Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Viel hätte im Dezember letzten Jahres nicht gefehlt, und Evo Morales hätte die bolivianische Bevölkerung öffentlich dazu aufgerufen, für das Leben von Hugo Chávez zu beten. Auch Uruguays atheistischer Präsident, Pepe Mujica, ließ vorsichtshalber eine Messe für dessen Gesundheit verlesen. Denn dass Lateinamerika plötzlich ohne Chávez dastünde, war für viele Menschen in der Region unvorstellbar.
Um zu ermessen, wie ein Lateinamerika ohne Hugo Chávez aussieht, schaut man sich zunächst am besten an, wie es mit ihm aussah. Venezuelas Außenpolitik der letzten 14 Jahre hat sich maßgeblich auf die Region konzentriert und verfolgte dabei vor allem zwei Hauptanliegen: den Kontinent im Sinne Simon Bolívars, dem „Befreier“ Südamerikas, in Solidarität und Selbstbestimmung zu vereinen und den imperialistischen Einfluss der USA in der Region zu beenden.
In der Praxis bedeutete das etwa, den Aufbau regionaler Integrationsstrukturen zu fördern, die unter Ausschluss der USA als Gegengewicht zu von Washington gegründeten regionalen Organisationen agieren sollten. Darunter fallen beispielsweise die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) oder die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), in der erstmals alle Länder Amerikas außer den USA und Kanada vertreten sind. Auch der Aufbau einer Südamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens, wurde von Chávez angestoßen. Weiterhin gründete er die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), ein regionales Wirtschaftsabkommen mit den engsten Verbündeten Venezuelas. Dieses stellte ursprünglich eine Alternative zur von den USA propagierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) dar, die auch durch Venezuelas Ablehnung 2005 scheiterte. Bisweilen trieb die Regierung in Caracas ihr anti-imperialistisches Prinzip bis zur Absurdität, übersetzte sie es doch mit einer Politik, die all das gut zu heißen schien, was Washington für schlecht befand. Getreu dem Motto, der Feind meines Feindes ist mein Freund, sorgte Chávez durch seine Freundschaften zu von der westlichen Welt geächteten Despoten für internationale Aufregung.
Waren solche Aktionen hauptsächlich als Provokationen mit symbolischem Charakter zu verstehen, trieb Chávez mit seiner Politik jedoch auch einen aktiven, spürbaren Wandel in der Region voran. Ausgestattet mit einem praktisch nie versiegenden Fluss an Öleinnahmen verbreitete er seine Revolution durch ostentative Einmischung in die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse anderer Länder. So begünstigten die finanziellen Mittel Venezuelas die Wahlerfolge linker Regierungen in Ländern wie Bolivien, Nicaragua und Ecuador. Boliviens Evo Morales etwa finanzierte große Teile seines staatlichen Sozialprogramms mit venezolanischen Geldern, was in den turbulenten ersten Jahren seiner Amtszeit maßgeblich zur Stabilisierung der Regierung beitrug. Selbst Kolumbien, das stets als enger Verbündeter Washingtons galt, hat durch Druck Venezuelas seine Position ein wenig von den USA weggerückt. Chávez hatte nicht zuletzt eine wichtige Rolle als Wegbereiter der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksradikalen Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) gespielt.
Durch Petrocaribe verbündete sich Venezuela auch mit der Karibik. Insgesamt 18 Mitgliedsstaaten haben diese Hilfe bisher genossen, allen voran Kuba und Nicaragua. Als Gegenleistung für verbilligtes Öl schickt Kuba Ärzte und Lehrer nach Venezuela, die anderen karibischen Länder liefern Güter wie Kaffee, Zucker, Reis und Getreide ebenso wie Geld, was daran erinnert, dass die Hilfe nicht völlig umsonst kommt. Aber Venezuela hat sich stets großzügig gezeigt und stark vereinfachte Zahlungsbedingungen mit niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten ermöglicht. Würde diese Hilfeleistung aufhören, träfe das die karibischen Partnerländer hart.
Es bleibt also außer Frage, dass Chávez einen deutlichen Abdruck in der Region hinterlassen hat. Wie tief dieser Abdruck ist und wie es nun ohne ihn weitergeht, ist hingegen ungewiss. Viel hängt ab von dem zukünftigen Präsidenten Venezuelas, der am 14. April gewählt wird. In aktuellen Umfragen liegt Chávez’ Wunschnachfolger, Nicolás Maduro, weit vorne. Als ehemaliger Außenminister Venezuelas kennt er die internationalen Gefilde von Chávez’ Politik wie kein zweiter. Aber ob er als neuer Präsident die Fußstapfen seines Vorgängers ausfüllen kann, ist fraglich. Oft wird bemängelt, es fehle ihm dazu an Charisma und Führungsentschlossenheit, mit denen der verstorbene Präsident so vieles bewegt habe.
Dabei hätte Maduro auch so genug Gründe, die außenpolitische Präsenz Venezuelas in Lateinamerika einzudämmen. Denn die nächsten Monate werden für ihn besonders durch innenpolitische Herausforderungen geprägt sein. Neben der Frage um politische Legitimität des Chavismus ohne Chávez, hat das Land interne Probleme, wie etwa eine verbreitete Gewaltkriminalität. Auch die wirtschaftliche Produktivität ist gering, die Ökonomie vom Ölexport dominiert. Dass Maduro angesichts solcher Probleme auf die Idee kommen könnte, die großzügige Vergabe finanzieller Mittel an ausländische Verbündete zu reduzieren, ist daher nicht unwahrscheinlich.
Trotz allem zeigen sich lateinamerikanische Beobachter_innen angesichts der Aussichten recht gelassen. Zwar ist abzusehen, dass mit einer reduzierten politischen und wirtschaftlichen Präsenz Venezuelas das Kräfteverhältnis in Lateinamerika verschoben wird. So erwarten manche, dass Evo Morales mit Rafael Correa und Nicolás Maduro Chávez’ politisches Vakuum auffüllen wird. Andere wiederum zweifeln an deren politischem Gewicht und erwarten eine Verschiebung der regionalen Machtverhältnisse zugunsten Brasiliens.
Auch innenpolitisch stehen Venezuelas Verbündete ohne Chávez nicht zwangsläufig verloren da. Ecuador und Bolivien beispielsweise haben ihren politischen und wirtschaftlichen Horizont mittlerweile gefestigt und sind nicht mehr so stark auf Venezuelas Unterstützung angewiesen, wie noch in den ersten Jahren. Weniger gut ist es um Länder wie Kuba und Nicaragua bestellt, denn sie sind auf die großzügigen Öllieferungen Venezuelas dringend angewiesen.
So gesehen zeichnet sich zwar ein Bild ab, in dem sich die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika insgesamt verschieben werden. Jedoch scheint der Tod von Hugo Chávez noch lange nicht das zwangsläufige Ende seiner Revolution in Lateinamerika einzuläuten. Wie und in welchem Umfang sich sein Projekt jedoch fortsetzt, hängt zu großen Teilen von der zukünftigen Regierung in Caracas ab.

Information aus klarer Quelle

Euer Projekt nennt sich Autonome Nachrichtenagentur SubVersiones. Wie und wann entstand die Idee zur Gründung der Agentur?
Das Projekt entstand im Mai 2010. Einige der Gründungsmitglieder waren damals an der Universität, andere in verschiedene politische Projekte involviert, sowohl in indigenen Gemeinden als auch in urbanen Räumen. Die Agentur entstand letztlich in der gemeinsamen Berichterstattung über die Kämpfe des autonomen Munizips San Juan Copala (siehe LN 432 und 443). Wir unterstützten die Kommunikationskommission, welche nach dem Mord an Bety Cariño gebildet wurde. Außerdem halfen wir bei der Erstellung von Pressemitteilungen, verschickten Emails, entwickelten Websites und organisierten Pressekonferenzen. In bestimmten Situationen, wie der, als die „Friedenskarawane“ die Blockade in Copala durchbrechen wollte, koordinierten wir uns mit unabhängigen Medien, um eine kontinuierliche Berichterstattung zu liefern und so Schutz vor möglichen Angriffen zu haben. Diese Arbeit bündelten wir schließlich in einer gemeinsamen Organisation. Gleichzeitig sahen wir die Notwendigkeit, investigativ zu arbeiten, selber Informationsquelle zu sein und nicht bloß unüberprüfbare Daten zu wiederholen.

Wie sieht die Agentur heute aus? Wie viele Personen arbeiten dort und wie arbeitet ihr?
Wir sind im Redaktionskollektiv acht Personen, die sich regelmäßig treffen. Dazu kommen circa zwanzig weitere, die für die Agentur arbeiten. Die Idee ist, dass alle Mitglieder der Agentur fähig sind, zu schreiben, Geschehnisse in Foto und Video zu dokumentieren und hochwertige Radiobeiträge zu produzieren. Alle diese Beiträge publizieren wir auf unserer Website. So entsteht eine kleine „Armee“, die in vier verschiedenen Bereichen der Kommunikation arbeiten kann. Das gibt es in anderen Medien kaum.

Welche weiteren Unterschiede siehst du zwischen der autonomen Nachrichtenagentur und anderen klassischen und alternativen Medien?
Ich sehe in dieser Hinsicht zwei Dinge: zuerst den Anspruch, den wir an unsere Publikationen haben. Das heißt die Genauigkeit, mit der wir recherchieren, und die Qualität, mit der wir unsere Beiträge produzieren. Wir versuchen, überall hinzugehen und nicht über Dinge zu berichten, die wir nicht selbst gesehen oder recherchiert haben. Man soll uns ernst nehmen und nicht für einen einfachen Blog halten. Unsere Videos, Fotos und Texte produzieren wir grundsätzlich selbst. Das zweite ist unsere politische Position. Wir beziehen eine klare Stellung und machen sie deutlich, damit jeder Nutzer weiß, aus welcher Perspektive wir berichten – im Gegensatz zu vielen anderen Medien.

Welche Themen deckt die Agentur zurzeit hauptsächlich ab?
Wir liefern Berichterstattung zu verschiedenen sozialen Bewegungen in Mexiko wie der kommunitären Polizei in Cherán, nach wie vor zu den Autonomiebestrebungen in San Juan Copala, zum Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad („Bewegung für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“) und einigen mehr. Gleichzeitig beginnen wir derzeit, uns systematischer mit Fragen der nationalen Politik sowie dem organisierten Verbrechen zu beschäftigen. Gleichzeitig berichten wir aber auch über Prozesse in Guatemala und Bolivien. Eine systematische Abdeckung von kulturellen Themen fehlt uns bislang leider. Letztlich haben wir viele Themen, würden aber gerne noch breiter berichten.

Wie aktuell ist eure Berichterstattung? Wie oft wird die Website aktualisiert?
Generell interessiert es uns nicht, mit anderen Medien zu konkurrieren und Nachrichten um der Anzahl willen zu veröffentlichen. Wenn wir eine Nachricht für fertig halten, publizieren wir sie. In der letzten Zeit haben wir allerdings täglich über die Geschehnisse nach dem 1. Dezember 2012 (Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten Peña Nieto, Anm. der Red.; siehe LN 463) berichtet. Allgemein denke ich, dass es mindestens eine neue Publikation am Tag gibt.

Neben der Website existieren auch Facebook- und Twitter-Accounts. Wie groß ist die Reichweite der Agentur zurzeit?
In Twitter sind wir derzeit erst am Anfang. Wir haben lediglich 382 Follower – diese stellen allerdings sehr gute Kontakte dar, die eine weitreichende Verbreitung unserer Arbeit möglich gemacht haben. Bei Facebook besitzen wir circa 5.000 Kontakte, unsere Website hat durchschnittlich 6.000 Besuche am Tag.

Gibt es Pläne, das Angebot auch in andere Mediengattungen zu diversifizieren?
Genau darin besteht eines unserer Probleme, oder besser gesagt, eine Herausforderung: Wir erreichen leider nach wie vor nicht alle Leute, die wir gerne erreichen würden. Wie also können wir mit unserer Berichterstattung auf die Straße gehen? Das Kernstück ist die Website, aber wir wollen auf längere Sicht eine Art Mitteilungsblatt oder Zeitung herausgeben, die Themen betrachtet, welche nicht auf der Website sind. Das ist eine große Herausforderung, aber in den letzten zwei Jahren konnten wir weitaus mehr vorankommen als jemals gedacht.

Hat die Agentur als alternatives Medium Verbindungen zu klassischen, kommerziellen Medien?
Ja, sehr gute sogar – vor allem mit den Leuten von Proceso, Contralínea und Animal Político. Wir konnten von ihnen viel lernen und unsere Arbeit verbessern. Inzwischen haben uns auch einige klassische Medien zitiert, gerade wenn wir über Themenfelder berichteten, in welchen sich diese kaum bewegen. Dies war bislang hauptsächlich bei drei Themen der Fall: unsere Anklage der Korruption und des Machtmissbrauchs durch die Polizei, bei Zollposten und Straßensperren im Nordwesten Chihuahuas, die Berichterstattung über die Situation in Cherán und gerade aktuell, die Berichte über die Demonstrationen am ersten Dezember 2012 in Mexiko-Stadt sowie die Situation der politischen Gefangenen danach – alles, was bis heute passiert ist. Wir können den medialen Diskurs also durchaus beeinflussen, wenn auch nicht immer.

Neben der reinen Berichterstattung ist die Agentur als Organisation auch in verschiedene Unterstützer_innen-Netzwerke, zum Beispiel für Cherán, eingebunden. Wie wichtig ist es für Euch, mehr als nur eine Informationsplattform zu sein?
Für uns ist ein wichtiger Aspekt der Kommunikation ganz klar die Vernetzung einer riesigen bestehenden Vielfalt an Organisationen, die sich mit journalistischen Erfahrungen, Kunst, Musik und sozialen Kämpfen beschäftigen. Unser Projekt hat drei Linien: Kommunikation, Vernetzung und Ausbildung – sowohl intern als auch extern. In den letzten zwei Jahren haben wir vor allem den Kommunikationsteil gefestigt und sind jetzt seit circa einem halben Jahr in der aktiven Vernetzung. Gleichzeitig sitzen wir in den Startlöchern des Bildungsprozesses, das heißt Mitgliedern und Interessierten unser Wissen über Kommunika­tionstechniken u. ä. weiter zu vermitteln.

Gibt es Erfahrungen mit Repression?
Eher Einschüchterung als Repression – für unsere Arbeit wurden wir mit dem Tod bedroht. In diesem Punkt kann ich öffentlich leider keine Details nennen. Aber ja, unsere Recherchen zur kommunitären und zivilen Sicherheit berühren nicht bloß die Interessen einiger Drogenkartelle, sondern auch die des mexikanischen Staates. Wir versuchen, die Verantwortlichen für Aktionen zu finden, welche Gewalt und Unsicherheit in den betreffenden Gebieten verursachen. Dies ist wichtig, da große Medien das nicht können, in den Gebieten hat man zu ihnen kein Vertrauen mehr, aber wir können von innen recherchieren. Ich spreche von den Bundesstaaten Michoacán und Guerrero. Es ist letztlich nicht möglich genau zu sagen, woher die Drohungen kommen, aber wir haben zwei natürliche Feinde: das organisierte Verbrechen und den mexikanischen Staat.

Welchen Schwierigkeiten muss sich die Nachrichtenagentur darüber hinaus entgegenstellen?
Das größte Problem ist sicherlich unsere prekäre Arbeitssituation, da wir keine finanziellen Mittel für all unsere Projekte haben. Ebenso können wir uns nicht voll auf die Agentur konzentrieren – wir alle brauchen eine weitere Arbeit, um Geld zu verdienen und uns für die Berichterstattung im Land bewegen zu können. Diese Situation müssen wir auf kurze bis mittlere Sicht ändern. Auf längere Sicht soll aus der Agentur dann eventuell eine Kooperative werden. Insgesamt müssen wir in den kommenden Jahren weiter wachsen und ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg.

Infokasten:

Heriberto Paredes Coronel

ist Journalist, Fotograf und Mitbegründer der Autonomen Nachrichtenagentur SubVersiones. Er arbeitete international für verschiedene Radiosender, gibt Fotografie-Workshops und ist derzeit Mitarbeiter bei Rompeviento Television sowie der Zeitschrift Variopinto.
http://www.agenciasubversiones.org/

Vorwärts oder zurück?

Die Cafeteria Vivalto liegt in Badalona, einem Vorort von Barcelona. Sie ist José Cornejo Ventocillas und Rocio Muguruza Díaz‘ ganzer Stolz. Vor zwei Jahren, im Juli 2011, haben die beiden Peruaner_innen sie eröffnet. Rocio arbeitete damals nur noch stundenweise, in ihrer Freizeit klapperte sie Banken und gemeinnützige Organisationen ab, auf der Suche nach Unterstützung. Irgendwann fragte sie auch beim Roten Kreuz an und stieß dort auf das Proyecto Impuls@.
Dieses Projekt wurde 2004 vom Roten Kreuz ins Leben gerufen. Eine Initiative, die sozial benachteiligte Unternehmensgründer_innen unterstützen soll. In erster Linie richtet diese sich an Immigrant_innen, da diese in der Regel mehr Schwierigkeiten im Berufsleben haben. Aber natürlich werden auch Spanier_innen beraten und unterstützt, wenn sie um Hilfe bitten.
Das Rote Kreuz fördert die zukünftigen oder jungen Unternehmer_innen mit Schulungen und gibt Hilfestellung bei den Anträgen für Mikrokredite an die Banken. Seit 2001 werden in Spanien solche Mikrokredite von bis zu maximal 25.000 Euro vergeben, mit deren Hilfe für viele Unternehmensgründer_innen die Selbstständigkeit ermöglicht werden kann. Die Zahl der Unternehmensgründer_innen im Projekt Impuls@ sei in den letzten Jahren gleichwertig geblieben, so Sandra Camús, eine der Mitarbeiterinnen des Projektes, da habe die Krise keine bedeutenden Veränderungen hervorgerufen. Allerdings habe sich die Krise auf die Vergabe der Mikrokredite ausgewirkt, diese werden inzwischen nur noch selten bewilligt. Außer­dem wird das Projekt im nächsten Jahr von Kürzungen betroffen sein, wie auch sonst überall im spanischen Sozialwesen eingespart wird. Für das Jahr 2013 sind im Projekt Impuls@ Kürzungen von 43 Prozent geplant. Noch ist nicht bekannt, wo die Einsparungen ansetzen, wie viele Arbeitsstunden, oder Arbeitsplätze betroffen sind. Noch weiß man im Roten Kreuz deshalb nicht, welche Weiterbildungen und Förderungen im nächsten Jahr angeboten werden können.
Das Projekt endet jedoch nicht mit der erfolgreichen Geschäftsgründung, sondern begleitet die Unternehmer_innen auch noch nach den ersten Schritten. Mindestens die ersten zwei Jahre werden sie vom Roten Kreuz beraten und betreut, denn dies ist der Zeitraum, in dem viele neugegründete Unternehmen wieder schließen müssen. Im Jahr 2011 waren es zirka 120 Personen, die das Projekt Impuls@ aufsuchten. 14 von ihnen konnten ihr Projekt letztendlich mit Hilfe des Roten Kreuzes umsetzen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl sogar um mehr als das Doppelte gestiegen, von sechs auf 14. Die Statistiken für das Jahr 2012 sind noch nicht bestätigt, doch es waren wohl um die acht bis neun Personen, so Sandras Schätzung. Zu den 14 erfolgreichen Unter­nehmer_innen aus dem Jahr 2011 gehören Rocio und José mit ihrer Cafeteria.
Als Rocio und José den Entschluss eine Cafeteria zu eröffnen fassen, sind sie bereits einige Jahre in Spanien. Rocio kam 2001 illegal nach Spanien. Später folgt ihr José. Da ihm ein Touristenvisum verweigert wird, heiraten die beiden kurzerhand, denn Rocio ist inzwischen legal in Spanien. Das war 2007. José findet schnell Arbeit, auch wenn er stark überqualifiziert ist. Doch mit der Wirtschaftskrise wird die Situation schwieriger. Früh fangen beide an zu sparen und machen sich als Subunternehmer_innen für Josés Arbeitgeber selbstständig. Doch als dieser seine Firma schließen muss, lohnt sich das Geschäft nicht mehr – auch wenn sie es bis heute nebenbei betreiben. Rocio arbeitet zu dem Zeitpunkt zwölf Stunden am Tag in einer Cafeteria für 900 Euro im Monat. Der Entschluss, eine eigene Cafeteria zu eröffnen festigt sich. Und Rocios damaliger Chef, den beide als guten Freund bezeichnen, unterstützt sie sogar in dieser Entscheidung.
Eine der wenigen Initiativen des spanischen Staates, Bürger_innen aus der Arbeitslosigkeit zu helfen, ist die „Capitalización del paro“. Dies bedeutet, dass die_der Betroffene sich zur Gründung eines Unternehmens sein Arbeitslosengeld auszahlen lässt. Rocio geht diesen Weg und lässt sich ihr Geld auszahlen. Die beiden legen alles Ersparte zusammen und bitten sogar ihre Eltern in der Heimat um Unterstützung. 60 Prozent des benötigten Geldes können sie aufbringen. Was jetzt noch fehlt bekommen sie als Mikrokredit, den sie mit Unterstützung des Roten Kreuzes beantragen und in erstaunlich kurzer Zeit zugesagt bekommen. Abgesehen von der „Capitalización del paro“, gibt es noch eine weitere Hilfe des Staates, eine einmalige Erstattung bereits getätigter Ausgaben der ersten Monate. Dieses Geld ist Rocio im Dezember 2011 bewilligt worden. „Ich habe noch gesagt, das ist unser Weihnachtsgeschenk“, lacht José. 5.000 Euro sollen ihnen ausgezahlt werden. Bis jetzt haben sie keinen Cent gesehen.
Man sagt, dass man nach drei bis fünf Jahren erkennt, ob sich ein Geschäft durchgesetzt hat. Ob es ein Verlustgeschäft war, oder Gewinn bringt. Rocio und José sind mit ihrer Cafeteria noch keine zwei Jahre selbstständig. Die Kosten werden inzwischen vom Geschäft getragen, „Aber wir verdienen keinen Euro extra für uns, alles wird sofort von den Ausgaben geschluckt.“ Rocio wirkt ein wenig abgekämpft. Jeden Tag arbeiten die beiden von morgens bis abends. „Manchmal verkaufen wir lediglich einen Kaffee den ganzen Tag“, so José. Aber sie stehen zu ihrer Entscheidung, bereuen nichts und blicken entschlossen in die Zukunft. „Man muss jetzt weiterkämpfen“, so Rocio. Trotzdem: “Wenn ich deutsch könnte, hätte ich mich schon längst auf den Weg gemacht!”, meint sie. Und auch José sind solche Gedanken nicht fremd: “Da ist diese Stimme in meinem Kopf, dass ich jetzt in Peru leicht Arbeit als Ingenieur finden könnte”.
So oder ähnlich denken viele Immigrant_innen und auch Einheimische. Laut dem Nationalen Statistikinstitut (INE) haben zwischen Januar und September dieses Jahres 420.150 Personen Spanien verlassen. Am stärksten war die Abwanderung in Katalonien, aus dem 149.000 Personen ausgewandert sind, 138.000 davon waren Immigrant_innen. Viele wandern in Nordeuropäische Länder aus, wo sie sich bessere berufliche Chancen ausrechnen.
Seit dem Beginn der Krise zwischen 2008 und 2011 sind in Spanien 2,2 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, so die Studie „Auswirkungen der Krise auf die Immigrantenbevölkerung“ von der Internationalen Organisation der Migra­tionen (OIM). Doch während 11,5 Prozent der spanischen Arbeiter_innen ihre Stelle verloren, war die Migrant_innenbevölkerung stärker betroffen. 15 Prozent der Lateinamerikaner_innen und der Immigrant_innen aus dem restlichen Europa verloren ihren Arbeitsplatz, unter den afrikanischen Immigrant_innen waren es 21 Prozent. Die Arbeitslosigkeit betrifft 18,4 Prozent der Spanier_innen, ist dagegen bei den Afrikaner_innen mit 39,1 Prozent doppelt so hoch. Die Lateinamerikaner_innen sind mit 28,5 Prozent Arbeitslosigkeit die am schwächsten betroffene Gruppe unter den Immigrant_innen.
Trotz der deprimierenden Situation für viele Spanier_innen hat der Rassismus nicht in auffälliger Weise zugenommen. „Die Leute haben verstanden, dass weder die Krise noch die Arbeitsmarktprobleme die Schuld der Immigrant_innen ist, die ihnen die Arbeit wegnehmen, sondern dass das wirtschaftliche System, die Banken und die großen Firmen verantwortlich sind“, meint Javier Bonomi, Präsident von Fedelatina (Federación de Entidades Latinoamericanas de Cataluña) und Koordinator des Programms für die Freiwillige Nachhaltige Rückkehr. Aber den Immigrant_innen bietet sich noch eine andere Möglichkeit: die Rückkehr in die Heimat. Seit einigen Jahren werden von staatlicher Seite Anreize für eine Rückkehr in die Heimatländer angeboten. Man kann hier die „Capitalización del paro“ beantragen und sich sein Arbeitslosengeld auszahlen lassen, wenn man sich im Gegenzug verpflichtet, Spanien zu verlassen. Auf den ersten Blick ein verlockendes Angebot, aber wenn man sich zu diesem Schritt entschließt, muss man alle spanischen Papiere, wie Krankenversicherung und Führerschein abgeben und man darf für mindestens drei Jahre nicht wieder einreisen.
Die Räume von Fedelatina sind im Altstadtviertel von Barcelona zu finden. Schon an der Tür auf der Straße weist ein Schild auf die Informationsveranstaltung an diesem Nachmittag hin. Wenn man durch die große Tür von der Straße hereinkommt betritt man einen langen Flur. Auf der linken Seite ist eine kleine Rezeption, rechts gegenüber stehen ein paar Stühle. Die Stühle sind alle besetzt, einige Besucher_innen stehen auch. Ein gutes Dutzend Lateinamerikaner_innen sind gekommen, um sich über den Retorno Voluntario Sostenible, die “Freiwillige Nachhaltige Rückkehr“ zu informieren. Ein Paar ist mit ihren zwei kleinen Töchtern gekommen. Sie alle suchen nach Auswegen aus der schwierigen Situation in Spanien.
Nach einer Weile wird die Gruppe von Jara Esbert-Pérez, Leiterin des Projektes, in den kleinen Vortragsraum am Ende des Flurs gebeten. Jara begrüßt die Gruppe und stellt Javier und sich selbst vor, bevor sie beginnt über die „Freiwillige Rückkehr“ zu reden.
Zuerst erklärt Jara die verschiedenen Programme, die es in Spanien und Katalonien gibt, und die Immigrant_innen verschiedenster Nationen die Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimatländer bieten. Denn nicht jeder erfüllt die Kriterien für die Freiwillige Nachhaltige Rückkehr, und so sollen den anderen weitere Möglichkeiten und die dazugehörigen Kontaktdaten angeboten werden, damit sie das Treffen nicht ratlos verlassen müssen. Und wirklich kommen die Nachfragen. Der Vater der beiden kleinen Mädchen möchte wissen, welche Programme für ihn und seine Familie in Frage kämen, da seine Frau Italienerin sei. Und ein junger Mann erkundigt sich, ob sich seine erworbene spanische Staatsangehörigkeit auf die Freiwillige Rückkehr auswirke.
Jara kommt auch auf psychologische Betreuung zu sprechen, die bei den wenigsten Programmen gewährleistet ist. Denn oft fühlt sich die rückkehrende Person als Versager. Wollte man nicht etwas erreichen, Geld verdienen, die Familie in der Heimat unterstützen? Und nun die erfolglose Rückkehr? „Ganz genau!”, flüstert eine Kolumbianerin in der letzten Reihe zustimmend.
Es gibt vieles, auf das man achten muss, wenn man die Freiwillige Rückkehr als Möglichkeit in Betracht zieht. Man muss sich der Konsequenzen bewusst sein, vor allem, dass einem die Wiedereinreise für drei Jahre verwehrt wird. Aber auch technische Dinge müssen bedacht werden, denn bei vielen Programmen muss man das Land innerhalb kurzer Zeit verlassen und gleichzeitig selbst für das Flugticket aufkommen, was viele Rückkehrer_innen auf einmal vor nicht bedachte finanzielle Probleme stellt. Das Projekt der Freiwilligen Nachhaltigen Rückkehr wird in diesem Jahr zum ersten Mal durchgeführt. Es wird von der Europäischen Union und der Organisation der Iberoamerikanischen Staaten für Bildung, Wissenschaft und Kultur (OEI) getragen und in vier europäischen Ländern – Spanien, Portugal, ltalien und England – durchgeführt, wiederum in Zusammenarbeit mit sechs Lateinamerikanischen Ländern: Bolivien, Ecuador, Brasilien, Kolumbien, Peru und Paraguay. Die Antragstellerin oder der Antragsteller muss also aus einem dieser sechs Länder sein. Sie_Er muss sich in einer situacion irregular befinden, was bedeutet, dass sie_er weder Arbeit hat noch Arbeitslosengeld bekommt, zwischen 25 und 45 Jahre alt ist, und über ein gewisses Bildungsniveau verfügt.
Die Ausgewählten durchlaufen einen strengen Auswahlprozess. Nachdem sie die Informationsveranstaltung besucht haben, können sie gleich im Anschluss ein Antragsformular ausfüllen. Wenn sie die Kriterien erfüllen, werden sie zu verschiedenen persönlichen Gesprächen und Treffen eingeladen. Sind alle Hürden genommen, beginnt die dreimonatige Ausbildung in Barcelona, die online geplant ist, wobei Fedelatina auch Präsenzveranstaltungen bieten möchte. Schließlich dann die Rückkehr ins Heimatland. Das Projekt kommt hierbei für das Flugticket auf. Vor Ort dann sind weitere zwei bis drei Monate Online-Ausbildungen geplant, bis man mit Hilfe des Ministeriums für Arbeit und verschiedenen anderen Organisationen in den Arbeitsmarkt eingegliedert wird. Die Ausbildungen werden in Sektoren wie Konstruktion, Technologie und Kommunikation, Tourismus und Gastronomie, Handel, Kundenbetreuung, Kinderbetreuung, Altenpflege und Hauswirtschaft angeboten, sowie Kleingewerbe. „Kundenbetreuung zum Beispiel“, so erklärt Jara, „wir alle hier wissen, dass unsere Anrufe an diverse Callcenter nach Lateinamerika weitergeleitet werden. Da sind diejenigen von euch im Vorteil, die hier ein wenig Katalanisch gelernt haben. Denn wenn ihr dort mit ‚Bon dia‘ statt ‚Buenos Días‘ antwortet, habt ihr schon mal einen Pluspunkt.“
„Wichtig ist die Nachhaltigkeit!“, erklärt Jara später, „alle Ausbildungen sind auf die Sektoren ausgerichtet, in denen Arbeitskräfte fehlen“. Doch nicht nur beruflich werden die Rückkehrer_innen weitergebildet, auch auf die Situation in ihrem Heimatland werden sie vorbereitet. Wie zum Beispiel dort inzwischen das Gesundheitssystem funktioniert, oder wie hoch die Lebenshaltungskosten sind. Das Projekt klingt vielversprechend. Jara und Javier routieren zurzeit, das Auswahlverfahren läuft noch und da das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt gibt es natürlich besonders viel zu tun. 30 Personen sollen in ganz Spanien in das Programm aufgenommen werden, die Anlaufpunkte sind Madrid und Barcelona. Im März 2013 sollen die Projektteilnehmer_innen voraussichtlich in ihre Heimatländer zurückkehren. Wo sie hoffentlich schnell und erfolgreich reintegriert werden, denn die Rückkehr nach Europa wird ihnen vorerst verwehrt sein.

Warten auf Chávez

Gerüchte kursierten bereits seit Langem. Am 8. Dezember trat der venezolanische Präsident Hugo Chávez vor die Kamera, bestätigte, dass seine Krebserkrankung wieder aufgetreten sei und kündigte eine weitere Operation in Kuba an. Bis zu seiner Wiederwahl am 7. Oktober 2012 galt seine Erkrankung als vorerst überwunden. Die rigide Informationspolitik der Regierung hatte jedoch stets Raum für Spekulationen gelassen. Daran, dass der Eingriff dieses Mal komplizierter sein könnte als bei den drei Operationen zuvor, ließ Chávez keinen Zweifel. Erstmals äußerte er sich öffentlich zu seiner möglichen Nachfolge: „Die Revolution hängt nicht von einer Person ab“, versicherte Chávez in seiner Fernsehansprache und bat die venezolanische Bevölkerung darum, falls nötig, den derzeitigen Vizepräsidenten Nicolás Maduro als seinen Nachfolger zu unterstützen.
Der frühere Busfahrer und Gewerkschafter wurde 1998 als Abgeordneter von Chávez‘ Wahlplattform Bewegung für die Fünfte Republik (MVR) in die Nationalversammlung gewählt. Zwischen 2005 und 2006 war der heute 50-Jährige Parlamentspräsident, bevor Chavez ihn zum Außenminister machte. Während Chávez die meisten Minister_innen regelmäßig austauschte, übte Maduro, der mit Generalstaatsanwältin Cilia Flores verheiratet ist, das Amt bis vor kurzem aus. Kurz nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober hatte Chávez ihn zu seinem Vizepräsidenten ernannt.
Die medizinische Behandlung in Kuba genehmigte die Nationalversammlung mit den Stimmen der Opposition. Am 11. Dezember wurde Chávez operiert. Der Eingriff sei „kompliziert“ gewesen, ließ die Regierung verlauten. Die Anhänger_innen des Präsidenten reagierten mit Solidaritätsbekundungen und öffentlichen Massengebeten, die Chávez einmal mehr die Aura eines Heiligen verliehen. Die Regionalwahlen vom 16. Dezember, bei denen sich die Opposition gute Chancen ausgerechnet hatte, gewann das Regierungslager bei einer vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von etwa 54 Prozent überaus deutlich. 20 der 23 Gouverneursposten gingen an die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die somit mehrere bisher von der Opposition regierte Staaten zurückgewinnen konnte. Einen wichtigen Erfolg konnte die Opposition jedoch im zentralen Staat Miranda erzielen. Hier setzte sich Henríque Capriles Radonski, der bei den Präsidentschaftswahlen gegen Chávez unterlegene Oppositionskandidat, gegen den ehemaligen Vizepräsidenten Elías Jaua durch. Die Regionalwahlen verschwanden aufgrund von Chávez‘ Erkrankung jedoch rasch wieder aus den Schlagzeilen. Dessen Gesundheitszustand verschlechterte sich nach der erfolgreichen Operation offenbar. Wie die Regierung mitteilte, leide Chávez an Atemwegsproblemen, sein Zustand sei aber stabil. Die Abwesenheit des Präsidenten sorgte für hitzige Diskussionen darüber, ob es Neuwahlen geben müsse oder nicht. Denn laut venezolanischer Verfassung ist die Vereidigung eines gewählten Präsidenten immer für den 10. Januar nach den Präsidentschaftswahlen vorgesehen. Es zeichnete sich bereits Ende Dezember ab, dass Chávez zu diesem Termin nicht würde anreisen können. Die Position des Chavismus war eindeutig: Der Präsident könne sich die Zeit nehmen, die zu seiner Genesung nötig sei. Die Vereidigung sei eine „reine Formalität“ und könne zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Obersten Gericht (TSJ) nachgeholt werden, erklärte Vizepräsident Maduro. Die Option einer späteren Vereidigung hatte Parlamentspräsident Diosdado Cabello bereits im Dezember ins Spiel gebracht. Generalstaatsanwältin Cilia Flores beteuerte, eine Vereidigung sei nicht zwingend am 10. Januar nötig, da Chávez ja bereits Präsident sei.
Artikel 231 der venezolanischen Verfassung sieht vor, dass die Vereidigung an diesem Datum vor der Nationalversammlung erfolgen soll. Im gleichen Artikel wird jedoch die Vereidigung vor dem TSJ als Möglichkeit genannt, sollte diese vor dem Parlament wegen eines „plötzlich auftretenden Grundes“ nicht möglich sein. Ein konkretes Datum wird für diesen Fall nicht genannt.
Führende Politiker der Opposition pochen jedoch darauf, dass es innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen geben müsste, da Chávez am 10. Januar nicht vereidigt wurde.
Die Opposition beruft sich mehrheitlich auf Artikel 233 der Verfassung. Demnach müssen innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen abgehalten werden, sollte ein Präsident vor der Vereidigung oder innerhalb der ersten vier Jahre seiner Amtszeit versterben oder aus anderen Gründen dauerhaft ausfallen. Tritt dieser Fall bereits vor der Vereidigung ein, übernimmt der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte bis zu den Wahlen. Als Grund für eine „absolute Abwesenheit“ wird unter anderem die „dauerhafte physische oder mentale Geschäftsunfähigkeit“ genannt. Diese muss aber von einem Ärzteteam festgestellt werden, das vom Obersten Gericht ausgewählt wird. Eine temporäre Abwesenheit ist dem Präsidenten nach Erlaubnis durch die Nationalversammlung für 90 Tage gestattet, mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um weitere 90 Tage.
Es gibt aber auch Stimmen innerhalb der Opposition, die den Regierungsdiskurs stützen. Der Verfassungsrechtler Hermann Escarrá etwa bezeichnete es als „gravierenden Fehler“, von einer absoluten Abwesenheit zu sprechen. Auch der im Oktober unterlegene Präsidentschaftskandidat der Opposition, Henrique Capriles Radonski, sprach sich nicht grundsätzlich gegen eine spätere Vereidigung aus. Das TSJ folgte am 9. Januar der chavistischen Interpretation der umstrittenen Verfassungsartikel. Aufgrund der internen Mehrheitsverhältnisse hatte das Oberste Gericht in den vergangenen Jahren stets die Positionen der Regierung vertreten. In Lateinamerika wurde das Vorgehen von praktisch allen Regierungen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) abgenickt. Am Tag der eigentlich vorgesehenen Vereidigung rief die PSUV zu einer massiven Kundgebung in Solidarität zu Chávez auf. Mehrere Staatschefs reisten an, darunter Pepe Mujíca aus Uruguay, Evo Morales aus Bolivien und Daniel Ortega aus Nicaragua. Andere Länder schickten hochrangige Vertreter_innen.
Die Entscheidung, wie es in Venezuela politisch weitergehen wird, könnte sich noch einige Monate hinziehen. Die internen Spannungen, die den unterschiedlichen Strömungen des Chavismus nachgesagt werden, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum seriös einzuschätzen. Maduro und Cabello, die innerhalb der PSUV jeweils für den linken und rechten Flügel stehen, üben in der Öffentlichkeit demonstrative Geschlossenheit. Nüchtern betrachtet kann die Opposition mit der Situation gut leben, auch wenn sie gegen Chávez‘ Verbleib im Amt mobilisiert und kritisiert, dass die wichtigen Entscheidungen nun in Havanna getroffen würden. Bei kurzfristigen Präsidentschaftswahlen wäre sie aufgrund schwacher Inhalte und der starken Mobilisierung, die Chávez‘ schwere Erkrankung auslöst, aller Voraussicht nach auch gegen Maduro chancenlos. Laut Darstellung der Regierung trifft Chávez auch am Krankenbett noch Entscheidungen. So ernannte er etwa Mitte Januar Elías Jaua zum neuen Außenminister. Zuletzt äußerte sich Maduro wieder optimistischer über Chávez‘ Gesundheitszustand. Er rechne damit, dass dieser innerhalb von ein paar Wochen nach Venezuela zurückkehre.

TIPNIS entzweit weiter

Bereits im Verlauf der von Ende Juli bis Anfang Dezember vergangenen Jahres laufenden Befragung der Bewohner_innen des TIPNIS war nur eines sicher: die herrschende Uneinigkeit (siehe LN 462). So überrascht es nicht, dass der am 8. Januar 2013 von der Obersten Wahlbehörde (TSE) präsentierte Abschlussbericht zu anderen Ergebnissen kommt als ein Bericht, der gemeinsam von der Katholischen Kirche, der Ständigen Vereinigung für Menschenrechte in Bolivien (APDHB) und dem Internationalen Bund für Menschenrechte (FIDH) erarbeitet wurde.
Von den 69 Gemeinden seien 58 über das Straßenbauprojekt und die „Unantastbarkeit“ des Territoriums, die mit einem Gesetz als Reaktion auf Proteste gegen die Überlandstraße im Jahr 2011 erlassen wurde, befragt worden. Der Direktor vom Interkulturellen Dienst zur Stärkung der Demokratie (SIDFE), einer Unterabteilung der Wahlbehörde TSE, Juan Carlos Pinto, verkündete zudem, dass sich lediglich drei der 58 befragten Gemeinden gegen das Straßenbauprojekt ausgesprochen hätten. Eine weitere sei für die weitere „Unantastbarkeit“ des Territoriums. Pinto erklärte weiter, von den elf Gemeinden, die nicht an der Befragung teilgenommen hatten, hätten sechs die Durchreise der Regierungsbrigaden verhindert und die restlichen fünf hatten öffentlich ihre Ablehnung über die den Beni und Cochabamba verbindende Straße kundgetan.
Die Wahlbehörde legt den Bericht Ende Januar der Legislative vor, damit diese entscheidet wie das Gesetz 180 verändert wird, das das TIPNIS zum „unantastbaren“ Territorium macht, um den Bau der Straße zu ermöglichen. Ramiro Paredes, Sprecher des TSE, sagte, in der Befragung wurde noch nicht die Konstruktion der Überlandstraße beschlossen. „Was wir festlegen können ist, dass die Fachmänner der Brigaden den Gemeinden mögliche Entwürfe der Straße präsentiert haben“, meint Paredes jedoch. Das von Befürworter_innen der besagten Straße in Gang gesetzte Referendum hat sein Ziel somit erreicht: Die Straße kann gebaut werden und die Regierung legitimiert die nun ausstehenden Planungen des Straßenverlaufs mit den Ergebnissen der Wahlbehörde.
„Falsch und verlogen“ sei der Bericht der TSE, meint jedoch der Präsident der Subcentral TIPNIS Fernando Vargas. Des Weiteren beklagt er, „die Befragung ist nicht repräsentativ“. Diese Stimmen lassen sich nachvollziehen, wenn ein anderer Bericht zur Hand genommen wird. Auf die Einladung von führenden indigenen Autoritäten des TIPNIS besuchte eine Kommission, die durch die Katholische Kirche, den APDHB und FIDH gebildet wurde, von Ende November bis Mitte Dezember 35 Gemeinden und ein Zentrum im TIPNIS. Zeug_innenberichte über die Befragung wurden gesammelt und es sollte überprüft werden, ob die Standards einer rechtlich vorgesehenen „vorherigen, freien, informierten“ Befragung erfüllt wurden. Als solche tituliert die Regierung die Befragung, die von Gegner_innen jedoch von Anfang an als inadäquate verspätete Befragung abgelehnt wurde.
In elf Punkten wurde zusammengefasst, was die Kommission in den Gemeinden „gehört und gesehen“ hat. Zunächst fällt auf, dass nur in 18 der 35 besuchten Gemeinden Versammlungen stattfanden, die von der Regierung als Befragung erachtet werden. In den ausbleibenden 17 Gemeinden wurden keine Brigaden empfangen. Insgesamt kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass 30 der besuchten Gemeinden eine Straße durch das TIPNIS ablehnen und nur drei diese akzeptieren. Weitere drei Gemeinden äußerten, dass sie die Verbindungsstraße nur unter bestimmten Bedingungen und einem anderen Verlauf akzeptieren würden. Weiteres Resultat der Befragung der Gemeindemitglieder ist, dass die Befragung nicht den national und international festgelegten Standards gerecht wird. Die Verteilung von Geschenken, Angebote von Projekten und der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitsangebots begleiteten die Treffen mit den Regierungsvertreter_innen. Aber nicht nur positive Versprechungen empfingen die Gemeinden, in einigen Fällen erfuhren sie Repressalien wie das Aussetzen der Gesundheitsversorgung oder die Verpflichtung, die gesamte Gemeinde durch einen Vertreter zu repräsentieren. Die Kommission schlussfolgert, dass das Kriterium einer „freien“ Befragung unter solchen Umständen nicht erfüllt ist. Ebenfalls lässt das Attribut „informiert“ nach sich suchen. Zwar wurden Bilder für das Modell der geplanten Straße gezeigt, über die möglichen ökologischen Folgen wurde jedoch nicht aufgeklärt. Dort, wo Versammlungen stattfanden, gaben die Brigaden nicht nur mangelnde Auskunft, sondern es erfolgte auch eine gezielte Desinformation. Obwohl das Gesetz über die „Unantastbarkeit“ des Territoriums traditionelle Nutzung durch die Bewohner_innen explizit erlaubt, erläuterten die Brigaden den Menschen, die „Unantastbarkeit“ verbiete jegliche Nutzung. So lehnten die Gemeindemitglieder das Gesetz 180 in dem Glauben ab, es verbiete ihnen das Jagen und Fischen. Ein weiterer Punkt, den der Bericht ausfindig macht, bezieht sich auf die Verfahrensweisen der Befragung. Sie fand an anderen Orten statt, als an denen, wo traditionell Versammlungen erfolgen oder nur wenige Familien nahmen teil, da der Rest der Gemeinde nicht einverstanden war mit den Versammlungen. Dies säte Zwietracht innerhalb der Gemeinden.
Die Menschen in den Gemeinden äußerten für den Fall eines Baus der Straße auch die Angst vor einer Unterwerfung durch die Kokabauern und
-bäuerinnen, da diese dank der Straße weiter in ihr Territorium vorrücken könnten. Damit verbunden ist auch die Angst, dass diese den Kokaanbau für den Drogenhandel ausweiten könnten. Des Weiteren befürchten sie eine Verschmutzung des Wassers durch die Kokakultivierung, da dies bereits im Alto Isiboro beobachtet wurde.
Abschließend fasste die Kommission zusammen, dass die Mehrheit der von ihnen besuchten Gemeinden den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS ablehnt, gegen die sie sich bereits in der Vergangenheit aufgelehnt haben und dies in dem VIII und IX Marsch zum Ausdruck brachten. Einen internationalen Protestmarsch „zur Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington“, kündigte Vargas auch in Reaktion auf den Bericht der TSE an. Rafael Quispe, indigene Autorität, kündigte bereits an, sich im Falle des Straßenbaus international an das Ständige Forum für Indigene Fragen, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), das OAS-Expert_innenkommitee und den CIDH zu richten.

Wenn die Medien schweigen, sprechen die Wände

Lateinamerika hat im letzten Jahrzehnt seine politische Gestalt deutlich verändert, mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor prägen die Weichenstellungen auf dem Kontinent. Dazu gehören auch gesetzliche Neuregelungen der Medienlandschaft, deren Wurzeln ökonomisch und juristisch oft in den Zeiten der Militärdiktaturen liegen. Venezuela, Argentinien und Bolivien sind drei von mehreren aktuellen Beispielen, in denen neue Mediengesetze entstehen oder bereits verabschiedet wurden und auf erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne stoßen.
„Konflikte um die Kontrolle der Medien haben in den vergangenen Jahren zugenommen und politische Auseinandersetzungen werden zunehmend über die Medien und mit Medien als zentralen Akteuren ausgetragen“, heißt es dazu im Vorwort. Das selbst gesteckte Ziel der „Interdisziplinarität und Heterogenität“ der Beiträge zu diesem Thema können die Herausgeber_innen des Bandes sehr erfolgreich einlösen. Neben der regionalen und politischen Vielfalt der Länderauswahl reicht die Bandbreite von der Auseinandersetzung mit Medienpolitik bis zum Interview mit der Medienaktivistin eines Basisradios in El Salvador.
Einen wichtigen Beitrag liefert Malte Daniljuk, der detail- und faktenreich Medien und Medienpolitik in Venezuela analysiert und der hierzulande zumeist polemisch geführten Debatte über Zensur in Venezuela eine Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung gibt. Einen anderen Aspekt beleuchtet der Artikel Wenn die Medien schweigen, sprechen die Wände, in dem Fabian Unterberger Gegenöffentlichkeit und Repression in Honduras beschreibt. Nach dem Putsch 2009 griffen dieselben Mechanismen wie in den Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre: Zensur, Schließung von Sendern, Repression gegen Journalist_innen bis hin zum Mord. Denn die Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Medien in Lateinamerika darf nicht vergessen lassen, dass in vielen Ländern Pressefreiheit immer noch nicht existiert.
Im zweiten Teil des Bandes kommen nach einer kritischen Analyse der deutschen Auslandsberichterstattung auch diejenigen zu Wort, die in Deutschland für „andere“ Informationen über Lateinamerika sorgen. Neben Redakteur_innen des Nachrichtenportals amerika21.de und des Nachrichtenpools Lateinamerika npla, schildert Tobias Lambert in seinem Beitrag Kritische Solidarität seit 1973 die Lateinamerika-Berichterstattung in (West-)Deutschland am Beispiel der LN.

Lateinamerikagruppe Marburg (Hrsg.) // Medien und Demokratie in Lateinamerika // Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe: Manuskripte 95 // Berlin 2012 // 16,90 Euro // www.rosalux.de

Neuer Sozialismus oder alter Hut?

Demokratie, Partizipation, Sozialismus – im Bannkreis dieser Werte unternimmt das gleichnamige Buch den Versuch, eine Bestandsaufnahme des Transformationsprozesses in Bolivien, Ecuador und Venezuela zu geben. Was hat der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ soweit gebracht? Mehr Demokratie? Mehr Partizipation? Oder ist die neue sozialistische Realität in Lateinamerika alter Wein in neuen Schläuchen und trägt eher Zeichen des real existierenden Sozialismus früherer Tage mit Hang zum Staatskapitalismus und Ein-Parteien-Herrschaft?
Das Buch gibt Antworten auf diese Fragen. Zunächst führen drei theoretische Beiträge die Leser_innen in die Thematik ein. Dann äußern sich bolivianische, ecuadorianische und venezolanische Autorinnen und Autoren über die Situation in ihren Ländern. Und da Sozialismus in Lateinamerika nicht ohne die kubanische Erfahrung denkbar ist, befassen sich die zwei letzten Beiträge mit den Lehren aus der jüngeren Geschichte der Insel.
Die Einleitung von Miriam Lang macht klar, dass das Buch „als Beitrag zu einer Vertiefung der Transformation des Weltsystems [verstanden werden soll], die ohne Verschiebungen im globalen Norden wenig Chancen hat.“ Aufklärung in Form von Reziprozität tue Not. Allerdings erschöpfe sich diese nicht im gegenseitigen Lernen. Vielmehr gehe es darum, „im jeweils eigenen Kontext Transformationen voranzutreiben, die zueinander komplementär sind und dem Vormarsch des Rohstoff-Neokolonialismus Einhalt gebieten.“
Wie das gehen kann, zeigen die beiden anderen theoretischen Beiträge. Boaventura de Sousa Santos sieht in der Plurinationalität den entscheidenden Beitrag zur Demokratie. Die plurinationale Gemeinschaft sei der Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaft. Anders als in jener koexistierten in dieser mehrere Nationalitäten in gegenseitiger Anerkennung und machten sich die freizirkulierenden, unterschiedlichen Wissensformen zunutze, um das Buen Vivir im Ökosozialismus zu verwirklichen. Eduardo Gudynas beschreibt ergänzend das Buen Vivir als das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum und somit als etwas, das sich des Kapitalismus entledigt und vom Kolonialismus befreit hat.
In den Länderbeiträgen wird unisono das Spannungsfeld zwischen progressiven Elementen der Transformation und der Gefahr des Staatsdirigismus thematisiert. Historisch bedeutsame Anstöße wie die Verabschiedung der neuen Verfassungen in Bolivien und Ecuador oder die Sozialprogramme in Venezuela gäben Mut. Gleichzeitig schüre manch autokratisches, wenig Opposition zulassendes und auf eine Führungsfigur zugeschnittenes Regierungsgebaren die Furcht, alte Fehler erneut zu begehen. Warnend schreibt Raúl Prada in seinem Bolivien-Beitrag, „dass, als die Bolschewiki die Macht ergriffen, sie damit den Staat zerstören wollten, aber […] am Ende einen noch dominanteren Staat geschaffen haben.“ Gegen diese Gefahr, aber auch gegen das Verharren in einem kolonialistischen Staatsmodell, das sich in einem Neo-Extraktivismus ausdrücke und die Partizipation breiter Bevölkerungsteile verhindere, schreiben die Beiträge an. Gleichzeitig sensibilisieren sie für die Probleme der politischen Alltagsarbeit, in der indigene Vertreter_innen nach wie vor diskriminiert würden.
Das Buch ist gut strukturiert, spannend und horizonterweiternd. Insbesondere die Einrahmung der Länderbeiträge durch die theoretische Einführung und den Bezug auf Kuba, geben dem_r Leser_in das Gefühl, allumfassend und facettenreich über die Thematik informiert zu werden. Eine anspruchsvolle, aber empfehlenswerte Lektüre.

Miriam Lang // Demokratie, Partizipation, Sozialismus – Lateinamerikanische Wege der Transformation. Manuskripte Bd. 96 // Karl Dietz Verlag // Berlin 2012 // http://www.rosalux.de/publication/38509

Für Buen Vivir und gegen die Regierung

Die beiden Drahtseile überspannen den gesamten Isiboro-Fluß. „Resistencia para vivir bien“, „Widerstand für das Gute Leben“ hat jemand mit rotem Filzschreiber auf ein Schild geschrieben, das an einem der Seile flattert. Mit der im Nordosten des indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Sécure (TIPNIS) errichteten Flußblockade widersetzt sich ein Teil der indigenen Gemeinden einer derzeit stattfindenden Volksabstimmung. Mit dieser sollen sie über den Bau der von der Regierung um Evo Morales vorangetriebenen Überlandstraße entscheiden, die quer durch das indigene Territorium führen soll. Doch jene Bewohner_innen des TIPNIS, die sich nun im Widerstand gegen den „plurinationalen“ Staat befinden, sehen in der Abstimmung nur ein weiteres Instrument der Regierung, ihren Willen gegen den Protest der Indigenen durchzusetzen.
Boliviens Exekutive hatte zunächst versucht, das Bauprojekt ohne Zustimmung der Betroffenen durchzuführen. Da diese befürchten, die Straße fördere illegale Rodungen und Landbesetzungen indigener Gebiete durch Kokabäuerinnen und -bauern, reagierten sie im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Dachverband der indigenen Organisationen des Tieflandes CIDOB mit einem Protestmarsch vom Osten des Landes bis zum Regierungssitz La Paz. Der Marsch erfuhr eine Welle der Solidarisierung durch alle Schichten der bolivianischen Bevölkerung, die nach einer brutalen polizeilichen Repression des Marsches im September 2011 noch weiter anwuchs. Als Resultat dieses Marsches wurde das TIPNIS per Gesetz zum „unantastbaren“ Territorium erklärt und der Bau der Überlandstraße untersagt. Anfang dieses Jahres erreichte dann ein offenbar von der Regierung selbst initiierter und finanzierter zweiter Marsch La Paz, mit dem der Bau der Straße doch noch erzwungen werden sollte. Daraufhin wurde das Gesetz 222 verabschiedet, welches das vorherige Gesetz zum Schutz des TIPNIS de facto aufhob und die Grundlagen für das Referendum legte, mit dessen Durchführung Ende Juli begonnen wurde.
Die wichtigsten indigenen Organisationen Boliviens – der im andinen Hochland angesiedelte Nationale Rat der Ayllus und Markas des Qullasuyu, CONAMAQ, und die Konföderation der indigenen Völker Boliviens, CIDOB – lehnten die Abstimmung von vornherein ab, unter anderem da sie eine massive Einmischung der Regierung befürchteten. Diese jedoch hielt an ihrem Vorhaben fest; ein weiterer Protestmarsch der indígenas wurde Anfang Juli in La Paz mit Wasserwerfern empfangen, Verhandlungen von Regierungsseite ausgeschlossen. Für die indigenen Organisationen des Tieflandes stellte dies eine bislang unbekannte Situation dar: im Gegensatz zu den kämpferischen Bewegungen des Andenraumes verfolgen sie seit jeher eine versöhnliche Politik der Verhandlungen mit den regionalen und nationalen Autoritäten. Insbesondere die Führungsriege der CIDOB schien mit der Absage der Regierung an dieses Verfahren überfordert und sucht seitdem zunehmend die Nähe der traditionellen Parteien, mit denen sie häufig klientelistische Beziehungen unterhält. Das jüngste Beispiel hierfür ist der von ihr eingeschlagene Weg für die im Januar 2013 anstehenden Gouverneurswahlen im Tieflanddepartament Beni, wo die indigenen Organisationen einen eigenen Kandidaten aufgestellt haben. Dessen Unabhängigkeit wurde ohne Absprache mit der Basis von der Führungsriege der CIDOB geopfert, als sie beschloss, eine Allianz mit der sozialdemokratischen „Bewegung ohne Angst“ (MSM) einzugehen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch die MSM, ebenso wie die MAS und ihre rechten Opponenten, für die Fortführung der traditionellen Klientelpolitik stehen dürfte.
Der Beschluss, den Widerstand gegen die Volksbefragung dezentral von den indigenen Gemeinden aus zu organisieren, stammt dementsprechend aus der Basis. Und dafür gibt es gute Gründe, denn schon lange bevor die ersten von der Regierung entsandten Brigaden zur Durchführung der Befragung das TIPNIS Ende Juli erreichten, zeigte sich, dass die Befürchtungen der indígena-Organisationen durchaus gerechtfertigt waren. Etliche hohe Regierungsvertreter_innen, unter ihnen Evo Morales selbst, bereisen seit Monaten medienwirksam das indigene Territorium und verteilten Außenbordmotoren, Benzin, Parabolantennen und Handys an indigene Gemeinden. Der Druck auf die widerspenstigen Gemeinden des TIPNIS wurde Ende August noch einmal erhöht, als der Präsident das 800 Soldaten starke „Ökologische Bataillon“ ins Leben rief, welches seinen Stützpunkt mittlerweile im TIPNIS errichtet hat. Und auch der Ablauf der Befragung steht massiv in der Kritik. So häufen sich Berichte über erzwungene Absetzungen unliebsamer indigener Autoritäten und von Regierungsvertreter_innen einberufene „Gemeindeversammlungen“ mit handverlesenen Teilnehmer_innen, die dem Straßenbau einstimmig zustimmen. Laut Angaben der indigenen Organisationen und unabhängiger Beobachter_innen befinden sich über die Hälfte der 69 Gemeinden des TIPNIS im aktiven Widerstand gegen das Referendum und verhindern, dass die Vertreter_innen des Staates sich ihren Territorien nähern. Die Regierung hingegen erklärte, über zwei Drittel der indigenen Gemeinden des Nationalparks hätten dem Bau der Überlandstraße bereits zugestimmt. Zwar soll die Befragung noch bis Jahresende andauern, dennoch hat Evo Morales im Oktober schon den ersten Vertrag für die Fertigstellung der Straße unterschrieben – den Zuschlag erhielt eine Straßenbaufirma, die sich im Besitz von Kokabäuerinnen und -bauern befindet.
Unabhängig vom Ausgang des Referendums steht schon fest, dass es das Zerwürfnis zwischen Staat und indigenen Gemeinden sowie die Konflikte dieser untereinander nur verschärft hat, statt zu einer einvernehmlichen Lösung beizutragen. „Die Gemeinden des TIPNIS sind vollkommen zerstritten, die Hälfte von ihnen leistet Widerstand und die andere Hälfte akzeptiert die Projekte der Regierung“, berichtet eine Beobachterin vor Ort. Dass diese Spaltungen keine Kollateralschäden einer ansonsten gut gemeinten Politik, sondern Teil einer Strategie der bolivianischen Regierung sind, zeigt ihr Vorgehen im Fall der CIDOB. Die nervenaufreibende Auseinandersetzung um das TIPNIS und die entstandenen Konflikte innerhalb der Organisation nutzten regierungstreue Gruppen, um die gewählte Führungsriege zu entmachten. Nachdem diese dann versuchte die Geschäftsräume zurück zu erobern, intervenierte die Polizei und das Militär – seit Juli halten sie und die regierungsnahe Fraktion die Zentrale der CIDOB besetzt. „Die Regierung hat die internen Konflikte ja nicht nur im TIPNIS provoziert, sondern unter allen indigenen Völkern Boliviens“, erklärt der indigene Aktivist und CIDOB-Mitglied Leandro Candapei. „Selbst unsere Familien werden bedroht und sind völlig gespalten, dasselbe gilt für alle Ebenen unserer Organisationen, sogar für die Konföderation selbst. Wir haben jetzt zwei CIDOB: eine, die die indigenen Gemeinden repräsentiert und eine zweite, die die Regierung repräsentiert“.
Auch die Entstehung des „Rahmengesetzes der Mutter Erde und integralen Entwicklung zum Guten Leben“ zeigte einmal mehr, wie tief der Graben zwischen Regierung und den indigenen Bewegungen Boliviens ist. Mit dem Gesetz sollen einerseits Rechte der „Mutter Erde“ gesetzlich festgeschrieben werden, andererseits ist es aber auch Grundlage für das Entwicklungsmodell der Regierung – und das basiert vor allem auf der Förderung der Bodenschätze des Landes und der Ausweitung industrieller Landwirtschaft. Dass die Reaktionen auf das Gesetz widersprüchlich sind, ist somit kaum verwunderlich.
Wie der poetische Titel vermuten lässt, will die Exekutive in ihm einen Ausdruck der „Denk-, Produktions- und Lebensweise der originären indigenen Nationen“ erkennen, wie der Vizepräsident Álvaro García Linera es ausdrückte. Deren Organisationen hingegen erklärten, sie seien bei der Erarbeitung des Gesetzes völlig übergangen worden. „Das ist ein Gesetz der Regierung, mit dem wir nichts zu tun haben, über das man uns nicht unsere Meinung hat sagen lassen und das auch nicht die Vision der indigenen Völker widerspiegelt“ erklärt der Präsident der Andinen Koordination indigener Organisationen (CAOI), Rafael Quispe. Das Vorgehen der Regierung bei der Erarbeitung des Gesetzes ist jedoch kein Einzelfall. Die Verabschiedung einer Reihe wichtiger Gesetze, wie zum Beispiel das Bergbaugesetz, steht bevor, und die von der Regierung postulierte Partizipation lässt nach sich suchen. Besonders paradox ist, dass viele der Gesetze, wie auch das Gesetz der Mutter Erde, ursprünglich als Entwürfe von dem „Pakt der Einheit“ eingebracht wurden. Einheit besteht jedoch auch längst nicht mehr zwischen den Organisationen des mittlerweile aufgelösten Paktes. Die indigenen Organisationen CONAMAQ und CIDOB haben sich von den sozialen Organisationen, die sich in einer linken, gewerkschaftlichen Tradition sehen und die Regierung weiterhin unterstützen, distanziert, da die Divergenzen immer größer wurden.
Der Gesetzestext selbst ist mit etlichen Referenzen an die indigenen Kosmovisionen geschmückt, allerdings bleiben diese zumeist abstrakt und inhaltsleer. Das Konzept des Buen Vivir (Gutes Leben) eigentlich als Alternative zur kapitalistischen Entwicklungs- und Fortschrittsideologie verstanden, soll nun durch eben diese verwirklicht werden. Tatsächlich wird durch das Rahmengesetz nicht nur der Import genetisch manipulierten Saatguts abgenickt, sondern vor allem erkennt es indigenen Gruppen kein Recht auf eine gesetzlich bindende Mitbestimmung im Falle von Großprojekten in ihren Territorien zu. Damit unterhöhlt es eine der Grundlagen des „plurinationalen“ Staatmodells: die der indigenen Selbstbestimmung. „Das Gesetz ist vor allem dazu bestimmt, der Regierung die Fortführung des extraktivistischen Entwicklungsmodells zu ermöglichen“, resümiert der indigene Intellektuelle und Sprecher der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COINCA), Carlos Mamani.
Für weiteren Zündstoff im Streit zwischen den indigenen Organisationen aus dem Hochland und dem „plurinationalen“ Staat sorgt die für den 21. November anberaumte Volkszählung. Im Oktober 2011 wurde mit indigenen Organisationen ein Abkommen über die Formulierung des Fragebogens zur Erhebung der Daten geschlossen. Umso größer war der Unmut über den vom Nationalen Institut für Statistiken (INE) am 3. August veröffentlichten Fragebogen. Denn entgegen der Übereinkünfte berücksichtigt dieser nicht die territoriale Ordnung der indigenen Gemeinden des andinen Hochlandes, die in sogenannten Ayllus, Markas und Suyus leben. Diese, der kolonialen Aufgliederung nach Bezirken und Provinzen entgegenstehende Ordnung offiziell zur rekonstruieren, ist seit jeher eine der Grundforderungen des CONAMAQ zum Aufbau eines „plurinationalen Staates“. Die Organisation fordert jetzt, dass die territorialen Einheiten Ayllu, Marka und Suyu in den Fragebogen aufgenommen werden.
Auch um die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer indigenen oder afrobolivianischen Nation gibt es Diskussionen, da viele Gruppen befürchten, dass ihre Identität unsichtbar gemacht werden soll, da sie aus der Aufzählung auf dem Fragebogen ausgeschlossen sind. Der CONAMAQ befürchtet, dass so die Existenz indigener Gruppen und damit deren Recht auf Mitbestimmung negiert wird, so dass die Regierung ungehinderten Zugang zu natürlichen Ressourcen gewinnt.
An den Diskussionen um die Volkszählung zeigen sich somit einige der fundamentalen Konflikte in Bolivien: Die Regierung des vermeintlich plurinationalen Staates klopft diesen mit ihr genehmen Daten und Gesetzen fest, während insbesondere der indigene Teil der Bevölkerung die plurinationale Dimension des Staates noch längst nicht geschaffen sieht. In ihren Augen baut die Regierung zur Zeit eine neokoloniale, auf einer traditionellen kapitalistischen Entwicklungslogik fußende Republik aus. Wie die derzeit in Bolivien herrschenden sozialen Kämpfe zeigen, ist die Frage nach den subalternen Identitäten und inwiefern der Staat diese berücksichtigt dabei besonders sensibel. Denn dass die historisch unterdrückten Identitäten über sich selbst bestimmen und ihre Rechte einfordern können und diese gewährleistet werden, ist Kern der Idee eines plurinationalen Staates. Es zeichnet sich jedoch ab, dass parallel zu dem politischen und wirtschaftlichen Projekt der Regierung auch eine nationale Identität kreiert wird, die davon abweichende verstärkt ausschließt. Im Namen der bolivianischen Nation sollen „partikulare“ Rechte – wie die der Bewohner_innen des TIPNIS – zurückgestellt werden. So scheint es heute weniger um die Frage zu gehen, wie viel „Plurinationalität“ die MAS zu konstruieren bereit oder in der Lage ist, als vielmehr darum, in welchem Grade die indigenen Bewegungen in der Lage sind, ihre Autonomie und Rechte auch gegen die Regierung zu erkämpfen.

Vivan L@s Campesin@s!

Es klingt paradox: 80 Prozent der Hungernden leben auf dem Land und die Hälfte davon entstammt Kleinbauernfamilien. Die Hälfe von weltweit 925 Millionen Menschen! So viele werden derzeit laut der Welternährungsorganisation FAO in der Statistik der Hungernden geführt. Für 18 Millionen pro Jahr ist die Unterernährung tödlich – meist Kinder unter fünf Jahren.
Offensichtlich kommen diejenigen, die Nahrungsmittel produzieren, häufig selbst zu kurz. Ein Missstand, den zu ändern sich die Via Campesina zum Auftrag gemacht hat. Und dabei ist die mehr als 200 Millionen Menschen repräsentierende globale Landlosen-, Kleinbäuerinnen- und bauern-Bewegung wieder einen wichtigen Schritt vorangekommen: Ende September hat sich der UN-Menschenrechtsrat gegen die Stimmen der USA und der derzeit darin vertretenen EU-Staaten dafür ausgesprochen, eine „Konvention für eine Stärkung der Rechte von Kleinbauern und anderen Arbeitern in ländlichen Regionen“ auf den Weg zu bringen. Eingebracht hatten die Resolution neben dem federführenden Bolivien noch Kuba, Ecuador und Südafrika.
Damit hat ein Prozess begonnen, an dessen Ende eine UN-Deklaration stehen wird, die die Rechte von Kleinbäuerinnen und -bauern, Fischer_innen und Landarbeiter_innen schützen soll – einschließlich eines rechtlich verbindlichen Instruments gegen Land Grabbing (Landraub). In zwei Jahren soll eine Arbeitsgruppe ihre ersten Ergebnisse vorlegen.
Auch wenn Papier bekanntlich geduldig ist – völkerrechtlich verbindliche Konventionen sind mehr als ein Muster ohne Wert. Eine umfassende Konvention, die das Recht auf angemessene Ernährung sowie den Zugang zu Land, zu Wasser und zu Saatgut auf diese Weise festschreibt, erschwert es den Regierungen in Nord und Süd sowie den multinationalen Konzernen, diese Rechte weiter ungestraft mit Füßen zu treten. Allein 2009 fielen laut der Menschenrechtsorganisation FIAN 80 Millionen Hektar dem Land Grabbing zum Opfer. Millionen Menschen, die diese Flächen bisher traditionell beackerten, ohne einen Grundbuchtitel zu haben, hatten gegenüber internationalen Großinvestor_innen das Nachsehen. Eine Entwicklung, die durch hohe Nahrungsmittelpreise und den Ausbau der Agrotreibstoffproduktion weiter angeheizt wird.
Die USA und die EU-Staaten haben mit ihrer Ablehnung der Resolution im Menschenrechtsrat einmal mehr deutlich gemacht, dass sie den Welthunger nicht ernsthaft bekämpfen wollen. „Freiwilligen Leitlinien“ wie sie die FAO gegen den Landraub vorgeschlagen hat, stimmen sie ob ihrer Unverbindlichkeit gerne zu. Es kostet nichts und es ändert nichts. Die FAO hegt die Illusion, dass mit solchen Leitlinien alle zu ihrem Recht kommen: die Investor_innen, aber auch die Kleinbäuerinnen und -bauern, sowie die armen Länder.
US-Präsident Barack Obama ist da schon realistischer. Mit seiner im Mai auf dem G8-Gipfel lancierten „Neuen Allianz für Ernährungssicherheit und Ernährung“ setzt er ganz offen auf eine Kooperation mit der Privatwirtschaft. In der Liste der Partner finden sich so illustre Namen aus dem Agrobusiness wie der US-amerikanische Saatgutriese Monsanto, der Schweizer Pflanzenschutzmittelhersteller Syngenta, die Multis Cargill oder Unilever. Dass die deutsche Regierung davon begeistert ist und ihre Unterstützung zugesagt hat, verwundert nicht. Bei Entwicklungsminister Dirk Niebel gilt noch allemal das Motto „Satt macht, was Profite schafft“.
Via Campesina wird auch dieser Initiative ihr Konzept entgegensetzen: Selbstbestimmte Ernährungssouveränität anstelle von paternalistischer Ernährungssicherheit von Regierungsgnaden. Es gilt der alte Grundsatz: Das Land denen, die es bebauen. Eine verbindliche Konvention kann dabei nur helfen. Je schneller sie kommt, desto besser.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Musik machen gegen den Hirnräuber

Draußen vor dem Gemeindehaus von Caacupé riecht es nach Grillfleisch und Feuer. Blauer Dunst hängt über der Villa 21-24, einem der Armenviertel von Buenos Aires. Aus den Häusern, die wie Schachteln übereinander gestapelt sind, dringen Cumbia-Klänge und Gesprächsfetzen. Drinnen im Hof des Kirchenhauses spielen ein paar Jugendliche Volleyball, mit einem quer gespannten Seil als Netz. „Wären sie nicht hier, würden sie jetzt Paco rauchen“, sagt Padre Toto. Er ist der Priester der Gemeinde Caacupé. Und er kennt den Paco. Seit dreizehn Jahren lebt er Tür an Tür mit ihm.
Der Paco, das ist Pasta Básica de Cocaina, Kokain-Basispaste, in Europa als Crack bekannt. Die südamerikanische Version der Droge kostet nicht viel, ein paar Pesos die Pfeifenfüllung. Denn sie ist mit Kerosin oder Putzmitteln gestreckt, oder mit gemahlenen Glassplittern. Wenn kein Tabak da ist, wird sie mit Stahlwolle geraucht, in einer kleinen Pfeife aus Korken, Blechdosen oder Aluminiumrohren, oder mit Marihuana gemischt. Der Rausch dauert nicht länger als ein paar Minuten, dafür ist das Herunterkommen umso härter: Depressionen und schmerzhafte Krämpfe wegen der giftigen Substanzen in dem Stoff. Nur der nächste Trip macht den Kater erträglich. Der Paco verursacht schwere Organ- und vor allem Hirnschäden. Er zerstört das gesamte Nervensystem. Doch die meisten Junkies sterben an Unterernährung, denn sie spüren keinen Hunger mehr. Und selbst wenn, sie könnten sich nichts zu essen kaufen, weil das Geld für den Stoff draufgeht. Die Abhängigen verkaufen ihre Kleidung und beklauen erst ihre eigenen Familien, dann andere, um die 100 bis 300 Dosen am Tag bezahlen zu können, die sie brauchen. Die Porteños wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein auffällig dünner Jugendlicher entgegenkommt, vor allem, wenn er dunkle Haut hat. Der latente Rassismus in Argentinien wird durch den Paco manifest.
Nach der Wirtschaftskrise 2001, sagt Padre Toto, sei der Konsum in den Villas Miserias enorm gestiegen. In einigen von ihnen leben heute doppelt so viele Menschen als noch im Jahr 2000. Trotz aller populistischen Worte: Die Ärmsten haben vom „argentinischen Wirtschaftswunder“ wenig gemerkt. Und das bewährteste Mittel gegen das Gefühl der Macht- und Perspektivlosigkeit ist immer noch der Rausch.
Padre Toto ist einer von denen, die den Sisyphuskampf gegen den Paco aufgenommen haben. In Jeans und Turnschuhen sitzt er in seinem Büro. Die Tür zum Hof, auf dem die Jungen Volleyball spielen, steht offen. An der Wand hängt neben dem Kreuz eine Karikatur von Padre Toto als Fußballspieler, gegenüber ein bunter Sombrero. Er bietet Mate an, während er über seine Arbeit berichtet. Über die Initiativen, die die Jugendlichen von der Straße und damit aus den Fängen des Paco holen sollen: eine weiterführende Schule, eine Berufsschule, Fußballgruppen, Gemeinschaftskantinen, Nachhilfeunterricht, eine Pfadfindergruppe, eine Musikschule. Etwa 1.000 Jugendliche, meint er, könnten sie damit erreichen. In der Villa 21-24 wohnen mehr als 45.000 Menschen, fast die Hälfte davon ist unter 30 Jahren alt. Wie viel die Prävention bringt, das sei schwer zu sagen, meint Padre Toto: „Es gibt kein Vorher-Nachher-Foto.“
Wegen restriktiver Gesetze zur Einfuhr von Chemikalien in Peru und Bolivien, die den Drogenhandel schwächen sollten, haben sich die Produktionsstätten nach Argentinien, Uruguay und Brasilien verlagert. Jetzt ist die Mafia direkt vor der Haustür und kann ihre Waren ohne größere Umwege an die Leute bringen. In den Villas Miserias von Buenos Aires wohnen Konsument_innen, Produzent_innen und Dealer_innen in unmittelbarer Nachbarschaft. Rund die Hälfte der jugendlichen Villa-Bewohner_innen, so wird geschätzt, raucht den ladrón de cerebros, wie sie ihn nennen, den Hirnräuber.
Die Villas von Buenos Aires sind Nicht-Orte. Kein Mittelschichts-Argentinier setzt seinen Fuß hier hinein. Auch nicht die Polizei. Bei googlemaps sind die Armenviertel weiße Flecken auf der Landkarte, und genauso werden sie von der Regierung behandelt. 2009 prangerte Padre Totos Vorgänger, Padre Pepe, das Drogenproblem in den Villas erstmals öffentlich an. Von der Regierung forderte er ein aktiveres Vorgehen. Kurz darauf erhielt er Morddrohungen von der Mafia. Heute lebt er ein paar tausend Kilometer weit weg im Norden Argentiniens. Padre Toto stellt bloß fest: „Wir sind keine Konkurrenz für den Paco.“ Über Probleme mit der Mafia mag er nicht reden.
Camila und Miriam proben heute für einen besonderen Anlass: Camila feiert bald ihren 15. Geburtstag, sie ist Quinceañera, in Lateinamerika ein symbolisches Alter für den Eintritt ins Erwachsenenleben. Es wird eine große Party geben, in einem Pavillon auf einem extra dafür angemieteten Grundstück, erzählt sie freudestrahlend, und natürlich werden sie und ihre dreizehnjährige Schwester vorsingen. Seit drei Jahren nehmen die beiden Gesangsunterricht in der Musikschule. Doch seit einem Jahr wohnen sie nicht mehr in der Villa. Eines Tages im Morgengrauen bekam die Familie Besuch von bewaffneten Schlägertypen, die ihnen mit Konsequenzen drohten, sollte der ältere Bruder tatsächlich aussteigen. Aussteigen aus dem Drogenhandel, das war damit gemeint. Meistens bedarf es keiner Drohungen. Die Jugendlichen in der Villa haben die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Kartonsammeln oder Drogen verticken. Letzteres ist bei weitem am lukrativsten, die Mafia zahlt gut. Von einem Tag auf den anderen zog Camilas Familie um. Der Bruder wurde dank der Kirche zum Entzug aufs Land geschickt – auch das ist Teil des Drogenpräventionsprogramms von Caacupé. Dort hat er Arbeit gefunden und eine Freundin, erzählt Camila, und die beiden kommen jetzt zu ihrem Geburtstagsfest. Santiago, der Lehrer, kommt herein und die Gesangsstunde fängt an. Begleitet von einem verstimmten Klavier üben Camila und Miriam die schwierigsten Parts der Lieder wieder und wieder. Es ist kühl im Klassenzimmer, es gibt keine Heizung. Während die Sonne untergeht, belebt sich die Straße draußen, die Cumbia-Klänge werden lauter. Ein Auto fährt vorbei, ein schwarzer, glänzender Mercedes, der hier in diesem Viertel wie von einem anderen Stern wirkt. Doch die Villeros gucken dem Auto nicht einmal hinterher. Die Mafia gehört zum Alltag.
Bei der kleinen Kapelle Jesus vive sind die Straßen eng, vom letzten Regen verschlammt und viel dunkler als beim großen, hell erleuchteten Gemeindehaus. Trotzdem spielen ein paar Dutzend Kinder Fußball, Erwachsene sitzen vor ihren Häusern und unterhalten sich. „Als wir hier vor ein paar Jahren anfingen, war es noch viel schlimmer“, erzählt Santiago, der Gesangslehrer und Gründer der Musikschule. „Noch viel marginalisierter und gefährlicher.“ Dann wurde die kleine Kapelle eröffnet, das gehörte zum Konzept des Padre Pepe: „öffentliche Räume schaffen, an denen sich die Menschen treffen können.“ Mit einem kleinen Chor begann Santiago damals. Er wuchs schnell: Jugendliche kamen, weil das Singen die Langeweile vertrieb, und sie brachten ihre kleinen Geschwister mit, damit die Mutter zu Hause ihre Ruhe habe. Die Tür zum Kirchenraum ist heute verschlossen, doch im Hinterhaus brennt Licht. Zwei Frauen sind am Aufräumen. „Cómo va? Wie gehts?“, fragt Santiago. „Schlecht, Professor, siehst du nicht?“, sagt Esther. „Schau, die Decke, die ist seit dem Sturm von neulich völlig marode, die kann jeden Moment einfallen, aber es würde 5.000 Pesos kosten, sie wieder zu reparieren. Wir können im Kirchenraum keine Gottesdienste mehr machen, das ist viel zu gefährlich!“
Aus Platzmangel zog der Chor in das größere Gemeindehaus. Dort gab es die nötigen Räume, Klassenzimmer für die verschiedenen Bildungsangebote. Nach und nach fand Santiago mehr Lehrer, und bald konnte er auch Klavier- und Gitarrenunterricht anbieten, Trommeln und Blasinstrumente. Auch eine Band gibt es. Die Musikschule ist kein Pflichtprogramm für die etwa 60 Schüler_innen zwischen fünf und 24 Jahren. Da ist keine ehrgeizige Mutter dahinter, die meint, es würde ihrem Sprössling gut tun, ein Instrument zu lernen. Die Schüler kommen freiwillig. Und manchmal auch auf eigene Faust. So wie die zehnjährige Bianca, die mit ihrer gelben Puppe im Arm plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufmacht und sich neben Santiago auf die Klavierbank setzt. Später wechselt sie ohne ein Wort zu sagen in den Keyboardunterricht nebenan, zu Jazmín, die hinterher begeistert auf Santiago einredet. Er solle die Mutter unbedingt dazu bewegen, Bianca regelmäßig zu bringen, sie habe ein erstaunliches Talent. Ob das was nützen wird, ist fraglich. Bianca ist allein hier, stellt sich heraus. Santiago muss sie nach dem Unterricht nach Hause fahren, damit sie nicht allein durch die dunklen Gassen läuft. Die Eltern kümmern sich offensichtlich nicht darum. „Drogenhändler, bestimmt“, sagt Santiago, auf deutsch, damit sie es nicht versteht. Er hat zwei Jahre Musik in Karlsruhe studiert.
Auf dem Rückweg zum Gemeindehaus erzählt er von einem kleinen Jungen, der von seinem Vater missbraucht wurde. Als die Mutter sich endlich dazu durchringen konnte, dem Priester davon zu erzählen, war die Familie am nächsten Tag verschwunden. Vermutlich auf dem Weg zurück nach Paraguay. Was tut man, um solche Geschichten auszuhalten? „Beten“, sagt Santiago. „Reden, mit den anderen, mit Padre Toto.“ Auch Jazmín erzählt verstörende Geschichten. „Letztes Jahr“, sagt die 25jährige Klavierlehrerin, „sahen wir aus dem Haus gegenüber eine Frau auf die Straße laufen, vermutlich eine Prostituierte, mit durchgeschnittener Kehle. Sie blutete wie ein Schwein. Doch da kam kein Krankenwagen, die trauen sich hier nicht rein. Höchstens mit einer Eskorte von vier Streifenwagen, aber wenn grad keine verfügbar sind, dann kommen sie eben nicht.“ Sie erzählt von einem Schüler, dessen Vater mit neun Schüssen im Körper tot in seinem Wagen gefunden wurde. Von dem Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wird, und der Mutter, die nichts dagegen tun kann. Dann sagt sie erschrocken: „Ich höre mich ziemlich abgebrüht an, oder?“ Und fügt entschuldigend hinzu: „Man gewöhnt sich daran, irgendwie.“ Jazmín kommt aus La Boca, einem anderen „marginalisierten“ Stadtteil von Buenos Aires. Sie kennt die Welt ihrer Schüler_innen. „Das Musikstudium hat mir Spaß gemacht, aber mich nicht ausgefüllt“, sagt sie. „Die Arbeit hier, die schafft das.“ Momentan studiert sie Soziologie, weil sie ein Werkzeug brauchte, wie sie sagt, mit dem sie diesen heftigen Geschichten begegnen kann. Wie die meisten der acht Lehrer, die außer Santiago alle nicht viel älter sind als sie, arbeitet sie ehrenamtlich in Caacupé. Santiago würde sie gerne bezahlen, aber dazu fehlt das Geld.
Die Musikschule ist Teil eines größeren Projekts, das von Padre Pepe gegründet wurde. Hogar de Cristo heißt es, und es zielt darauf ab, die Paco-Abhängigen wieder zurück zu holen in die Gesellschaft. „Der Paco ist das blutigste Gesicht der Ausgrenzung“, hat Padre Pepe einmal gesagt. In verschiedenen Stadtteilzentren werden die Abhängigen psychologisch und medizinisch versorgt. Und wenn sie soweit sind, werden sie zum Entzug auf kleine Farmen auf dem Land geschickt. „Den Sinn des Lebens wiederfinden“, so beschreibt Fabiola, worum es für die Abhängigen geht. Sie arbeitet als Freiwillige im Zentrum Padre Carlos Mugica in der Villa 31. Dort und auch in anderen Villas wurde das Programm von Padre Pepe übernommen. Und dort wie überall gibt es kaum Geld. Die Kirche gibt ein bisschen, das meiste kommt von privaten Spendern. Doch ohne die Kirche wäre gar nichts da. Dann könnte nicht einmal denen geholfen werden, die immerhin noch die Kraft haben, auf einen Ausweg zu hoffen.
Während die Musiklehrer auf Santiago warten, der oben noch die letzten Instrumente wegschließt, beendet Padre Toto nebenan in der Kapelle die tägliche Messe. Seine weiße Soutane hat er schon ausgezogen, als er herauskommt. Nun trägt er wieder Jeans und T-Shirt. „Alles gut, Schwester?“, fragt er, und gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Ja“, sage ich. Aber das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen.

// Straße in die Vergangenheit

„Diese Straße hat eine transzendentale Bedeutung!“ Die Zukunft Boliviens hinge davon ab, sie zu bauen, schreibt der Regierungsangestellte weiter. Nur gute Kommunikationswege gewährleisteten die Kontrolle des Staates über die peripheren Regionen des Landes. Die Trennung zwischen Hochland und Tiefland könne überwunden werden. „Dieser Weg wird eine echte Verbindung der beiden Teile Boliviens herstellen und einen unschätzbare Wert für die wirtschaftliche Entwicklung haben.“

Nein, hier wird nicht eine aktuellen Äußerung eines bolivianischen Beamten zur umstrittenen Straße durch das Indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro Securé (TIPNIS) zitiert. Der Text ist über 80 Jahre alt. Es handelt sich um das Schreiben des ehemaligen Regierungsabgeordneten für den Chaco, Julio A. Gutiérrez, an den Verteidigungsminister Boliviens vom 12. Mai 1931. Die geforderte Straße sollte nicht durch das TIPNIS führen, sondern die Stadt Tarija mit Villa Montes im Chaco verbinden. Die Begründungen von damals sind aber fast identisch mit den Argumenten, die heute vorgebracht werden, um den Straßenbau zu legitimieren.

Am 10. September 2012 endete die Volksbefragung über die umstrittene Überlandstraße durch das TIPNIS. Zu Redaktionsschluss war das Ergebnis noch nicht bekannt, aber den Umfragen zufolge gibt es eine Mehrheit für das Regierungsprojekt. Verlief das Plebiszit wirklich fair, wie die Regierung beteuert? Oder beschaffte sich die Regierung die Mehrheit nur über Wahlgeschenke und die Behinderung der Gegner_innen des Projekts, wie Kritiker_innen glauben und die deshalb die Abstimmung boykottierten? Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Zu undurchsichtig ist die Lage, zu polarisiert die Stimmung im Land. Doch die aktuelle hitzige Debatte um die Straße TIPNIS verschleiert, dass hinter dem Konflikt ein Problem steht, das Bolivien schon lange beschäftigt.

Am Vortag des 10. September 1932 flammten die Kämpfe um das Fort Boquerón auf. Damit begann der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay. Bis 1935 kämpften die beiden verarmten Länder um den Besitz des Chaco Boreals, einer kargen Halbwüste im Zentrum Südamerikas. Unmittelbar vor dem Krieg versuchte Bolivien, Straßen in das umstrittene Gebiet zu bauen. Sie sollten die „Kolonisierung“ des Chaco ermöglichen und es dem Zugriff Paraguays entziehen. Der Bau von Transportwegen sollte die staatliche Souveränität in den isolierten Grenzregionen des bolivianischen Tieflandes dauerhaft sichern. Zu oft hatte Bolivien Territorien an die Nachbarländer verloren, weil keine Straßen ins Kampfgebiet führten. So auch im Chaco-Krieg. Bolivien musste den größten Teil des Chacos an Paraguay abtreten, das den logistischen Vorteil auf seiner Seite hatte.

Diese und andere historischen Erfahrungen erklären, warum Boliviens Zentralregierung so erpicht darauf ist, die Straße durch das TIPNIS zu bauen. Die Pläne für das Projekt lagen schon seit über hundert Jahren in den Schubladen. Dies zeigt aber auch, wie wenig sich die Entwicklungsstrategien der Morales-Regierung von früheren unterscheiden. Noch immer gilt kapitalistische Inwertsetzung als Grundvoraussetzung für die Souveränität über ein Territorium. Allein die Ablehnung dieser Logik wird es Bolivien ermöglichen, auf Großprojekte wie den Straßenbau durch das TIPNIS zu verzichten. Dafür ist auch ein Umdenken der Nachbarländer gefordert. Nur wenn auch auf internationaler Ebene nicht-kapitalistische Wirtschaftsweisen und Naturräume respektiert werden, kann das TIPNIS so gelassen werden wie es ist, ohne dass Bolivien befürchten muss, Grenzland zu verlieren.

// DOSSIER: EXTRAKTIVISMUS IN LATEINAMERIKA

 

Foto: Olmo Calvo Rodríguez von der argentinischen Kooperative Sub [Cooperativa de fotógrafos]
(Download des gesamten Dossiers)

Die Ausbeutung von Rohstoffen ist für Lateinamerika nichts Neues. Seit der Kolonisation wurde der Kontinent geplündert, die Gewinne flossen in den globalen Norden. Für die lokale Bevölkerung blieben hingegen Armut, Krankheiten und Umweltschäden. Die Geschichte der hemmungslosen Ausbeutung hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano in seinem 1971 erschienenen Standardwerk Die offenen Adern Lateinamerikas eindrücklich geschildert.

Seit ein paar Jahren nun wird nun unter dem Stichwort „Neuer Extraktivismus“ wieder zunehmend über die negativen Folgen der Rohstoffförderung debattiert. Extraktivismus bedeutet in diesem Zusammenhang eine auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie. Die Koordinaten haben sich allerdings verschoben. Denn heute erhöhen in vielen Ländern Lateinamerikas (Mitte)-Linksregierungen die staatliche Kontrolle über die Rohstoffe. Dabei ist die globale Bedeutung Lateinamerikas in diesem Bereich deutlich gestiegen. Lag dessen Anteil am weltweiten Bergbau 1990 zum Beispiel noch bei zwölf Prozent, so betrug er 2009 bereits 35 Prozent. Eine offen neoliberale Bergbaupolitik verfolgen nur noch wenige Länder in Lateinamerika, darunter Chile und Kolumbien.

In Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador müssen transnationale Konzerne heute deutlich höhere Abgaben entrichten. Mit dem Geld werden unter anderem Sozialausgaben gesteigert, was vielerorts zu einem deutlichen Rückgang der Armut und einer Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen geführt hat. Bolivien und Ecuador haben als gesellschaftliches Ziel in ihren neuen Verfassungen die Verwirklichung des „guten“ oder „erfüllten Lebens” (buen vivir) formuliert, das auf indigenen Wertvorstellungen basiert. Ecuador hat sogar Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben. Doch jenseits von öko-sozialistischen Diskursen hat sich an der Fixierung auf Rohstoffexporte nichts geändert. Im Gegenteil nimmt deren Bedeutung als Devisenquelle mit steigenden Staatsausgaben zu.

Der Uruguayer Eduardo Gudynas vom Lateinamerikanischen Zentrum für Sozialökologie (CLAES) charakterisiert die neuen Rohstoffpolitiken der progressiven Regierungen als „Neo-Extraktivismus” und hat damit in Lateinamerika eine Debatte über die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaftsmodells ausgelöst. Das Neue am Neo-Extraktivismus ist dabei – laut Gudynas – in erster Linie die größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen aus den extraktiven Industrien. Die Ausbeutung der Rohstoffe werde durch die gerechtere Verteilung der Gelder wiederum stärker legitimiert und Kritik daran politisch marginalisiert. Anstatt an der Überzeugung festzuhalten, dass möglichst viele Einnahmen aus dem Rohstoffsektor abgeschöpft werden müssten, fordert Gudynas zum Nachdenken über Alternativen auf. In der Debatte um eine Überwindung des Extraktivismus geht es ihm dabei nicht darum, künftig sämtliche Rohstoffförderung zu unterbinden, wohl aber deutlich einzuschränken. Da der Weg zu einer post-extraktivistischen Ära langwierig sei, müssten Übergange eingeleitet werden, zu denen zunächst auch eine Erhöhung der Kontrolle über die extraktiven Industrien gehöre, wie sie etwa in Venezuela und Bolivien stattgefunden hat. Dabei stellt Gudynas auch den herrschenden Entwicklungsbegriff und dessen Linearität radikal in Frage. Statt einer „alternativen Entwicklung“ müssten „Alternativen zu Entwicklung“ diskutiert werden.

Bei aller schlüssigen Kritik am Extraktivismus darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass sich die progressiven, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit demokratisch legitimierten Regierungen in einem realpolitischen Umfeld und dem ständigen Kampf um Souveränität befinden. Zwar hat es in der Geschichte Lateinamerikas immer wieder Verstaatlichungen (und teilweise Reprivatisierungen) von rohstofffördernden Industrien gegeben. Mit einer derart weitgehenden Rückkehr des Staates bei gleichzeitigem Anziehen der Rohstoffpreise, wie in den letzten Jahren, hatte in den 1990er Jahren jedoch kaum jemand gerechnet. In Folge der Schuldenkrise der 1980er Jahre war den meisten lateinamerikanischen Staaten von Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) als Bedingung für den Erhalt von Krediten eine Deregulierung der Wirtschaft und Verschlankung des Staates auferlegt worden. Dazu gehörte auch die Privatisierung des Bergbausektors. Ein neoliberales Investitionsklima sowie eine schwache Arbeits- und Umweltgesetzgebung zogen transnationale Bergbaukonzerne an.

Seit den letzten Jahren aber kontrollieren viele Staaten in Lateinamerika die Rohstoffförderung wieder stärker. Dabei steht außer Frage, dass, wenn schon Rohstoffe gefördert werden, die Einnahmen aus dem Geschäft der (marginalisierten) Bevölkerung zu Gute kommen sollten und nicht transnationalen Unternehmen. In vielen Fällen haben die Einnahmen aus dem Rohstoff-Export in links regierten Länder erst den Horizont für eine eigenständige Politik geöffnet, die nicht von den Weisungen der einzelnen Industriestaaten oder des IWF abhängig ist. Sollten neoliberale Kräfte in der Region wieder hegemonial werden, würde die Rohstoff-Politik weder ökologischer noch sozialer ausfallen. Die Gewinne wanderten schlicht wieder mehr in die Taschen der Privatwirtschaft. Die stärkere (sozial-) staatliche Kontrolle über die Rohstoffe stellt also durchaus einen ersten Fortschritt dar – längerfristig praktikabel ist die Fokussierung auf den Rohstoffexport dennoch nicht. In ganz Lateinamerika nehmen die sozioökologischen Konflikte mit Anwohner_innen von Bergbau-Projekten drastisch zu. Gegner_innen der Rohstoffförderung werden als Sympathisant_innen der rechten Opposition diffamiert und teilweise kriminalisiert. Das extraktivistische Modell zieht die Vertreibung von Menschen, die Zerstörung von Ökosystemen und landwirtschaftlichen Nutzflächen sowie die Verschmutzung von Wasservorräten nach sich. Der in einigen Ländern diskursiv gewünschte Übergang zu einer produktiven nicht-kapitalistischen Wirtschaftsweise, scheint durch den Extraktivismus nicht befördert, sondern umgekehrt behindert zu werden.

Mit dem Dossier Verbohrte Entwicklung werfen die Lateinamerika Nachrichten und das FDCL einen Blick auf die aktuelle Situation des Extraktivismus in Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung mineralischer und fossiler Rohstoffe. Zunächst führt Eduardo Gudynas in die Diskussion um den Neuen Extraktivismus ein. Martin Ling erläutert am Beispiel des venezolanischen Erdöls die Schwierigkeiten eines Landes, dessen Wirtschaft überwiegend von nur einem Rohstoff abhängt. Anhand von Texten über Bolivien, Ecuador und Brasilien thematisieren Thilo F. Papacek, Ximeña Montaño und Christian Russau jeweils beispielhaft die Rohstoffpolitik der (Mitte-) Linksregierungen. Als Beispiel für eine strikt neoliberale Rohstoffpolitik beschreibt Alke Jenss anschließend, was es bedeutet, dass die kolumbianische Regierung den Bergbau zur „Lokomotive“ für die Exportwirtschaft erklärt hat. David Rojas-Kienzle zeigt am Beispiel des chilenischen Kupfers auf, dass die Geschichte von Verstaatlichungen im Rohstoffsektor keineswegs erst in den letzten Jahren begonnen hat. Im Interview geht der peruanische Bergbau-Experte und ehemaliger Vize-Umweltminister unter der aktuellen Regierung Humala, José de Echave, auf die zunehmenden Konflikte rund um den Extraktivismus in Peru ein. Als ehemaliges Kabinettsmitglied erläutert er die Schlüsselmomente, in denen die Regierung Humala sich vom erklärten Ziel einer anderen Rohstoffpolitik abwendete. Ronald Köpke beschreibt anschließend, wie der Kleinbergbau gegenüber dem industriellen Großbergbau benachteiligt wird, obwohl daran deutlich mehr Menschen finanziell partizipieren. Punktuell konnte der zunehmende Widerstand gegen die industrielle Rohstoffförderung bereits Erfolge verzeichnen, die über die bloße Aufschiebung einzelner Projekte hinausgehen und tatsächlich den Extraktivismus in Frage stellen. In Argentinien verabschiedete der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von Rohstoffen in festgelegten Gebieten untersagt und einen Rückschlag für die Lobby-Arbeit großer Bergbaukonzerne darstellt. Ebenso verhält es sich mit dem im November 2010 beschlossenen Verbot aller neuen Projekte des offenen Metall-Tagebaus in Costa Rica als erstem Land in Lateinamerika. Antje Krüger und Markus Plate behandeln die beiden Fälle jeweils in ihren Artikeln.

Bei aller Kritik an den Regierungen, Konzernen oder Schwellenländern sollte indes eines klar sein: Ohne eine nachhaltige Senkung des Rohstoffkonsums im globalen Norden werden Übergänge zu post-extraktivistischen Modellen kaum möglich sein. Das auf fortwährendem Wachstum basierendes Wirtschaftsmodell kann aufgrund der Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie der vielfältigen Krisen des globalisierten Kapitalismus (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise) nur radikal in Frage gestellt werden.

Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

Die Pacha Mama melken

„TIPNIS ist das schwarze Loch der Regierung“, urteilt Raúl Prada in einem Beitrag für die Internetseite bolpress.com. Der ehemalige Vizeminister für strategische Planung gehört seit Mitte 2010 zu den linken Kritiker_innen des bolivianischen Präsidenten Evo Morales. Mit dem „schwarzen Loch“ meint er, dass der Konflikt um das indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé (TIPNIS) droht, jedes Prestige der Regierung und ihren Anspruch, die indigene Bevölkerungsmehrheit des Landes zu repräsentieren, zu schlucken: „Der Konflikt um TIPNIS hat der Regierung alles abverlangt.“
Die Regierung wollte im vergangenen Jahr bereits eine Überlandstraße durch das per Gesetz „unantastbare“ Schutzgebiet bauen lassen, was aber enorme Proteste provozierte (siehe zum Beispiel LN 449, 450 und 456). Die Demonstrationen gingen von Gruppen aus, die einst zu den wichtigsten Verbündeten der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) zählten und erzwangen einen vorläufigen Baustopp. Derzeit läuft eine Volksbefragung zum Straßenbauprojekt, die bis zum 10. September abgeschlossen sein soll. „Der Kampf um den Erhalt des TIPNIS ist ein Kampf um die Fortsetzung des Prozesses“, schreibt Prada weiter. Er meint den Prozess des Wandels in Bolivien, für den die Regierung Morales einst stand.
Auf der Internetseite bolpress.com häufen sich derartige kritische Aussagen über die Regierung. Auf diesem Forum publizieren einflussreiche Aktivist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und Politiker_innen Analysen und Meinungsartikel zur aktuellen politischen Situation in Bolivien. Zahlreiche wichtige Diskussionen gingen von diesem Medium aus. Früher galt die Seite als ausgesprochen MAS-nah, doch dieses Verhältnis hat sich nun gewandelt.
Sehr viele Vertreter_innen von indigenen und anderen sozialen Bewegungen beklagen, dass die MAS den historischen Prozess des Wandels in Bolivien verraten hätte. Deutliche Worte findet der Aymara-Aktivist und Soziologe Pablo Mamani Ramírez. Unter Evo Morales habe sich der „Präsidentenpalast in eine Festung der indigenen Aufstandsbekämpfung verwandelt. […] Die Träume hunderter Männer und Frauen auf einen besseren Tag wurden verraten“, schrieb er in einem Beitrag für das Internet-Portal.
Der bessere Tag, auf den so viele indigene Bewegungen gehofft hatten, sollte zu einem „erfüllten Leben“ führen. Das Konzept des „erfüllten“ oder „guten Lebens“ (buen vivir) ist die zentrale Forderung der indigenen Bewegungen – und der Regierung. Es soll eine Alternative zu klassischen Entwicklungsmodellen bieten. Was das buen vivir genau bedeutet, ist nicht klar. Einfacher lässt sich sagen, was es nicht sein soll: Die Unterordnung von Politik und Wirtschaft unter Profitstreben und den Maßgaben kapitalistischer Wertschöpfung. Konkret sollte sich diese neue Wirtschaftsweise nicht zuletzt in der Abkehr vom Extraktivismus äußern. Seit der Kolonialzeit ist Boliviens Wirtschaft auf die Ausbeutung von Bodenschätzen ausgerichtet, alle negativen Folgen für Menschen und Umwelt wurden dem Bergbau untergeordnet. In den Diskussionen zum buen vivir wird dagegen der Respekt vor Pacha Mama, der Mutter Erde, betont und gefordert.
Doch genau diese Ideen, so sagen linken Kritiker_innen, verfolge die Regierung nicht mehr. Ihre Aussagen zum buen vivir und zum Respekt vor Pacha Mama seien nurmehr Lippenbekenntnisse. Die meisten großen Regierungsprojekte seien zu sehr im alten Entwicklungsdenken verhaftet. Diese Kritik ist leicht nachvollziehbar. Ob es der geplante Abbau von Lithium ist, aus dem Batterien für Elektorautos gebaut werden sollen, oder diverse Staudammprojekte im Amazonasgebiet oder die weitere Erschließung von Erdöl- und Gasquellen: Die großen Wirtschaftspläne der Regierung setzen vor allem auf den Abbau von Ressourcen, den Ausbau von Infrastruktur und Industrialisierung.
Großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Boliviens hat das Komitee zur Verteidigung des Nationalen Erbes (CODEPANAL), das dem staatlichen Erdölkonzern YPFB nahe steht. Es setzt überwiegend auf konventionelles Wirtschaftswachstum. Doch dieses soll vom Staat ausgehen. Die „progressive Ausweisung transnationaler Erdöl-, Erdgas- und Bergbauunternehmen“ und ihre Ersetzung durch „eigene staatliche Unternehmen“ steht an erster Stelle in der Liste der Ziele von CODEPANAL. Diese antiimperialistisch orientierte Verstaatlichungspolitik soll erreichen, dass die Gewinne aus dem Geschäft im Land bleiben und der Bevölkerung zu Gute kommen.
In der Tat hat die Regierung die Einnahmen aus dem verhältnismäßig guten Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in zahlreiche Sozialprogramme investiert, die nach brasilianischen Vorbild eingeführt wurden. Ein Beipiel dafür sind Beihilfen für arme Familien mit Kindern (etwa der Bono Juancinto Pinto). Zahlreiche arme indigene Gemeinden auf dem Land haben dank staatlicher Investitionen erstmals Zugang zu sauberen Trinkwasser erhalten. Derartige Hilfsprogramme erklären die nach wie vor hohe Popularität der Regierung Morales in vielen indigenen Landgemeinden.
Einige, wie der Soziologe Mamani, kritisieren aber gerade diese Hilfsprogramme: Hilfen kämen vor allem den Gemeinden zugute, die sich gut mit der Regierung stellen. So werde die indigene Bewegung Boliviens gespalten. Er sieht den Grund für den sich abzeichnenden Erfolg der Regierung bei der Volksabstimmung über das TIPNIS weniger in der Zustimmung der dortigen Bevölkerung für das Straßenprojekt. Vielmehr seien es die Geschenke seitens der Regierung, die die Bevölkerung auf Regierungslinie bringen.
Ob die Hilfsprogramme wirklich eine Art Bestechung der indigenen Gemeinden darstellen, mag umstritten sein. Sie bieten der Regierung jedoch ohne Zweifel die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz für die Entwicklungsprojekte zu werben. Exemplarisch zeigt dies eine Rede von Evo Morales, vom August 2011: „Wenn wir Straßen bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wenn wir als Regierung mehr Erdgas oder Erdöl fördern wollen, dass die Pacha Mama uns gibt, wollen das auch einige Brüder nicht. Wenn wir Wasserkraftwerke bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wovon soll Bolivien denn leben?“
So verweist die Regierung auch im Konflikt um die Straße durch das TIPNIS auf den vermeintlichen Nutzen für die Bevölkerung. Über die Straße bekämen die indigenen Gemeinden in dem Gebiet besseren Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen. Kritiker_innen sehen dagegen den Bau der Straße als ersten Schritt zu Erschließung weiterer Erdgasquellen im Naturschutzgebiet. Sie befürchten, dass auf der Straße weniger Schulbusse und Krankenwagen fahren werden als Lastwagen, die Tropenhölzer und Kokablätter von illegal gerodeten Flächen aus dem fragilen Regenwaldgebiet abtransportieren. Die Kritiker_innen der Regierung hinterfragen grundsätzlich, ob Erdölförderung und Industrialisierung überhaupt mit den Interessen der Bevölkerung und der Natur in Einklang zu bringen ist.
Doch Industrialisierung ist das erklärte Ziel der regierungsnahen CODEPANAL. Im vergangenen Oktober publizierte die Organisation einen Entwicklungsplan für die Zeit von 2011 bis 2021. Ziel ist, die Energieproduktion Boliviens zu vervielfachen. Dafür sollen Wasserkraftwerke gebaut werden, was im Regenwaldgebiet Madidi im Nordosten des Landes geplant ist. Dies sei eine „Mindestanforderung, um aus der Dritten Welt in die industrialisierte Zweite Welt aufzusteigen“, wie es im Text von CODEPANAL heißt. Das buen vivir fordert eigentlich die Abkehr von derartigen Hierarchisierungen in „Dritte“ und „Zweite“ Welt, die eine „nachholende Entwicklung“ implizieren. In den Debatten um das buen vivir geht es eigentlich darum, ob angesichts der Klimaerwärmung Pacha Mama nicht besser gedient wäre, wenn man ihr Gas und Öl da lässt, wo es ist, und ihre Flüsse nicht anstaut.
Diese Ignoranz bemängeln immer mehr soziale Aktivist_innen an der Regierung. Zudem stellt sich die Frage, wie neu der Neo-Extraktivismus eigentlich ist. Das Dekret zur Nationalisierung des Erdöls von 2006 trägt den Namen „Helden des Chaco“. Schon der Name erinnert an den Einzug der Erdölkonzessionen des US-Unternehens Standard Oil im Jahr 1937, eine direkte Folge des Chaco-Kriegs (1932-1935). Bereits die damaligen Regierungen des sogenannten „militärischen Sozialismus“ versuchten, die Einnahmen aus der Erdölförderung der armen Bevölkerungsmehrheit zugute kommen zu lassen. Ein ähnliches Muster verfolgte die Verstaatlichung der Zinnminen im Jahr 1952. Doch eine staatliche Kontrolle des Extraktivismus bedeutet nicht, dass weniger Umweltschäden entstehen.
So schreibt Rebecca Hollender von der Sozial- und Umweltorganisation Klimawandel und Gerechtigkeit (ccjusticia) auf bolpress.com, dass die aktuelle Ressourcenpolitik Boliviens ein direktes Hindernis auf dem Weg zum buen vivir darstelle: „Das neo-extraktivistische Modell ist nur ein geringer Fortschritt gegenüber dem, was vorher herrschte: Das klassische extraktivistische Modell, das seit 500 Jahren eine Schneise der Zerstörung durch Umwelt und Gesellschaften in Lateinamerika gezogen und die Länder ökonomisch vom Export von Rohstoffen abhängig gemacht hat.“
Doch solcher Kritik am Neo-Extraktivismus sprechen Regierungsvertreter_innen jegliche Legitimation ab. Der Soziologe Eduardo Paz Rada unterstellt seinerseits Kritiker_innen der Entwicklungspolitik, den revolutionären Wandel im Land zu verraten. In einem Artikel mit dem Titel „Ein falsches Dilemma: Neo-Extraktivismus gegen Umweltschutz“, der auch auf bolpress.com erschien, schreibt er, dass sich multinationale Unternehmen und Umweltorganisationen miteinander verschworen hätten: „Beide Pole sind Teil der imperialistischen Strategie, die wichtigsten Ressourcen des Planeten zu kontrollieren.“
So scheinen sich soziale Bewegungen und Regierung in Bolivien deutlich entzweit zu haben. Doch trotz dieser Konflikte, schreibt Pablo Mamani Ramirez in seinem Artikel, sei der Prozess des Wandels in Bolivien noch nicht tot: „Wenn man meinen Artikel liest, könnte man das glauben.“ Der Prozess müsse nur wieder von den sozialen und indigenen Organisationen ausgehen, und er glaubt, dass dies auch geschehe: „Die Bevölkerung hat sich erhoben und ist nicht bereit, sich wieder niederzuknien.“ Auch nicht vor einer sich indigen gebenden Regierung.

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