ist die “sanchopansahafte” Natur (ohne jede idealistische Regung) unseres Liberalismus, umso mehr als es sich geschichtlich gesehen um eine rückläufige Entwicklung in Lateinamerika handelt. Die Regierenden sind jederzeit bereit, auf die Knie zu fallen, um den totalen Markt aufzubauen. In diesem Punkt herrscht völlige Inflexibilität. Man darf sich nicht einen Milimeter zurückziehen. Es ist eine Frage der Prinzipien. Aber wo es um Leichteres geht, als Peru in ein neues Hong Kong zu verwandeln, ist ein solcher Eifer ist nicht zu spüren: Wenigstens die Menschenrechte zu respektieren, die Bauern nicht massenweise zu verhaften und keine zu Boden geschlagenen Frauen zu vergewaltigen. Hier werden auf einmal internationales Verständnis und Flexibilität erwartet, mit einem Wort: Pragmatismus.
Offensichtlich soll die Bedeutung des Themas heruntergegespielt und die Verteidiger der Menschenrechte abgewertet werden. Wenn in diesem Artikel von einem Progrom gegen sie gesprochen wurde, geschah dies, um den alten Mechanismus aufzuzeigen, der benutzt wird, um sie zu kritisieren: Die Schaffung eines Sündenbocks, dem falsche und unveränderliche Charakteristika zugesprochen werden. Das Böse soll so ausgetrieben werden; es steht außerhalb von uns, die wir es nicht nötig haben uns zu ändern, sondern versuchen, seine Infiltration zu verhindern. Der Artikel von Daniel D’Ornellas in der peruanischen Tageszeitung Expreso (11.3.1993) ist dafür paradigmatisch. Der Kolumnist schreibt:
“Es war naiv zu denken, nur weil der Kommunismus zerstört worden ist… habe diese Ideologie keine Anhänger mehr und höre auf, jede Gelegenheit zur Infiltration zu nutzen. Nur daß sie heute in anderem Gewand daherkommt und eine andere Sprache spricht: Die der Menschenrechte. Aber ihre destruktive Botschaft ist immer noch die gleiche.”
Bezeichnenderweise nennt sich der Artikel “Eine neue Sprache sprechen”. Das sollte der orwellsche Newspeak sein, in welchem Lüge Wahrheit bedeutete. Der Zirkelschluß ist perfekt: Die Verteidiger der Menschenrechte sind alte verstockte Kommunisten; die Kommunisten zerstören; deswegen ist das Anliegen dieser Organisationen, auch wenn sie für den Schutz des Lebens und für die Menschenrechte eintreten von Natur aus destruktiv.
Bislang gibt es noch keine Umfragen, aber es ist vorhersehbar, daß die Mehrheit, die Fujimori unterstützt, Argumentationen wie die D`Ornellas akzeptieren oder sich indifferent gegenüber dem Thema verhalten wird. Ich beziehe mich allein auf die Angst. Angst, die internationale Hilfe zu verlieren, in welche so viele Hoffnungen gesteckt werden, und in deren Namen so viele Opfer gebracht wurden. Aber vor allem ist es Angst, Entrüstung und Zorn gegenüber Sendero Luminoso.
Wenn irgendetwas in der letzten Zeit klar geworden ist, dann ist es die Tatsache, daß Sendero Luminoso jenseits der menschlichen Opfer und der Sachschäden eine viel wichtigere “Errungenschaft” für sich verbuchen kann: In den 13 Jahren der Gewalt sind die Bedingungen dafür geschaffen worden, daß der autoritäre Liberalismus mit der mehrheitlichen Unterstützung der Bevölkerung rechnen kann. Der “Strom von Blut” Senderos hat den Weg zu einem autoritären common sense gepflastert, in dem die Verteidigung der Menschenrechte als Komplizenschaft mit dem Terrorismus betrachtet wird.
Angesichts der Schwäche der demokratischen Opposition und der weiten Verbreitung von Unverständnis und Indifferenz hängt die Respektierung der Menschenrechte in Peru an einem seidenen Faden. Wenn die Vereinigten Staaten oder Europa ihre Politik ändern würden oder wenn Alberto Fujimori sich entscheiden würde, seinen Pragmatismus aufzugeben und uns in ein ähnliches Abenteuer wie Alan Garcías “Antiimperialismus” zu schleifen, würde sich die Situation noch einmal dramatisch verschlechtern.

entnommen aus: argumentos No.5, März 1993, Lima

Mehr als ein Mythos

Auch wenn Chávez sich für die Belange aller LandarbeiterInnen einsetzte, ist sein charismatisches und hartnäckiges Engagement untrennbar mit dem chicanismo verbunden. Mit der Idee des chicanismo fanden die Mexican-Americans in der Kennedy-Ära eine politische Identität und wuchsen zu einer ernstgenommenen und bedeutenden Bewegung. Noch in den 50er Jahren war die Bezeichnung chicano ein abwertendes Wort für mexikanische ImmigrantInnen in Kalifornien. AktivistInnen wendeten den Begriff, besetzten ihn positiv. Chicanismo wurde zum Synonym für den Kampf für BürgerInnenrechte und ein neues Selbstbewußtsein der ImmigrantInnen vom anderen Ufer des Rio Grande.
Chávez war immer Teil dieser Bewegung. Sein Engagement für Latinos/as begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In den 50er Jahren wurde er zu einer wichtigen Figur in der Community Service Organization (CSO) in Kalifornien. Die CSO agierte auf den klassischen Feldern der Minderheitenpolitik, forderte BürgerInnenrechte, versuchte die barrios (Stadtteile von Chicanos/as in den Metropolen der USA) politisch zu organisieren und Chicanos/as zu motivieren, sich in die WählerInnenlisten einzutragen.
Schon bald kritisierte Chávez die starke Orientierung der CSO an Metropolenproblemen, ihre organisatorische Schwerfälligkeit und den zunehmenden Verlust von Basiskontakt in großen Teilen der Organisation.
LandarbeiterInnen spielten in den Auseinandersetzungen der CSO kaum eine Rolle, obwohl diese in jener Zeit noch einen beträchtlichen Anteil aller Latinos/as bildeten. Chávez beschloß all seine Kraft in die Organisierung der LandarbeiterInnen zu stecken. Das Ziel war der Aufbau einer Gewerkschaft – was von vielen nur müde belächelt und als undurchführbar abgetan wurde. Doch Chávez gelang 1962 im kalifornischen San Joaquim Valley die Gründung der National Farm Workers Association. 1965 begann die größte Aktion der mittlerweile in United Farm Workers (UFW) umbenannten Gewerkschaft: Der Delano-Streik. Über fünf Jahre lang kämpften die LandarbeiterInnen für Tarifverträge, soziale Absicherung und Schutz vor den in der Landwirtschaft massiv eingesetzten Pestiziden. Um auch die KonsumentInnen auf die Existenz von LandarbeiterInnen aufmerksam zu machen, begann eine breit angelegte Boykottkampagne gegen Tafeltrauben. “An den Trauben klebt Blut”, war der Slogan, der allen US-AmerikanerInnen die Trauben sauer werden lassen sollte.
Die UFW und insbesondere Chávez mußten sich nicht nur gegen offene und subtile Verleumdungsversuche der Agrarindustrie zur Wehr setzen. Gerade den etablierten Gewerkschaften, allen voran der berüchtigten Transportgewerkschaft, waren die engagierten chicanos ein Dorn im Auge. Gewaltätige Angriffe von GewerkschafterInnen und der Staatsmacht gegen die UFW in den 70er Jahren konnten den Erfolg der LandarbeiterInnen jedoch nicht entscheidend bremsen. Bereits 1972 wurde die UFW als eigenständige Organisation in den Dachverband der US-amerikanischen Gewerkschaften, der AFL/CIO aufgenommen.

Gewerkschaft und chicanismo im Widerspruch

Der Kampf von Chávez und der UFW ging weiter, aber er wurde nicht mehr so spektakulär und klar geführt. Chávez und die UFW hatten die Anerkennung von Minimalrechten für LandarbeiterInnen erreicht, doch die permanente Immigration aus Lateinamerika lähmte die Gewerkschaft zusehends. Die Tragik der UFW lag an ihrer engen Verwurzelung mit dem chicanismo. Soziale Konflikte und Verteilungskämpfe werden in den USA allzuoft entlang ethnischer Verwandtschaften ausgetragen. Der Kampf der UFW war auch ein Kampf für die Rechte der chicanos/as als ethnische Minderheit. Als in den 70er Jahren und verstärkt in den 80ern immer mehr Menschen von südlich des Rio Grande in den Südwesten der USA immigrierten, geriet die UFW in einen fundamentalen Interessenkonflikt: Die neuen, illegalen ImmigrantInnen hatten in den USA nur die Chance, sich als Billiglohnkräfte ohne soziale Absicherung dem Arbeitsmarkt anzubieten. Die UFW rutschte in die paradoxe Situation, einerseits als Gewerkschaft geschlossen handeln zu wollen, also gewerkschaftliche Solidarität einzufordern, und andererseits ihren illegalen “Brüdern und Schwestern” im Sinne ethnischer Solidarität unter die Arme zu greifen. An diesem Spagat hatte auch Chávez zu kämpfen. Er entschied sich für die gewerkschaftlichen Ziele und ging soweit, die Deportation illegaler ImmigrantInnen zu fordern – im Südwesten der USA ein Synonym für Latinos/as.
In den 80er Jahren wurde es immer stiller um Chávez und “seine” UFW. Die Organisation und ihr Präsident hatten viel erreicht, aber die Schwerpunkte von Latinopolitik in den USA hatten sich auch mehr und mehr vom Land in die Städte verlagert. 93 Prozent aller Latinos/as leben heute in den Ballungszentren der USA. Arbeitslosigkeit, Straßenkriminalität, Drogenkonsum und verwahrloste, urbane Infrastruktur sind heute die Themen der Latinos/as. Die Nöte der LandarbeiterInnen bestehen weiter, scheinen sich in den letzten Jahren sogar wieder zu verschärfen (ihr Stundenlohn sank seit 1983 von 6.50 US$ auf heute 4.50 US$), doch ihre Stimmen sind zu leise geworden, um sie noch so wahrnehmen zu können, wie vor 20 Jahren.
Heute ist der chicanismo als politische Identität tot. Das Erbe von Chávez halten schon länger abgeklärte Latino-LobbyistInnen in den Händen. Eine Integrationsfigur wie sie Chávez einmal war, ist allerdings unter den Latinos/as der USA zur Zeit nicht in Sicht.

Wahltriumph für die Regierung

Von der im Wahlregister erfaßten knappen Million JamaicanerInnen beteiligten sich lediglich 58 Prozent an der Wahl. Über 100.000 ließen sich Schätzungen zufolge nicht einmal registrieren. Ausdruck eines weitverbreiteten Desinteresses an einer Wahl, in der sowohl die PNP als auch die Oppositionspartei Jamaican Labour Party (JLP) mit nahezu identischer neoliberaler Programmatik antraten. Ungeachtet der zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wird die PNP, bestärkt durch das Wahlergebnis und verbesserte Wirtschaftsdaten, das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) diktierte Liberalisierungsprogramm fortsetzen.
Wenigstens das Vorhaben, soziale Probleme verstärkt anzugehen, und der bereits praktizierte Versuch, die unpopuläre Politik auf Bürgerversammlungen vor Ort transparent zu machen, unterscheidet die PNP im Positiven von der JLP. Dieser maßgeblich auf Patterson zurückgehende neue Politikstil hat seit seinem Antritt als Nachfolger von Präsident Michael Manley (LN 215) für einen Simmungsumschwung in der Bevölkerung gesorgt, der nun in dem überwältigenden Wahlsieg gipfelte.

Wahlgeschenke, Patterson-Style: Steuern runter, Löhne rauf

Überrascht waren auf Jamaica über die vorgezogenen Wahlen am 30. März nur wenige. Spielte der alte und neue und zudem erste schwarze Ministerpräsident Jamaicas, P. J. Patterson, doch schon seit einer im November 1992 veröffentlichten Meinungsumfrage mit dem Gedanken, seine Präsidentschaft von den WählerInnen bestätigen zu lassen. Sieben Monate zuvor war er zum höchsten Staatsamt nur aufgrund einer Mehrheit bei den Parteitagsdelegierten der PNP gelangt – die Bevölkerung bevorzugte damals eindeutig die Arbeitsministerin Portia Simpson (siehe LN 215). Die Meinungsumfrage des renommierten Meinungsforschers Carl Stone, der seit Mitte der siebziger Jahre alle Wahlen korrekt prognostizierte, offenbarte nach zwei Jahren erstmals wieder eine wachsende Zustimmung für die PNP, bei gleichzeitigem Sympathieverlust für die konservative JLP. Um die von den Befragten bezeugte Gunst zu erwidern, wurden mit Beginn des Jahres 1993 diverse vetrauensverstärkende Maßnahmen vorgenommen.
Vor dem Beginn der Wahlkampfphase, die von Patterson zur Gewalteindämmung auf drei Wochen reduziert worden war, schnürte die Regierung ein auf Wahlstimmen abzielendes Paket von Maßnahmen. Dieses beinhaltete eine Senkung des Einkommenssteuersatzes von 33,3 auf 25 Prozent, eine Erhöhung des diesbezüglichen Freibetrags sowie bis zu 160-prozentige Zollsenkungen beim PKW-Import. Ferner wurde ein Sraßenbau- und Straßeninstandsetzungsprogramm in Höhe von 20 Millionen US-Dollar und kräftige Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor beschlossen. Vor allem der als Wahlklientel umkämpfte Mittelstand profitiert von diesen Maßnahmen, während die Unterschicht weder die Möglichkeit hat, Autos zu importieren, noch mit ihrem Einkommen in zu besteuernde Kategorien fällt.

Wahlkampf im Zeichen der Hautfarbe

Zum ersten Mal in der bald 50jährigen Geschichte der parlamentarischen Demokratie auf Jamaica standen sich nicht zwei weiße Präsidentschaftskandidaten gegenüber. Waren Wahlen bis 1967 gar eine reine Familienangelegenheit zwischen Alexander Bustamente und seinem Vetter, Norman Manley, so bestimmte ab 1972 das ewige Duell zwischen Normans Sohn Michael und dem in den USA geborenen Edward Seaga das politische Geschehen auf Jamaica.
Mangels programmatischer Differenzen spielte die Hautfarbe der Kandidaten nun eine wesentliche Rolle im Wahlkampf. Eigens hierfür kreierte Reggae-Lieder mit Inhalten wie “To be young, gifted and black” (“Jung, begabt und schwarz”) und “My Leader born ya” (“Mein Anführer ist hier geboren”) sollten der zu fast 90 Prozent schwarzen Bevölkerung vermitteln, daß sie erstmals Gelegenheit hätte, einen schwarzen, auf der Insel geborenen Jamaicaner zu wählen. Für das Wahlverhalten der JamaicanerInnen ausschlaggebender, dürfte indes der von Patterson seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr verfolgte bürgernahe Politikstil sowie das Abbremsen des jähen Kursverfalls des Jamaica-Dollars seit 1989 sein.

Ein neuer politischer Stil

Pflegten Michael Manley und Edward Seaga BürgerInnenkontakt lediglich zu Wahlkampfzeiten, so hält P. J. Patterson auch in Zwischenwahlkampfzeiten selbigen aufrecht. Öffentliche Treffen vor Ort und im ganzen Lande, bei denen die TeilnehmerInnen ihre Kümmernisse äußern können und der Ministerpräsident selbst seine Politik zu übermitteln sucht, brachten ihm den Ruf eines Demokraten ein, der “dem Volk zuhört”.
Zudem ist seine Politik auf Kompromisse statt auf Konfrontation ausgerichtet. Nach dem parteiinternen Machtkampf um die Nachfolge Michael Manleys integrierte er seine RivalInnen Portia Simpson und Hugh Small in seine Regierungsmannschaft. Bei der Bekämpfung von nationalen Mißständen, insbesondere der Kriminalität, fördert er Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinaus. Daß bei der Bekämpfung der Kriminalität die gutsituierten “Schreibtisch-Kriminellen” polizeilich erstmals ernsthafter verfolgt werden, ist ebenfalls eine Neuerung, die ihm Sympathiepunkte bei der Bevölkerung einbrachte, so daß er inzwischen als der populärste Politiker gilt.

Ökonomische Krise abgebremst

Bei seinem Amtsantritt im vorigen März war P. J. Patterson mit einer anhaltenden Wirtschaftskrise konfrontiert. Ihren Ausdruck fand die Krise in einem rapiden Wechselkursverfall und immer schneller steigenden Inflationsraten. Seit Michael Manley nach seinem Wahlsieg 1989 eine forcierte Liberalisierungspolitik vorantrieb, verfiel der Wechselkurs von 5,5 Jamaica-Dollar zu 1 US-Dollar auf fast 30 zu 1 im Mai 1992. Eine Folge der Freigabe der Wechselkurse, die seit September 1991 noch verstärkt wurde, als die Exporteure die Möglichkeit erhielten, Devisenkonten zu unterhalten und somit legal Kapitalflucht zu begehen. Der Wechselkursverfall verteuerte nun die Importe, was einerseits die Inflation im Inland ankurbelte und andererseits den Lebensstandard infolge steigender Lebenshaltungskosten gewaltig senkte. Während ein Mindestgehalt Ende der siebziger Jahre noch eine fünfköpfige Familie ernähren konnte, so reichte es 1992 gerade mal für eine Person.
Erst eine Initiative von Butch Stewart, Chef von Jamaicas größtem Devisenerwirtschafter, der Hotelkette “Sandals”, sorgte für Linderung. Bei fortlaufender Inflation fürchtete er ähnliche Unruhen wie bei den Anti-IWF-Riots 1985. Da die Hotelbelegung damals sprunghaft zurückging, wollte er drohendem Unbill diesmal rechtzeitig vorbeugen. Zu diesem Zwecke beabsichtigte Stewart ab dem 1. Mai 1992 1 Million US-Dollar wöchentlich an die Banken zu verkaufen, um die jamaicanische Währung zu stützen und andere DevisenerwirtschafterInnen zu gleichem anzuspornen.
Die Initiative zeigte vorerst Erfolg. 1992 stabilisierte sich der Wechselkurs bei 22,2 Jamaica-Dollars je US-Dollar. 1993 sank der Kurs erst leicht auf 24,3 zu 1. Die Wechselkursstabilität wirkte sich erwartungsgemäß inflationshemmend aus, da durch sie die Preise für Importe stabil blieben und die Inflation nicht mehr anheizten. So betrug die Inflationsrate 1992 nur noch 40 Prozent gegenüber 80 Prozent im Vorjahr. Diese verbesserten Daten wirkten sich positiv auf die einjährige Regierungsbilanz und die Wahlchancen Pattersons aus, wenngleich sie überwiegend nicht auf seine Politik zurückzuführen sind.

Ehrgeizige Ziele für die nächste Regierungsperiode

Die von Patterson für die nächsten fünf Jahre anvisierten Ziele sind hoch gesteckt. Die Wachstumsrate soll 1993 auf 3,5 Prozent hochgeschraubt werden, die Inflation auf eine einstellige Ziffer gedrückt und der Wechselkurs stabil gehalten werden. Weiter soll die Arbeitslosenrate im Verlauf der kommenden fünf Jahre von 20 auf 12 Prozent gesenkt werden.
Bei der trotz der Abwertungen chronisch defizitären Handelsbilanz Jamaicas wird die dauerhafte Verteidigung des Wechselkurses jedoch schwerfallen. Unlängst entstand der Verdacht, daß die Zentralbank über SubagentInnen auf dem Schwarzmarkt zu einem über dem offiziellen Kurs liegenden Preis US-Dollars aufkauft, um damit auf dem regulären Markt die eigene Währung zu stützen. So sind solche Praktiken derzeit Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Der offiziell mit dem Kauf von Devisen beauftragte Agent der Zentralbank soll demnach eigenständig SubagentInnen zur derlei ungesetzlichem Tun aufgefordert haben. Eine langfristig taugliche Strategie zur Wechselkursverteidigung wird darin allerdings wohl niemand sehen.
Soziale Aspekte sollen zukünftig verstärkt Berücksichtigung finden. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei dem Bildungswesen gewidmet werden. Die ins Auge gefaßte 60prozentige Lohnerhöhung für die LehrerInnen soll dabei ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wie sich diese Lohnerhöhungen, die bereits angesprochenen Steuer- und Importerleichterungen mit einem dem IWF versprochenen sinkenden Haushaltsdefizit vereinbaren lassen, bleibt offen. Zumindest bis zur Verabschiedung des nächsten Haushalts im Mai.

Hängepartie in Port-au-Prince

Relevanteste der relevanten Gruppen ist das Militär, dessen Marionette der ehemalige Weltbankmitarbeiter Bazin ist. Wie bereits anläßlich der unzähligen Verhandlungsrunden über eine Rückkehr zur Demokratie, die seit dem Staatssteich gegen Aristide vor 18 Monaten stattgefunden haben, hielt sich die Armee auch dieses Mal lange Zeit bedeckt. Als Dante Caputo, der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Mitte April in Port-au-Prince eintraf, schien eine Einigung tatsächlich zum Greifen nah. Der ehemalige Außenminister Argentiniens hatte einen Übergangsplan im Gepäck, der auf Zugeständnissen des exilierten Aristide basierte, die bereits deutlich über seiner Schmerzgrenze lagen. Der charismatische Salesianerpriester hatte sich nicht nur damit einverstanden erklärt, seine Rückkehr um ein halbes Jahr hinauszuzögern. Darüber hinaus hatte er zugesagt, sich für die Aufhebung des Handelsembargos einzusetzen. Auch in seiner Haltung zur juristischen Verfolgung der Putschisten war eine Kehrtwende zu verzeichnen. Erstmals signalisierte Aristide, die geplante Amnestie auch auf die Anführer des Staatsstreichs ausdehnen zu wollen. Nur am Rücktritt des Oberkommandierenden der Streitkräfte, Raoul Cédras, hielt er fest. Doch auch diese Zugeständnisse nutzten nichts, denn nach wie vor widersetzt sich das Militär der Rückkehr des Präsidenten, und Caputo kehrte mit leeren Händen nach Washington zurück.

Aristides trifft Clinton

Die Kompromißbereitschaft Aristides wird besonders deutlich, wenn seinen neuesten Vorschlägen die Bitten gegenübergestellt werden, die er noch im März an US-Präsident Clinton stellte: Die USA sollten ein Ultimatum für die Rückkehr Aristides setzen, für eine Verschärfung der Sanktionen sorgen sowie die US-Navy mit der Überwachung des Embargos betrauen. Obwohl Clinton seine Unterstützung für Aristide unterstrich, schlug er die Bitten des haitianischen Staatsoberhaupts ab. Ein Ultimatum zu setzen, sei Sache der OAS und der UNO, beschied er kühl. Für den Fall der Wiedereinführung der Demokratie stellte Clinton jedoch ein finanzielles Hilfspaket von 1 Milliarde US-Dollar in Aussicht, das über einen Zeitraum von fünf Jahren zur Verfügung stehen soll. Wenig später drückten wichtige Finanzinstitutionen wie der IWF, die Weltbank und die größten Kreditgeberländer Haitis auf einer Konferenz in Washington die Hoffnung aus, die momentan eingefrorenen Kreditprogramme bald wieder anlaufen lassen zu können. Dazu sei allerdings die Beilegung der Krise erforderlich. Im Klartext: Aristide soll als Präsident wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Die Aussicht, an Kredite zu kommen, muß dem haitianischen Finanzminister Weiner Fort in den Ohren geklungen haben. Ende März mußte er öffentlich eingestehen, daß die Regierung praktisch zahlungsunfähig ist und nicht einmal die Gehälter der Staatsbediensteten bezahlen kann. Eine hohe Inflation und der zunehmende Verfall der Landeswährung, des Gourdes, haben Haiti in eine Finanzkrise geführt, die jeder demokratischen Nachfolgeregierung von Anfang an das Leben schwer machen wird.

Aktionsprogramm der “Regierung der nationalen Einheit”

Aristide weiß um die Abhängigkeit seines Landes von den internationalen Kreditinstitutionen. Dieses Bewußtsein durchdringt das Aktionsprogramm für eine neu zu bildende “Regierung der Öffnung und der nationalen Einheit”, das er bereits im Januar der Öffentlichkeit vorstellte. Für die Wirtschaftspolitik enthält das Programm ein Sammelsurium marktkonformer Maßnahmen, die sich an den Anforderungen der KreditgeberInnen orientieren. Von finanzieller Konsolidierung ist ebenso die Rede wie von einer Ankurbelung und Diversifizierung der Exportproduktion. So sehr auch auf die notwendige Verbesserung der Lebenssituation der armen Bevölkerungsschichten und den Ausbau demokratischer Rechte hingewiesen wird – viel wichtiger sind die Passagen, mit denen Aristide klar macht, in Zukunft stärker auf die Belange der Privatwirtschaft achten zu wollen. Dem Engagement in- und ausländischer InvestorInnen wird große Bedeutung beigemessen und versprochen, alle wichtigen Gruppen in die Regierungstätigkeit einzubinden.
Einen umfassenden gesellschaftlichen Pakt zur Gesundung der daniederliegenden Wirtschaft Haitis zu schmieden, liegt auch im Interesse der USA. Nicht zufällig hat Außenminister Warren Christopher in den letzten Wochen immer wieder eine Generalamnestie gefordert, die es ermöglichen würde, zu einem breiten Konsens zu gelangen. Sollte Aristide tatsächlich mit der Unterstützung der USA wieder als Präsident nach Haiti zurückkehren können, bleibt ihm kaum eine andere Wahl, als sich im wirtschaftspolitischen Bereich auf die Vorstellungen Washingtons einzulassen, um so die Befürchtungen der haitianischen Bourgeoisie vor radikalsozialen Maßnahmen zu zerstreuen. Durch die Hintertür hätten die USA dann nachträglich doch noch die haitianischen Präsidentschaftswahlen von 1990 gewonnen. Zwar wäre ihr Kandidat, Marc Bazin, noch immer ohne Amt und Würden, doch das “richtige” Programm würde auch ohne ihn umgesetzt. Was diese Entwicklung für den Rückhalt Aristides in der Bevölkerung bedeuten würde, ist unklar. Fest steht zumindest für den Augenblick, daß er Präsidentschaftsneuwahlen mit einer überwältigenden Mehrheit gewinnen würde, denn die Hoffnung trägt in Haiti seinen Namen.
Wie stark der Wunsch der USA ist, Eigenständigkeit bei der Lösung der Haiti-Krise zu demonstrieren, zeigt sich an der Ernennung des US-Sonderbeauftragten für Haiti, Lawrence Pezzullo, der zu Beginn der sandinistischen Revolution Botschafter in Nicaragua war. Pezzullo reiste unabhängig von der OAS/UN-Delegation, die sich augenblicklich im Land aufhält, nach Haiti – kurz bevor Dante Caputo dort erwartet wurde. Nicht nur in Haiti wurde die Mission des US-Amerikaners als Konkurrenz zu den OAS/UN-Aktivitäten gesehen. Angesichts der Widersprüchlichkeit, die in solchen Parallelverhandlungen liegt, überrascht es nicht, daß die haitianischen MachthaberInnen keine Kompromißbereitschaft zeigen.
In- und außerhalb Haitis werden verstärkt Forderungen laut, die internationale Staatengemeinschaft müsse endlich unmißverständlich und mit einer Stimme sprechen. Diese Forderungen hat der Korrespondent der Berliner tageszeitung wörtlich genommen, denn was ist unmißverständlicher als die Anwendung oder Androhung von Gewalt? Am 2. April plädierte er für “die Entsendung eines Flottenverbands in die Bucht von Port-au-Prince.” Diese Demonstration der Stärke wäre billiger für die USA und weniger schmerzvoll für die haitianische Bevölkerung als eine Aufrechterhaltung des Wirtschaftsembargos. Ob die Kriegsschiffe dann auch jene marines an Bord haben, von denen die US-Regierung offiziellen Quellen zufolge träumt, sie würden bald an alte Besatzertraditionen anknüpfen und in Haiti friedliche Aufbauarbeit leisten?

“Die Gewalt kann das Recht nicht ersetzen”

alai:In Haiti spricht man von Öffnung: eine zivile Beobachterkommission der UNO und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) befindet sich im Land; mit den USA wird verhandelt. Was hältst Du von dieser Entwicklung?
Cénatus: Wir Haitianer sind uns darüber klar geworden, daß wir nur auf uns selbst zählen können. Bezogen auf die UNO/OAS-Beobachtermission gab und gibt es viele Erwartungen. Allerdings ist ihre Aufgabe noch nicht ganz geklärt. Sie ist da, um zu beobachten, nicht um zu helfen. Sie soll Zeugnis ablegen über die Situation im Land und folgt dabei gegensätzlichen Einschätzungen, die die Haltung der Mächte widerspiegeln, die sie ins Leben gerufen haben. Ich will damit nicht sagen, daß ihre Gegenwart schädlich oder unnütz ist.
Anfangs waren wir sehr optimistisch und vertrauensselig, jetzt sind wir eher skeptisch – besonders nach den Vorfällen in der Kathedrale von Port-au-Prince vor den Augen der Mission. (Anmerkung der Redaktion: Cénatus spielt auf die Übergriffe haitianischer Armeeangehöriger während der Trauerfeier für die Opfer der Fährkatastrophe vom Februar an. Bei diesen Zwischenfällen wurde auch der bekannte Bischof Romélus tätlich angegriffen.) Obwohl wir glauben, daß die Mission Einfluß nehmen kann, wird sie uns doch die Aufgaben nicht abnehmen, die wir zu erfüllen haben.

Wie analysierst Du die gegenwärtige Situation? Einige optimistische Beobachter sagen, die Rückkehr zur Demokratie stehe kurz bevor. Gibt es wirklich Anzeichen dafür?
Ich will daran glauben, daß das stimmt, und wir müssen kämpfen, um die Entwicklung zu beschleunigen. Gleichzeitig muß man jedoch davon ausgehen, daß es ernsthafte Hindernisse gibt.
Intern ist es die Oligarchie, die sich einer Rückkehr zur Demokratie widersetzt – die noch immer nicht entwaffnete Armee, für die Demokratie das Ende ihrer Privilegien bedeutet, das Ende der Straffreiheit und die bis zum letzten Augenblick darum kämpfen wird, den Einigungsprozeß zu verlangsamen oder gar abzubrechen.
Das Volk seinerseits hat sich noch nicht von dem Trauma erholt, das es nach dem Staatsstreich erlitten hat. Obwohl es noch nicht in ausreichendem Maß organisiert ist, gewinnt es doch immer mehr Entschlossenheit. Im letzten Monat hat sich vieles auf Provinzebene getan. Im allgemeinen sind es die jungen Menschen, die Studenten, die in vorderster Linie stehen.
Ich zweifele also nicht an der Möglichkeit der Wiederherstellung der Demokratie. Es muß aber immer bedacht werden, daß es die augenblicklich Mächtigen sind, die die Initiative besitzen, über die Bedingungen zu verhandeln, unter denen die Demokratie nach Haiti zurückkehrt – so als wäre der Willen des Volkes nicht ausreichend. Außerdem sollten wir nicht vergessen, mit welcher Laxheit das Embargo durchgeführt wurde, und daß die Putschisten seit weit mehr als einem Jahr an der Macht sind. Während der ganzen Zeit haben wir oft geglaubt, eine Lösung würde sich anbahnen, wurden aber jedesmal enttäuscht. Niemand kann uns zusichern, daß wir in sechs Monaten nicht wieder mit leeren Händen dastehen werden – ebenso wenig weiß niemand, ob Aristide nicht in drei Monaten nach Haiti zurückgekehrt sein wird. Die Rückkehr ist möglich, muß jedoch erkämpft werden.

Präsident Aristide hat jüngst ein Programm zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit verbreitet. Was denkst Du über die darin enthaltenen versöhnlichen Vorschläge?
Wir haben keine Schwierigkeiten mit diesen Vorschlägen, so lange sie sich im Rahmen der Verfassung bewegen und den Willen des Volkes respektieren, das mehrheitlich für Aristide gestimmt hat. Das Programm enthält keine Zugeständnisse an Duvaliers Folterschergen, die macoutes. Ich glaube, daß wir tatsächlich eine Öffnung brauchen und daß wir die gemachten Fehler korrigieren müssen. In einigen Fällen hat sich die Aristide-Regierung nicht ausreichend jenen Sektoren gegenüber geöffnet, die nicht von Anfang an feindselig eingestellt waren. Diese Irrtümer müssen ausgeräumt werden. Völlig ausgeschlossen ist es allerdings, unter dem Vorwand der Öffnung die Putschisten an der Regierung zu beteiligen, deren Ziel ja nur darin besteht, den Demokratisierungsprozeß zu verzögern.
In diesem Sinne muß man taktisches Gespür beweisen. Jetzt ist nicht der Augenblick der Rache, aber genauso wenig dürfen die Forderungen des Volkes nach Gerechtigkeit enttäuscht werden. Das Volk verbindet Gerechtigkeit mit Demokratie, weiß jedoch um die Kompliziertheit der Situation. Auch wenn Haiti sehr arm ist, ist es doch ein Land mit einer politisierten Bevölkerung.

Glaubst Du, daß Aristides Vorschläge darauf hinauslaufen, die Macht mit Bazin zu teilen?
Man darf nicht den Sinn von “Einheit” fehlinterpretieren. Meiner Meinung nach ist es ausgeschlossen, daß das Militär und seine Helfershelfer an der legitimen Regierung beteiligt werden – und zwar nicht nur aus ethischer Sicht, sondern aus Respekt vor der Verfassung und im Namen der Gerechtigkeit. Es ist dringend erforderlich, daß Aristide seine Vorstellungen von einer Regierung der nationalen Einheit näher erläutert. Welche Sektoren, welche politischen Gruppen sollen beteiligt werden? Sollte Aristide tatsächlich die Militärs oder Bazin in seine Regierung aufnehmen müssen, muß davon ausgegangen werden, daß er nur darum nach Haiti zurückgekehrt ist, um die Politik der Putschisten fortzuführen. Meiner Meinung nach würde er dann seine Unterstützung innerhalb der Bevölkerung verlieren.

Wie kann Aristide das Prinzip, nicht in direkte Verhandlungen mit den Putschisten einzutreten, aufgeben, um dann dem Vorschlag der USA zu folgen, sich persönlich um seine Rückkehr zu kümmern?
Im Augenblick kann ich zwar nicht sagen, was alles möglich ist, dafür aber, was unmöglich ist. Unmöglich ist, daß Aristide seine Kompromißbereitschaft so weit gehen läßt, die Putschisten in die Regierung aufzunehmen und damit das Volksvotum vom 16. Dezember 1991 verrät. Ich glaube auch nicht, daß er das tun wird. Also: Öffnung ja! Kompromiß nein! Es ist ganz klar, daß die Rückkehr nur über Verhandlungen zustande kommen kann. Es gibt Kreise, die Aristide beeinflußen wollen, und darum ist es notwendig, daß er die Grenzen seiner Kompromißbereitschaft deutlich macht. Standhaftigkeit und Flexibilität hängen von seinem Respekt vor dem Willen des Volkes ab.

Wie bewertest Du das augenblickliche Kräfteverhältnis?
Das Heer verfügt weiterhin über das Gewaltmonopol und über reichhaltige Mittel. Seit sechs Jahren gibt es jedoch zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit in der Bevölkerung den festen Willen zu Veränderungen. Trotz der physischen Überlegenheit des Militärs besitzt das Volk heute Erfahrung und Entschlossenheit. Außerdem kann nichts über die Isolation der Putschisten hinwegtäuschen. Auf internationaler Ebene gibt es die Bemühungen, die Krise in Haiti zu lösen. Und überall auf der Welt demonstrieren exilierte Haitianer.
Das Kräfteverhältnisse ist niemals stabil, sondern ständigem Wandel unterworfen. Auch wenn wir auf kurze Sicht physisch unterlegen sind, können wir damit fortfahren, uns zu organisieren und für eine wirkliche Demokratie in Haiti zu arbeiten. Die Regierung unter Bazin, abgesehen von ihrer Minderheitenposition, ist eine unrechtmäßige Regierung. Die Kräfte, auf die sie sich stützt, besitzen keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung. Es handelt sich um eine Regierung, die den Willen des Volkes mißachtet. Und darum braucht Aristide auch keine Zugeständnisse zu machen, denn das Volk hat ihn eingesetzt.

Ökotourismus auf Abwegen

Öko-Tourismus heißt die neue Mode im Urlaubs- und Reisegeschäft. Die drei S des klassischen Tourismus – Sonne, See und Sand – sind out. Heute verlangen Touristen der westlichen Welt zunehmend nach alternativem Tourismus, der je nach Wortwahl als angemessen, erträglich oder einfach nur als “Öko” bezeichnet wird. ÖkotouristInnenn sind es leid, unter Aufsicht Kulturerlebnisse zu konsumieren, die abseits von jeglicher Realität inszeniert werden. Sie sind es leid, sich mitschuldig zu fühlen an einem Urlaub, der das natürliche Gleichgewicht zerstört. Sie sind auf der Suche nach weniger frequentierten, abseits gelegenen Zielen. Im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen, für die Umwelt und Kultur immer schon zentrale Begriffe waren, fragen diese BesucherInnen nach Urlaub in einer ursprünglichen Umwelt, in die eine “unversehrte” lokale Kultur eingebunden ist.
Oberflächlich betrachtet könnte Belize eine große Anziehung auf diese neuen Mittelklasse-Touristen ausüben, die so besorgt sind, den Standard-TouristInnen aus dem Weg zu gehen. Die ehemalige britische Kolonie erlangte 1981 ihre Unabhängigkeit und ist gesegnet mit einer üppigen Natur, wie z.B. einem atemberaubenden Felsen und Korallenriff, das zweitgrößte nach dem australischen Great Barrier Reef , oder großen, noch intakten tropischen Regenwäldern oder idyllischen Tropeninseln, die nur aus einer Sandbank bestehen. Belize kann auch stolz auf die beeindruckenden, archäologischen Stätten der Maya-Zivilisation sein – sie sind heute einer der Hauptanziehungspunkte der Ruta May. Dennoch wurde die kleine englischsprachige Nation an der karibischen Küste Zentralamerikas bis vor kurzem selten bereist und sah sich kaum ökologischer Bedrohung ausgesetzt.

Die Regierung entdeckt den Tourismus

Vor dem Wahlsieg der Rechtspartei United Democratic Party (UDP) im Jahr 1983 gab es in Belize kaum Regierungsunterstützung für Tourismus. Die UDP spürte, daß sich die Urlaubswünsche von Touristen aus den Industrienationen veränderten und sich eine neue, “grünere” Art von Tourismus entwickelte. Dies nahm die Regierungspartei zum Anlaß, Tourismus marktwirtschaftlich zu organisieren, um so an dringend benötigte Devisen zu gelangen und um die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. 1989 intensivierte die nach den Wahlen wieder an die Macht gelangte, nationalistisch ausgerichtete People’s United Party (PUP) die Anstrengungen. Sowohl die UDP als auch die PUP unterscheiden sich in ihrer pro-US Haltung und einer Politik der freien Marktwirtschaft kaum voneinander. Obwohl die PUP dem Tourismusgeschäft früher ablehnend gegenüberstand, schwenkte sie flugs auf die neue Modewelle des “anderen” Tourismus um. Die Aussicht auf Profit war der Anlaß, die Förderung von Tourismus als zweitwichtigstes Ziel in den Katalog der Regierungsziele aufzunehmen.
Ein neuer internationaler Flughafen empfängt nun die ankommenden TouristInnen, und eine Reihe von Luxushotels sind erst vor kurzem fertiggestellt worden. Die Regierung hat eine Reihe von Natur-, Meeres- und Archäologieschutzzonen festgesetzt, um sicherzustellen, daß die TouristInnenattraktionen in gutem Zustand bleiben. Sie hat ebenfalls kleine Gemeinden dazu ermutigt das Tourismuspotential abzuschöpfen. Die Strategie der Regierung basiert auf dem Konzept der Verträglichkeit; das heißt, sie ist bestrebt, die wertvolle Flora und Fauna zu erhalten und sich für die von den Öko-TouristInnen so geschätzte Authentizität von Natur und Kultur einzusetzen. Die Baboon Sanctuary Community und die von Frauen betriebene Sandy Beach Women’s Kooperative sind zwei solcher Projekte; ähnliche sprießen in anderen Gebieten aus dem Boden.
Die Anstrengungen beginnen Gewinn abzuwerfen. Die Zahl internationaler TouristInnen ist kontinuierlich von weniger als 100 000 im Jahr 1985 zu einer Viertelmillion im Jahr 1990 gestiegen. Die Erträge aus dem Tourismus sollen nach Schätzungen heute bereits 26% des Bruttosozialproduktes von Belize bilden. Zeichen dafür, daß Belize ganz oben auf der neuen Ökotourismuswelle schwimmt, ist die Wahl Belizes als Tagungsort zweier Konferrenzen über Öko-Tourismus: der “Ersten Karibischen Öko-Tourismus Konferenz” und des “Ersten Weltkongresses für Tourismus und Entwicklung”.

Alter Tourismus in neuen Kleidern

Trotz einiger ermutigender Resultate produziert das Gros des Ökotourismus in Belize dieselben Probleme wie der traditionelle Massentourismus: Devisenschwund, Fremdbesitz und Umweltverschmutzung. Ein Beispiel ist ein vorgesehenes, mehrere Millionen Dollar verschlingendes Projekt mit dem Namen Belize City Tourism District, das zwangsläufig das Kapital ausländischer InvestorInnen und US-dominierter Kreditgeber wie der Weltbank erfordern wird.
Architekten aus New Orleans/USA haben gerade im Auftrag der staatlichen US-AID eine Studie zur Entwicklung dieses promenadenartigen Erholungsparks abgeschlossen. Die PlanerInnen wollen eine exklusive Zone in der Innenstadt von Belize City errichten, mit neuen Hotels, Einkaufsmöglichkeiten, einer Strandpromenade mit Restaurants und Cafés, einem folkloristischen Kunst- und Lebensmittelmarkt und einen Hafen für kleinere Yachten, die in der Karibik kreuzen. Solch ein Projekt wird das Uferareal der Hauptstadt in ein pied-á-terre für Möchtegern-Öko-TouristInnen verwandeln, die sich aller Voraussicht nach dort sicher und geschützt von den innerstädtischen Problemen fühlen würden, die in Reiseführern über Belize bereits legendär geworden sind.
Nicht genug, daß die BelizerInnen nur wenig von diesem Großprojekt profitieren werden, hinzu kam, daß örtliche RepräsentantInnen während der Planungsphase nicht einmal konsultiert wurden. Das Planungsbüro von Belize City kam das erste Mal mit dem Projekt in Berührung als dieses in einer Modellausführung in den Schaufenstern eines Supermarkts ausgestellt wurde. In dieser 60 000 Einwohner Stadt wird der Gürtel immer enger geschnallt und die Armut steigt. Dennoch priesen die US-BeraterInnen das Projektkonzept , weil es dem Stadtrat erlaube, seine Möglichkeiten zu konzentrieren: auf die Instandhaltung des neuzuschaffenden Tourismusdistrikts, einschließlich Straßensäuberung und-ausbesserung. Ausgaben für solche Aufgaben werden jedoch vermutlich in anderen Gemeinden gekürzt werden , um das notwendige Kapital für den Tourismusbereich freizusetzen.

Deckmäntelchen und die Macht des Geldes

Anderswo in Belize verursacht der Reiz des Tourismus-Dollars gleichermaßen erschreckende Folgen. Es stellt sich mehr und mehr die Frage, ob mittlerweile nicht jedes Tourismusprojekt unter dem Deckmäntelchen des Öko-Tourismus daherkommt – in der Hoffnung einen Platz in einer attraktiven, natürlichen Umgebung zu ergattern.
Die Kontroverse um die vorgelagerte Insel Ambergris Caye hat die ernsten Zweifel über das Maß und das Wesen von Tourismus-Entwicklung nicht gerade weniger werden lassen. Propagiert als ein größerer Beitrag zur Reinvestierung in das Volk von Belize – ein Rekurs auf das Wahlmotto von 1989 “BelizerInnen zuerst” – kaufte die Regierung zwei Drittel eines 8000 Hektar großen Geländes auf Ambergris Caye von dem US-Eigentümer wieder zurück. Die meisten erwarteten, daß die neu gegründete staatliche Ambergris Caye Planning Authority (ACPA) ihre Zuständigkeit und Planungskompetenz auf das Pinkerton Gelände (so der Name des zurückgekauften Grundstückteils) würde ausdehnen können. Stattdessen wurde eine neue Entwicklungsgesellschaft aus der Taufe gehoben, die keinerlei Verbindung zur ACPA hatte.
Namens der neuen Gesellschaft, die vom Minister für Tourismus und Entwicklung Glenn Godfrey (der auch Justizminister ist) ernannt wurde und ihm auch untersteht, wurde ein 50 Millionen Dollar schweres Projekt “nachhaltiger Entwicklung” in die Wege geleitet. Obwohl die RepräsentantInnen der Gesellschaft es als ein “integriertes und ökologisch einwandfreies Konzept zur Entwicklung eines Ferienortes” bezeichnen, wird es die üblichen touristischen Anlagen haben: wenigstens ein Hotel internationaler Klasse, zwei Kurhotels, drei bis fünf Luxusferienhütten, zwei Golfplätze, Wohnhäuser und Nobelvillen in der Stadt, 1000 Luxusbungalows, Polofelder und Reitställe.
Die Hälfte des Geländes wurde von den Planungen ausgenommen und -vorerst- unter Naturschutz gestellt. Nur 1000 Hektar des Areals werden auch für die BelizerInnen zugänglich sein. Die Menschen der Gegend sind aufgebracht. Nicht zuletzt, weil 3000 Hektar in den Besitz einer US-Erschließungsfirma übergehen werden. Ganze zwei Tage vor Unterzeichnung des Vertrages präsentierte Godfrey das ausgehandelte Vertragswerk zum ersten Mal der ACPA. Er versicherte, die Verhandlungen – bei denen die ACPA nicht mit am Tisch saß – hätten über zwei Jahre gedauert. “Wenn das vorgestellte Vertragswerk für die Entwicklung der Ambegris Caye so gut ist, warum wird es den Menschen dann nicht bekannt gemacht?”, fragte sich der erzürnte Fidel Ancona, Mitglied der ACPA. “Als die Regierung das Gelände erwarb, erzählten sie uns, ohne mit der Wimper zu zukken, wir bekämen die Kontrolle über unser Land zurück und könnten uns sinnvoll an allem beteiligen. Für mich haben sie dieses Versprechen angesichts der Tatsache, daß 75% an ausländische InvestorInnen und nur 25% an die BelizerInnen gegangen sind, nicht gehalten.”
Obwohl es der ACPA gelang, die Unterzeichnung des Vertrages hinauszuschieben, zeigt der ganze Vorfall doch, daß bei groß angelegten Entwicklungsprojekten die lokale Einflußnahme und Kontrolle sehr gering, wenn nicht sogar völlig unmöglich ist.

Der Norden ist bereits an den Futtertöpfen

Ein Großteil der Tourismusindustrie ist bereits in den Händen der kleinen, aber mächtigen Gruppe von nach Belize Eingewanderten. Bei der Öko-Tourismuskonferenz waren 25% der Delegierten BürgerInnen der USA. Noch bezeichnender ist der Anteil der KongreßteilnehmerInnen aus Belize, die ehemals BürgerInnen Kanadas oder der USA waren: 43%
Diese ImmigrantInnengemeinde hat sich zu einer entschlossenen und einflußreichen Lobby gemausert. Immigrierte BesitzerInnen von Öko-Urlaubsresorts, die im westlichen Cayo-Distrikt an Flüssen gelegen sind, haben sich strikt gegen weitere Tourismusprojekte ausgesprochen. Die von US-AID initiierte Belize Tourism Industry Association, ein Zusammenschluß privater Interessen, erlebte bei der Wahl ihrer FunktionärInnen im Jahr 1992 nach dem Vorschlag einiger Mitglieder, nur BürgerInnen von Belize für diese Ämter zu nominieren schwere Tumulte. Über die Hälfte der Anwesenden wäre von vornherein von den Ämtern ausgeschlossen gewesen.
Einstweilen betont Belize aufs Neue voll Zuversicht seine Bereitschaft zum Öko-Tourismus und sonnt sich in der Zustimmung des internationalen Tourismus, die es dafür erhält.
“Naturschutz und Ökotourismus gedeihen am besten dort, wo die Sonnenstrahlen bis in die kleinsten, selbstbestimmten Verwaltungseinheiten und Gemeinden vordringen” Diese wonnige Beschreibung stammt von Minister Godfrey. Er wiederholte sie in Rio de Jainero bei der UNCED, als er ZuhörerInnen versicherte, daß “Ökotourismus in lokaler Verantwortlichkeit” das Hauptanliegen seiner Regierung bei Vermarktung und Entwicklung sei.
Aber es ist noch lange nicht klar, ob Belize wirklich erfolgreich den “Verlockungen und Verheißungen des Massentourismus ” widerstanden hat, wie es Godfrey immer so gerne betont. Der Traum einer von Belize selbst kontrollierten Tourismusindustrie in Einklang mit Umwelt, Kultur und Tradition schwindet. Im Gegenteil, die Selbstbestimmung Belizes wird im Ausverkauf an den Meistbietenden vergeben. Wie heißt es doch so schön in einer Werbeanzeige des Ambergris Caye Club Carribean: “Besitzen Sie Ihr eigenes, kleines Paradies … Schon ab 9950 Dollar sind Sie dabei … eine profitversprechende Kapitalanlage.”
Im selben Maß wie ausländische Kontrolle an kleinen wie großen Tourismusanlagen steigt, wie immer größere Projekte entstehen, die unweigerlich irreparable Schäden in der Umwelt nach sich ziehen werden, gerät auch das Projekt Tourismus in Belize mehr und mehr außer Kontrolle.
“Belize und die BelizerInnen”, meint der Herausgeber der Wochenzeitung Amandala nach dem Hatchet Cay Debakel, “werden in diesem ganzen Rennen von denen niedergetrampelt, die unsere Gesetze und Traditionen bestenfalls noch als lästig bezeichnen und unsere Souveränität als die ihrige betrachten.”

Verjüngung der Macht

Die Stunde der Pensionierungen

Schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung Ende Februar war der personelle Austausch um einiges überzeugender als die konkurrenzlose Wahl mit vorprogrammierter Komplett-Zustimmung. Nur 18 Prozent der neuen Abgeordneten gehörten bereits der vorigen Asamblea Nacional an. Und das Durchschnittsalter der neuen Nationalversammlung liegt bei gerade 42 Jahren.
Und im Vorfeld der Wahlen hatte auch Castro selbst festgestellt, daß er nicht mehr der jüngste sei. Auch Marathonläufer werden müde, so der Comandante, und er sei in diesem Marathon der kubanischen Revolution schon lange gelaufen. Ein kraftvolles Bild, und die Phrase ging um die Welt. Die erste Tat der neuen Nationalversammlung machte aber die Grenzen der kubanischen Verjüngungskur deutlich: Präsident Fidel Castro und Vize-Präsident Raúl Castro wurden für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Erst unterhalb der Castro-Brüder schlug die Stunde der Pensionierungen: Die drei weiteren Vize-Präsidenten Kubas, die Revolutionsveteranen Osmany Cienfuegos, Carlos Rafael Rodríguez und Pedro Miret, mußten ihre Plätze räumen.
Das Personalkarussel in Havanna war aber noch für eine andere Überraschung gut: Ricardo Alarcón, der erst im vergangenen Juni zum kubanischen Außenminister aufgestiegen war, tauscht diesen Posten ein und wird neuer Vorsitzender der Nationalversammlung. Von der politischen Bühne ab tritt damit der bisherige Vorsitzende und einstige Justizminister, Brigade-General Juan Escalona, der als Wortführer der Anklage im (Schau-)Prozeß gegen Armeegeneral Ochoa vor fast vier Jahren zu unrühmlicher Bedeutung gekommen war. Sein Nachfolger Alarcón gehört zwar nicht zu der “jungen Garde” Havannas, galt aber vielen Beobachtern ob seiner langen diplomatischen Karriere – zuletzt als Kubas Botschafter bei den Vereinten Nationen – und seiner großen Erfahrung speziell in den Beziehungen zwischen Kuba und den USA als eine der zentralen Figuren in Kubas politischer Zukunft. Erst vor einem halben Jahr war er in das Politbüro aufgestiegen.
In der Vergangenheit war der Vorsitz über die machtlose, nur zweimal im Jahr für einige Tage zusammentretende Nationalversammlung kaum mehr als ein ehrenwerter Abschiebeposten (so etwa als 1976 Außenminister Raúl Roa zum Vize-Präsidenten der Asamblea Nacional wegbefördert wurde). Die Umsetzung des gerade im Ausland relativ respektierten Diplomaten Alarcón kann aber auch auf den Versuch hinweisen, die Nationalversammlung aufzuwerten und ihr – wie dies in der offiziellen Wahlkampagne auch immer wieder verkündet worden war – ein Minimum an Eigenständigkeit und politischem Gewicht im kubanischen System zu geben.
Die zweite große Überraschung dann war die Ernennung des 37jährigen Chefs des Kommunistischen Jugendverbands, Roberto Robaina, als Nachfolger Alarcóns im Außenministerium. “Eine kühne Entscheidung”, wie die Parteizeitung Granma ihren LeserInnen erklärte. Schließlich verfüge Robaina, so wurde offen eingeräumt, nur über wenig diplomatische oder außenpolitische Erfahrungen. Und auch “Robertico” Robaina machte nach seiner Ernennung kein Hehl daraus, daß er bislang alles andere als ein Mann der Außenpolitik war. Diese Aufgabe habe ihn völlig unvorbereitet “über Nacht” ereilt, so Robaina. Aber als “Soldat der Revolution” werde er sich der Verantwortung stellen.

Der Angola-Krieg: Feuertaufe für die Kader der jungen Generation

Geboren in dem Jahr, in dem Castros Trupp von Guerrilleros in Kuba landete, verkörpert Robaina die Musterkarriere der Nach-Revolutions-Generation: Vorsitzender des Studentenverbands (FEU), Zweiter Sekretär des Kommunistischen Jugendverbands (UJotaCé), ab 1986 Erster Sekretär, Aufnahme ins Zentralkomitee im gleichen Jahr, seit 1991 jüngstes Mitglied im Politbüro der KP. Unverzichtbar für Robainas rasanten Aufstieg auch der “internationalistische” Einsatz mit den kubanischen Truppen in Angola: Loyalitätsprobe und Feuertaufe für die Kader der jungen Generation, die nicht durch die Revolution selbst “im Krieg gestählt” werden konnten.
In einem Moment, in dem eine Normalisierung der Beziehungen zu den USA für jegliche Zukunftsperspektive Kubas unabdingbar ist, bringt Robainas Ernennung zum Außenminister ihn endgültig in die erste Riege der kubanischen Staatsführung – und an die Seite des 40jährigen Carlos Lage, seinem Vorgänger als Chef der Kommunistischen Jugend, der als Castros Verantwortlicher für die Wirtschaftspolitik einen der derzeit wohl entscheidendsten Posten innehat. Im vergangenen Jahr ist Lage in der politischen Hierarchie Havannas zum “dritten Mann” hinter den Castro-Brüdern aufgestiegen, und die Nationalversammlung wählte ihn nun auch zu einem der drei offiziellen Vize-Präsidenten hinter Fidel und Raúl.
Den massiven Veränderungen in der “materiellen Basis” Kubas seit dem Fall der ost-europäischen Verbündeten folgen so bislang weniger Veränderungen in den Strukturen des politischen Überbaus, als vielmehr in dessen personeller Besetzung. (Militär und Innenministerium blieben von der Verjüngungskur – so weit sichtbar – ausgenommen; hier hatte Armee-Chef Raúl Castro den Prozeß gegen Ochoa zu einer umfassenden Bereinigung seiner Mannen genutzt. Und der damals von ihm als Innenminister eingesetzte Armee-General Abelardo Colomé Ibarra wurde jetzt ebenfalls zu einem der Vizepräsidenten des Landes befördert.)
Die Folge aus diesen Entwicklungen bleibt unklar. Zum einen hat Fidel Castro seine persönliche Machtfülle im vergangenen Jahr noch ausgeweitet, und in vielem scheint die Antwort des kubanischen Revolutionsführers auf den Niedergang des real-existierenden Sozialismus tatsächlich im Rückfall auf die traditionellen Muster lateinamerikanischer Caudillo-Herrschaft zu bestehen.
Andererseits scheint der Aufstieg der jungen Kader, deren Karriere in der Kommunistischen Staatspartei nicht nur Idealismus, sondern auch Opportunismus zur unverzichtbaren Voraussetzung hatte, nur der Vorbote weiterer und tiefergreifender Veränderungen zu sein. Der mexikanische Businessmann Mauricio Fernández Garza, der das mit einem offiziellen Volumen von einer Milliarde Dollar bislang größte Joint-Venture-Unternehmen mit Kuba betreibt und zur Zeit dabei ist, die erste ausländische Bank in Kuba auf den Weg zu bringen, formuliert diese Perspektive in klarer Sprache: Carlos Lage ist für ihn “praktisch eine Art Premierminister” und “Anführer derer, die ich ‘Reformer’ nenne”. Des Großinvestors knappe Einschätzung des derzeitigen Kurses: “Kuba ist in offenem Übergang zum Kapitalismus.”

Ein Tröpfchen auf den glühenden Stein

Die scheinbar gute Nachricht kam Anfang März 1993 aus Bolivien. Den Unterhändlern des Landes ist es gelungen, mittels mehrerer Mechanismen die Schulden gegenüber den ausländischen Privatbanken auf Null zu reduzieren. Im Kern laufen diese Mechanismen darauf hinaus, daß es Bolivien gestattet wird, die Schuldentitel zu einem Preis von 16 Prozent des ursprünglichen Wertes von den Gläubigerbanken zurückzukaufen, was praktisch einem Erlaß von ungefähr fünf Sechsteln der Schulden gleichkommt. Vergleicht man das damit, daß 1953 der unter den Kriegsfolgen leidenden Bundesrepublik nur gut die Hälfte der Schulden erlassen wurden, so scheint das eine generöse Geste der ausländischen Privatbanken zu sein, die der Nachahmung und Ausdehnung wert wäre.
Scheint aber nur. Um die Grenzen und die wirkliche Bedeutung dieses Verhandlungsergebnisses zu ermessen, bedarf es einiger zusätzlicher Informationen:

Nichts mehr zu holen

Erstens machen die Schulden Boliviens gegenüber den ausländischen Privatbanken überhaupt nur einen geringen Teil der Auslandsschuld des Landes aus. Nominell betrugen sie vor einem Jahr etwa 680 Millionen US-Dollar, während sich die Gesamtschuld bis heute auf 3,7 Milliarden US-Dollar beläuft. Die übrigen Schulden bestehen bei internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) sowie bei anderen Staaten. Die Finanzorganisationen sind von ihren Statuten her gezwungen, auf die Durchsetzung von Zahlungsdisziplin – um der “Kreditfähigkeit” der Länder willen – zu drängen und erlassen deshalb grundsätzlich keine Schulden. Und die anderen Staaten kennen immer noch ärmere Länder, denen aus Gründen der “Gerechtigkeit” zuerst die Schulden erlassen werden müßten. Da das aber seine Zeit braucht, wird nie was draus. Kurz: Bolivien behält den größten Teil seiner Schulden.
Zweitens ändert sich nichts Entscheidendes – im Unterschied zu London 1953. In den letzten zehn Jahren hat Bolivien als Ergebnis seiner Auslandsschuld durchschnittlich jedes Jahr 250 Millionen US-Dollar netto an Zinsen und Kapitalerträgen ins Ausland transferiert. Da der Wert der Warenexporte des Landes in dieser Zeit zwischen 500 und 800 Millionen US-Dollar schwankte und für unbedingt erforderliche Einfuhren draufging, waren die Zinsen nur zu bezahlen, indem die Gläubiger die notwendigen Summen erneut zur Verfügung stellten. Mit anderen Worten: Es wurde nur noch die Fiktion aufrechterhalten, daß das Land zahlungsfähig und damit “kreditwürdig” sei. In Wirklichkeit sind die Schulden längst unbezahlbar.
Das ist nun drittens nichts Neues, und deshalb hätte eigentlich schon 1987, als die Verhandlungen zwischen Bolivien und den Privatbanken begonnen, mit der Einsicht gerechnet werden dürfen, daß da nichts mehr zu holen sei. Aber es hat noch ganze sechs Jahre gedauert, bis eine Einigung zustandekam. Insgesamt 131 Banken mußten ihren Segen zu dem Deal geben, wobei peinlich darauf zu achten war, daß keine besser behandelt wurde als die andere. Ein Teil der Schuldentitel wurde in dieser Zeit auch im Rahmen sogenannter “debt for nature swaps” zu niedrigen Kursen von internationalen Organisationen aufgekauft und für Zwecke des Naturschutzes in Bolivien eingesetzt.
Während die Bundesrepublik mit dem Londoner Abkommen von 1953 ihre Kreditfähigkeit wiedergewann und die deutschen Unterhändler mit dem Bankier Hermann Josef Abs an der Spitze darüber besonders stolz waren, ist die Abmachung Boliviens mit den ausländischen Privatbanken geradezu die Besiegelung der totalen Kreditunwürdigkeit des Landes. Schon 1987 erklärte der Botschafter des Landes in den USA: “Die Banken machen das Geschäft mit uns nur, weil wir ihnen zugesagt haben, auf lange, lange Jahre hinaus nicht mehr mit Kreditwünschen an sie heranzutreten.” In der Tat: Ein Land, das nur ein Sechstel seiner Schulden begleichen kann und danach immer noch hohe Schulden hat, ist kein seriöser Partner.
Für die zehn oder elf beteiligten deutschen Banken war der lange Zeitraum der Verhandlungen noch einmal ein besonderer Gewinn, weil sie die Kredite schon vor langer Zeit zu 80 bis 90 Prozent steuersparend abgeschrieben hatten, gleichwohl aber in der ganzen Zeit die Zinsen und jetzt noch einmal 16 Prozent der Gesamtschuld einstreichen konnten.

Das gibts nur einmal, das kommt nicht wieder

Zur Nachahmung taugt das Beispiel nicht, weil die Banken nicht auf Dauer zulassen können, daß die verschuldeten Länder ihre Schuldentitel selbst zu dem Preis zurückkaufen, der auf dem freien Markt dafür gezahlt wird. Denn dann bräuchten die Länder nur keine Zinsen mehr zu zahlen, und schon wären die Schulden nichts mehr wert. Dieser traurige Zustand ist gegenwärtig in Nicaragua, dessen Schuldentitel zu sechs Prozent ihres ursprünglichen Wertes gehandelt werden, beinahe erreicht.
Länder, die auf die zukünftige Zufuhr von privatem Kapital noch Wert legen, müssen deshalb darauf achten, daß ihre Schuldentitel auf dem sogenannten Sekundärmarkt zu einem möglichst hohen Prozentsatz gehandelt werden. So ist denn auch die chilenische Regierung ganz besonders stolz, daß die chilenischen Schuldenpapiere inzwischen zu 90 Prozent gehandelt werden. Kolumbien mit seinen Drogengeldern und Uruguay haben inzwischen über 75 Prozent erreicht, Mexiko, Costa Rica und Venezuela liegen bei über 60 Prozent, und Argentinien nähert sich inzwischen auch den 50 Prozent.
Würden diese Länder ihre Schulden zu diesen Prozentsätzen zurückkaufen wollen, dann wären sie sofort pleite. Sie werden also mit ihren hohen Schulden weiterleben müssen. Sobald sie aber trotz der schweren Zinsenlast wirtschaftliche Erfolge erreichen, verschwindet die Bereitschaft der Gläubigerbanken zu einem Schuldenerlaß völlig.
“Germanwatch” ist zuzustimmen: Ein Schuldenerlaß für die Länder Lateinamerikas und überhaupt der Dritten Welt nach dem Vorbild von London 1953 wäre nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch ein Zeichen ökonomischer Vernunft. Der Deal Boliviens mit den ausländischen Privatbanken aber ist nur ein winziges Tröpfchen auf einen glühenden Stein.

“Wir machen unsere eigene Einigung!”

LN: Ab dem 1.1.1994 werden Argentinien und Brasilien einen gemeinsamen Markt haben, dem 1995 auch Uruguay und Paraguay beitreten werden. Mit welchen Gefühlen stehen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern dem gegenüber und welche Erwartungen verbinden sie damit?
J.K.: Hier in Lateinamerika gibt es einen Traum, den wir von unseren Vorfahren geerbt haben. Das ist die Vision eines vereinigten Lateinamerika, eines großen Vaterlandes. Daher kommt es, daß wir einer Integration, in diesem Fall der Länder des Cono Sur, nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Wir stellen uns jedoch frontal gegen die Integrationspolitik, die von den Regierungen unserer Staaten in den Verhandlungen zum MercoSur betrieben wird. Sie treffen und trafen Entscheidungen, ohne irgendjemanden zu fragen – nicht einmal die Bevölkerung, die sie gewählt hat. Und dazu kommt, daß die Einigung, die sie wollen, eine rein wirtschaftliche ist. Wenn wir sagen, daß wir eine Gemeinschaft wollen, dann meinen wir damit etwas viel umfassenderes, eine Einigung von Volk zu Volk, eine geschwisterliche Einigung, die von Kooperation und gegenseitiger Hilfe geprägt ist. Wir wollen eine Zusammenarbeit zwischen brasilianischen Bäuerinnen und Bauern sowie paraguayischen Bäuerinnen und Bauern, zwischen ArgentinierInnen und UruguayerInnen: eine Integration zwischen ProduzentInnen, wo gemeinsam Verbindungen geknüpft werden, die nicht nur durch die Spielregeln des Marktes bestimmt sind, sondern vor allem durch Solidarität.
Die Frage des MercoSur beschäftigt inzwischen sehr viele Leute hier in Argentinien, nicht nur landwirtschaftliche ProduzentInnen. Auch Organisationen der KleinuntemehmerInnen sind besorgt, weil niemand wirklich die Folgen absehen kann. Um Widerstand zu organisieren, haben wir es aber mit sehr kurzen Zeiträumen zu tun – ein, zwei Jahre. Das ist sehr wenig Zeit angesichts der wenigen Kontakte, die wir bisher hatten.

Wie ist denn die momentane Situation der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Argentinien?
Das ist stark abhängig vom jeweiligen Produkt. Argentinien ist ja sehr groß, so daß jede Region ein bestimmtes Produkt hervorbringt. Beispielsweise finden wir ProduzentInnen von Tee und Yerba Mate in Misiones, Baumwolle im Chaco. Im Zentrum gibt es Weizenanbau, Mais und Soja, während aus dem Süden vor allem Wolle, Felle, Früchte, Zwiebeln und Kartoffeln kommen. Einige Produkte erzielen einen guten Preis auf dem internationalen Markt, beispielsweise Früchte, und diejenigen, die sie anbauen, befinden sich in einer verhältnismäßig guten Situation.
Aber fast alle KleinproduzentInnen haben große Schwierigkeiten mit der Kommerzialisierung ihrer Produkte. Es gibt ZwischenhändlerInnen, die wiederum zu größeren Unternehmensgruppen gehören, die man als die eigentlichen BesitzerInnen der Produktion betrachten kann. Hier gibt es fünf Gruppen, die die Preise für Baumwolle bestimmen und die Produktion unter sich aufteilen. Die ganze Produktion an Lebensmitteln wird hier von drei Gruppen bestimmt, zum Beispiel die Getreideproduktion von “Molinos del Rio de La Plata”, die zum Multi Bunge y Born gehören und in Argentinien genauso wie in Brasilien die Preise für Mais und Sonnenblume bestimmen. Ähnlich sieht es im Fall von Geflügel aus, wo die internationale Gruppe Targil wegen ihrer Monopolstellung die Preise für die gesamte Produktion bestimmt. Die größte Schwierigkeit für KleinproduzentInnen besteht darin, daß der gesamte Zwischenhandel von diesen drei oder vier Gruppen bestimmt wird. Genauso bestimmen die auch die Preise die KonsumentInnen und stecken sich die Gewinnspanne in die Tasche.

Gibt es denn Möglichkeiten, dagegen Widerstand zu leisten?
Es gibt einige Bestrebungen, sich von, dieser Abhängigkeit zu lösen, was aber sehr schwierig ist. Zum Beispiel haben WollproduzentInnen im Süden acht Kooperativen gegründet, um die Vermarktung zu organisieren. Gleichzeitig organisieren die Kooperativen auch den Großeinkauf von Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Milch, Yerba für ihre Mitglieder.
Kooperativen haben hier in Argentinien eine lange Geschichte; es hat lange Zeit funktioniert, daß ProduzentInnen ihre Waren mittels eines Systems von Kooperativen vermarkteten. Das erfordert allerdings einige Voraussetzungen, wie beispielsweise Ehrlichkeit, die heute aber oft nicht gegeben sind: Vor kurzem ist eine der ältesten Kooperativen Argentiniens eingegangen, die Kooperative “El hogar obrero”, die seit 1905 bestand. Diese Kooperative bestand aus mehreren Teilen; sie war Konsumkooperative, auch Wohnungsbaukooperative und besaß ungefähr 100 Fabriken und circa 600 Verkaufsstellen in jedem größeren Dorf in Argentinien. Es gab auch eine Zeit des argentinischen Peronismus, wo vom Staat Initiativen ausgingen, Gruppen von KleinproduzentInnen gegenüber den Großen zu schützen, aber heute geht in dieser Richtung nichts mehr vom Staat aus. Es wird immer nur vom sogenannten freien Markt gesprochen, der in Wirklichkeit von Oligopolen oder Monopolen beherrscht wird.
Eine andere Aktion des Widerstands haben wir in Paraguay beobachtet, wo eine Kampagne gegen Multis organisiert wurde. Statt Baumwolle zu säen, soll die eigene Produktion diversifiziert werden, um der eigenen Familie eine einigermaßen gute Ernährungsgrundlage zu schaffen. Nur die Überschüsse sollen auf dem Markt verkauft werden. Die “Baumwollbarone” reagierten, indem sie den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Samen aus den USA versprachen, die 2000 Kilogramm pro Hektar an Ertrag liefern (normaler Samen liefert ungefähr 1200 Kilogramm je Hektar). Dieser Samen sollte verschenkt werden und die notwendige Chemie gleich mit dazu. Da Samen für die KleinproduzentInnen sehr teuer ist, wurde also auf diese Weise versucht, die Abhängigkeit der Kleinen zu erhalten.

Inwieweit könnt Ihr denn einschätzen, welche Auswirkungen die wirtschaftliche Integration des Cono Sur haben wird?
Zollschranken und staatliche Kredite stellen bisher einen Schutz für einheimische, vor allem bäuerliche ProduzentInnen dar. In den nun abgeschlossenen Verträgen sind die Regierungen übereingekommen, sich so weit wie irgend möglich aus dem Wirtschaftsgeschehen zurückzuziehen und alles den von ihnen so gepriesenen Marktkräften zu überlassen. Auf einem solchen Markt werden nur die Großen bestehen können, vor allem die transnationalen Konzerne. Außerdem wurden die Verträge sehr eilig ausgearbeitet. Vergleiche das doch mit den Verhandlungen zum EG-Binnenmarkt, über den seit fast 30 Jahren verhandelt wird, und jetzt ist immer noch nicht abzusehen, was passieren wird! Wenn wir das beobachten, dann drängt sich doch der Verdacht auf, daß diese Verhandlungen ganz entscheidend von den transnationalen Gruppen beeinflußt wurden, denn die werden sicher Vorteile haben und wollen die nationalen Ökonomien noch ausschließlicher als heute unter sich aufteilen.
Es ist schon abzusehen, wer den Nutzen aus diesem gemeinsamen Markt ziehen wird. Beispielsweise hat Argentinien gute Chancen, Weizen nach Brasilien zu exportieren, oder nach Paraguay oder auch Uruguay – Fleisch ebenso und auch Milchprodukte. Die kleineren Länder wie Paraguay und Uruguay werden dagegen keine Chance haben. Die Zuckerindustrie in Paraguay etwa wird sicher nicht gegenüber dem argentinischen Zucker bestehen können. Die Kleineren werden ruiniert oder zumindest erheblich schlechter dastehen. Zum Beispiel ist die Sojaproduktion in Brasilien um die Hälfte billiger als in Argentinien. Wer also wird in Argentinien noch Soja produzieren?

Warum ist Brasilien so viel billiger?
Das hat verschiedene Gründe. Vor allem sind die Arbeitskräfte viel billiger. Aber auch insgesamt ist das Land industrialisierter als Argentinien. Niemand spricht über die sozialen Auswirkungen – darüber, was es bedeutet, wenn ganze Industriezweige eingehen werden. Eine Angleichung der Produktionskosten im Sinne der Industrie wird sich an den niedrigsten Standards orientieren. Das bedeutet noch niedrigere Löhne, Abfindungszahlungen und schlechtere Arbeitsbedingungen für die ArbeiterInnen. Außerdem besteht natürlich ein Interesse die Macht der Gewerkschaften so weit wie nur möglich einzuschränken. Über diese Faktoren gibt es keine Verhandlungen, da wird nichts vertraglich geregelt. Deswegen ist es wichtig, daß wir uns ein Bild verschaffen, nicht nur über unser eigenes Land, und daß wir mit den ArbeiterInnen, den Gewerkschaften zusammen arbeiten.

Im August 1992 gab es ein Treffen von Kleinbauern- und KleinbäuerInnenorganisationen des Cono Sur in Asunción, Paraguay, das unter dem Motto “Wir machen unsere eigene Einigung!” stand. Wie kam es zu diesem Treffen?
Im Rahmen des Treffens der 500-Jahre-Kampagne 1991 in Guatemala trafen sich Bäuerinnen- und Bauernorganisationen aus Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien zum ersten Mal. Dort entstand die Idee zu einem Kongreß in Asunción, Paraguay zum Thema “MercoSur”. Es gab dann in Argentinien einige Vorbereitungstreffen, die hier in Buenos Aires stattfanden und schließlich fuhren wir zu dem Kongreß nach Paraguay.

Wer waren denn die teilnehmenden Organisationen?
Aus Brasilien kamen die Landlosenbewegung “Sem Terra” und VertreterInnen der Abteilung Landwirtschaft des Gewerkschaftsverbandes CUT. Aus Paraguay nahmen die Vereinigung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (Federación Campesina de Paraguay) und auch die Bewegung der LandbesetzerInnen teil. Auch aus Chile waren VertreterInnen gekommen, obwohl Chile ja gar nicht am MercoSur beteiligt ist. Es kamen Leute von der bäuerlichen Organisation “El Surco” und von der Mapuche-Organisation AD MAPU. Aus Argentinien schließ- ‘lich nahmen aus dem Süden der CAI (Consejo Asesor Indígena), aus dem Nordosten VertreterInnen des MAM (Movimiento Agrario de Misiones, Landbewegung Misiones) und aus dem Zentrum, aus der Pampa, nahm MARP (Movimiento Agrario de la Region Pampeana) teil.
Ein Ergebnis dieses Treffens war der Beschluß der Organisationen, sich und ihre Arbeit regional zu koordinieren. Dazu wurde eine Organisation mit dem Namen Asociación Regional de los Movimientos Campesinos gegründet.

Worin soll die Arbeit dieser Organisation bestehen? Glaubt Ihr, an der bestehenden Konzeption des gemeinsamen Marktes noch etwas ändern zu können? Bisher wurden verschiedene Arbeitsgruppen gegründet, zum Beispiel eine, in der Wissenschaftlerinnen aus den verschiedenen Ländern sich austauschen und sich gemeinsam eine Vorstellung davon erarbeiten, was der MercoSur für uns bedeuten wird. Außerdem wurde eine Menschenrechtskommission ins Leben gerufen, weil es eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Verfolgung gegenüber KleinbäuerInnen und Bauern gibt – vor allem gegen über den LandbesetzerInnen in Brasilien und Paraguay. Außerdem gibt es eine Kommission für Kommunikation und Erziehung, die eine gemeinsame Zeitschrift herausgeben wird. Auf diese Weise wollen wir uns so gut wir können den Vereinigungsplänen der Regierungen entgegenstellen.

Auf welchen Weg wollt Ihr das erreichen, wie stark seid Ihr in eurem Widerstand?
Eine Schwierigkeit ist, daß es hier in Argentinien im Gegensatz zu Brasilien keine nationale Organisation der KleinbäuerInnen und Kleinbauern gibt. Es gibt viele unterschiedliche Grüppchen, Gruppen und Organisationen, aber alle haben eine sehr geringe “Reichweite”, sie umfassen im Höchstfall eine oder zwei Provinzen. Wir haben uns mit VertreterInnen des CAI aus dem Süden, des MAM und des MARP hier in Buenos Aires getroffen und darüber eine Menge diskutiert. Dann haben wir einen Arbeitsplan entworfen, mit dem es möglich sein könnte, daß sich drei regionale Organisationen (Norden, Süden, Zentrum) aus den kleinen
Organisationen bilden. Das bedeutet für die drei Organisationen Arbeit für das ganze Jahr, um all diese Gruppen zu versammeln. Es sollen drei regionale Treffen stattfinden, bevor dann ein nationales Treffen vorbereitet werden kann. Nur auf diese Weise können wir eine starke Opposition gegen die Regierung bilden und selbst mehr Klarheit erlangen über die zu erwartenden Auswirkungen der Integration.
In einer ähnlichen Situation der Uneinigkeit befinden sich auch die meisten Indigena-Organisationen und Comunidades. Für unsere gemeinsame Opposition gegen den MercoSur wäre es gut, wenn auch sie sich zusammenschließen würden. Es gibt bisher einige größere Organisationen, wie die Asociación de Pueblos Guaraníes (Zusammenschluß der Guaraní in Misiones) oder den CAI im Süden, in dem sich mehrere Comunidades Mapuche zusammengeschlossen haben. Wenn sich landwirtschaftliche ProduzentInnen und Indígenas auf nationaler Ebene zusammenschließen würden, dann gäbe uns das ein viel stärkeres Gewicht in der Diskussion um die Integration.
Nur wenn sich auf regionaler Ebene und in allen betroffenen Ländern die Organisationen zusammenschließen, haben wir die Möglichkeit, unseren Forderungen gegenüber den Regierungen Ausdruck zu verleihen. Nur wenn wir Unterstützung von vielen haben, wenn es Unterschriftensammlungen gibt oder Demonstrationen oder Straßenblockaden, Sitzstreiks, können wir die Regierenden dazu bringen, ihre Positionen zu überdenken.
Auch wenn wir nicht viel Zeit haben, können wir bei guter Arbeit in zwei Jahren so stark sein, daß wir wirkungsvoll Widerstand leisten können.

Da bist Du ja ganz schön optimistisch! Arbeitet Ihr denn schon mit anderen Gruppen oder Organisationen zusammen?
Die Klein- und mittelständischen UnternehmerInnen haben eine Organisation, APYME (Asociación de la pequeña y mediana empresa), in der sich genau diejenigen zusammengeschlossen haben, die die größten Befürchtungen vor dem MercoSur haben. Außerdem haben wir Kontakte zu einigen Gewerkschaften. Es ist uns sehr wichtig, die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen, damit die Integration, die wir wollen, die zwischen Bäuerinnen und Bauern, aber auch zwischen allen anderen, den ArbeiterInnen, den StudentInnen stattfindet.

Kasten:

Gemeinsamer Markt im Cono Sur – MercoSur

Im “Vertrag von Asunción” vom März 1991 verständigten sich die vier Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay auf die Schaffung eines “Gemeinsamen Marktes im Cono Sur”. Dieser Prozeß soll bis zum 31.12.1994 abgeschlossen sein. Im Vertrag werden vier Ziele festgelegt:
1. Freier Austausch von Waren, Kapital, Technologie und Arbeitskräften
2. Die Festlegung einheitlicher Zollschranken an den Grenzen des gemeinsamen Marktes
3. Abstimmung der makroökonomischen Politik
4. Abstimmung der Außenpolitik, vor allem bezüglich der Handlungsweise innerhalb internationaler Organe, wie GATT oder ALADI (Asociación Latinoamericana de Integración).
Die einzigen erkennbaren Fortschritte, die bisher erzielt wurden, bezogen sich auf den Abbau der Zollschranken innerhalb des MercoSur. Zwischen Argentinien und Brasilien sollen diese bis zum 1.1.1994, im Handel mit den beiden anderen Staaten bis zum 1.1.1995 vollständig abgebaut sein. Unter den Bedingungen des MercoSur soll auf brasilianische Produkte eine Importsteuer von 14 Prozent erhoben werden. Allerdings hat Argentinien unter Wirtschaftsminister Cavallo schon jetzt nur noch Importsteuern von durchschnittlich 9 Prozent eingeführt, so daß brasilianische Waren in Argentinien starker internationaler Konkurrenz ausgesetzt sind.
Aufgrund der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der vier Staaten erscheint es außerordentlich rätselhaft, wie eine Abstimmung der Wirtschafts- und Außenpolitik erreicht werden soll.
In Argentinien und Brasilien konzentrieren sich 92 Prozent der gesamten Außenhandelsaktivitäten der vier Länder. Gleichzeitig sind aber die beiden kleineren Staaten weitaus abhängiger vom Handel innerhalb der Region. Der Handel innerhalb des MercoSur hat in Uruguay einen Anteil von 33 Prozent am gesamten nationalen Außenhandel, für Brasilien hingegen sind es nur 4 Prozent. Währenddessen wickelt Brasilien drei Viertel seines Außenhandels mit den “entwickelten” Ländern ab.
Während der achtziger Jahre führten Argentinien und Brasilien Verhandlungen, die zu einer Vereinfachung des Handels in bestimmten Industriezweigen führen sollten. Damals war von einem gemeinsamen Markt noch nicht die Rede, aber im Bereich der Maschinenindustrie wurden, vor allem für Argentinien, bedeutende Handelserleichterungen vereinbart.
Im Zuge der “Initiative für Amerika”, die US-Präsident Bush im Juni 1990 propagierte und mit der eine “Freihandelszone von Alaska bis nach Feuerland angestrebt wird, wurde dann von Vereinbarungen über bestimmte Wirtschaftszweige Abstand genommen. Neues Ziel war nun die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, der auch Uruguay und Paraguay einschließen sollte. Wofür die EG Jahrzehnte brauchte, das wollten die vier Regierungschefs in ein paar kurzen Jahren abhandeln. DiplomatInnen geben inzwischen ZU, dass diese Ansprüche vielleicht doch ein wenig zu hoch gegriffen sind.
Dafür wird jetzt Chile als möglicher zusätzlicher Partner umworben. Worin Vorteile des MercoSur für Chile liegen sollten, ist unklar, zeigt sich doch das Lieblingskind der WirtschaftswissenschaftlerInnen viel eher an einem bilateralen Abkommen mit den USA interessiert.
Um deutlich zu machen, daß die Integrationsbemühungen am lateinamerikanischen Südkegel nicht gegen die USA gerichtet sind, unterzeichneten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay 1991 ein “Rahmenabkommen über Handel und Investitionen” (auch “4+1-Abkommen”) mit den USA.
Nachdem sie die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Markt geschaffen hatten, ziehen sich die Regierungen immer weiter zurück, um die konkrete Ausgestaltung des MercoSur den privaten Unternehmen zu überlassen. Die transnationalen Unternehmen haben schon jetzt mit massiven Firmenaufkäufen, Kooperationsverträgen und Absprachen reagiert. Unternehmen mit Produktionsstätten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern sind zur Strategie der Konzentration von Produktionsstätten übergegangen, was natürlich mit Entlassungen verbunden ist. Von staatlicher Seite aber gibt es keine Anstrengungen, die sozialen Folgen des Liberalisierungs- und Umstrukturierungsprozesses abzufangen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht oder Sozialsystem ist erst gar nicht die Rede.

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