Entwicklungsprobleme Costa Ricas

Der Beginn der 80er Jahre war in Costa Rica geprägt von einem dramatischen wirtschaft­lichen Verfall, der den bis dahin verfolgten Entwicklungsweg des zen­tralamerikanischen “Musterländle” grundsätzlich infrage stellte. Seit 1982 wurde unter den (sozialdemokratischen) PLN-Regierungen Monge und Arias ein ge­zieltes Anpassungsprogramm in Gang gesetzt. Die 70er Jahre wurden kurzer­hand zur “verlorenen Dekade”; statt importsubstituierender Industrialisierung und Zentralamerikanischem Markt wurde nun mit Macht ein “neues Entwick­lungsmodell” auf Basis von “nicht-traditionellen Exporten” proklamiert: Damit werde Costa Rica das erste Land Lateinamerikas sein, das einen Ausweg aus der Krise findet, formuliert programma­tisch und vollmundig der “Nationale Entwick­lungsplan” 1986-90. Ein Sammelband, der die “Entwicklungsprobleme Costa Ricas” zum Titel hat, ist somit zu einem Gutteil die Auseinan­dersetzung mit den Umstrukturierungen der letzten 10 Jahre und mit dem verkündeten neuen Entwicklungsparadigma.
Nun ist die Forcierung der “non-traditional exports” ja eine von IWF und Welt­bank fast allen Dritte-Welt-Ländern “empfohlene” Stra­tegie. In Costa Rica jedoch ist die “Strukturanpassung” nicht nur wirtschaftlich effektiv umgesetzt worden, sie war auch wie in kaum einem anderen Land “sozial verträg­lich”; die Vorzeige­demokratie des Kontinents wurde auch zum Musterland für die Möglichkeit ei­nes “adjustment with a human face”. Der “relative Erfolg” der Regierungen in San José, so allerdings die These des Beitrags von Edgar Fürst, beruht insbesondere darauf, bei ihrer tatsächlichen Politik in beträcht­lichem Maße von den neo-libe­ralen Vorgaben der Weltbank-Orthodoxie gerade abgewichen zu sein. Zwei Bei­spiele: Nicht die Freigabe des Wechselkurses, sondern die Regulierung des loka­len Devisenmarktes und ein von der Zentralbank reguliertes System von kontinu­ierlichen Mini-Abwertungen halten die Infla­tion auf niedrigem Niveau; und nicht durch Massenentlassungen von Staatsangestellten und radikale Kür­zungen der Sozialleistungen, sondern vor allem durch vermehrte staatliche Ein­nahmen konnte der defizitäre Haushalt saniert werden.
Aber auch eine der entscheidenden Fußangeln der costaricanischen “Erfolgsstory” benennt Fürst: Den Spielraum für solche “heterodoxen Abwei­chungen” verdankte Costa Rica nicht zuletzt den geopolitischen Interessen der Reagan-Regierung, die das Gastland der Contra-Südfront mit einem massiven Finanz­zustrom belohnte. Allein die von der Agency for International Develop­ment (AID) ins Land gepumpten Dollars finanzierten dem “Frontstaat” Costa Rica in den Jahren 1982 bis ’85 durchschnittlich über 50% des Leistungsbilanzde­fizits…
Auch wenn dramatische soziale Explosionen ausblieben, hat auch in Costa Rica die Umset­zung der “Anpassungs”politik politische Konflikte mit sich gebracht. Mit der dabei im Zentrum stehenden Auseinandersetzung um die Agrarpolitik befaßt sich der Beitrag von Jürgen Weller. Insbesondere der Abbau von Garan­tiepreisen und Subventionen für die landwirtschaftlichen Grundprodukte Mais, Reis und schwarze Bohnen stieß auf teils heftigen Widerstand der Campesino-Organisationen und der Landwirtschaftskammern. Auf Regierungs­ebene spiegelte sich dieser Konflikt in der Auseinandersetzung zwischen den soge­nannten “Gradualisten”, die für eine schrittweise und behutsame Veränderung plädierten, und den “neoliberalen” Verfechtern eines “harten Kurses”, wie Weller anschaulich nachzeichnet. Die grundsätzliche Ausrichtung der “Strukturanpassung” stellte dabei jedoch niemand infrage; und mittlerweile set­zen auch fast alle noch aktiven Campesino-Organisatio­nen auf eine “Doppelstrategie”, neben den Forderungen an die Landwirtschaftspolitik auch den Aufbau von “produktiven Projekten” für ihre Mitglieder zu betreiben, nicht sel­ten im Bereich der nicht-traditionellen Exporte und mit staatlicher Unterstüt­zung.
Direkt mit der entwicklungstheoretischen Debatte um ein “neues Modell” befaßt sich der Aufsatz von Wolfgang Hein. Als Ausgangspunkt übernimmt er das Konzept der “autozentrierten Entwicklung trotz Weltmarktintegration” wie es von Menzel und Senghaas an den Beispielen Taiwan und Südkorea, aber auch der histori­schen Entwicklung kleiner europäischer Staa­ten oder der Siedlungs­kolonien Australien und Kanada formuliert worden ist. Zum einen entspricht die für Lateinamerika außergewöhn­liche sozio-ökonomische Struktur Costa Ricas – eine relativ (!) egalitäre Landverteilung, hohes Bildungsniveau, Sozialsystem etc – in vielem den von Menzel und Senghaas genannten Voraussetzungen; entschei­dend, so Hein, sind aber auch die wirtschaftspolitischen Maßnah­men seit Beginn der 80er Jahre, die eine erfolgreiche Dynamisierung des landwirt­schaftlich-agro­industriellen Bereichs bewirkt haben. Wenn sich jedoch in Zukunft die Poli­tik auf eine reine Exportförderung nicht-traditioneller Agrarexporte beschränkt, repro­duziert dies im Extremfall nur das verhängnisvolle Modell der Bananenenklaven. Stattdessen fordert der Autor eine rasche Umorientierung der Wirtschaftspolitik: Das Entstehen interner linkagesFehler: Referenz nicht gefundeneinbauern in die Exportproduktion oder auch der nationalen (agrarbezogenen) Technologie-Ent­wicklung, für die es einige vielversprechende Ansätze gibt. Erfolgt diese politi­sche Weichenstellung nicht, so das Fazit von Hein, wird das – vorhandene – Po­tential für einen “autozentrierten agroindustriellen Entwick­lungsprozeß” ver­spielt.
Die Beiträge des Bandes fügen sich gut ineinander. Während Wolfgang Hein, um über­haupt wirtschaftliche Perspektiven formulie­ren zu können, die Frage der Auslands­verschuldung praktisch ausklammern muß (“Costa Rica kann seine Schulden so oder so nicht bezahlen”), ist dies das Thema des Bei­trags von Mecht­hild Minkner – die ihre LeserInnen jedoch mit dem mehr als mageren Verweis auf den Brady-Plan als “eine Chance, Wachstum und Strukturanpassung zu verbin­den” entläßt.
Überzeugender dagegen Elke Demtschüks Plädoyer für eine Reaktivierung der regiona­len Integrationsbestrebungen. Denn trotz ihrer bisherigen Dynamik ist die gegenwär­tige, weltmarktfixierte Entwicklungsstrategie nicht zuletzt deshalb überaus problematisch, weil von IWF und Weltbank ganzen Ländergrup­pen die gleiche Strategie und die Forcierung der gleichen Exportprodukte vorgeschlagen werden – mit dem vorhersehbaren Verdrängungs­wettbewerb und Preisverfall. Statt einer totalen Weltmarktorientierung könnte hier die Wiederbelebung des Zentralamerikanischen Markts eine “gemischte Strategie” einer “selektiven Ein­bindung in den Weltmarkt mit einer in und durch die Region gestärkten Aus­gangspostition” ermöglichen. Die nobelpreis­gewürdigte Friedensinitiative von Oscar Arias käme so auch zu ökonomischen Ehren. (Und mit der Wahlniederlage der Sandinisten im Februar mag auch der Widerstand der USA gegen derar­tige Pläne geringer sein, als es die Autorin noch annimmt.)
Wie sehr Costa Rica in den vergangenen zehn Jahren von den großräumigen geopolitischen Interessen der USA durchdrungen wurde, legt in beeindrucken­der Weise der Artikel von Gerhard Sandner dar. Er stellt unter anderem das spektakuläre Beispiel des großangelegten (und natürlich mit Geldern der AID finan­zierten) “Integralen Entwicklungsprojekt der Zona Norte” (PIDZN) von 1983 dar, bei dem eben nicht “Entwicklung”, sondern das “geopolitische Erfor­dernis der Steigerung von Bevölkerungsdichte im Grenzgebiet zu Nicaragua” im Vordergrund stand (von der Ver­besserung der Versorgungswege für die Contra ganz abgesehen).
Die Grenzen der Autonomie der jüngst so hoch auf das internationale Parkett ge­stiegenen costaricanischen Außenpolitik erörtert Wolf­gang Lutterbach, der wäh­rend der Monge-Regie­rung Vertreter der Ebert-Stiftung in San José war. Interna­tional kaum bekannt hingegen ist die Asyl- und Flüchtlingspolitik Costa Ricas, die Klaus Barthel analysiert. Die traditio­nelle “Open-Door-Policy” für Exilianten wurde 1982 verschärft, nachdem eben nicht mehr nur verfolgte Intellektuelle aus den Ländern Südamerikas Asyl begehrten, sondern die Kämpfe in Nicaragua und EL Salvador einen massiven Zustrom von zumeist armen und unge­bildeten Flüchtlingen ins Land brachten, die als (auch) ökonomische Bedrohung gesehen wurden.
Der von zwei GeographInnen herausgegebene Band – Produkt einer an der Tech­nischen Universität Berlin im vergangenen Januar organisierten Tagung – ver­sammelt auch eine Reihe von Beiträgen aus natur- und ingenieurswissenschaftli­chen Disziplinen. So werden Probleme des Straßenbaus oder die Frage einer zu­nehmenden Gefährdung Zentral­amerikas durch Hurrikans diskutiert. Zum Teil sind diese Artikel jedoch mehr Beleg für die Schwierigkeit der so oft im Munde (und beim vorliegenden Buch auf der Umschlagrückseite) geführten Interdiszi­plinarität, als daß sie einen fruchtbaren Dialog zwischen den Diszi­plinen dar­stellen. Der Beitrag “Starkregenereignisse, Intensitäten und Frequenzen” ist für Nicht-Fachleute praktisch unlesbar.
Sehr gut gelungen hingegen ist Heinz Schlü­ters kritischer Blick auf die rechtli­chen Aspekte der dramatischen Urwaldzerstörung und auf die Anstrengungen und Möglichkeiten, diese aufzuhalten. Auch das neue Waldgesetz mit seinen fortschrittlichen Elementen bleibt solange unzureichend, wie die extenisve Wei­dewirtschaft für den Reindfleischexport als Devisenbringer weiter forciert wird. Die Froderung nach effektivem Umweltschutz – was in Costa Rica ja in erster Li­nie Um-Wald-Schutz bedeutet! – steht so im wahrsten Sinne des Wortes einem “Entwicklungsproblem” gegenüber: Einem durch die bisherige “Entwicklung” er­zeugten Problem.

Anneliese Bergemann / Ludwig Ellenberg: Entwicklungsprobleme Costa Ricas. ASA-Studien 18, Verlag breitenbach Publishers, Saarbrücken / Fort Lauderdale 1990; 338 S.

Der Krieg am Golf und die Anti­kriegsbewegung

Seit dem 16. Januar ist Krieg. Und schon jetzt ist er Routine. Das Hören von Mili­tärkommuniques im Frühstücksrundfunk ist zur täglichen Gewohnheit gewor­den. Dies liegt in erster Linie an der Nicht-Berichterstattung, die uns hier erreicht. Über die Zensur und die technokratische Darstellung der Bombardements durch die Massenmedien bis zur Manipulation von Informationen, insbesondere des US-amerikanischen Fernsehens, sind die wichtigsten Dinge in der Beilage zum Golf­krieg in dieser Aussage gesagt.
Seit Beginn des Krieges hat es in Deutschland vielfältigen Protest gegeben. Sicher, die Friedensbewegung gibt es in dem Sinne nicht. Sie ist politisch hete­rogen, und es finden sich sowohl antiimperialistische Positionen wie christlich motivierte Friedensgruppen. Auch in der Redaktion dieser Zeitschrift gehen die Meinungen in vielen Fragen auseinander. Aber die Bewegung, die da massenhaft mobilisiert hat und zu der auch wir uns zählen, ist sich in einem einig: Sie kämpft gegen diesen Krieg. Sie ist eine “Antikriegsbewegung”. “Kampf dem Krieg” ist dabei weit mehr als eine moralische Forderung, die einer berechtigten Betroffen­heit, Ohnmacht und Ängsten entspringt. Sie wendet sich gegen die, die diesen Krieg möglich gemacht haben und an ihm verdienen, sie wendet sich gegen undemokratische gesellschaftliche Strukturen, die sich durch diesen Krieg gerade wieder verfestigen. Damit wird sie zu einer eminent politischen Forde­rung.
Die Kritik richtet sich gegen das Regime des Irak, das aus ökonomischen und hegemonialen Interessen Kuwait überfallen hat. Sie richtet sich gegen die USA, denen es von vorneherein nicht um die Wiederherstellung des Völkerrechts son­dern um ökonomische Interessen und die Zerstörung einer hegemonialen Macht in der Golfregion ging. Durch die ständig stattfindenden Bombardements und die damit bewußte Inkaufnahme der Vernichtung eines ganzen Volkes wollen die USA ihre Weltmachtstellung in der Golfregion erneut unter Beweis stellen.
Die Alliierten haben sich durch die von den USA durch massive Truppenentsen­dungen geschaffenen Fakten in der UNO unter Druck setzen lassen und aus eigenen ökonomischen und politischen Interessen das Spiel mitgespielt. Jahr­zehntelang haben sie selbst in dieser und anderen Regionen der Dritten Welt Völkerrechtsverletzungen begangen oder geduldet, Invasionen durch die USA hingenommen oder Völkermord schlichtweg übersehen.
Westliche Unternehmen, insbesondere deutsche Firmen, machen diesen Krieg zu einem großen Geschäft. Sie verdienten jahrelang am Waffen- und Giftgasexport in den Irak, sie verdienen gerade jetzt durch den Krieg, und sie wollen ein drittes Mal verdienen, wenn in der zerstörten Region der Wiederaufbau ansteht.
Die Position der deutschen Regierung und ebenso der SPD-Opposition ist schlicht heuchlerisch. Jahrelang hatte sie diese Entwicklung mitgetragen, um sich nun, da auch Israel bedroht ist, als Retter in der Not mit historischem Gewissen zu erweisen.
Seit dem 19. Januar bereits wurde es den Herrschenden in Deutschland zuviel. Es bestand die Gefahr, daß sich eine Antikriegsstimmung in der Masse der Bevölke­rung hätte durchsetzen können. Die zunächst tollerierten bis funktionalisierten Antikriegsdemonstrationen brachten doch zu stark die Unglaubwürdigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Politik zum Aus­druck. Über bestimmte Medien wurde daher eine wahre Hetzkampagne gegen die Pro­teste gestartet. Um “Antiamerikanismus” handelte es sich plötzlich, und es hieß, die Interessen Israels würden ignoriert.
Muß denn nochmal wiederholt werden: Selbstverständlich wendet sich die Anti­kriegsbewegung – und da weiß sie sich mit dem Widerstand in San Francisco oder New York einig – gegen die US-Interventions- und Kriegspolitik. Wie viele Male mußten in dieser Zeitschrift US-amerikanische Militärinterventionen und die US-amerikanische Unterstützung von Militärputschen und Folterregimen in Lateinamerika angeprangert werden! Interventionen in Nicaragua, Kuba, der Dominikanischen Republik, Grenada und erst vor gut einem Jahr in Panama – diese Völkerrechtsverletzungen, gegen die die UNO nichts unter­nommen hat, können kaum in Vergessenheit geraten sein. Heute versuchen die ökonomisch geschwächten USA erneut mit militärischen Mitteln ihre Welt­machtstellung zu behaupten. Ihre Rolle als Weltpolizist hat gerade im lateiname­rikanischen Raum die ökonomischen und politischen Verhältnisse bestimmt. Der Golfkrieg wird auch für Lateinamerika politische und ökonomische Folgen nach sich ziehen, wie zum Beispiel durch die Erhöhung des Ölpreises und steigende Aktienkurse. Wir wollen in diesem Heft einige lateinamerikanische Reaktionen auf den Krieg wie­dergeben und weitere Verbindungslinien zwischen Lateinamerika und der Golf­kriegsregion ziehen.
Die Antikriegsbewegung ist eine politische Kraft, die Produktion und Export von Kampfgasen, Raketen und Panzern seit jeher kritisiert hat. Es sind westliche und insbesondere deutsche Rüstungsexportprodukte, die nun auch gegen Israel gerichtet sind und die das irakische Regime erst zum Angriff befähigt haben. Sie hat kein gebrochenes Verhältnis zum israelischen Volk, wenn sie die Rolle Israels kritisiert, die durch die Blockierung der Friedensbemühungen im Nahen Osten und eine Expansionspolitik ebenso gekennzeichnet ist, wie durch den Terror und die permanente Verletzung der Rechte des palästinensischen Volkes. Die israeli­sche Regierung hat nichts zu einer friedlichen Konfliktlösung nach der Besetzung Kuwaits beigetragen. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß wir das Existenz­recht Israels anerkennen und mit dem israelischen Volk solidarisch gegen die irakischen Angriffe sind. Antikriegsbewegung bedeutet aber auch, sich dafür einzusetzen, daß die Palästinenser und Kurden endlich ihre Rechte erhalten. Wir sind solida­risch mit dem Kampf für die Interessen des palästinensischen Volkes und müs­sen gerade deswegen heute die Unterstützung seiner politischen Orga­nisationen für die verbrecherische Politik Saddam Husseins kritisieren. Eine fatale politisch-militärische Logik ist da aus einer jahrezehntelang ausweglos gehaltenen politi­schen Situation entstanden.
Auch gegen die Verletzung der Rechte der PalästinenserInnen und KurdInnen haben die kriegsalliierten westlichen Nationen geschwiegen, zum Beispiel als Saddam Hus­sein 1987 kurdische Dorfgemeinschaften mit deutschem Gas ver­nichten ließ. Und dieselben “Völkerrechtsvertreter” schweigen auch heute, wenn die verbündete türkische Regierung Befehl zum massenhaften Mord an Kurden gibt.
Es ist die doppelte Moral, mit der die Hetzkampagne gegen die Antikriegsbewe­gung betrieben wird, die offengelegt werden muß. Dahinter werden erst die handfe­sten Interessen der Herrschenden sichtbar. Diese muß die Antikriegsbe­wegung bekämpfen.

Kommuniqué der nationalen Befreiungsbewegung Uruguays (Tupamaros)

Gegen die Bevölkerung hat ein Vernichtungskrieg begonnen. Die moralischen Prinzipien, auf die sie sich zu ihrer Rechtfertigung berufen, lassen sich auf folgenden Nenner bringen: Kontrolle über das Öl. Die imperialistischen Staaten können nicht erlauben, daß in Regionen von so strategischer Bedeutung Regierungen existieren, die sich ihrer Kontrolle und ihren Interessen entgegenstellen. Das Vergehen von Saddam Hussein war nicht, ein Land zu überfallen, sondern in einen Öl-Staat wie Kuwait einzudringen und die Kontrolle der USA über diese Zone in Gefahr zu bringen. Das Recht oder das Unrecht des Irak spielen keine Rolle für die USA. Daß die Imperialisten straflos ausgehen, ist allen bekannt. Denkt an Grenada oder Panama, worüber es keine weltweite Empörung gab.
Die imperialistische Macht, die sich heute entwickelt, kann nicht nur mit der Unterstützung der Erfüllungsgehilfen der ganzen Welt rechnen, sondern auch mit dem von der Sowjetunion gelassenen Freiraum, der durch ihre eigenen internen Konflikte die Hände gebunden sind.
In einer so grausamen Realität wissen die Tupamaros, daß Worte nichts bedeuten. Unser Kampf gegen den imperialistischen Agressor ist nicht nur den jetzigen Umständen geschuldet, sondern ist permanent, seitdem wir für die nationale Befreiung und für die Beendigung der Ausbeutung kämpfen.
Dafür werden wir uns mit unserer ganzen Kraft einsetzen und widersetzen uns diesem neuen imperialistischen Massaker.
!Habrá Patria para Todos! Ein Vaterland für alle!

Montevideo, den 17.01.1991

Ermittlungen abgeschlossen Verantwortliche atmen auf

Der vermeintliche Erfolg der eigens eingesetzten Untersuchungskommission kann und darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Aufklärung des Massakers von Anfang an von den Streitkräften torpediert wurde und nur sehr schleppend voranging. Trotz gegen­teiliger Behauptungen von Verteidigungsminister René Emilio Ponce – er war übrigens zum Mordzeitpunkt Chef des Generalstabes – hat die Armeeführung nicht nennenswert zur Erhellung des Sachverhalts beigetragen und die Ermittlungen eher behindert. Solange sich führende Militärs gegenseitig widersprechen und nicht zur Aufklärung dieser Widersprüche beitragen, sagt dazu der Jesuitenprovinzial für Mittelamerika, José María Tojeira, müßten sie sich nicht wundern, wenn sie im In- und Ausland verdächtigt werden, die Auftraggeber zu diesem Verbrechen gewesen zu sein.
Was die Aufkläung des Massakers vom 16. November 1989 anbelangt, so gehen die Einschätzungen weit auseinander. Justizminister Oscar Alfredo Santamaría, dem die Untersuchungskommission formal unterstellt ist, äußert sich zufrieden mit den Abschluß der Ermittlungen, wobei er immer wieder auf die Unabhängigkeit der Justiz pocht. Sein uni­formierter Ministerkollege Emilio Ponce geht noch weiter. Schon auf ei­ner kurzfristig anberaum­ten Pressekonferenz am 14.11.90 kündigte er an, die Aufklärung dieses Fallles sei seines Wissens nach bald abgeschlossen. Vertei­digungsminister Ponce, der kurzfristig für seinen undiplomatischen und kantigen Vize Zepeda eingesprungen war, erweist sich als ge­schickter Redner, der bereitwillig alle Fragen beantwortet. Die Armeeführung in El Salvador ist ganz offenbar um Transparenz und Imagepflege bemüht, und es wirkt überzeugend, wenn Emilio Ponce zum Mord an den Jesuiten erklärt: “Als erstes möchte ich sagen, daß uns ein solches Ereignis, in das die salvadorianische Armee verwickelt ist, zutiefst beschämt.” Man ist geneigt, ihm zu glau­ben, wären da nicht die vielen Spuren und Zeugenaussagen sogar von Militärs, die auf eine direkte Verantwortung des Generalstabes hinweisen…
Die salvadorianische Kirche zieht aus dem bisherigen Verlauf der Ermittlungen ihre eigenen Schlüsse: “Das Verbrechen kann nicht al­leine vom Hauptangeklagten, Oberst Benavides, begangen worden sein”, meint Weihbischof Gregorio Rosa Chávez aus San Salvador. “Es muß in irgendeiner Form eine Beteiligung höherer Offiziere ge­geben haben, vermutlich auf der Ebene des Generalstabes. Zweitens müssen wir feststellen, daß die Armee als Ganzes nicht dazu bei­trägt, die Umstände des Verbrechens aufzuklären. Und drittens scheint uns der gesamte Fall von beispielhafter Bedeutung zu sein.” Erzbischof Arturo Rivera y Damas äußert sich skeptisch zu der Aufklärung des Massakers: “Im Fall der Jesuitenmorde wird wohl nie die ganze Wahrheit an das Licht kommen!”
Er scheint recht zu behalten, denn das Ermittlungsverfahren wurde beendet, ohne daß zentrale Figuren aus der Militärführung oder der Regierung überhaupt verhört wurden. Warum z.B. gab Präsident Cristiani erst ein neun Monate nach dem Massaker zu, daß er die Durchsuchung der Wohnräume der Jesuiten durch eine Sondereinheit des Atlacatl-Bataillons zwei Tage vor der Tat genehmigt hatte? Die Durchsuchung diente offensichtlich nicht – wie behauptet – dem Auffinden von von angeblichen Waffenarsenalen, sondern dazu, die Wohn- und Schlafräume der Ermordeten auszuspähen. Dies ist auch nicht besonders verwunderlich, schließlich hatte der Präsident in der ersten Phase der letztjährigen FMLN-Offensive, in die das Massaker an den Jesuiten fiel, einen großen Teil der Zeit im Generalstab zugebracht und an dessen Sitzungen teilgenommen.
Und es überzeugt auch nicht, wenn der damalige Generalsatbschef und heutige Verteidigungsminister auf den beschluß dr Armeeführung hinweist, daß alle Standortkommandeure ausdrücklich autorisiert und aufgefordert waren, alle erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Guerilla zu ergreifen. Gerade in der Hauptstadt San Salvador war der Kontakt innerhalb der Generalität so eng, daß diese Autonomie der einzelnen Befehlshaber keine Bedeutung hatte. Zumal Oberst Benavides behauptet, der Mordbefehl müsse an ihm vorbeigelaufen sein, da die Atlacatl-Soldaten – die übrigens kurz vorher von einem Lehrgang mit us-amerikanischen Ausbildern abgezogen worden waren – bereits Vorbereitungen für das Massaker getroffen hattten, bevor er über den Einsatz informiert war. Breite Übereinstimmung herrscht in El Salvador dar­über, daß die Jesuitenmorde, die eine ganze geistige Strömung aus­schalten sollten, einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung des Landes darstellen. Offenbar hat die Ermordung der sechs prominenten Jesuiten, die im In- und Ausland anerkannt und ge­schätzt waren, mehr ausgelöst als unzählige Morde an einfachen Landarbeitern, Gewerkschaftern und engagierten Menschen.Damit sich dies im alltäglichen Leben in dem mittelamerikanischen Land auswirken kann, dazu bedarf es auch der Hilfe und des Druckes aus dem Ausland. Dieser internationale Druck, der vor allem aus Spanien – der Hei­mat von fünf der sechs ermordeten Jesuiten – und den USA auf El Salvador ausgeübt wird, könnte dazu beitragen, daß die Armee in Zukunft nicht mehr derart selbstherrlich und unbeobachtet agieren kann wie in den vergangenen Jahren

Kasten:

Offensive und Concertación

Ana Guadalupe Martínez, Mitglied der Verhandlungskom­mission der FMLN, zum Verhältnis von politischen und militärischen Aspekten ihres Kampfes:

Es liegt auf der Hand, daß es uns im Augenblick sehr gut gelingt, alle Faktoren, die die Situation für eine Verhandlungslösung bestimmen, zu kombinieren. Trotz der Militärkampagne blieben die politischen Spiel­räume erhalten. Die Parteien hatten sich versammelt, um die Situation zu analysieren, die Volksbewegung hat im Fernsehen ihre Ansichten ver­treten. Niemand ist geflohen, um sich zu ver­stecken, alle konnten wei­terarbeiten: Zur gleichen Zeit gab es die Militärkampa­gne und die kon­zertierte Aktion aller sozialen und politischen Kräfte.
Wir wissen z.B., daß sich am vergangenen Freitag die “Interpartidaria” versam­melt hat, also die Gruppe der neun legal eingeschriebenen Parteien. Bei diesem Treffen verlangte ARENA eine Verurteilung der militärischen Ak­tionen der FMLN. Die übrigen acht Parteien sagten, gut, wenn es eine Verurteilung durch dieses Gremium geben soll, dann müßte sie sich ge­gen beide Seiten richten, da beide militärische Aktionen durchführten.
Verschiedene Ansätze stehen heute zur Debatte. Dies hat es im November letzten Jahres (während der bisher größten FMLN-Offensive, d.Red.) nicht gegeben. Es hat damals keine vermittelnden Stimmen gegeben, nur die offiziellen Radio- und Fernsehsender der Regierung und Radio Vencere­mos. Ja, es gibt heute ein ausge­glicherenes Verhältnis der militäri­schen und der politischen Aspekte.

Frage: Hat die FMLN nicht die Befürchtung, daß die USA die jüngste Mi­litärkampagne zum Vorwand nimmt, um die auf 50% gekürzte Militärhilfe wieder zu 100% auszuzahlen?

Wir haben sehr viel darüber nachgedacht. Wir haben die Operationen als eine begrenzte Kampagne definiert, die im Zusammenhang mit dem Fort­schreiten am Verhandlungstisch zu sehen ist. Von daher haben wir nicht den Eindruck, daß unsere Aktivitäten im Widerspruch zu den vom US-Kon­greß diktierten Bedin­gungen zur Suspendierung der Hilfe stehen. (Für den Fall, daß die Regierung durch eine Offensive der FMLN gefährdet ist – so der Kongreß – soll die Hilfe wieder zu 100% ausgezahlt wer­den; d.Red.). Wenn die USA und die salvadoria­nische Regierung aber die Situation dazu benutzen sollten, die Hilfe wieder komplett auszuzah­len, würden sie die Lage auf den Stand von 1981 zurückver­setzen. Dies­mal aber unter wesentlich schwierigeren Bedingungen, was die Mo­ral und den politischen Stand der Armee, aber auch der US-Administration selbst angeht. Wir glauben, daß die USA einen großen Fehler begehen würde. Es würde dann für weitere zehn Jahre Krieg geben.

Frage: Kann man sagen, daß jener Teil des US-Kongres­ses, der sich um eine Veränderung der US-Politik hin­sichtlich El Salvador bemüht und den Verhandlungsprozeß stärken will, nun den Eindruck haben kann, die FMLN stehe ihren Zielen entgegen?

Wir sehen das nicht so. Es ist vielmehr so, daß auch wir die Verhand­lungen be­schleunigen wollen. Es ist die Argumentation der salvadoria­nischen Armee, die uns in der Öffentlichkeit mangelnden Verhandlungs­willen unterstellt.

Honduranische “Rambos” entscheiden den Golfkonflikt

Die Regierung von Honduras hat den Tyrannen des Irak, General Saddam Hussein, Schach gesetzt. Ende vorigen Monats hat sie eine Spezialeinheit – bereit zum Kampf! – zum potentiellen Kriegsschau­platz am Persischen Golf geschickt. Und höchstwahrscheinlich wird dies die Zukunft des Konfliktes entscheiden, bei dem die Super­mächte auf die irakische Armee treffen.
Nach Informationen aus dem Präsidentenpalast handelt es sich um ein honduranisches Kontingent von 750 Soldaten, ausgerüstet mit modernen Waffen und sicherlich trainiert für den Kampf in der Wüste gegen einen hochgerüsteten Feind, der über ein gewaltiges Arsenal an tödlichen chemischen und biologischen Waffen verfügt.
Wahrscheinlich wurden diese honduranischen “Rambos” – insgeheim – in den heißen und öden Regionen unseres Landes trainiert, um sie an die extreme Hitze der Wüste zu gewöhnen; und in den abscheulich stinkenden Kloaken des Chiquito-Flusses und des Sapo-Baches in der Hauptstadt, um sie gegen chemische und biologische Gifte resistent zu machen.
Der Sprecher des Präsidenten, Herr Gilberto Goldstein, klärt uns auf über die ökonomische Potenz des honduranischen Staates ein derart kostspieliges Unternehmen durchzuführen. Unsere heldenhaften Soldaten, Meister der Kriegskunst und -Wissenschaft, “schicken wir mit unseren eigenen Mitteln, denn wir sind dazu und noch zu vielem mehr in der Lage”.
In Lateinamerika haben nur zwei Länder ihre Armeen verpflichtet gegen Hussein von Irak zu kämpfen und die Welt zu retten vor dieser Bestie, die sich von wehrlosen Kindern und westlichen Geiseln (er-)nährt: Argentinien und Honduras. Allerdings hat Argentinien eine Vereinbarung mit der kuwaitischen Exilregierung geschlossen, daß diese die Kosten der Reise übernimmt und für Kost und Logie im Lande aufkommt.
Außerdem hat Argentinien seine Soldaten unter den kriegserfahrendsten Kämpfern des sogenannten Malwinen- (oder Falk­land-)Krieges ausgewählt, wo sie die von den USA unterstützte englische Kolonialarmee ins Gras (Verzeihung!, ins Eis natürlich) beißen ließen. Von einem Extrem geht’s für sie zum anderen: vom eisigen Südpol ziehen sie in die glühende östliche Wüste.
Es gibt gar keinen Zweifel: Die Honduraner sind anders, und die Regierung von Honduras veranschaulicht das sehr deutlich vor dem Gewissen der Welt. Als Präsident Bush aus den USA sein Projekt für die Schaffung einer Freihandelszone in ganz Hispanoamerika vorschlug, war Präsident Callejas der Erste – und der Einzige – ,der sofort per Kabel antwortete – und der Idee vollkommen zu­stimmte.
Die Anderen schwiegen boshaft, ängstlich und starrköpfig. Sie lobten die “Idee”, kündeten aber nur an sie zu untersuchen und genauer zu studieren, wenn diese jene Idee eine konkretere Fassung annähme, etwa die eines Planes. Hier in Honduras zögert man nicht derart; entweder wir sind dabei, oder wir sind es nicht. Aber nur für gewisse Initiativen, wenn sie von oben kommen…

“Operación Causa Justa” und die Menschenrechte

Bis heute ist die Zahl der Opfer nicht bekannt

“Ich will nicht mehr hinuntersteigen ins Grab, ich kann die vielen Toten nicht mehr sehen! Ich weiß, daß ich das nicht mehr aushalte!” Elira de Del Rio weint und kann sich kaum beruhigen. Mehrfach ist sie bereits in das Massengrab von Jardín de Paz, ursprünglich einem kleinen Privatfriedhof in der Nähe der Haupt­stadt, hinuntergestiegen, in der Hoffnung die Leiche ihres am 20.Dezember getöteten Mannes zu finden. Auf einer Namensliste von Invasionsopfern, zusammengestellt vom “Komitee der Familienangehörigen von Opfern des 20.Dezember” (AFC-20), hatte Elira de Del Rio den Namen ihres Mannes gefun­den und war nach Jardín de Paz gekommen, um ihn zu identifizieren. Aber es handelte sich um einen Irrtum. Und so wurden die großen Plastiksäcke mit den Leichen einer nach dem anderen geöffnet, damit sie und die zahlreichen Angehö­rigen ihre Toten identifizieren könnten. Aber viele Leichen sind nicht mehr iden­tifizierbar. Durch den Einsatz von Bomben und Flammenwerfern sind sie völlig entstellt. Hinzu kommt der Zustand der Verwesung, der bei den eilig von den US-Truppen in Massengräbern verscharrten Leichen schon fortgeschritten ist. Der bestialische Verwesungsgestank tut ein übriges, um die Identifizierung der Leichen für die Familienangehörigen zur Tortur werden zu lassen. Aber viele von ihnen werden weiter geduldig an den Gräbern Schlange stehen müssen in Ungewißheit, ob eines Tages wirklich ihre Angehörigen gefunden werden.
In der detailierten Registrierung der AFC-20 sind inzwischen über 600 Namen von identifizierten Toten zusammengetragen worden, aber es ist bekannt, daß Unzählige fehlen, nämlich die, die nicht identifiziert werden konnten, deren Lei­chen ins Meer geworfen wurden, die bei der Bombardierung der Einrichtung der “Verteidigungskräfte” völlig verbrannt sind und schließlich die, die von ihren Familienangehörigen heimlich im eigenen Garten beerdigt worden sind, aus Angst vor Repressalien. Dazu kommt eine bisher unbekannte Zahl von Vermiß­ten. VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen gehen von Zahlen zwi­schen 2000 und 4000 Toten aus.

“Die Toten werden das Land zurückerobern!”

Früher war Isabel Corro in den Reihen der Cruzada Civilista zu finden, die den Protest gegen das Noriega-Regime auf die Straße brachte. Heute ist sie die Präsi­dentin der “Vereinigung der Familienangehörigen der bei der Invasion am 20.Dezember 1989 gefallenen Militärs und Zivilisten”.
“Die in den Menschenrechtsorganisationen, bei CONADEHUPA und COPODE­HUPA arbeiten, sind Frauen”, sagt sie. “Die Mehrheit derer, die wir im Kampf für die Menschenrechte in der AFC-20 organisiert sind, sind Frauen, und auch in der Führung der Organisation sind wir drei Frauen neben einem Mann. Die Frau beschäftigt sich mit den Toten und die Toten werden dieses Land führen und die Toten werden die Zukunft dieses Landes bestimmen und die Toten werden die­ses Land zurückerobern. Die Toten werden das Bewußtsein des Landes entwik-keln”, so die engagierte Menschenrechtsvertreterin. “Die Regierung hat verges­sen, daß sie über die Leichen unserer Gefallenen zur Präsidentschaft gekommen ist, daß es ein verdammt hoher Preis war, den das Land bezahlen mußte, damit sie dahin gekommen sind, wo sie sich jetzt befinden.” Und sie fügt hinzu, daß weder die katholische Kirche noch die zivilen Clubs in dieser Angelegenheit etwas unternommen hätten. Ihre Organisation überlegt, eine umfassende Forde­rung an die Regierung der USA zu stellen, nämlich alle Schäden, die durch die Invasion entstanden sind, zu begleichen. Die Menschenrechtsbewegung insge­samt fordert zunächst eine internationale Untersuchung der Folgen der Invasion.

Verlust der Heimat: El Chorillo

Die Angriffe der US-Streitkräfte während der Invasion richteten sich insbeson­dere auf die armen Stadtviertel, insbesondere auf El Chorillo. Noriega und seine Truppe habe sich hier verschanzt, lautete die Legitimation für die Zerstörung eines ganzen Stadtteiles.
El Chorillo war für die Arbeiter am Kanal zu Beginn des Jahrhunderts errichtet worden. Hier lebten fast 30 000 Menschen überwiegend in einfachen Holz- und Wellblechhütten. Aber sie hatten in El Chorillo mehr als ein einfaches Dach über dem Kopf. Ihre Kinder waren hier großgeworden, ihre eigene, soziale Lebenswelt und Kultur waren hier über Jahrzehnte gewachsen. Doch mit der Entscheidung der US-Regierung zur Invasion sollte dieses Viertel mit seinen Menschen, Gebäuden und sozialen Traditionen von der Landkarte ausradiert werden. Es wurde zum Testgebiet für neueste Laserkanonen und Kampfhubschrauber, für Panzer und Bomben.
Allein in El Chorillo sind mehrere tausend Familien obdachlos geworden. Nach Angaben des “Komitees für Kriegsflüchtlinge” gibt es in Panama acht Flücht­lingszentren, die zur Zeit fast 3500 Familien beherbergen. Dazu kommen knapp 14 000 Menschen, die lediglich vorübergehend bei Verwandten unterkommen konnten, dort jedoch aufgrund der räumlichen Enge und schlechten Versor­gungslage nicht langfristig bleiben können. Aber auch in den Flüchtlingszentren herrscht große Enge. Es gibt zu wenig sanitäre Anlagen, die Zahl von Erkran­kungen wächst, die sozialen Konflikte häufen sich.
“Wir sind nicht Produkte eines Unfalls oder einer Naturkatastrophe, sondern eines Krieges. Deswegen sind wir Kriegsflüchtlinge!”, insistiert Rafael Olivardía, einer der Sprecher des “Comité de Refugiados de Guerra”, das die Interessen der in Flüchtlingscamps lebenden Panamaer vertritt. Ihre Organisation kritisiert ins­besondere die Informationspolitik der “Stiftung für die Geschädigten des Stadt­viertels El Chorillo”. Bereits im Juni hatte es die ersten Proteste von Chorilleros gegeben. Lediglich 700 Balboas (Der Balboa ist die panamaische Bezeichnung für den Dollar) sollten sie als Schadensausgleich von der Stiftung erhalten. Informa­tionen über die Aufteilung des Stiftungsfonds wurden nicht gegeben. In den Stiftungsgremien sind die Betroffenen selbst über­haupt nicht vertreten. Dement­sprechend lauten die unmittelbaren Forderungen der Betroffenen des Stadtvier­tels El Chorillo auf: die gerechte Entschädigung für die erlittenen Verluste, den raschen Bau von Wohnungen im alten Viertel und die Gründung einer Kommis­sion zur Beseitigung der Wohnungsnot.

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

“Wir werden die größte Freihandelszone schaffen”

Diese Worte sprach der mexikanische Präsident Carlos Salinas de Gortari nach der Begegnung mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Bush der Presse. Gegenstand ihres Treffens vom 26.-27.11. in Monterrey (Mexiko) war neben der Bekämpfung der Drogenkriminalität und der illegalen Einwanderung mexikanischer TagelöhnerInnen vor allem die offizielle Aufnahme der Verhand­lungen für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mexiko. Kanada, das schon seit 1988 einen solchen Vertrag mit den USA abgeschlossen hat, soll ebenfalls an den Verhandlungen teil­nehmen. Zu Dritt soll dann die größte Freihandelszone der Welt, mit 360 Millionen Menschen, ge­schaffen werden. Der endgültige Vertragsabschluß wird für das Jahr 1993 angestrebt, so daß spä­testens im Jahr 2000 das Vorhaben zu Realität wird.
Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Osteuropa sowie der Schaffung des europäischen Binnenmarktes 1992 und der bereits existierenden Freihandelszone zwischen den USA und Ka­nada, sowie ähnlichen Entwicklungen in Asien, findet es die mexikanische Regierung in dieser neuen Ära der ökonomischen Blockbildung angemessen, sich einem der bestehenden Blöcke anzu­schließen. Entweder hat man/frau Zugang zu einem dieser Blöcke oder man/frau wird an dem Rand der Wirtschafts- und Wachstumsdynamik gedrängt, so die Botschaft von Salinas. Das Ab­kommen zur Schaffung der Freihandelszone soll die große Möglichkeit für mexikanische Expor­teure sein, sich nun endlich freien Zugang zum US-amerikanischen Markt zu verschaffen. Der Vertrag soll die Abschaffung der Zolltarife, sowie mehr Stabilität für den Zugang mexikanischer Erzeugnisse auf den US-Markt und Instanzen schaffen, durch welche Handelskonflikte gelöst werden. Bis jetzt sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Mexiko von einer nega­tiven Handelsbilanz zu Ungunsten der mexikanischen Wirtschaft bestimmt.

“Armes Mexiko, so weit von Gott und so nah an die Vereinigten Staaten!”

Dieser Satz, der paradoxerweise von jenem mexikanischen Diktator Porfirio Díaz stammt, der in seiner Regierungszeit (1877-1911) vor der mexikanischen Revolution die Tore des Landes ganz weit für ausländische Investoren öffnete und der stets im Zusammenhang mit der sozialen, wirt­schaftlichen oder politischen Lage zitiert wird, soll nun begraben werden. Schon im Vorfeld der Aufnahme von Verhandlungen zum Freihandelsabkommen ließ Salinas durch seine wirtschaftsli­berale Politik keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er es mit dem Zustandekommen des Ver­trages sehr ernst meinte. Mit einer Wirtschaftspolitik der drastischen Senkung der Zolltarife, der Liberalisierung des internen Marktes durch die Abschaffung von Subventionen (selbst für die Tor­tilla) und der Privatisierung vieler öffentlicher und staatlicher Unternehmen, wurde der Weg zu den Verhandlungen geebnet. Vor der Presse bescheinigte so auch der Präsident der US-amerikani­schen Unternehmensgruppe “Business-Round-Table” (die 200 der größten US-Unternehmen erfaßt) der Wirtschaftspolitik Salinas’ eine “uneingeschränkte Glaubwürdigkeit”. Ob die Erwartungen der mexikanischen Unternehmen in Bezug auf die Realisierung des Freihandelsabkommens erfüllt werden, ist jedoch sehr fragwürdig. Ebenso scheinen die sozialen, ökonomischen und selbst politi­schen Kosten, die ein solches Abkommen mit sich bringen würden, für den Regierenden erst ein­mal sekundär zu sein, stellt doch “diese neue Zeit” Momente dar, “denen man/frau nicht so ein­fach den Rücken zeigen darf.
Ein Blick auf die kanadische Erfahrung hätte doch zu einer kritischen Haltung sowohl der Regie­rung als auch der mexikanischen Wirtschaft gegenüber dem Abkommen verhelfen können.
Im Gegensatz zum Tempo, mit der die mexikanische Regierung den Vertragsabschluß anstrebt, ließ sich die kanadische Regierung relativ viel Zeit. Sie suchte darüber hinaus eine öffentliche De­batte über die Vor- und Nachteile des Abkommens. Sechs Jahre vor dem Vertragsabschluß (1988) wurde schon eine Regierungskommission gebildet, die sich inhaltlich mit dem Vertrag auseinan­dersetzte. In Mexiko dagegen wurde das Thema erst im September dieses Jahres im Senat disku­tiert. Der Bericht der kanadischen Regierungskomission wurde nach drei Jahren der Öffentlichkeit vorgestellt, während in Mexiko die öffentliche Debatte sich quasi auf Treffen der verschiedenen Wirtschaftsverbände mit der Regierung reduziert. Der Erfolg der Verhandlungen, so der mexika­nische Handelsminister Serra Puche vor einer Unternehmerversammlung der USEM (Unión Social de Empresarios) am 18.10., erfordert, daß Regierung und Unternehmen zusammen sich auf dersel­ben Seite des Verhandlungstisches befinden. Eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit ist nicht beabsichtigt.

“Die Kanadier verstehen nicht, was sie unterschrieben haben. In ca. 20 Jahren wird ihre Wirtschaft in der US-Wirtschaft versunken sein.”

So resümierte Clayton Yeutter am 6.10.87 den Handelsvertrag, den die USA und Kanada an jenem Tag unterzeichneten. Und Yeutter wußte wovon er redete: Er war der Chef der US-amerikanischen Verhandlungskommission. Trotz der kritischen Stimmen, vor allem aus Gewerkschaften und der Kirche, kam es jedoch 1988 zum Vertragsabschluß zwischen Kanada und den USA. So äußerte die Vereinigte Kanadische Kirche ihre Befürchtung, daß mit der Unterzeichnung des Vertrages die Möglichkeiten, eigene Ressourcen und Kapitalanlagen für nationale Interessen zu mobilisie­ren/nutzen, sehr eingeschränkt würden. Mit der Wiederwahl des konservativen Brian Mulroney bei den kanadischen Präsident­schaftswahlen 1988 wurde zumindest formal das Ja zum Freihandelsabkommen gegeben, der im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand. Die Komplementäre Cha­rakter der Wirtschaftsstrukturen beider Länder so­wie die Ähnlichkeit der Sozial­strukturen ermöglichte denn auch einen breiten Konsens in der Öffentlichkeit über den Vertragsabschluß. In Umfragen gegen Ende 1989 nahm jedoch die Zahl der Stimmen gegen den Vertrag zu. Nach Angaben der kanadischen Zeitschrift Macleans kamen die Mehrheit der 57% Nein-Stimmen aus nationalistischen und gewerkschaftlichen Kreisen. So hätten laut der kanadischen Gewerkschaften ein­heimische Unternehmen dort schließen müssen, wo US-amerikanische gegründet worden seien. Zwischen 1988 und 1989 gingen 460 Betriebe in US-ameri­kanische Hand über, während 160 in kanadischen Besitz übergingen. 70% der ausländi­schen In­vestitionen in Kanada kommen aus den USA, während der kanadische Anteil an den ausländi­schen Investitionen in den USA nur 7,6% ausmacht. Nach Angaben des kanadischen Arbeiterkon­gresses, der den Zusammenschluß von 2,2 Millionen ArbeiterInnen repräsentiert, ist der Freihan­delsvertrag direkt für den Verlust von 105000 Arbeitsplätzen in einem Zeitraum von 8 Monaten verant­wortlich. Das Freihandelsabkommen, so wird weiter konstatiert, hat die Mög­lichkeiten der Regierung verringert, über Subventionen und Sozialleistungen für die Bevölkerung zu entschei­den. Über die kanadische Wirtschaft wird nun von ausländischen Gruppen und multinationalen Vereinigungen entschieden. Selbst der damalige kanadische Verhandlungschef Gordon Ritchie räumt gegenüber Macleans ein, daß er sich keine schlechtere wirtschaftliche Situation für die Um­setzung des Vertrages vorstellen kann, als die, die gegenwärtig das Land erfaßt.
Inzwischen mehren sich auch die Befürchtungen in Hinblick auf das Zustande­kommen des USA-Mexiko Vertrages. Ein trilateraler Vertrag mit Mexiko, den USA und Kanada wird nicht nur die wenigen Vorteile verschwinden lassen, die Kanada durch den Vertrag mit den USA hat, sondern auch die mögliche Schlie­ßung vieler Betriebe, vor dem Hintergrund der niedrigen Löhne Mexikos, mit sich bringen. Gerade der letzte Punkt hat auch den US-Gewerkschaftsdachver­band AFL-CIO dazu gebracht, sich kritisch gegenüber einem Freihandelsab­kommen mit Mexiko zu äußern. Diese Befürchtungen sind durchaus gerechtfer­tigt, da die Einkommensunterschiede enorm sind. In Ka­nada verdient ein Arbei­ter in der Industrie durchschnittlich 12 US $, in den USA 10, und in Mexiko nur 84 cents.

“Der Vertrag ist gut für Mexiko und gut für die USA; er ist gut für die mexikanischen Arbeiter und gut für die US-amerikanischen Arbeiter”

Ob sich diese Behauptung von Salinas am Tag der Unterzeichnung des Vertrages bewahrheiten wird, scheint angesichts der kanadischen Erfahrung sehr fragwürdig. Die wirtschaftliche Aus­gangssituationen von Kanada und Mexiko sind schon zu unterschiedlich als daß große Vorteile für die einheimische Wirtschaft durch den Vertragsabschluß zu erwarten wären. Mexiko sei durch die eingeleitete Modernisierung der Wirtschaft (Subventionsabbau, Privatisierung öffentlicher Be­triebe), so Salinas, jedoch bestens auf die Herausforderungen vorbereitet, die durch die Öffnung der Grenzen auf das Land zukommen, Im Vorfeld der Verhandlungen hat aber die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung schon drastisch genug zu spüren bekommen, was diese Öffnung des Marktes für das ausländische Kapital für sie bedeutet: steigende Arbeitslosigkeit, Inflation, Sen­kung des Realeinkomens – Folgen, die die mexikanische Regierung als notwendige Schritte einer wirtschaftlichen Kurskorrektur verkauft.
In der Gegenwart ist Mexiko bereits vollständig von den USA abhängig. Der Anteil des mexikani­schen Außenhandels mit den USA beträgt 70%, während ebenfalls ca. 70% der ausländischen In­vestitionen in Mexiko aus den USA stammen. Ob die mexikanische Wirtschaft diese Abhängigkeit abbauen können wird bzw. ob sie überhaupt den Anforderungen, die auf sie zukommen, gewachsen ist, wird selbst von Vertretern der Privatwirtschaft angezweifelt. Die verarbeitende Industrie, die jetzt schon ein Handelsdefizit verzeichnet und deren Exporte ins Stocken geraten sind, wird einer der Wirtschaftszweige sein, die am stärksten durch das Freihandelsabkommen betroffen sein wird. Vor allem werden die mittleren und kleinen Betriebe von den Folgen des Ver­trages bedroht sein. Auch offizielle Angaben der Banco de México und des Handelsministeri­ums deuten auf mögliche negative Folgen für die verarbeitende Industrie hin. Die bisher stattgefunde Öffnung des mexikanischen Marktes hat sich, so die CANACINTRA (Cámara Nacional de la Industria de la Transforma­ción, Dach­verband der verarbeitenden Idustrie), schon jetzt nega­tiv für diesen Sektor aus­gewirkt. Bedenkt man/frau, daß gerade die verarbeitende Industrie in der Ver­gangenheit zu den Stützen der mexikanischen Wirtschaft gehörte, so werden alle Befürchtun­gen der Kritiker des Abkommens bestätigt.

Das Erdöl

Da ein sehr großer Teil der mexikanischen Wirtschaft sich bereits in ausländischer und privater Hand befindet und quasi, mit Ausnahme der Erdölindustrie, nur noch uninteressante “Objekte” zur Disposition stehen, fragt man/frau sich, woran die US-Wirtschaft noch so interessiert ist. Sicherlich an den billigen Arbeitskräften, die Mexiko reichlich zu bieten hat, an einem noch inten­siveren Einfluß auf die mexikanische Wirtschaft, aber vor allem am Erdöl.
Die mexikanische Regierung hat zwar stets betont, daß das Erdöl weder in die Verhandlungen einbezogen wird, noch daß ausländische Unternehmen in Zukunft am (Weiter-) Verarbeitungs­prozeß und Export beteiligt werden. Alles deutet aber daraufhin, daß die Pläne der USA anders aussehen. Gerade an diesem Punkt soll die Verhandlungsbereitschaft der mexikanischen Regie­rung gemessen werden. Ein Vertrag ohne die Einbeziehung des Erdöls würde aber das Interesse der USA am Zustandekommen desselben sehr vermindern. Salinas müßte jedoch bei einer Zusage einen zu hohen politischen Preis bezahlen, da die Privatisierung der Erdölgesellschaft seit dem Jahre 1938 Tabuthema für alle Präsidenten war/ist.

Offene Fragen

Kann mit der Öffnung der mexikanischen Wirtschaft auch auf mehr innenpolitische Glasnost gehofft werden? Die jüngsten Gemeindewahlen Anfang November in den Bundesstaaten Mexiko und Coahuila haben jedenfalls bewiesen, daß der Wahlbetrug weiterhin als Instrument der Regie­rung fortbesteht, um die Opposition aus dem politischen Geschehen fernzuhalten. Von der Oppo­sition kommen auch die kritischen Stimmen gegen die von Salinas eingerichtete Menschenrechts­kommission (Comisión Nacional de Derechos Humanos). Kein Zweifel besteht also darüber, daß die Regierung, um ihre Modernisierungspolitik fortzusetzen, weiterhin auf Wahlbetrug und Repression setzen wird. Der Widerstand gegen diese Politik nimmt indessen zu, so daß sich auch die Frage stellt, ob es die Regierung bis zum vorraussichtlichen Vertragsabschluß 1993, auch ange­sichts wachsender Kritik im US-Kongreß, schaffen wird, ohne innenpolitische Glasnost auszu­kommen.
Mexiko, ein Land, das stets versucht hat, seine Bindung zu Lateinamerika zum Bestandteil seiner Außenpolitik zu machen, wird sich vom Rest Lateinamerikas nach Vertragsabschluß gezwunge­nermaßen trennen müssen. Diese berechtigte Angst vieler LateinamerikanerInnen versuchte Salinas auf seiner jüngsten Lateinamerika-Reise (5.-13.10), kurz vor der Bush Reise (siehe Artikel in dieser LN) auszuräumen. Er vertröstete seine Gesprächspartner mit der fernen Aussicht auf ein Zustandekommen einer großen amerikanischen Freihandelszone, gemäß der Idee von George Bush (s. LN 196). Daß bis dahin sehr viel Zeit vergehen wird, und unter wessen Diktat sich dann die jeweiligen Länder stellen müssen, ist ein offenes Geheimnis. Der lateinamerikanische Markt ebenso wie eine Organisation Amerikanischer Staaten ohne die USA sind nun endgültig vom Tisch. Die Frage ist somit, welchen außenpolitischen Kurs Mexiko künftig in Bezug auf seine Brüder/Schwesterländer steuern wird? Vielleicht wird Mexiko die Rolle Spaniens übernehmen und als “Brücke für einen großen freien Markt” dienen.

Die letzte Schlacht der Carapintadas

Im Morgengrauen des 3.Dezember hatten die ultranationalistischen Carapintadas in mehreren Gruppen das Oberkommando des Heeres (Edificio Libertador), die Patricios-Kaseme im Nobelstadtteil Palermo, eine Panzerfabrik und den Sitz der Küstenwache und Marine gestürmt. Während sie im Hauptquartier des Armeekommandos von einem der ihrigen hineingelassen wurden, schossen sie in der Kaserne kurzerhand drei Wachposten über den Haufen. “Es handelt sich hierbei nicht um einen Putschversuch”, erklärte der Sprecher der Aufständischen Mayor Hugo Abete und forderte den Rücktritt der Heeresführung, höhere Sold- zahlungen und die Wiederherstellung der “Würde des argentinischen Militärs”. Er stellte den Aufstand in den Zusammenhang der letzten Rebellionen und sprach von “der vierten Etappe der Operación Dignidad (Operation Würde, wie die Carapintadas ihr Programm nennen).

Kompromißlose Härte

Während sich in der Provinz Entre Rios eine rebellierende Panzerkolonne in Richtung auf die Hauptstadt zu bewegte, befahl Präsident Menem “mit aller Härte gegen die Rebellen vorzugehen” und verhängte landesweit den Ausnahmezustand. Kompromißlos verkündete er: “Es wird auf keinen Fall verhandelt.” Die loyalen Truppen wußte er dabei hinter sich. Der Heeresstabschef General Bonnet verkündete in einer Femsehansprache ein Ultimatum: “Ich will, daß sie sich barfuß und in Unterhosen ergeben.” Gleichzeitig bezeichnete Bonnet die Aufständischen als “Subversive”, das heißt als Todfeinde der Streitkräfte, mit denen es unmöglich ist zu leben.
Mit Ablauf des Ultimatums am Nachmittag gab Menem den loyalen Truppen den Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Die Einheiten hatten mittlerweile in unmittelbarer Nähe des Regierungsgebäudes ihr Hauptquartier eingerichtet und rückten nun mit Panzern und schwerster Bewaffnung zu den besetzten Rebellenstützpunkten vor. Wahrend sich die Carapintadas in der Patricios-Kaserne sofort ergaben, kam es in der Rüstungsfabrik und an der Hafenpräfektur zu starken Feuergefechten. In der Panzerfabrik bemächtigten sich die Rebellen einer fabrikneuen Serie von TAM-Panzern. Mit diesen entflohen sie aus der Stadt. Bei dieser Flucht überfuhren sie unter anderem einen Linienbus. Bilanz: 5 Tote und über 20 verletzte Zivilisten. An der Hafenpräfektur schossen die Besetzer wahllos in die Menge der angesammelten Zivilisten. Drei Journalisten wurden hierbei schwer verletzt. In dem Stadtteil brach eine Panik unter der Zivilbevölkerung aus, die buchstäblich um ihr Leben rannte. Nach einer kurzen aber heftigen Schlacht ergaben sich auch hier die Rebellen.
Die Panzerkolonne der in der Provinz Entre Rios rebellierenden Militärs wurde von der Luftwaffe bombardiert und an der Weiterfahrt gehindert. In den Abendstunden konzentrierten sich dann die Auseinandersetzungen auf das nur 200 Meter vom Regierungspalast entfernte Oberkommando des Heeres Libertador. Nach der Umstellung des Gebäudes mit Panzern und dem Überflug mehrerer Militärflugzeuge streckten auch hier die Rebellen in den frühen Abendstunden die Waffen.

Menems Entfremdungstheorie

Die Bilanz dieser kürzesten Rebellion in Argentinien ist verheerend: mindestens 21 Tote und über 200 zum Teil schwer Verletzte. Unter den Toten befinden sich mindestens 6 Zivilisten und 8 Rebellen. Bei den vorhergehenden Rebellionen waren “lediglich” in Villa Martelli 3 Zivilisten getötet worden. “Auf das vergossene Blut derjenigen, die kaltblütig ermordet wurden, wird es eine Antwort geben”, erklärte Menem auf einer Pressekonferenz, kurze Zeit nach Beendigung der Rebellion. “Dies sind die Wahnvorstellungen einer Gruppe von Dilettanten, die sich für Erleuchtete halten. Das ist nur mit vollkommener Entfremdung zu erklären.”
Der Kopf und eigentliche Anführer dieser Rebellion war wie schon in Villa Martelli im Dezember 1988 Oberst Seinelín. Zu diesem Zeitpunkt saß er allerdings in Patagonien, 1500 km südlich von Buenos Aires, in Haft. Am 20. Oktober hatte der Putschist in einem Brief an den Präsidenten vor “wachsender Unruhe und Unzufriedenheit in den Reihen des Heeres” gewarnt, die in ihrem Ausmaß von niemandem abzuschätzen seien. Er forderte Menem auf, die Einheit des.Heeres durch einen Wechsel an der Führungsspitze herbeizuführen. Für diese Äußerungen hatte er von einem Militärgericht 60 Tage Arrest bekommen. Der Sprecher der jüngsten Rebellion -Mayor Hugo Abete -gilt als engster Vertrauter des Oberst. Beim Aufstand 1988 hat er sich als letzter -vier Tage nach dem offiziellen Ende der Rebellion -den loyalen Truppen ergeben. Vor Seineldíns Abflug zur Arresthaft hatte er sich Anfang November mehrere Stunden mit ihm zu einem Gespräch in seinem Haus getroffen.
Nach der Niederschlagung der Rebellion bat Seineldin um eine Pistole, um sich zu erschießen. Als er diese nicht bekam, entschloß er sich dann, einen weiteren Brief an die Regierung zu schicken, in dem er die volle und alleinige Verantwortung für die Rebellion übernahm: “Alle befolgten strikt die Anordnungen, die
ich befohlen hatte.” Der Brief war versehen mit dem Motto: “Gott und Vaterland oder Tod!” (Dann wohl eher letzteres!)

Unliebsame rebellische Zeitgenossen

Der offensichtliche Unterschied zu den drei vorhergehenden Militärrebellionen unter der Amtszeit von Menems Vorgänger Alfonsin (LN 160,164,178) besteht in dem rigiden Vorgehen der loyalen Truppen. Dauerte die ersten Aufstände zwischen 4 Tagen und über einer Woche, so wurden die Carapintadas dieses Mal in nur 18 Stunden niedergeschlagen. Anders als Alfonsin konnte Menem mit der totalen Loyalität des Militärs rechnen. Unter Menem Vorgänger ging es den Aufständischen vor allem darum, die Verurteilung der Militärs wegen der Menschenrechtsverletzungen während der letzten Diktatur (1976-1983) aufzuheben. Hierbei wurden sie auch von den liberalen Militärs unterstützt. Die Begnadigung eines Großteils der Verurteilten durch Menem im letzten Jahr (LN 186) und die angekündigte Amnestie für die letzten 20 inhaftierten Generäle noch in diesem Jahr haben diese zentrale Forderung erfüllt und zu dem loyalen Verhalten der Mehrheit des Militärs beigetragen. Die Forderung der Rebellen nach der “Wiederherstellung der Würde der Militärs” -also der Anerkennung der “Verdienste im Kampf gegen die Subversion” (während der letzten Diktatur sind über 30.000 Menschen verschwunden) -wird von den Loyalen als unnötig angesehen. Sie haben schon längst erreicht, was sie wollen: ihre Straffreiheit.
Die breite Beteiligung an der jetzigen Rebellion -mit über 600 Soldaten mehr als je zuvor -läßt sich auf andere Gründe zurückführen. 95 %der Beteiligten waren Unteroffiziere -also niederen Ranges. Die schlechte Besoldung und die seit Monaten versprochenen aber ausbleibenden Solderhöhungen sind ein wesentliches Moment der real existenten Unzufriedenheit in diesen unteren Rängen. Gerade sie erlebten in den letzten Monaten -ähnlich wie große Teile der Bevölkerung -eine regelkrechte Verarmung. Gleichzeitig beabsichtigt die Regierung, zum 1. Januar 1991 eine Umstrukturierung des Militärs -inklusive der Privatisierung ihrer Unternehmen -und eine Reduzierung der “zivilen” Angestellten um 40% vorzunehmen. Seineldin hat durch gezielte Agitation gerade in den unteren Rängen diese Unzufriedenheit weiter geschürt und gegen das liberale Wirtschaftsprogramm Menems agitiert.

‘Die Zeit der Diktaturen ist vorbei!’

Auffallende Unterschiede zu den vorhergehenden Revolten sind zum einen die geringe Beteiligung früherer Rebellen (weniger als 10%) und die Unterstützung von Zivilisten. 83%der Beteiligten sind unter 35 Jahren, haben also ihre Karriere nach dem “schmutzigen Krieg” begonnen. Es rebellierten also andere Teile des Militärs als 1987 und 1988. Gleichzeitig schossen bei dieser Revolte zum ersten Mal seit 1963 Militärs auf ihre “Berufskollegen” und verletzten so eine interne Regel aller Militärs. Dadurch wurde das unerbittliche Vorgehen der loyalen Truppen weiter verstärkt.
Daß die Rebellion ausgerechnet zwei Tage vor dem Besuch des US-Präsidenten George Bush -dem ersten US-Staatsbesuch seit 30 Jahren -stattgefunden hat, mag den liberalen Militärs ebenfalls nicht gefallen haben. Bush stärkte Menem allerdings den Rücken und dachte “keinen Moment daran, die Reise zu verschieben”. Am 5.Dezember beglückwünschte der ehemalige CIA-Chef dann den argentinischen Präsidenten (“einer der Anführer dieser Welt”) zur Niederschlagung der Revolte und meinte: “Die Botschaft ist klar: Die Demokratie ist in Argentinien, um dort zu bleiben. Die Zeit der Diktaturen ist vorbei.”
Dennoch hat diese Militärrebellion sicherlich auch negative Effekte für das Image im Ausland: Die Instabilität des Regimes ist für viele einmal mehr unter Beweis gestellt. Und in ein solch unsicheres politisches Klima Auslandsinvestitionen zu holen , ist sicherlich noch schwieriger als ohnehin schon. Die zur Zeit in Buenos Aires kursierenden Gerüchte über angebliches Wissen der Regierung von der geplanten Rebellion verstärken diesen Trend. Wenn Menems Geheimdienste wirklich den Präsidenten vorher über den bevorstehenden Putschversuch informiert haben und Menem die Rebellen quasi bewußt ins offene Messer rennen ließ, wird das Ausland sicherlich nicht so positiv wie erwartet reagieren. Dieser angebliche Loyalitätstest für die Streikräfte könnte sich schnell in einen Bumerang verwandelnd und das Image des Präsidenten durch schlechtes politisches Management und das in Kauf nehmen von 22 Toten trüben.
Innenpolitisch hat Menem mit seinem harten und unnachgiebigen Vorgehen allerdings gewiß an Popularität gewonnen. Mit der zentralen Forderung “Kapitulation oder Auslöschung” stellte Menem seine politische Führungsmacht gerade auch im Unterschied zu Alfonsin unter Beweis und ist in seinem autoritären Führungsstil bestärkt worden. Ließ sich Alfonsín durch Verhandlungen alle Zugeständnisse abpressen, so konnte Menem den “harten Caudillo” spielen, haben die Militärs doch schon längst, was sie wollen. Wie lange dieses positive Image des Präsidenten anhält, hängt allerdings auch von dem Tempo und dem Verlauf der Prozesse ab. Wenn auch die Ankündigung der Todesstrafe sicherlich nur ein populistischer Schachzug ist, kann Menem nun auf keinen Fall geringe Arreststrafen verhängen. Aber es liegt auch in seinem Interesse, die Rebellen für längere Zeit hinter Gitter zu bringen, um sich das Problem vom Leib zu schaffen. Die Militärgerichte nahmen bereits zwei Tage nach der Beendigung ihre Arbeit auf: Die Rebellen sollen in einem gemeinsamen Gerichtsverfahren abgeurteilt werden. Pikant ist natürlich, daß die Anführer dieser Rebellion im Herbst vergangenen Jahres von Menem amnestiert worden waren. Begründung: Wiederherstellung der Einheit des Militärs. Diese Argumentation wird nun im nach-hinein Lügen gestraft.

Das Ende der Rivalitäten -Die Einheit des Militärs

Der Putschversuch vom 3. Dezember markiert das vorläufige Ende der Rivalitäten innerhalb des Militärs. In der argentinischen Geschichte prägten immer wie-der die Auseinandersetzungen zwischen den nationalistischen und den liberalen Fraktionen des Militärs die Politik. In wechselnden Allianzen mit der nationalen Industriebourgeoisie und den Großgrundbesitzern und dem Finanzkapital führten diese Auseinandersetzungen zu ständig wechselnden Regierungen und Putschen, die die Instabilität des Landes kennzeichneten. Mit dem Putsch 1976 setzte sich zum ersten Mal die liberale Fraktion, die vor allem mit dem Auslandskapital verbunden ist, langfristig durch. Das Scheitern dieser Diktatur und der verlorene Krieg um die Malvinen ließen nach 1983 die alten Konfliktlinien wieder erscheinen. Die jüngste Revolte macht allerdings Schluß mit dem Mythos des “nationalen Heeres”, welches gegen die Großmacht USA die nationalen Interessen des Landes vertritt. Vielmehr hat der “loyale”Teil der Armee verstanden, daß dem Heer in der derzeitigen politischen Situation eine neue Rolle innerhalb der argentinischen “Demokratie” zukommt. Die Entsendung von zwei Schiffen an den persischen Golf ist Ausdruck dieser neuen Aufgaben der Militärs, die nun nicht mehr offen die eigene Bevölkerung unterdrücken sollen. In dieser Position ist das Militär nun eindeutig gestärkt.
Dieser Restrukturierungsprozeß der Armee folgt der wirtschaftlichen und politischen Restrukturierung des Landes. Menem hat den Neoliberalen -dem Auslandskapital und der nationalen Finanzbourgeoisie- das politische Feld geebnet. Das Militär zieht nun nach, schließlich wurde es auch in der Vergangenheit immer wieder von wirtschaftlichen Interessengruppen instrumentalisiert (s. Kasten). Es ist ein Sieg der liberalen Militärs, nicht der demokratischen. Neoliberalismus und gute internationale Beziehungen, vor allem mit dem engsten Vertrauten USA haben über den nationalistischen Antiimperialismus der faschistoiden Carapintadas gesiegt. Es ist in dieser Zeit einfach nicht angebracht, so offen wie die Carapintadas den wahren Charakter der argentinischen Militärs zur Schau zu stellen.
Die Carapintadas werden allerdings von Zivilisten unterstützt, die ihnen schon in der Vergangenheit mit großen Geldmengen aushalfen. Diese Zivilisten sind diejenigen, die mit der Wirtschaftspolitik des Präsidenten nicht einverstanden sind und um ihre Interessen ringen. Gleichzeitig werden die Forderungen Seineldins auch von einem großen Teil -vor allem auch der armen -Bevölkerung unterstützt. Gescheitert ist allerdings die militärische Variante dieser Politik. Für Seineldín zukunftsweisender ist vielleicht das Projekt seines Kompagnons Aldo Rico, der nun über eine Partei und die Kandidatur für den Gouvemeursposten der Provinz Buenos Aires auf politischem Wege weiterzuarbeiten versucht. Rico beschimpfte seinen ehemaligen Kampfgefährten nach der Rebellion als “Hurensohn” und “Verräter”. Schon vorher hatte er Seineldín darauf hingewiesen, daß die militärischen Rebellionen kontraproduktiv und überholt seien. Die Ideen und Inhalte der Carapintadas werden auf jeden Fall noch länger das politische Leben mitbestimmen. Ein nationalistisches Projekt gewinnt dann an Bedeutung, wenn sich die Unzufriedenheit über Menems liberales Regierungs-Programm weiter steigert. Ob allerdings Seineldin dabei noch einmal eine Rolle spielen wird, ist eher unwahrscheinlich.

Kommentar von Eduardo Aliverti (Página/12, 9.12.1990)

Sein oder nicht Sein

Vor 40 Tagen hat der Folterer von Villa Martellii in seinem Brief an die Regie-rung behauptet, es werde etwas passieren, da die Unzufriedenheit der Militärs ihren Höhepunkt erreicht habe. Der letzte Montag war das bestätigende Element, denn diese wahrscheinlich unumgängliche Berufs-und vor allem Identitätskrise des Militärs, die seit den Malvinas dahinkroch, war nie so offen-sichtlich geworden. Vor langer Zeit gab es die letzten Schußwechsel zwischen den Fraktionen, aber die jetzige Krise ist konzeptionell viel schlimmer.
Damals (50er -70er Jahre) handelte es sich um zwei machtpolitische Projekte, mit dem Ziel sich der Führung des Landes zu bemächtigen oder sie zu beeinflussen. Heute ist es die Auseinandersetzung von zwei oder mehr Gruppen, die um das Wie des Überlebens des Militärs kämpfen. Selbst die USA brauchen diese teuren lateinamerikanischen Streitkräfte nicht mehr, die in Zeiten globaler Entspannung und des Siegeszugs des Kapitalismus ihren parasitären Charakter entfalten. Was am Montag endete, ist der interne Kampf zwischen einer Verbindung von Dilettanten, mit bemalten Gesichtern, die sich nicht dem kontinentalen Patron fügen wollen, obwohl sie im Genozid mitgewirkt haben, der von ihm angeordnet worden war, um ein ökonomisches Modell von Industrieruinen und 50 Mrd. US.-Dollar Auslandsschulden zu produzieren; und einer anderen Vereinigung, die bereit ist, eine neue amerikanische Ordnung zu akzeptieren, in der die Militärs für lange Zeit nicht mehr die Option für politischen Einfluß oder Macht haben werden. Auf jeden Fall sind es nicht das Volk oder dessen Repräsentanten, die darüber bestimmen, was die Aufgabe der Militärs sein soll. Es sind andere Leute, die die Wichtigkeit der Militärs in der einen Etappe und die Nutzlosigkeit in der anderen bestimmen. Unter ihnen zum Beispiel derjenige, der uns diese Woche besucht.

Ein Jahr unter US-geschützter Demokratie

Regierung von US-amerikanischen Gnaden

Am Nachmittag des 20.Dezember 1989 wurden die drei Kan­didaten der Opposi­tion, Guillermo Endara, Ricardo Arias Calderón und Guillermo (Billy) Ford vom Chef der Südko­mandos der US-Streitkräfte nach Fort Clayton eingela­den. “Sind Sie bereit Ihre Posten einzunehmen?”, lau­tete dort die Frage an die panamaischen Politiker. Sie waren bereit. Heute besetzen die zuvor in der “Demokratischen Allianz der Zivilen Opposition” (ADOC) zusammengeschlossenen politischen Kräfte die wichtig­sten Regierungsposten. (siehe LN 193) Guillermo Endara, poli­tischer Zögling des großen Mannes der panamaischen Politik und Begründer des Panameñismo Arnulfo Arias, ist heute Präsident. Er ist es jedoch nur von “US-amerikanischen Gnaden”, denn mit einer verstärkten Besatzungsmacht im Land ist der Hand­lungsspielraum der Regierung eingeschränkt. Der Panameñismo, die über Jahrzehnte die panamaische Politik bestimmende Bewegung, befindet sich seit dem Tod seines Grün­dungsvaters Arias 1988 in der Krise. Inwischen ist er in vier Fraktionen zersplittert.
“Der Panameñismus ist in der Regierung, aber er hat keine Macht”, bestärkt Royo Linares, Rechtsanwalt und unabhängiger Politiker aus dem panameñistischen Lager, diese Tatsache und fügt hinzu: “Man muß kein besonders scharfer Beob­achter sein, um festzustellen, daß die Arnulfisten, die Endara begleiteten, nicht in hohen Führungspositionen zu finden sind, und daß die arnulfi­stische Basis durch die Parteien der Regierungsallianz verdrängt worden sind – insbe­sondere durch die Christ­demokratie, die bei den Wahlen 1989 (als die Arnulfi­sten selbst nicht zu den Wahlen zugelassen waren – V.H.) am meisten durch die Arnulfisten begünstigt wor­den ist.”
Tatsächlich haben die Christdemokraten (PDC) unter Füh­rung von Arias Calde­rón, dem jetzigen Ersten Vizepräsi­denten, zudem Justiz- und Innenminister, aus heutiger Sicht gute Chancen, die Partei der Zukunft zu sein. Sie sind die zur Zeit am besten organisierte Partei und erfreuen sich ausländischer Unterstützung.

Die Auseinandersetzungen um die Streitkräfte

Stolperstein könnte für die PDC jedoch der Aufbau der “Fuerza Publica” sein, die an die Stelle der alten Streitkräfte getreten ist. Dafür nämlich ist ihr Par­teiführer Calderón zuständig. Laut Dekret Nr. 38 soll den neuen “Öffentlichen Ordnungs­kräften” die Aufgabe zukommen, “die demokratischen Institutionen zu schüt­zen” und für den Fall eines “Krieges oder der Störung der öffentlichen Ordnung” die Einsatzkräfte zu verstär­ken.
Vielleicht die entscheidendste Konsequenz der US-Inter­vention war die Auflö­sung der panamaischen Streit­kräfte. Sie waren bisher Garant für eine eigenstän­dige panamaische Politik gewesen und seit Ende der 60er Jahre bildeten sie die ent­scheidende Machtstütze des nationalpopulistischen Regimes Omar Torijos’. Un­ter dem Namen “Panamaische Verteidigungskräfte” hatte Noriega in ihnen sei­nen bedeutendsten Rückhalt gefunden.
Der Christdemokrat Arias Calderón war bereits Mitte des Jahres heftig kritisiert worden, weil er Teile der alten Armee in die neuen Polizeikräfte übernehmen wollte. Obwohl die ehemaligen “Verteidigungskräfte” in vier polizeiliche Dienste unter getrenntem Kommando von Regierung, Justiz und Präsidentschaft gesplittet werden sollten, fürchteten die anderen politischen Kräfte, daß die Christdemokratie sich hier einen Garanten ihres eigenen “demokratischen” Pro­jektes heranziehen wolle. In den bisherigen “Fuerzas de Defensa de Panamá” (FDP) selbst finden sich unterschiedliche Interessensgruppen: die während der Noriega-Herrschaft exilierten Offi­ziere, die Offiziere, die an der Miltärrevolte am 16.März 1988 beteiligt waren, die Offiziere, die an der Militärerhebung vom 3.Oktober 1989 gegen Noriega mitwirkten und die Offiziere, die nach der Inva­sion die neue Regierung anerkannt hatten und mit ihr zusammenar­beiten woll­ten.
Inzwischen mußten bereits drei neu eingesetzte Chefs der Fuerza Publica entlas­sen werden.
Die Unruhe in den neuen Polizeikräften fand ihren Höhe­punkt in einem Mili­täraufstand am 5. Dezember. Der erst im September von seinem Posten als Chef der Fuerza Publica enthobene Eduardo Herrera hatte mit seinen Leuten das Haupt­quartier der panamaischen Staatspolizei besetzt. Nach kurzer Zeit umstellten US-Truppen jedoch das Gebäude und bereiteten dem Aufstand ein rasches Ende. Der ehemalige Oberst der panamaischen Streitkräfte war Mitstrei­ter Manuel Noriegas gewesen. 1988 wurde er von diesem jedoch auf einen Bot­schafterposten nach Israel abgeschoben. Im Verlaufe desselben Jahres noch organi­sierte er einen von der CIA geplanten Putsch gegen Noriega. Nach dessen Scheitern lebte Her­rera in Miami und kehrte am 20.Dezember mit den US-Invasi­onstruppen in seine Heimat zurück. Im Oktober nun war er unter dem Vorwurf, er plane die Desta­bilisierung der Regierung Endara, in Haft genommen worden. Mit Unterstüt­zung von außen gelang ihm jedoch die Flucht von der Gefangenen­insel Coiba. Es sei ihm um eine bessere Besoldung der neuen “Öffentlichen Ord­nungskräfte” gegangen, die ihn zu ihrem neuen Sprecher ernannt hätten. Er wolle mehr Respekt gegenüber dieser Institu­tion erreichen und fordere eine nationalisti­schere Hal­tung der neuen Führung. (Siehe dazu den Kommentar im Kasten)

Die Wirtschaftspolitik der Regierung

Der aus der als neoliberal bekannten Molirena-Partei kommende Guillermo Ford ist als Planungsminister für die Wirtschaftspolitik der Regierung Endara verantwort­lich. Er setzt mit seiner Politik auf totale Liberali­sierung und Deregu­lierung der Wirtschaft. Der Wieder­aufbau des durch das Wirtschaftsembargo der USA und die spätere Invasion stark geschädigten Landes soll durch die Steige­rung der Exporte, die Privatisierung der Staatsbetriebe und den Abbau gewerk­schaftlicher Rechte erreicht werden.
Folgt die Wirtschaftspolitik der Regierung auch in Zu­kunft der von “Billy” Ford vorgelegten “Nationalen Strategie zur Entwicklung und Modernisierung”, so steht die Liberalisierung des Arbeitsmarktes oben an. Der Codigo de Trabajo, also die arbeitsrechtlichen Bestim­mungen, Errungenschaft aus den Zeiten des Torrijismus, sollen abgebaut werden. Im Dokument heißt es wörtlich: “Die Politik der frühzeitigen Pensionierung, die exzes­sive Erweiterung staatlicher Beschäfti­gung und die Aus­dehnung der Schulpflicht haben das Arbeitsangebot redu­ziert, indem man Personen im arbeitsfähigen Alter vom Arbeitsmarkt abgezogen hat.” Hier ist zugleich eine weitere wirtschaftsstrategische Linie angedeutet: Die Pri­vatisierung der Staatsbetriebe – auch über die “Deregulierung” der Kanalzone selbst wird bereits dis­kutiert – und der Abbau sozialer Leistungen. Wirt­schaftswachstum erhofft sich die Regierung allein durch die Expansion der Exporte. Innerhalb von nur drei Jah­ren sollen dagegen alle Schutzzoll-Maß­nahmen für ein­heimische industrielle und landwirtschaftliche Produ­zenten fal­lengelassen werden.
Panamas Außenschuld beträgt knapp 7 Mrd. US-Dollar und gegenüber den internationalen Finanzorganisationen ist die Position der panamaischen Regie­rung nicht minder deutlich: “Panama erkennt die gesamte existierende Ver­schuldung an und wird in Verhandlungen versuchen, die weitere Begleichung der Schuld zu klären”, soweit das ministeriale Dokument. Diese wirtschaftliche Strategie spiegelt sich in einer Übereinkunft zwischen der pana­maischen Regie­rung und der US-amerikanischen Behörde AID wider, in der die wirtschaftliche Hilfe des “großen Bruders” festgelegt wurde. In diesem “Programm zur wirt­schaftlichen Wiederbelebung” finden sich zwei be­deutende programmatische Aussagen: Die Normalisierung der Beziehungen zu den internationalen Fianzorganisa­tionen (IWF und Internationale Bank für Wiederaufbau und Ent­wicklung BID) und die Unterstütung des Investi­tionsetats der panamaischen Regierung. Dazu gehörten bisher: eine Zahlung von 130 Mill. US-Dollar, um die ausstehenden Zahlungen Panamas bei den internationalen Finanzorganisationen begleichen zu können, sowie wei­tere 113,85 Mill. US-Dollar in drei Tranchen, um die Investitionstätigkeit der Regierung zu steigern. Im Vergleich dazu belaufen sich die Schäden, die Panama durch das US-Wirtschaftsembargo und die darauf­folgende Invasion entstanden sind, auf ca. 4 Mrd. US-Dollar.
In den letzten Monaten ist es in der Regierung und im Parlament zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Parteien gekommen. Das natio­nale Unterneh­mertum in Industriesektor und Landwirtschaft kriti­siert heftig die Pläne der Regierung. Für sie würde der Wegfall der Zollprotektion das Ende bedeuten. Nach den vollmundigen Versprechungen der US-Regierung über wirt­schaftliche Hilfe sind sie über die bisher erfolgten Zahlungen enttäuscht.
Die katastrophale soziale Lage der Masse der Bevölke­rung ist unübersehbar. Die Entlassung von 20 000 Beschäftigten – nach Angaben der Gewerkschaft der Staatsangestellten (FENASEP) gibt es allein in diesem Sektor inzwischen 5000 Beschäftigte weniger – hat die Arbeitslosigkeit drastisch ansteigen lassen. Sie liegt nach Angaben der Nachrichtenagentur IPS inzwischen bei 40% und betrifft bereits 308 000 Personen. Von der Ar­beitslosigkeit besonders betroffen sind außer den Staatsangestellten die im Handel Beschäftigten im Zen­trum der Hauptstadt. Hier waren die meisten Läden nach den umfassenden Plünderungen in den Tagen nach der Invasion von den Unternehmern ganz geschlossen worden. Selbst nach Angaben des Ökonomen und Assessors von Arias Calderón leben in Panama zur Zeit 112 500 Fami­lien in extremer Armut. Das sind ca. eine halbe Million Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von nur 2,37 Mil­lionen (Stand 1989). Aufgrund der angespannten sozialen Lage hat sich die Anzahl der Dieb­stähle, bewaffneten Raubüberfälle auf Banken und Lebensmittelgeschäfte und Morde stark erhöht. Die Polizei kann die Sicherheit auf den Straßen nicht mehr garantieren. Im Distrikt San Miguelito und Colón, in denen die meisten Delikte ver­übt wurden, haben sich bereits bewaffnete Bürgerwehren gebildet. Juan Champsaur, Direktor des “Nationalen Systems zum Schutz der Zivilbevölke­rung” (SINAPROC) zeigt sich besorgt: “Wenn sich diese Entwicklung fort­setzt, kann es zur Bildung von Todesschwadronen kom­men.”

Wachsender nationalistischer Widerstand und sozi­aler Protest

Die Proteste der Bevölkerung gegen die Regierungspoli­tik haben sich in den letzten Monaten verstärkt. Bis Mitte des Jahres hatten bereits die Kriegsflücht­linge und Angehörigen der Opfer durch vereinzelte Demonstra­tionen auf ihre miserable Lage aufmerksam gemacht. Stu­denten waren für bessere Ausbil­dungsbedingungen auf die Straße gegangen, ebenso wie Krankenschwestern und Ärzte für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Bishe­rige Höhepunkte waren die Großdemonstration am 4. Dezember, bei der ca. 100 000 Menschen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung und die Anwesenheit der US-Trup­pen in Panama demonstrierten. Zum 24-stündigen Generalstreik am 5. Dezember riefen 68 Gewerkschaften gemeinsam auf. Sie bildeten eine einheitliche Front gegen die Regierungspolitik.
Zwar hat sich die Protestbewegung verbreitert, dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Oppositionsbewegung noch ganz am Anfang eines Erneue­rungsprozesses befindet. So ist die Gewerkschaftsbewe­gung erneut gespalten. Wie bereits unter der Noriega-Diktatur unternehmen erneut einige Gewerkschaften den Versuch einer Reorganisierung der Gewerkschaftsarbeit. So haben sich verschiedene Gewerkschaften der Staatsan­gestellten, der Eisenbahner, der Hafenarbeiter und Uni­versitätsangestellten sowie der “Central Auténtico de Trabajadores Independientes” (CATI) zur “Unión General de Trabajadores” (UGT) zusammengeschlossen. Sie machen Front gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, die geplanten Veränderungen der Arbeitsbestimmungen, for­dern ein Moratorium für die Schuldenzahlung und für die Entschädigung der Kriegsflücht­linge. Ihr Ziel ist es, “die Gewerkschaftsbewegung von jenen Führern zu be­freien, die sie 18 Jahre lang an ein Projekt gebunden haben, daß von den Kasernen aus für den Rest der pana­maischen Gesellschaft vorgezeichnet worden ist”. Eine Absage an den Torrijismo also und an die Gewerkschaftsfüh­rer, die mit Noriega kollaborierten. Aber bis zum Auf­bau einer autonomen Gewerkschafts­bewegung ist es noch ein langer Weg.

Kasten

Panama – ein Jahr danach

Im folgenden dokumentieren wir in Auszügen einige Einschätzungen des Sozial­wissenschaftlers Raúl Leis vom “Centro de Estudios y Acción Social” (CEASPA) zur letzten Militärrevolte und zur Rolle der Opposition in Panama.
Die Opposition des Volkes
Die Regierung wurde bisher von der Nichtexistenz einer relevanten und organi­sierten Opposition begünstigt, die es versäumte, die Schwäche der Regierung Endara auszunutzen. Der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD), die die Regierung Noriegas stützte, befand sich in einem Zustand politischer Lähmung. Die Linke war schwach und gespalten und die Volksbewegung war unorgani­siert und in den Jahren der Diktatur kooptiert. Jeden zwanzigsten des Monats gab es jedoch Protestdemonstrationen gegen die Invasion, und es entwickelten sich Mobilisierungen zu bestimmten Themen. Diese verschiedenen Aktionen gewannen an Kraft, bis in der Koordination eine Einheit verschiedener Kräfte erreicht wurde, die fast ein Jahr nach Invasion zu einem Generalstreik aufrufen konnten, der materielle Forderungen mit dem Einklagen der nationalen Souverä­nität verband. Die Regierung und die USA sahen sich also mit einer kohärent organisierten Opposition konfrontiert, organisiert jedoch eher als soziale (Volksorganisationen und -gruppen), denn als politisches Subjekt (Parteien, Avantgarde) Dieses Subjekt besaß außerdem eine Volks- und in gewissem Sinne nationale Identität. Das heißt, es handelte sich nicht um eine “trinkbare” und moderate Opposition, in der Lage, die Regierung zu stellen, sondern um eine schwarze, indianische und arme Opposition mit patriotischem Geist.
Das Manöver
Es war also nötig, diese Opposition aufzuhalten. Wie das aber in einem Moment anstellen, in dem die Popularität der Regierung extrem niedrig ist? Eine “Verschwörung” in die Wege leiten, beide Sachen zusammenbringen: Putsch und Streik, und die soziale Bewegung, die sich um die Koordination gebildet hat, praktisch außerhalb des Gesetzes stellen.
Das erklärt die merkwürdige Flucht des Oberst Herrera aus einem Gefängnis, das von US-Basen umgeben ist, seine Erhebung mit einer Gruppe von Leuten, die außerdem nur grundlegedne materielle Forderungen stellten und nicht an die Macht drängten. Diese Aktion beeinträchtigte den Streik, denn viele fürchteten ihre Entlassung und wollten sich nicht an einer aufrührerischen Bewegung betei­ligen. Dafür gab es einen Vorläufer, als am 16. Oktober eine große Gewerk­schaftsdemonstration stattfand, die zur Gründung der Koordination führte: Die Regierung beschuldigte Herrera der Konspiration (er wurde daraufhin festge­nommen) und bezog Gewerkschaftsführer in die Anschuldigung mit ein.
Es ist gut, sich daran zu erinnern, daß sich Herrera in den letzten Monaten des Noriega-Regimes in der Opposition befand und, daß er mit der Zustimmung der USA sieben Monate lang die neue Polizei leitete, bis es zu Reibungen zwischen ihm und Endara kam.
Aber es gibt Schüsse, die nach hinten losgehen. Die Mehrheit der Panameños und Panameñas wies das Manöver zurück und empfand die Militäraktion der USA wie “einen kleinen 20. Dezember”. Unter dem Strich blieben ein Toter und mehrere Verletzte, Ausgangssperre in einem Armenviertel und die Bevölkerung, die lautstark gegen die Präsenz der USA protestierte. Die Regierung Endara stellte erneut ihre Unfähigkeit, Schwäche und Abhängigkeit unter Beweis, da sie wiederum auf ein ausländisches Heer zurückgreifen mußte, während sie pro­klamierte, daß die Militärs der panamaischen Polizei der Regierung loyal gegenüberstünden. Das Manöver scheint das Markenzeichen des Geheimdienstes des Südkommandos zu tragen, der wegen seiner Effizienz bei verschiedenen Gelegenheiten militärische Preise erhalten hat.
Panorama
Ein Jahr nach der Invasion ist Panama ein besetztes Land mit einer bevormun­deten Regierung, die entschlossen ist, eine gegen das Volk gerichtete antinationale Politik der Strukturanpassung zu betreiben. Wir haben eine immer elitärere und begrenztere Demokratie, die den sozialen Akteuren immer weniger Spielraum läßt. Andererseits nehmen die Proteste und das Organisationsniveau zu, aber es handelt sich um Proteste, die wenig Alternativvorschläge entwickeln; eine Situation, die anscheinend für viele Länder gilt.
Ein Jahr nach der Invasion fehlt Panama das wichtigste Attribut einer Nation: seine Souveränität. Ohne sie hat eine Nation keine Seele. Die USA halten entgegen völkerrechtlichen Verträge das Land militärisch besetzt – auf Bitte einer Regierung, die zwar gewählt war, aber auf dem Teppich einer Invasion zur Macht kam und in einer nordamerikanischen Militärbasis vereidigt wurde. Die USA bestimmen den Ablauf auf der offiziellen Bühne, die US-Obristen begleiten die Minister auf den Reisen ins Landesinnere und setzen sich als Berater in den öffentlichen Institutionen fest. Um einen Diktator zu stürzen, ruinierten die USA ein Land, verteiften die Armut, entzogen einer Regierung die Legitimität, die sie ursprünglich besaß, und machte aus einer Nation ein Protektorat und eine Kolonie. Panama, das in der Zeit der Torrijos-Carter-Verträge eine Art Test für eine neue Form der Zusammenarbeit war, wurde in der Ära Bush-Noriega-Endara zum Schauplatz eines blutigen Konflikts.
Ein Jahr nach der Invasion lebt Panama. Der Schaum auf dem Bier ist abgesunken. Viele Panameños und Panameñas, die Invasion und Befreiung verwechselten, sehen jetzt klar. Wir werden immer mehr, die wir ein freies Vaterland ohne ausländische Herrschaft wollen, ein Land, in dem das Volk sein Schicksal selbst bestimmt und eine wirkliche Demokratie.
Raúl Leis / Übersetzung: Jürgen Weller

Wahlen: Die Macht wird nicht an den Urnen erobert

Am 11. November erlebte Guatemala ein weiteres Mal allgemeine Wahlen.
Diesmal traten zwölf Kandidaten an, die “Interessen des Volkes” zu vertreten. Zwei Militärs und zehn Zivile von 17 Parteien boten Allheilmittel an: von kon­zeptlosen SozialdemokratInnen bis zu KandidatInnen mit dem Vorzeichen “christlich”, und natürlich den unvermeidlichen VertreterInnen der “harten Hand”, angeführt von den Militärs. Von den 3,2 Millionen beim Wahlregister eingeschriebenen GuatemaltekInnen enthielten sich 44 Prozent der Stimme, in einigen Provinzen auf dem Land waren es über 70 Prozent. Darüberhinaus hat­ten sich ungefähr anderthalb Millionen Wahlberechtigte nicht einmal einge­schrieben. Der wirkliche Anteil der Enthaltungen lag also bei circa 70 Prozent.
Die beiden Kandidaten, Jorge Carpio von der Nationalen Zentrumsunion (UCN) und Jorge Serrano Elías von der Bewegung der Solidarischen Einheit (MAS) ver­treten die “neue” oder sogar “progressive” Rechte. Carpio, Bruder des augen­blicklichen Vizepräsidenten, Roberto Carpio, taucht täglich in seiner Zeitung “El Gráfico” auf und ist als Sportmäzen und Verteidiger des
Wirtschaftsliberalismus bekannt. Gegenkandidat Serrano hat enge Beziehungen zu fundamentalistischen Sekten in den USA. Er war seit 1983 im Staatsrat von Ex-Diktator Ríos Montt bis ein erneuter Staatstreich den Diktator, mit dem Serrano religiöse Erleuchtungen teilt, absetzte. Außerdem war er Berater des militärischen Geheimdienstes. Als Mitglied der Nationalen Versöhnungskom­mission und durch einen geschickt geführten Wahlkampf, der die direkte Kon­frontation mit anderen Kandidaten vermied, konnte er wieder politischen Boden gutmachen. Die Zeitung El Gráfico im Besitz von Jorge Carpio und die evangeli­schen Kanzeln der Kirche Elim, der Jorge Serrano angehört, sind die Tribünen, von denen aus die beiden Gewählten in den nächsten Wochen die Bevölkerung von ihrer Berufenheit überzeugen wollen, bevor am 6. Januar das Präsidentenamt endgültig für 1991 bis 1995 einem dieser Rechten zugesprochen werden wird, die entweder Jesus Christus oder Milton Friedman nachbeten.
Unabhängig von den Persönlichkeiten der Kandidaten werden zwei Elemente Sieg oder Niederlage bestimmen: Die 44 Prozent der eingeschriebenen Wähler­Innen, die sich bei der ersten Runde enthalten haben werden heiß umworben sein, ebenso wie die Unterstützung der anderen wichtigen Parteien, besonders der Partei der Nationalen Aktion (PAN), die große Sympathien in der Hauptstadt genießt, und der Christdemokratischen Partei (DC), die trotz ihrer Niederlage einige Bastionen auf dem Land halten konnte.

Der Dialog auf dem Weg in die Sprachlosigkeit

Darüberhinaus ist der Krieg zum zentralen Thema der Wahlen geworden. Für die guatemaltekische Bevölkerung hängt der Aufbau einer “realen Demokratie” vom Ende des Krieges ab, und dieses ist wiederum von der Entwicklung des Dialogprozesses abhängig. Der Dialog hat im März in Oslo mit dem “Abkommen über die Suche nach Frieden mit politischen Mitteln” begonnen, unterzeichnet von der Nationalen Versöhnungskommission und der Revolutionären Nationa­len Einheit Guatemalas (URNG), in der die Guerilla-Gruppen zusammenge­schlossen sind. Seitdem haben sich viele gesellschaftlich wichtige Gruppen mit der UNRG an einen Tisch gesetzt: die Parteien , die großen und mittleren Privat­unternehmerInnen, die religiösen Gruppen, die Volksorganisationen, Gewerk­schaften und Universitäten. Jetzt steht das Zusammentreffen mit der Regierung und dem Militär aus. Serrano und Carpio hatten eingewilligt, sich schon im Dezember gemeinsam mit dem amtierenden Präsidenten Cerezo mit der Gene­ralkommandantur der URNG zu treffen.
Der bisherige Präsident Cerezo war vor vier Jahren noch mit dem Versprechen angetreten, die Macht der Militärs einzuschränken und gegen die Menschen­rechtsverletzungen vorzugehen. Er wollte damit das Land in der Weltöffentlich­keit wieder hoffähig machen. Sein Scheitern wird durch Tausende von nie aufge­klärten Morden und Entführungen überdeutlich belegt. Die Präsidentschaftskan­didaten 1991 versprechen nicht einmal mehr, dies alles zu ändern. Serrano sagte in der ersten Pressekonferenz nach der Wahl: “..man muß anerkennen, daß die Militärs die Macht haben. Eine zivile Regierung hat nur die Wahl, sich gegen sie zu stellen und zu scheitern, oder mit ihnen zusammenzuarbeiten.”
Nachdem der Menschenrechtsbeauftragte harte Kritik an den Militärs geübt hatte und das Ansehen der Armee damit auch auf konservativer Seite litt, haben die Kandidaten ihre ursprüngliche Zustimmung zu einem Treffen mit Cerezo und der UNRG nun plötzlich wieder zurückgezogen. Offenbar soll die harte Linie des Kampfes gegen die Guerilla wiederbelebt werden, zurück also zu den ewigen Werten der Retter des Vaterlandes. Der Chef des Generalstabs, Roberto Mata, erklärte schon im November, die Regierung könne nur mit entwaffneten Gruppen in den Dialog treten. Der harte Standpunkt wird nun auf einmal wieder von der zivilen Rechten mitgetragen. Auch der Präsident der Zentrale der Unter­nehmerInnen, Jorge Briz, wandte sich mit der Forderung nach Waffenniederle­gung der Guerilla an die Öffentlichkeit. Die Nationale Versöhnungskommission ist damit brüskiert worden. Die vorsichtigen Hoffnungen auf die Möglichkeit eines Dialoges zur Beendigung des Krieges drohen sich dem Nullpunkt zu nähern.

Extreme Rechte in der Offensive

Bei den Besetzungsaktionen der Contra haben die Policía Sandinista und das Sandinistische Heer bislang fast überall eine bis zur völligen Abwesenheit zurückhaltende Haltung gezeigt. Als Polizei-Verbände doch eine von Contras besetzte Brücke bei Sébaco auf der Hauptstraße in den Norden Nicaraguas – rund zwei Autostunden von Managua entfernt – räumen wollten, kam es zum Blutbad: 4 tote und 17 verletzte Polizisten wurden Opfer der nicht abgegebenen Contra-Waffen. Als Reaktion darauf umstellten und durchsuchten Polizisten das offi­zielle Bürohaus der Contra-Organisation “Resistencia Nicaraguense” in Managua und fanden dort Kalaschnikoff-Gewehre und Handgranaten. Contra-Boß “Rubén” erklärte öffentlich, daß er keine Verantwortung mehr für – natürlich von den Sandinisten verschuldete – Blutbäder übernähme, was getrost als Seinen-Leuten-freie-Hand-geben verstanden werden kann. Auch wenn ihr gesamtes politisches Umfeld unter Beschuß steht, ist Violeta Chamorro selbst von der extremen Rechten bislang noch nicht explizit ins Visier genommen worden. Vize-Präsident Godoy, der die Contra-Aktionen als “Volksproteste” voll unterstützt, macht allerdings keinerlei Hehl daraus, daß er das “Vize-” als abzuschüttelnden Makel empfindet.

Concertación: Die rechten Hardliner gehen in die offene Opposition

Die SandinistInnen, die ja eigentlich “die Opposition” zur Chamorro-Regierung hatten sein sollen, stehen in diesen Konflikten in voller Unterstützung für Violetas “Präsidialamtsminister” Lacayo. Gerade erst am 26. Oktober hatten sie – nach zähen Verhandlungen, nach Verhandlungsabbrüchen von Seiten der in der “Nationalen ArbeiterInnenfront” FNT zusammengeschlossenen sandinistischen Gewerkschaften, nach massiven Streikdrohungen und erneuten Vier-Augen-Gesprächen von Daniel Ortega und Antonio Lacayo – mit der Regierung ein “Concertacións”-Abkommen unterzeichnet. Nach den Kraftproben der Streiks von Mai und Juli hatte die Wirtschaftskrise und die zu ihrer Überwindung unab­dingbare Notwendigkeit einer Stabilisierung der internen politischen Lage, die Regierung dazu bewegt, die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren zur Konzertierten Aktion, spanisch “concertación” aufzurufen.
In den Verhandlungen über die Inhalte des Concertationsabkommens spalteten sich die Rechtskräfte: Der Unternehmerverband COSEP, der bereits in der Ver­gangenheit unter der sandinistischen Regierung die Bestrebungen zur Konzer­tierten Aktion boykottiert hatte, verweigerte auch diesmal die Unterzeichnung.
Die den SandinistInnen und die FNT waren mit der Forderung nach Abschaf­fung des Dekrets 11-90 der Chamorro-Regierung – Landrückgabe an ehemalige BesitzerInnen – in die Verhandlungen gegangen. Noch vor der Unterzeichnung der Abkommen war mit der Regierung über den FNT-Vorschlag Einigkeit erzielt worden, eine aus den verschiedenen Sektoren zusammengesetzten “Nationalen Agrarkommission” zu gründen, die sowohl auf nationaler wie auf regionaler Ebene die sich im ganzen Land ausweitenden Landkonflikte lösen sollte. Diese Regelung stieß auf die heftige Ablehnug seitens des COSEP, der eine Verlänge­rung der ursprünglich im November auslaufenden Fristen für das Einreichen der Rückgabe-Ansprüche im Rahmen des Dekrets 11-90 an die von der UNO domi­nierte Kommission forderte.
Absolute Einigkeit bestand zwischen FNT und Regierung in ihren am 22.Oktober veröffentlichten Vorschlägen auch in der Art der Rückgabe von Staatsbesitz: Keine Rückgabe von ehemaligen Somoza-Besitztümern, Beachtung der Rechte von ArbeiterInnen, und kein Antasten der vor dem 25.Februar 1990 an Koopera­tiven und Individuen verteilten Besitztümer. Dahinter mögen sich real unter­schiedliche Konzepte verborgen haben, auf dem Papier herrschte wortwörtlich Übereinstimmung. Auch hier widersetzte sich der COSEP; die reale Anerken­nung der sandinistischen Beschlagnahme-Politik (bis auf Ausnahmefälle) mochte die Unternehmervereinigung nicht anerkennen.

Konzertierte Konfrontation gegen die Konzertierte Aktion

Doch währen die Satire-Zeitschrift “Semana Cómica” in ihrem Titelbild zwei Tage nach dem Concertacións-Abkommen den COSEP schon politisch isoliert auf einer einsamen Insel sitzen sah, ging der COSEP selbst auf einer reichlich mit Claqueuren bestückten Pressekonferenz zur Offensive über. Die COSEP-Vertre­ter wiederholten ihre wesentlichen Forderungen nach der Fristverlängerung des Dekrets 11-90, Rückgabe auch der nicht in Staatsbesitz befindlichen Besitztümer, die vor dem 25.Februar verteilt worden waren usw. Auf die Frage, wohin denn diese Politik des COSEP eigentlich führen solle, erwiderte der COSEP-Verhand­lungsführer Ramiro Gurdián, daß es um Prinzipien gehe; sie seien nun einmal Feinde der FSLN.
Dann wurde überraschend verkündet, daß eine Delegation der Ex-Contras eben­falls eine Erklärung zur “concertación” abgeben wolle. Bereits am Vortag hatte Israel Galeano, alias “Comandante Franklin” seine Zustimmung zu dem Abkommen bekanntgegeben, nun trat sein einstiger Mitkämpfer und heutiger Rivale um die politische Führerschaft der Ex-Kämpfer, Oscar Sovalbarro alias “Rubén” auf den Plan, begleitet von einer Reihe anderer “Comandantes” der Contra, und verkündete auch seine Ablehnung der Abkommen. Sowohl COSEP als auch der “Rubén”-Flügel der Contra berufen sich auf das Wahlprogramm der UNO, wie es am 25.Februar bestand. Das Übergabeabkommen zwischen der designierten Regierung und der FSLN vom März wird von beiden als illegal erklärt. In diesen Grundpositionen wissen sie sich einig mit dem von der politi­schen Macht ferngehaltenen Vize-Präsidenten Virgilio Godoy und Teilen der Katholischen Amtskirche, so z.B. dem einst wegen Unterstützung der Konter­revolution des Landes verwiesenen Bischof Pablo Antonio Vega. Die rechte Allianz ist geboren.

Die rückkehrenden Ex-Contras als Infanterie der extremen Rechten

In dem Machtpoker dieser Allianz bilden die Contra-Truppen das – weitgehend bewaffnete – Fußvolk. Die meisten derjenigen, die jahrelang von den USA finan­ziert in der sogenannten “Resistencia Nicaraguense” für den wirtschaftlichen Ruin der sandinistischen Regierung gekämpft haben, sind Bauern, Campesinos mit Landbesitz und Landarbeiter (ohne Landbesitz) aus den Kriegsregionen I, V, und VI. Unterschiedliche Gründe haben sie während des fast zehn Jahre dauern­den Krieges dazu bewogen, sich in die Reihen der von Ex-Offizieren der somozi­stischen Nationalgarde aufgebauten und mit US-Finanzierung und -Beratung ausgestatteten Contra einzugliedern. Das lange gepflegte Bild vom US-Söldner­heer war gesamtpolitisch zwar richtig, wird aber den Motivationen der einzelnen nur ungenügend gerecht.
Bei Ausweitung des Krieges hatten viele in ihren Dörfern mit beiden Seiten Schwierigkeiten zu überstehen: vom sandinistischen Heer als Contra-Kollabora­teure angeklagt, von der Contra als SandinistInnen verdächtigt, hatten sie sich irgendwann für eine Seite entscheiden müssen. Die 1984/85 von der sandinisti­schen Regierung praktizierte Politik, der Contra die soziale Basis zu entziehen, und durch Umsiedlungen ein freies Kampffeld (z.B. in der Region I, Estelí) zu schaffen, brachte viele Bauern, die ihr Land nicht aufgeben wollten, dazu, sich der Contra anzuschliessen. (Damit soll nichts, am allerwenigsten die brutalen Überfälle der Contra, die Verschleppungen, Morde, Vergewaltigungen etc. gerechtfertigt werden, aber die Analyse der individuellen Beweggründe ist für das Verständnis der heutigen Situation wichtig.)
Diese Contra-Basis, Campesinos und Landarbeiter, kehren also heute nach Nica­ragua zurück. Von ihren eigenen Comandantes wird die Position vertreten, daß sie als SiegerInnen zurückkehren, die die Regierungsübernahme der Chamorro-Regierung überhaupt erst möglich gemacht haben. Letzteres ist ja auch gar nicht so falsch. Aber wenn sie als SiegerInnen kommen, die ihr “Blut für das Wohl des Vaterlandes gegeben haben”, warum sollten sie dann als Besitzlose zurück­kehren, die vor dem Nichts stehen? Vor allem die Landfrage ist ungelöst. Dort, wo die BäuerInnen früher arbeiteten, ist das Land heute entweder anderweitig vergeben (z.B. an sandinistische BäuerInnen oder Kooperativen oder ist in Staatsbesitz), oder es ist nach vielen Jahren ohne Bearbeitung wieder zum über­wucherten Brachland geworden.

Die staatliche Macht stellt sich als Vakuum dar

Der Versuch, die absehbaren Landkonflikte durch die Einrichtung von soge­nannten “Polos de Desarrollo” (Entwicklungszonen) auf koordinierte Weise zu lösen – der allerdings auch dem Wunsch der Contra-Comandantes entsprang, die Truppen beisammen zu halten – muß als gescheitert betrachtet werden. Die von der Regierung versprochenen raschen Investitionen zum Aufbau einer Infra­struktur und zur Nutzbarmachung des Bodens sind noch nicht eingetroffen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Bürokratie große Teile der US-Wiedereingliede­rungshilfe “versickern” ließ. So sind etwa die meisten der zeitweilig 6000 in El Almendro versammelten ehemaligen Contra-KämpferInnen längst in ihre Heimatorte zurückgekehrt.
Die Forderungen nach einer Landverteilung haben, nachdem die Regierung keine Antwort gab, zu einer massiven Verschärfung des Problems geführt. Ex-Contras, zum Teil bewaffnet, besetzten zahlreiche Kooperativen. Die Polizei schritt in der Regel nicht ein, um eine gewaltsame Eskalation zu vermeiden, ebenso das Militär. So stellte sich vielerorts die staatliche Macht als ein Vakuum dar, das jeweils die Gruppe siegreich aus einem Konflikt hervorgehen lässt, die zahlen- oder waffenmäßig besser bestückt ist. In einigen Fällen haben die Campesinos in den sandinistischen Kooperativen nach der Besetzung ihrer Kooperativen ebenfalls zum Mittel der Besetzungen gegriffen und stehen nun auf den Ländereien verbliebener Großgrundbesitzer.
Die von der Landfrage ausgehende Aktionsbereitschaft der ehemaligen Contra-KämpferInnen hat sich in der Folge rasch ausgeweitet. In Managua halten Ex-Contras – unter Billigung des Kardinals Obando – dessen Kirche besetzt. Mit der Besetzung der Landstraße nach el Rama schnitten sie die Stadt Bluefields an der Atlantikküste und Rama selbst von der Außenverorgung ab. In Bluefields besetzten Ex-Contras der indianischen YATAMA verschiedene Infrastruktur-Einrichtungen, darunter auch das sandinistische Radio Zinica. In La Concha, nur wenige Kilometer von Managua entfernt, wurden Kooperativen und einige Gebäude besetzt, Contras nahmen Geiseln. In Nueva Guinea kostete ein Schuß­wechsel zwischen Contra-Besetzern und PolizistInnen vier Personen das Leben, 33 wurden verletzt.
Innenminister Hurtado hält bislang die Position aufrecht, die Konflikte nicht mit polizeilichen oder militärischen Maßnahmen lösen zu wollen, sondern auf Ver­handlungen zu setzen. Nach Gesprächen mit dem Contra-Comandante “Ruben” – offensichtlich eine der Schlüsselfiguren – glaubt Hurtado bei ihm eine konstruk­tive Haltung zu entdecken und schickt ihn quasi als Botschafter zu den Contras, um die Lage zu entschärfen. Damit wird “Ruben” auch von der Regierung poli­tisch aufgewertet, ein gefährliches Spiel. Die FSLN denunziert öffentlich die “Staatsstreich”-Bestrebungen der extremen Rechten “unter Führung von Godoy” und sichert der Regierung volle Unterstützung zu. Humberto Ortega erklärt die Bereitschaft des Heeres auf Bitten der Polizei einzuschreiten, drängt aber eben­falls auf eine friedliche Lösung.

Mit der “militärischen Lösung” droht Nicaragua Bürgerkrieg

Die Situation ist im höchsten Grade gespannt. Es sind nur zwei Lösungen denk­bar:
1. Die Landfrage durch Verteilung von Staatsbesitz in geordneter Form abzu­wickeln, wodurch denen die politische Basis entzogen wird, die die rechte Offen­sive politisch weiter ausnutzen wollen. Erste Schritte auf diesem Weg gibt es bereits. In der 6.Region ist durch gute Arbeit der pro-sandinistischen UNAG erreicht worden, daß sich Kooperativen und sandinistische KleinbäuerInnen in weiten Teilen mit der Contra einigen konnten, nachdem es auch dort noch während der laufenden “Concertacion”-Verhandlungen zu heftigen Auseinan­dersetzungen gekommen war. In dem Maße, in dem die Auseinandersetzung derzeit jedoch zunehmend politisiert und zu einem Kampf um Ministerrücktritte und Regierungsmacht wird, rückt eine Lösung über die Landfrage in die Ferne.
2. Die militärische Lösung, die für das Land allerdings die Gefahr einer Katastro­phe bedeuten würde. Die Auseinandersetzungen würden kaum auf die bisheri­gen Konfliktzonen beschränkt bleiben, sondern sich vermutlich über Nacht zum Bürgerkrieg ausweiten. Im Dunkeln bleibt die Rolle, die der Schöpfer der Contra, die USA, derzeit eigentlich spielen. Eine Meldung des “Nuevo Diario”, daß die US-Botschaft im Funkkontakt mit der Contra auf der Landstraße nach La Rama stehe, wurde umgehend dementiert. Die Frage kursiert: Wenn immer erwartet wurde, daß die USA in dem Falle militärisch “zur Hilfe” eilen würden, daß die Sandinisten die Regierung stürzen würden: Täte sie das auch bei einem Putsch­versuch der extremen Rechten? Und wie würde sich dann das sandinistische Heer verhalten?
Aber dies sind zunächst nur bange, aus der gespannten Lage entstehende Fragen. Als sicher kann allerdings festgehalten werden, daß vorerst alle Bestrebungen der Regierung, politische und soziale Stabilität im Lande zu schaffen, von uner­warteter Seite zunichte gemacht wurden. Die Lösung des Konflikts auf dauer­hafte Art und Weise ist unumgänglich, wenn in Nicaragua irgendetwas voran­gehen soll. Als zumindest mittelfristige politische Auswirkungen werden Sandi­nistenInnen und Regierung weiterhin näher zusammenrücken, die FSLN ihre Oppositionsrolle zumindest kurzfristig ganz aufgeben.

KASTEN:

Interview mit dem Contra-Comandante “Johnson”, Angestellter bei der CIAV, dem “Repatriierungszentrum” San Ramón bei Estelí

LN: Sehen Sie die Gefahr , daß sich eine Situation ergibt, wo sie wieder zu den Waffen greifen?

Ich sehe, daß wir dann wieder kämpfen, wenn die Sandinisten Violeta von der Macht stürzen. Das wäre die Situation, wo sich das Volk bewaffnet erheben würde. Im Moment wird vieles durch die Anwesenheit der internationalen Organisationen geregelt. Wenn diese Organisationen sich zurückziehen, beginnt hier ein anderer Kampf. Es gibt jetzt schon viele Konflikte und Zusammenstöße, für die die internationalen Organisationen wie ein Alka-Selzer wirken: Sie neutralisieren sie. Aber wenn sie weggehen, wird sich die Situation verschärfen.

LN: Wenn die SandinistInnen diese sauberen, von aller Welt beobachteten Wahlen gewonnen hätten, hätte sich die Contra dann dennoch entwaffnet?

Wir hätten uns zunächst einmal nicht entwaffnet. Denn wir wollen nicht mit den Sandinisten kooperieren. Die Sandinisten wären in einer sehr schwierigen Lage gewesen, denn sie hätten keine finanziellen Zuwendungen erhalten. Und wir hätten uns nicht entwaffnet, auch wenn wir keine ausländische Hilfe mehr bekommen hätten.

LN: Wie waren die Beziehungen zwischen der bewaffneten Contra und der zivilen Opposition im Lande?

Die Politiker haben vor Esquipulas einen direkten Kontakt vermieden. Sie hatten Angst vor Repressionen bei ihrer Rückkehr ins Land. Denn wenn die Sandinisten herausgefunden hätten, daß ein Politiker im Ausland Kontakte zur Contra hatte, wäre er ins Gefängnis gewandert. Aber nach Esquipulas gab es intensivere Beziehungen. Sie sagten, der Kampf müsse parallel laufen: Unseren Druck aufrecht erhalten, um den Sandinisten Konzessionen abzu­ringen.

LN: Glauben sie, daß es gerecht ist, daß ehemalige Contras z.B. Kooperativen besetzen?

Es ist gerecht, denn sie sind Nicaraguaner, sind Campesinos, haben kein Land und haben das Recht, das zu erhalten. Daß dabei Gewalt angewendet wird? Das ist leider so. Es ist die einzige Möglichkeit sich bemerkbar zu machen, wenn die Gesetze nicht funktionieren.

Interview: Bernd Pickert

Wieder Wählen – Diesmal anders?

Rubén Zamora:

Das Problem der FMLN ist der Waffenstillstand. Die Basis der Guerilla, die Kämpfer, sind über­wiegend Bauern. Wenn sie nicht kämpfen, werden sie Kaffee oder Baumwolle pflücken oder Mais anbauen, aber sie werden nicht weiter als Armee existieren. Für die FMLN käme ein Waffenstill­stand einer Niederlage gleich, wenn die Verhandlungen ergebnislos verlaufen; die Armee setzt sich hin und wartet ganz einfach ab. Die FMLN löst sich auf, und am Ende gibt es keine Vereinba­rungen über den Frieden. Das kann die FMLN nicht akzeptieren. Sie muß daher einen gleichzeiti­gen Abbau der Regierungsarmee fordern. Beide Sei­ten müssen ihre Kräfte reduzieren, sonst bleibt der Waffenstillstand eine Illusion. Das Problem innerhalb der FMLN als Organisation ist die Ver­ständigung über die Schritte, die zu einem Abbau der Armee getan werden müssen, welche Forde­rungen gestellt werden. Daher schlägt die FMLN eine Reform der Streit­kräfte vor, die zwar ein ausgezeichneter Ausdruck der Linie ihres Kampfes ist, aber ein schlechter Verhandlungsvorschlag.
Wir sind uns alle darüber einig, daß es diesem Land ohne Armee besser gehen würde, die ganze Welt wäre besser ohne Armeen. Aber zu verlangen, daß die Armee in den Verhandlungen ein Ab­kommen zu ihrer Abschaffung unter­schreibt, heißt, den Sinn für die Realität zu verlieren. Armeen vernichten sich auf dem Schlachtfeld, nicht am Verhandlungstisch; das ist eine elementare Norm der Politik. Die FMLN stellt jedoch hohe Forderungen, um Zeit zu gewinnen, und eine bessere in­terne Verständigung zu erzielen.

Verhandler und Nicht-Verhandler

Wir nehmen innerhalb der Streitkräfte eine Konfrontation zwischen zwei Sekto­ren wahr; daneben eine Meinungsströmung als drittes Element. Die FMLN und wir als Linke benutzen oft den Begriff “Tandona” *) als Ausdruck für die “Bösen” innerhalb der Armee. Es ist richtig, diesen Begriff für diejenigen zu gebrauchen, die das Heer befehligen, aber als soziologische Analyse der Institution ist er nicht realistisch. Die Tandona ist gespalten in einen Teil, der mit den USA verbunden ist und verhandeln will und einem Sektor der Tandona und anderer Jahrgänge, der nicht verhan­deln will.
Innerhalb dieser Kon­frontation gibt es ein drittes Element, hauptsächlich vertre­ten durch die nie­deren Offiziersränge. Sie fordern eine Säuberung der korrupten Elemente in der Armee, weil sie es sind, die auf dem Schlachtfeld stehen, wäh­rend sich die hohen Offiziere am Krieg bereichern.
Die Wahlen im März können unserer Ansicht nach die wichtigsten der letzten zwölf Jahre in die­sem Land sein. Eine zentrale These der Aufstandsbe­kämpfung war immer die Präsentation von Wahlen als Alternative für Verhandlungen. Diese Ideologie ist mittlerweile geschei­tert. Nun wird es wahrscheinlich etwas ganz Neues geben, nämlich Wahlen mitten in ei­nem Ver­handlungsprozeß. Und dies bedeutet, daß die Wahl einen direkten Einfluß auf die Ver­handlungen haben wird. Erreicht die Opposition die Mehrheit der Stim­men gegen ARENA, wird die FMLN in der nächsten Runde sagen, “Meine Her­ren der Regierung, das Volk hat Euch eine Ab­fuhr erteilt; es will Euch nicht mehr.” Ein Argu­ment, auf das ARENA nichts erwidern kann. (Nein?) Eine Parlamentsmehrheit würde darüber hinaus erfor­derlich machen, daß diese bei den Verhandlungen zugegen ist. Und das be­deutet, die Regierung zwischen FMLN und Opposition zu haben.

Kampf um die Wahlregistrierung

Um die Mehrheit im Parlament zu gewinnen, brauchen wir ein Bündnis der ge­samten Linken. Denn wenn wir in den gleichen Fehler des letzten Jahres verfal­len, und die Convergencia (linkes Wahl­bündnis) sagt “Wählt!”, und die FMLN sagt “Wählt nicht!”, dann werden wir das gleiche Desaster erleben wie letztes Jahr.
In El Salvador befinden sich etwa 2,8 Mio Menschen im wahlfähigen Alter. Da­von stehen 2,3 Mio im Wahlregister, und nur 1,9 Mio haben einen Wahlausweis, der sie erst zum Wählen berechtigt. Daher sind für uns zwei Dinge interessant: 1. Die Zahl der ins Wahlregister Eingeschriebenen auf 2,5 Mio zu erhöhen und 2. zu erreichen, daß alle wählen können, auch wenn sie keinen Wahlaus­weis haben. Wir haben bereits ein Abkommen mit der Regierung erreicht, daß alle Bürger, die im Wahlregister stehen, wählen können, wenn bis zum 17. Februar weniger als 90% der im Wahlregi­ster stehenden Personen noch keinen Ausweis haben. Als zweites Abkommen haben wir erreicht, daß für die Einschreibung auch die Do­kumente, die das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) an die zurück­gekehrten Flüchtlinge ausgegeben hat, verwendbar sind.
Heute hängt es in hohem Maß von uns ab, ob wir uns einschreiben und daß wir es verwirklichen, daß auch der bisher ausgeschlossene Teil der Linken Gewicht bei den Wahlen erhält.
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*) Die Tandona ist ein besonders starker Jahrgang der Militärakademie. Einige der berüch­tigsten Offiziere gehören der Tandona an, die heute viele zentrale Machtpositionen in Staat und Armee in­nehaben. Chef der Tandona ist Emilio Ponce, seit einigen Monaten Ver­teidigungsminister.

Joaquín Villalobos: Wandel oder Kontinuität?

Nach sechs Wahlgängen in den 80er Jahren, die dem Frieden nicht gedient haben, scheinen die kommenden Parla­ments- und Kommunalwahlen die einzig verbleibende Alter­native, um zu versuchen, die FMLN in die Enge zu treiben. Und vielleicht sind Wahlen für die Regierung und die USA nie so wichtig wie gerade diese gewesen. Der Krieg der USA in Zentralamerika geht seinem Ende entgegen, es gibt Priori­täten in anderen Teilen der Welt und eine Reihe von internen Problemen in den USA. Die Hilfe aus den USA mag sich verringern oder gleichblei­ben, aber sie wird nicht mehr steigen; es sind keine militärischen Optionen mehr zur Beseitigung der FMLN denkbar. Sie wollen die UNO und andere Staaten dazu bringen, die FMLN zu margi­nalisieren. So gesehen, werden die 91er-Wahlen, die zum Frieden beitragen könnten, wiederum in eine Kriegslogik gezwängt. Die Wahlen sollen ernsthafte Verhandlungen ersetzen und als das Ende des Konflik­tes erscheinen, um so unserem Kampf die Rechtfertigung zu entziehen.

Wahlen ohne Frieden

Die Menschen stehen den Wahlen gleichgültig gegenüber, weil sie keine Frieden­soption enthalten, solange keine fundamentalen Übereinkünfte bezüglich der Streitkräfte getroffen worden sind. Die Parteien akzeptierten eine unzureichende und elitäre Wahlregistrierung und unterzeichneten ein mangelhaftes Abkom­men; das ist nachvollziehbar, weil sie in der Furcht vor der Armee leben und sich mit recht wenig zufrieden geben mußten. Können Wahlen im Terrorstaat frei sein? Eine internatio­nale Überwachung kann den Menschen die Furcht nicht nehmen.
Nur ein tiefgreifender Wandel in den Verhandlungen über die Armee kann den Menschen diese Angst nehmen, und nur dann können sich alle politischen Strö­mungen frei artikulieren. Ein solcher Wandel würde die Bereitschaft zu einer vollständigen Entmilitarisierung der Gesellschaft, die all­mähliche Reduzierung beider Armeen, deutliche und entschiedene Schritte zur Säuberung der Streit­kräfte sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzun­gen wie die Je­suitenmorde u.a. beinhalten.
Die Verhandlungen und nicht die Wahlen sind derzeit das politische Hauptin­strument aller opposi­tionellen Kräfte. Wir dürfen es nicht gegen einen Teller voll Bohnen eintauschen. Wir kaufen keinen Müll mit der schönen Etiquette “freie Wahlen”.
Man könnte argumentieren, daß die FMLN sich zugunsten eines möglichen Wahlsiegs der Opposi­tion für die Wahlen ausspricht, falls bis zu diesem Zeit­punkt keine konkreten Verhandlungsergeb­nisse vorliegen. Zunächst einmal ist ein solches Ergebnis unsicher. Zweitens gibt es keine Garantie dafür, daß es nach einem Wahlsieg tatsächlich Fortschritte bei den Verhandlungen geben wird. Wir würden die Wahlen legitimieren. Wenn wir ernsthaft verhandeln, müssen wir je­doch das Gegenteil tun, nämlich die Legitimität der Regierung und vor allem der Armee in Frage stellen. Wer für die 91er Wahlen Legitimität will, der muß ernst­haft und schnell verhandeln. Die Geschichte von der formalen Macht kennen wir schon zur Genüge. Parlamentarische Mehrheiten und ehrenhafte Abgeordnete, und dennoch taten die Militärs weiterhin, was sie wollten.
Die strategische Verhandlungsrunde ist eröffnet; das Land kann und muß einen tiefgreifenden Wan­del hin zu einer wirklichen Demokratie durchmachen. Es ist die Zeit des Kampfes für einen Wech­sel. Diese historische Chance darf nicht un­genutzt bleiben.

Was heute Sozialismus sein könnte

Das war’s denn wohl

Die große Zeit der Umbenennungen ist gekommen. Niemand will mehr Kommunist genannt werden. Aber auch der Sozialismus ist als Parteiname allenfalls noch brauchbar, wenn er eindeutig als demokratischer gekennzeichnet wird. Die ehemalige Kommunistische Partei Italiens ist noch weiter gegangen und nennt sich heute Demokratische Partei der Linken (PDS). Auch Lateinamerika wird sich an dieser Mode beteiligen.
Und es handelt sich um nicht mehr als eine Mode, weil eine Auseinandersetzung darüber, was denn nun eigentlich Sozialismus sei, überhaupt nicht stattfindet. Was da in Ost-und Mitteleuropa real existiert hat und sich mit dem Namen Sozialismus geschmückt hat, reißt bei seinem Begräbnis den Begriff und das Nachdenken darüber mit in die Grube. Das kapitalistische Weltsystem steht ohne Alternative als der große Sieger da, weil die Zukunft, die ihn ablösen sollte, nun angeblich schon der Vergangenheit angehört.

Das kann’s aber doch nicht gewesen sein

Sozialismus, das war demnach: Bevormundung, Diktatur, Einparteienherrschaft, Spitzelsystem, zentrale Planung, Bürokratie, Mißwirtschaft, niedrige Produktivität, Streikverbot, Versorgungsmängel, Umweltzerstörung. Und daß damit niemand mehr etwas zu tun haben will, ist nur zu verständlich.
Nun hat es aber seit den Tagen des Kommunistischen Manifests vor mehr als 140 Jahren immer auch eine andere Vorstellung von dem gegeben, was Sozialismus sein würde und sein könnte. Der brasilianische Ökonom Paul Singer, heute für die Wirtschaft der Metropole Sao Paulo zuständig, hat in einem schmalen Buch unter dem Titel “0 que é socialismo, hoje” schon 1980, als von Gorbatschow noch nicht die Rede war, den grundsätzlich anderen Charakter eines wissenschaftlichen Begriffs von Sozialismus herausgearbeitet. ( Deutsch ist die Arbeit in gekürzter Form unter dem Titel “Was heute Sozialismus ist” 1981 in Band 5 des Jahrbuchs “Lateinamerika. Analysen und Berichte”erschienen. )
Wie Paul Singer richtig feststellt, war Kar1 Marx, an den hier durchaus anzuknüpfen ist, außerordentlich vorsichtig bei der Kennzeichnung der zukünftigen Gesellschaftsordnung, um nicht nach utopistischer oder idealistischer Manier in subjektive Phantasien abzurutschen. Wissenschaftlich ließ sich über den Sozialismus überhaupt nur sagen, daß er die Produktionsweise ist, die den Kapitalismus überwindet, indem sie den Klassenwiderspruch beseitigt. Da nun aber der Kapitalismus nicht stillsteht, sondern sich wandelt, heißt das, daß Sozialismus die Lösung der Problematik ist, die der Kapitalismus in seinem fortgeschrittenen Stadium hervorbringt und die innerhalb der strukturellen Grenzen des Kapitalismus nicht gelöst werden kann.
“Lösung” bedeutet hier, daß die Sorgen und Nöte der Mehrheit der Bevölkerung auf überlegene Weise befriedigt werden, und zwar nicht nach einem abstrakten Maßstab oder der Erkenntnis einer oberen Instanz, sondern nach dem empirischen Votum der Bevölkerung selbst. “Der mögliche und notwendige Sozialismus, der wissenschaftlich aus den objektiven Daten einer gegebenen historischen Situation erfaßt werden kann, kann deshalb nicht eine Geisteskonstruktion, eine Vision der wünschbaren Zukunft sein, die ein für allemal ausgearbeitet ist. Der auf diese Weise bestimmte Sozialismus ergibt sich aus der Entwicklung des Kapitalismus selbst und aus der Problematik, die er her-vorbringt, das heißt: aus den Forderungen, die Mehrheiten oder potentielle Mehrheiten der Gesellschaft in jeder historischen Epoche erheben.”

Das war’s denn auch nicht

Und weiter zum Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus: ”Sich in dem Maße beständig erneuernd, in dem er den beschleunigten Fortschritt der Produktivkräfte fördert, kann der Kapitalismus nicht aufhören, die Forderungen zu verändern, die auf seine Überwindung drängen, nämlich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Klassen, die in ihm ausgebeutet und unterdrückt werden … in diesem Sinn bleibt der Sozialismus eine Art Reflex des Kapitalismus: Er spiegelt dessen Widersprüche und die Möglichkeiten, die dessen Entwicklung eröffnet”.
“Die einzige Art und Weise”, sagt Paul Singer weiter, “in der man verifizieren kann, ob ein bestimmtes Regime dem möglichen und notwendigen Sozialismus einer bestimmten Epoche -und uns interessiert hier unsere Epoche -entspricht, ist der Vergleich seiner Eigenschaften und Errungenschaften mit den Bestrebungen der arbeitenden Klassen der Länder, in denen der Kapitalismus am weitesten fortgeschritten ist. Ein Regime, dessen Eigenschaften diesen Bestrebungen nicht Genüge tun, das also seinen Arbeitern wirtschaftliche, soziale und politische Existenzbedingungen bietet, die nicht die vom Kapitalismus in seinem fortgeschrittensten Stadium angebotenen Existenzbedingungen übertreffen, hat offensichtlich den Kapitalismus nicht überwunden und kann deshalb nicht als sozialistisch betrachtet werden.”
Diese kurzen Zitate reichen schon aus, um zu zeigen, daß der sogenannte “real existierende”Sozialismus mit dem marxschen Denken über Sozialismus nichts zu tun hatte. Nur mit einem unhistorisch-statischen, idealistischen Begriff von Sozialismus konnte man das bei den meisten Angehörigen der arbeitenden Klassen verhaßte System mit seinem ökonomischen Rückstand und seiner politischen Unterdrückung als sozialistisch betrachten oder sogar feiern.
Es wäre aber auch unhistorisch und falsch, nach sozialdemokratischer Manier die Forderungen der europäischen Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts zum Maßstab für Sozialismus zu machen. Wenn der Sozialismus immer nur das wäre, was er zu den Zeiten von Kar1 Marx für das Proletariat anfänglich einmal war, nämlich die Durchsetzung der Forderungen nach demokratischen Freiheiten, politischen Rechten, sozialer Sicherung und materiellem Wohlstand, Forderungen, deren Erfüllung das Proletariat sich damals innerhalb des Kapitalismus nicht vorstellen konnte, dann könnte man nicht leugnen, daß der Sozialismus -abgesehen von den Problemen einiger Randgruppen -in Westeuropa und den USA jetzt schon verwirklicht ist. So wichtig aber diese Errungenschaften sind, die Forderungen der Menschen von heute und mit ihnen der Sozialismus von heute sind in der Tendenz noch anspruchsvoller geworden, legen weniger Wert auf die Ausdehnung des materiellen Konsums als auf die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich und auf die Beseitigung autoritärer Strukturen in allen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens.

Und der Sozialismus an der Peripherie?

Für viele ist der Gedanke, daß es jenseits des fortgeschrittenen Kapitalismus noch eine Alternative geben könne, so fern, daß sie den Begriff des Sozialismus ganz im Gegensatz zu Marx und Singer allenfalls mit Rückstand und Unterentwicklung zusammenbringen können. In den 70er und 80er Jahren war auch unter Linken die Vorstellung weit verbreitet, daß durch sozialistische Gesellschaften in der Dritten Welt von der Peripherie aus die Überwindung des Kapitalismus vorangetrieben werden könne. Große Teile der internationalistischen Solidaritätsbewegung schöpften aus solchen Gedanken ihr Selbstverständnis und ihre Hoffnungen.
Nun ist nach dem Vorangehenden schon deutlich, daß für Marx die Vorstellung, daß sich Sozialismus beschränkt auf einen relativ rückständigen Teil der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems herausbilden könnte, undenkbar war. Höchstens mochte er sich die Frage stellen, ob bestimmte Länder der Peripherie im Rahmen einer Weltrevolution dazu in der Lage seien, an historische Produktionsverhältnisse anzuknüpfen und sich so den beschwerlichen Umweg über den kapitalistischen Entwicklungsweg zu ersparen.
Selbst als Lenin, Luxemburg, Bucharin und andere im Zeitalter des Imperialismus die Bedeutung der Ausbeutung der Kolonien und Halbkolonien für die Entwicklung in den Zentren des Kapitalismus herauszustellen begannen, dachten sie keineswegs daran, die Möglichkeit eines sozialistischen Systems am Rande oder jenseits des kapitalistischen Weltsystems theoretisch zu begründen, Allenfalls ging es ihnen darum, das Interesse und die Möglichkeit der Teilnahme der peripheren Länder an der Weltrevolution zu betonen. Die Vorstellung, daß “Sozialismus” am Rande des kapitalistischen Weltsystems, noch dazu in einem relativ rückständigen Lande, möglich wäre, brach sich überhaupt erst Bahn, als nach der Oktoberrevolution in Rußland die erhoffte Weltrevolution ausblieb und die russischen Revolutionäre gezwungen wurden, die von ihnen erkämpften Errungenschaften gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Diese Vorstellung fand schließlich ihre Rechtfertigung in Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Lande, mit der begründet werden sollte, warum Sozialismus auch außerhalb der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder und sogar in einem einzelnen Lande möglich sein sollte.

Stalin als Wegweiser

Soweit sich Emanzipationsbewegungen und Übergangsgesellschaften der sogenannten Dritten Welt seither als sozialistisch betrachtet haben, hat dieser Selbsteinschätzung mehr oder weniger stillschweigend Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Lande zu de gelegen. Das hat insofern für Idee und
Praxis des Sozialismus einen große n Stellenwert gehabt, als bestimmte, historisch erklärbare, aus der Not des täglichen Kampfes geborene Besonderheiten und Eigenheiten des sowjetischen Systems zu allgemeinen Merkmalen und Kennzeichen des Sozialismus überhaupt im Rang von ewigen Wahrheiten , erhoben und dementsprechend nachgeahmt oder angewandt wurden.
Zu diesen Eigenheiten und Besonderheiten des sowjetischen Systems gehörten und gehören teilweise noch immer vor allem die weit entfernt von jedem Absterben stets wachsende Rolle des Staates als Motor der Entwicklung der Produktivkräfte, der auf das Einholen der kapitalistischen Industrieländer zielende Industrialismus und Wachstumsfetischimus die Einparteienherrschaft und das Fraktionsverbot. Die Identifizierung dieses Systems mit dem Sozialismus hat es der Partei-und Staatsbürokratie in vielen Ländern der Dritten Welt erlaubt, sich selbst als Vorhut der kaum existierenden Industriearbeiterklasse zu begreifen und entsprechend zu begünstigen. Sogar Bewegungen und Parteien, die sich von der Sowjetunion niemals abhängig gemacht haben, fühlten sich lange Zeit doch diesem Sozialismusmodell verpflichtet.

… für nachholende Entwicklung

Zeitweilige Erfolge einiger Drittweltländer auf diesem Wege waren hierzulande Anlaß, Sozialismus überhaupt zu einer Sache der Peripherie zu erklären. So hat etwa der in Bremen lehrende Professor Dieter Senghaas geschrieben: “Aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht kommt Sozialismus ein anderer Stellenwert zu, als er in der überkommenen, kapitalismuskritischen ( sozialistischen ) Theorie ins Auge gefaßt wurde. Dort galt Sozialismus als eine Etappe jenseits der positiv und negativ bewerteten “Fülle” von Kapitalismus, in Wirklichkeit fielen ihm aber Aufgaben diesseits der Fülle von Kapitalismus zu. Wo Sozialismus gesamtgesellschaftlich bestimmend wurde ( und also nicht nur eine politische Kraft unter anderen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften blieb 1, war er Grundlage und Motor beschleunigter, nachholender Entwicklung unter widrigen internen und internationalen Bedingungen, die in der Regel eine erfolgreiche, nachholende Entwicklung unter kapitalistischen Vorzeichen unwahrscheinlich machen.” ( Dieter Senghaas, Von Europa lernen, Frankfurt/Main 1982, S. 278 )
In diesen Sätzen erweist sich Senghaas scheinbar als ein vorurteilsfreier, über jeden Antikommunismus erhabener, nüchterner Analytiker. Inzwischen wäre zu fragen, ob das Ergebnis der Analyse von Senghaas überhaupt stimmt. Wichtig ist hier aber vor allem die sich aus diesen Sätzen ergebende historische Bankrotterklärung im marxschen Sinne, also jenseits der Fülle des Kapitalismus. Der Sozialismus hat seine welthistorische Rolle in der nachholenden Entwicklung peripherer Länder.
In den letzten Jahren und Monaten wird in Europa Sozialismus nicht einmal mehr mit nachholender Entwicklung identifiziert, sondern nur noch mit Rückständigkeit. Und selbst die idealistischen Internationalisten, die sich mit Übergangsgesellschaften in der Dritten Welt identifizieren, hören allmählich auf, die traurigen Resultate widriger interner und internationaler Bedingungen als besondere Tugenden des Sozialismus im allgemeinen zu verkaufen.
Zuvor schon haben sich viele, die gerade und besonders von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt ganz neue Formen von Sozialismus erwartet hatten, enttäuscht abgewandt, als die von ihnen früher solidarisch unterstützten Gruppen nach bewährtem Muster die typischen Kennzeichen des nachholend-rückständigen Sozialismus zu entwickeln begannen. Mag dieser nachholende Sozialismus unter den Intellektuellen und Werktätigen in den kapitalistischen Industrieländern lange Zeit eine gewisse Attraktivität gehabt haben, damit ist es nun vorbei; diese Art von Sozialismus wird von niemandem mehr als mögliche Systemkonkurrenz zum herrschenden kapitalistischen Industriesystem wahrgenommen.

Was heute Sozialismus sein konnte

Wenn, wie oben gesagt wurde, Sozialismus die Lösung der Problematik ist, die der Kapitalismus in seinem fortgeschrittenen Stadium hervorbringt und die innerhalb der strukturellen Grenzen des Kapitalismus nicht gelöst werden kann, dann steht er noch vor großen Aufgaben, und wahrscheinlich ist es dafür nicht schlecht, daß falsche Alternativen, mit denen diese Aufgaben nicht zu lösen gewesen wären, heute ganz offensichtlich nicht mehr zur Verfügung stehen.
Das industrielle Wachstum und der Wohlstand, den der fortgeschrittene Kapitalismus in einem Teil der Welt produziert hat, sind nur die eine Seite der Medaille, auf deren anderer Seite wachsende Armut, Ausbeutung von Ressourcen im anderen Teil der Welt und Umweltzerstörung in nie gesehenem Ausmaß stehen. Der “Sozialismus”, der sich selbst bisher real existierenden Sozialismus genannt hat, stellte nicht nur keine Lösung der Problematik dar, sondern hat selbst die strukturellen Grenzen des fortgeschrittenen Kapitalismus eher noch befestigt, indem er, um den Kapitalismus an Wachstumsfetischismus noch zu übertreffen, die Verschwendung der knappen Ressourcen und die Zerstörung der Umwelt noch ungehemmter und unkontrollierter vorantrieb.
Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es ausgeschlossen, daß der Kapitalismus für diese Problematik, die er selbst hervorgebracht hat, innerhalb seiner strukturellen Grenzen eine Lösung finden kann. Die großen Massen der sich vergiftenden, ausgebeuteten, hungernden Menschen in dem einen kapitalistischen Weltsystem werden notwendig immer stärker und unbeirrbarer auf eine Alternative drängen. Marx hätte sie Sozialismus genannt.
Und sollte der Kapitalismus doch wieder in der Lage sein, für die Probleme, die ,r selbst hervorbringt, eine Lösung zu finden, so wie er unerwarteterweise in Westeuropa und Nordamerika die wesentlichsten Forderungen der Arbeiterklasse des neunzehnten Jahrhunderts erfüllen konnte, so wäre das kein Schade. Diese Lösung wurde ihm allerdings von einer Arbeiterklasse abgetrotzt, die die Alternative des Sozialismus vor Augen hatte. Von nichts kommt nichts.

Veränderungen absehbar

Ankunft in Havanna

An meinem dritten Abend in Havanna war ich bei alten Freunden zum Abendessen eingeladen. Sie fragten mich, was ich über die Veränderungen seit meinem letzten Besuch 1983 dachte. Während der ersten Tage hatte ich einen Regierungsfunktionär nach dem anderen interviewt und den Eindruck gewonnen, die Revolution sei nicht nur gesund und munter sondern geradezu blühend. Trotz Unsicherheiten über die wirtschaftliche Zukunft gehe die Regierung mit ehrgeizigen Plänen voran. Die Menschen liebten Fidel Castro und die Revolution und hätten kein Interesse an politischen Reformen. Im Hotel war das Essen reichlich, und die Läden waren voll mit Waren.
“Was für Veränderungen?” fragte ich. “Alles sieht doch noch genauso aus.” Schockiert sahen mich meine Freunde an. Ein Freund, den ich für einen überzeugten Revolutionär halte, schlug die Hände vor’s Gesicht und seufzte: “Ach Medea, mit wem hast du bloß geredet?”
Den Rest des Abends diskutierten wir über die unglaublichen Veränderungen in der sozialistischen Welt, die Nachwirkungen des “Ochoa-Skandals”, den Zustand der Wirtschaft und die Vor- und Nachteile einer Einparteienregierung. Anders als die Regierungsvertreter hatten meine Freunde keine fertigen Antworten parat.
Nach diesem Abend verbrachte ich weniger Zeit mit Funktionären und fuhr mehr in Bussen oder saß in Cafés, um mit so vielen Leuten wie möglich ins Gespräch zu kommen. In der Tat hat sich viel verändert. Verschwunden ist der blinde Optimismus der früheren Jahre. Dinge, die früher selbstverständlich waren, werden nun in Frage gestellt. Ein großes Suchen ist im Gange.

“Gott existiert nicht”

Wegen der schnellen Veränderungen in Osteuropa und der Sowjetunion fühlen sich viele KubanerInnen verunsichert und alleingelassen. Die Lehrerin Mirta Pérez formulierte das so: “Es ist, als hätten wir unser ganzes Leben lang an Gott geglaubt und dann eines Tages gemerkt, daß Gott nicht existiert.”
Die Wahlen in Nicaragua rieben noch Salz in die Wunden. Schließlich waren Nicaragua und Kuba die einzigen sozialistischen Länder Lateinamerikas. Die Niederlage der Sandinisten hat – vorsichtig formuliert – den Selbstzweifel in Kuba verstärkt.
Dazu kommt die noch immer andauernde Wirkung des “Ochoa-Skandals”. (Im Juli 89 wurden General Ochoa, einer der höchsten Militärs Kubas und Mitkämpfer Fidels, und drei weitere Offiziere des Drogenhandels überführt und hingerichtet.) “Jahrelang beschuldigten die USA Kuba des Drogenhandels, und wir schrien, das sei nur Yankeepropaganda. Du kannst dir vorstellen, wie uns zumute war, als wir erfuhren, daß ein Teil der Vorwürfe zutrifft. Und Kuba ist nicht wie die USA, wo man die Person von der Regierung trennen kann. Hier sind die Personen die Regierung und ihre Handlungen werfen ihr Licht auf das ganze System,” sagte ein Freund, der zwei Jahre lang unter Ochoa in Angola gekämpft hatte.
Auf die neue Situation – die durch verschärfte Aggression der USA noch kompliziert wird – hat die Regierung reagiert, indem sie die Reihen fester schloß und die Bevölkerung zu mehr Loyalität und Einheit aufforderte. Andererseits rief die Kommunistische Partei während meines Aufenthaltes zu ihrem vierten Parteikongress im März 1991 auf. Im Aufruf ist die Rede davon, wichtige Aspekte des kubanischen Systems neu zu überdenken: Die Presse, Wahlen, Diskriminierung der Religion und Maßnahmen, um die Korruption auszumerzen. Die Partei fordert zu breiter öffentlicher Diskussion über diese Punkte auf: “Wir bitten das Volk, wie wir es vorher nie getan haben, zu beurteilen, was wir bisher geleistet haben und vorzuschlagen, wie wir weiter verfahren sollen,” sagte der verantwortliche Parteiideologe Carlos Aldana.

Der Sozialismus steht nicht zur Debatte

Dies aber geschah gleichzeitig mit dem Verbot der sowjetischen Zeitschriften Sputnik und Moskau News, nachdem diese mehrere kritische Artikel über Kuba veröffentlicht hatten. Fidel Castro selbst begründete das Verbot damit, daß “die Hand des Imperialismus, der Reaktion und der Konterrevolution” hinter den Artikeln stehe.
Die Diskussion in den Stadtteilorganisationen über die Erneuerung kam zunächst überhaupt nicht in Gang, teils, weil man nicht gewöhnt war, kritisch Stellung zu nehmen, teils aus Angst vor Repression.
Die Regierung betont, daß das sozialistische System Kubas selbst nicht zur Debatte steht, ein Mehrparteiensystem nicht in Frage kommt. Aber auch innerhalb dieser Begrenzung gibt es ja genug zu diskutieren. Vermutlich dürfen in Zukunft religiös Gläubige, die bisher diskriminiert wurden, Parteimitglieder werden. Und wahrscheinlich wird bei örtlichen Parteiwahlen die geheime Stimmabgabe eingeführt, wo bisher fertig vorgestellte Listen per Handzeichen abgesegnet wurden. Die im Fernsehen übertragenen Debatten zur Vorbereitung des Parteikongresses 91 schließen auch Kritik an Korruption, Ineffizienz, Faulheit und Mangel an Demokratie ein.
Doch die Einheit ist wichtiger als die Toleranz, wenn es um die geht, die radikalere Veränderungen wollen. Die Handvoll Menschenrechtsgruppen, die in den letzten drei Jahren entstanden, hatten noch vor einem Jahr nie vorher gekannte Freiheiten. Sie konnten mit ausländischen JournalistInnen sprechen und herumreisen und die kubanische Regierung kritisieren. Nun sind einige von ihnen für viele Jahre im Gefängnis und einige haben Asyl in europäischen Botschaften gesucht. Nur ein paar hundert KubanerInnen sind offen in Opposition, doch es ist schwer zu ermessen, wie viele heimliche Unterstützer sie haben. Ein US-Politiker beklagte, sie stritten mehr untereinander als über das System, und unter ihnen sei keiner vom Format eines Havel oder Sacharow.
Während meines Besuchs im März demonstrierten 500 wütende KubanerInnen vor dem Haus, in dem ein Treffen der DissidentInnen stattfand und verlangten, dieser Abschaum solle auseinandergetrieben werden. Es bleibt die Frage, ob die Menschen wegen der DissidentInnen empört sind, wie die Presse berichtete. Oder ob die Regierung solche Gegendemonstrationen organisiert.
Die DissidentInnen in Kuba sind das eine Extrem einer Gesellschaft, die zweifellos polarisiert ist zwischen denen, die die Regierung Revolutionäre und Konterrevolutionäre nennt. Mein Freund Roberto Telles ist Mechaniker und fest auf der revolutionären Seite verankert. Um mich zu empfangen, bereiteten er und seine Familie ein Essen vor, bei dem der Tisch fast zusammenbrach unter den vielen Speisen. “Damit du siehst, wie die Kubaner verhungern,” lachte er und rieb sich seinen rundlichen Bauch. Doch Robertos Famile kann vor allem deshalb gut essen, weil seine Schwiegermutter Zeit genug hat nach nichtrationierten Lebensmitteln zu suchen.
KubanerInnen, die im Ausland als Soldaten, Lehrer oder im Gesundheitswesen waren sind meist überzeugte Revolutionäre. “Wenn du einmal die Armut in Angola kennengelernt hast, und die Ungerechtigkeit der Welt, dann weißt du, was du der Revolution verdankst.”
Am anderen Ende der Skala sind die Unzufriedenen: Während meines Aufenthaltes in Havanna wurde ich zweimal von jungen Männern angesprochen, die das Land verlassen wollen. Einer hat seine Schulbildung abgebrochen und nun einen schlechten Job auf dem Bau. Immer, wenn ich an der Baustelle vorbeikam, stand er herum mit einem Becher Kaffee und einer Zigarette und redete von einem Onkel, der in New York Millionär geworden sei.
Der andere ist Portier im Hotel. Sein Problem ist nicht die Arbeit ohne Aufstiegschancen, sondern, daß er seine Jugendliebe heiraten will und sie keine Wohnung bekommen. “Keiner von uns kommt mit der anderen Familie aus, und um eine Wohnung zu bekommen, müssen wir zehn Jahre warten – und dann noch Glück haben.” Er meint, die einzige Lösung sei es, zu den Verwandten nach Miami auszuwandern und dort sein Glück zu versuchen.

“Revolution oder Tod läßt mich kalt”.

“Andere, die ich traf, wollen in Kuba bleiben, sind aber so ermüdet vom mühseligen Alltag, daß der Sinn der Revolution verlorengegangen ist. Ich war erschrocken, als ich eine alte Freundin besuchte, die früher in der Kommunistischen Jugend aktiv war. Nun ist sie Lehrerin, hat zwei kleine Kinder und findet das Leben erheblich schwieriger als zuvor. Nachdem ich mir ihre Klagen über Versorgungsmängel und entnervende Bürokraten angehört hatte, fragte ich sie, ob sie noch wie früher hinter den Gedanken der Revolution stehe. “Ehrlich gesagt,” sagte sie müde, “das ganze Geschrei um ‘Revolution oder Tod’ läßt mich kalt. Ich würde sagen, ich bin jetzt unpolitisch. Es interessiert mich mehr, Essen auf den Tisch zu kriegen, als für den Sozialismus zu sterben.”
Die Regierung versichert, die Unzufriedenen seien ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung. Ein Regierungssprecher nannte 98% auf seiten der Regierung, andere sagen, die Zahl liege eher bei 70%, mit 2o% Unpolitischen und 1o% GegnerInnen der Revolution. Aber auch AnhängerInnen der Revolution fragen sich, ob wirklich noch die Hälfte der Bevölkerung dahinter steht. Seit den Wahlen in Nicaragua weiß man nun auch nicht mehr, ob die Millionen Menschen, die sich bei revolutionären Kundgebungen versammeln, auch wirklich hinter der Revolution stehen.
Angesichts des gegenwärtigen Einparteiensystems und des Fehlens von Meinungsumfragen zu kontroversen Themen kann niemand wissen, welcher Prozentsatz KubanerInnen für oder gegen die Revolution ist. Diejenigen, die einen baldigen Zusammenbruch des Systems erwarten, leben jedenfalls in einem Traumland. Sogar Gustavo Arcos, Führer des Kubanischen Menschrechtskomitees, stellte fest, daß ein erheblicher Prozentsatz des Volkes hinter der Revolution und ihren Führern steht. Es habe wenig Sinn, eine starre Definition von Revolutionären und Konterrevolutionären aufrechtzuerhalten. Stattdessen rief er zum Dialog aller Gruppen einschließlich der Regierung auf.
Offenbar haben die starren offiziellen Kategorien tatsächlich immer weniger Sinn. Die Mehrzahl der KubanerInnen steht wahrscheinlich dazwischen. Sie erkennen die positiven Errungenschaften der Revolution an und bezeichnen sich als SozialistInnen, haben aber gleichzeitig viele Klagen über ihr System und wissen nicht, wie es besser funktionieren könnte.

“100% fidelista”

Die Person Fidel Castro hält das Ganze zusammen und gibt der sonst beunruhigenden Welt eine Kontinuität. Ein Zeitungsverkäufer, mit dem ich über den Umsturz in den sozialistischen Ländern sprach, formulierte das so: “Ay, chica, ich verstehe nicht, was in der Welt vorgeht. Ich weiß auch nicht mehr, was Kommunismus ist. Aber eines weiß ich genau: Ich bin 100% fidelista.”
Die meisten KubanerInnen, mit denen ich sprach, haben weiterhin eine sehr gute Meinung von Fidel, ihrem comandante. Wenige ziehen die Schlußfolgerung, die für eine Beobachterin von außen so einleuchtend ist: Ein starker Führer, der so viele der wichtigen Entscheidungen im Land fällt, bringt gleichzeitig eine erdrückende Bürokratie mit sich, die zu keinen Risiken bereit und in der Lage ist.
Der Parteiideologe Ramón Suárez gibt zu, daß die Umwälzungen im Osten Europas eine Warnung für die Politiker in Kuba waren. “Hier ist alles anders als in Osteuropa, aber wir untersuchen, wie es dazu kommen konnte, daß die Parteien so verknöcherten, wie sie den Kontakt zum Volk verloren. Wenn man mit ArbeiterInnen in Osteuropa oder sogar in der Sowietunion sprach, konnte man merken, wie gering der Einfluß der Partei war. Die ArbeiterInnen hatten keine sozialistischen Wertvorstellungen. Deshalb sagen wir unseren Parteimitgliedern, sie sollen mehr mit den ArbeiterInnen am Arbeitsplatz, in den Fabriken und in den Schulen reden und die wirklichen Probleme der Leute besprechen – wie die Produktion läuft, die Wohnungssituation, ihren Zugang zu Lebensmitteln und Kleidung. Wir müssen ständig Kontakt halten mit den Menschen und sicherstellen, daß ihre Angelegenheiten ernstgenommen werden.
Ein anderes Problem der europäischen Parteien war, daß ihre Führung sich nicht erneuerte. Und bis vor wenigen Jahren war das in Kuba ja auch so. Aber uns ist das klargeworden und wir nehmen nun junge Leute auf allen Ebenen in die Gremien.”
Roberto Robaina, der 32-jährige Vorsitzende der Kommunistischen Jugend (UJC) in Havanna wird als der beste der neuen Generation angesehen. In T-shirt, Jeans und Turnschuhen bekleidet und inmitten eines lebendigen Kommens und Gehens wirkt er völlig anders als die üblichen kubanischen Parteifunktionäre. Er gilt als “Reformer” und äußert seine Kritik – auch gegenüber Fidel Castro. Für ihn ist das Hauptziel, die Jugend davon zu überzeugen, “die Revolution zu lieben.” Er versucht, dies zu erreichen, indem er statt der alten langweiligen und obligatorischen endlosen Sitzungen Musikveranstaltungen und Feste macht, wo weniger geredet als getanzt wird.
Die Frage der Einheitspartei ist weiterhin tabu in Kuba. Dennoch meinen einige KubanerInnen, kleinere Parteien sollten zugelassen werden, auch wenn natürlich die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei damit nicht infrage gestellt werden soll. Andere fürchten die Propagandamaschinerie, die die USA zugunsten anderer Parteien in Gang setzen würden. Dann ginge die nationale Souveränität gleich mit dem Sozialismus verloren.

Das kubanische Dilemma

Das ist das große Dilemma Kubas: Was ist die größere Bedrohung für die Revolution, eine Öffnung des politischen und wirtschaftlichen Systems oder das Aufrechterhalten einer starren Kontrolle? Viele Faktoren sprechen dafür, daß es auf die starre Kontrolle hinauslaufen wird. Ein Grund ist, daß die kubanische Regierung sich weigert, solche Veränderungen durchzuführen, die scheinbar durch äußeren Druch aufgezwungen werden sollen – von den USA, der Sowjetunion oder, noch schlimmer, von den Exilkubanern. Seit 200 Jahren ist Kubas nationale Identität auf der Opposition zum Rest der Welt begründet.
Ein weiteres Hindernis für Reformen hat mit dem machismo zu tun. Wenn mann einmal einen Weg eingeschlagen hat, dann kann mann nicht mehr zurück. Genau das ist die Guerilla-Mentalität und leider scheint Fidel Castro nach eben diesem Motto zu handeln. Manche haben Angst, daß er auf das einzige richtige Ende für einen Revolutionär hinarbeitet – in Flammen aufzugehen. Socialismo o muerte.
Das wichtigste Hindernis für Reformen ist die Feindschaft der USA, die die Einheit wichtiger erscheinen läßt als die Toleranz. “Wenn die Yankees ein kubanisches Schiff mit Maschinengewehren beschießen, oder wenn Bush einen Ballon in den Himmel schickt, um uns TV Martí aufzudrücken, dann verlieren meine Konflikte mit den Dogmatikern an Bedeutung. Dann will ich nur noch einem Scheißamiledernacken auf die Fresse hauen”, sagte ein Reformanhänger.
Veränderungen sind unausweichlich. Wenn die Kommunistische Partei Kubas nicht in der Lage ist, einen wirtschaftlichen und politischen Reformprozess einzuleiten, kann Kubas großartiges Experiment am Ende sein. Anders als die osteuropäischen und sowjetischen Kommunisten genießt die kubanische Partei noch viel Ansehen. Wenn die Sorgen und Bedürfnisse der Kubaner ernstgenommen werden und Reformen stattfinden, wird die Revolution nicht nur besser imstande sein, die US-Aggressionen zu überstehen, sondern sie kann auch weiter den Rest der Dritten Welt inspirieren.

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