// SO NICHT!

Yucumo, ein kleiner Ort im Departamento Beni, wird dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales wohl noch lange anhaften. Am 25. September attackierten hier auf Geheiß seiner Regierung etwa 500 Polizist_innen einen Marsch der indigenen Organisationen des Tieflandes. Die Indigenen protestierten damit gegen den Bau einer Überlandstraße, die quer durch das „Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure“ (TIPNIS) führen soll. Mehr als 70 Verletzte forderte die brutale Repression, mit der die Regierung Morales den Widerstand gegen das größtenteils von der brasilianischen Entwicklungsbank finanzierte Bauprojekt brechen wollte.
„So nicht! Wir haben mit dem Volk vereinbart, die Dinge anders zu machen“, schrieb die als Reaktion auf den Polizeieinsatz zurückgetretene Verteidigungsministerin Cecilia Chacón in ihrer Erklärung an den Präsidenten. Und sie ist nicht allein: etliche Gewerkschaften, Kollektive, Intellektuelle, ehemalige Regierungsmitglieder, Bolivianerinnen und Bolivianer haben dem „ersten indigenen Präsidenten Südamerikas“ in den letzten Wochen den Rücken zugekehrt.
Die Marschierenden haben dabei auch Solidaritätsbekundungen von falschen Freunden erhalten, insbesondere von den ultrarechten „Zivilkomitees“, die vor Kurzem noch Jagd auf Indigene machten. Der Versuch der Regierung, den Demonstrierenden daraus einen Strick zu drehen und den Protestmarsch als „von rechts infiltriert“ zu diffamieren, ist allerdings mehr als fragwürdig. Denn schließlich waren es auch jene Organisationen, welche nun gen La Paz marschieren, die sich über Jahre den Angriffen der Zivilkomitees widersetzten und letztlich deren Putschversuch im September 2008 verhinderten. Mit den Oligarchen zu paktieren, ist im Tiefland seit 2008 vielmehr die Sache der Regierungspartei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS).
Um so mehr sind die Vorkommnisse der letzten Wochen als ein gefährliches Zeichen für den Transformationsprozess in Bolivien zu sehen. Die Regierung war mit dem Versprechen angetreten, künftig bei politischen Projekten den Rechten der Bevölkerung und dem Naturschutz Priorität einzuräumen. Doch die Regierung verstößt nun gegen die von ihr selbst mitgeschriebene Verfassung, indem sie die Überlandstraße durch ein indigenes Territorium und Naturschutzgebiet bauen wollte, und das ohne die betroffene Bevölkerung bei der Planung zu beteiligen. Inzwischen hat sich Morales für das Vorgehen entschuldigt. Zudem will die Regierung eine Befragung zum Projekt durchführen; die aber nicht rechtlich bindend sein soll. Es scheint, als wolle die Regierung die Straße weiterhin bauen, so oder so.
Das Vorgehen der Regierung, die Telefone indigener Aktivist_innen überwachte, jede Verhandlung zur Farce werden ließ und vor keiner Einschüchterung und Beschimpfung zurückschreckte, zeugt von einer gefährlichen Annäherung der MAS an autoritäre Regierungsmuster. Schon seit längerem diskutiert die MAS kaum mehr mit Andersdenkenden – wer nicht spurt, dem droht ein Prozess, Parteiausschluss, Verleumdung oder Schlimmeres.
Die Partei galt einst als das Sprachrohr der sozialen Bewegungen. Dies ist jetzt passé: Die MAS versucht, soziale Bewegungen für ihren Machterhalt zu instrumentalisieren. Existierende Spannungen zwischen sozialen Bewegungen wurden angeheizt und nicht in Verhandlungen geklärt. Dabei sollte die MAS einst ein Forum zur Lösung solcher Konflikte sein.Stattdessen stellten sich dem Marsch der Indigenen hunderte Kokabauern entgegen, deren Straßenblockade und Gewaltandrohungen von staatlicher Seite unterstützt wurden. Mit dieser Politik, regierungstreue soziale Bewegungen gegen kritischere auszuspielen, hat die Regierung dem vormals so bewundernswerten Zusammenhalt der sozialen Bewegungen Boliviens einen noch nicht abzuschätzenden Schaden zugefügt. Nichtsdestotrotz sind es die sozialen Bewegungen, auf denen die Hoffnung und in denen das Potenzial für eine Neuausrichtung des Transformationsprozesses liegen – zurück zu den Wurzeln.

Mit dem Rücken zur Wand

Der 25. September 2011 wird sicherlich als einer der düstersten Tage in die Geschichte der Präsidentschaft von Evo Morales eingehen. Der seit Wochen schwelende Konflikt um das umstrittene Straßenbauprojekt durch das TIPNIS-Gebiet (Indigenes Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure) eskalierte an diesem Tag: Gegen 17 Uhr wurde in San Lorenzo im Departamento Beni das Camp der Straßengegner_innen geräumt. Etwa 500 Polizisten verluden mehrere hundert protestierende Indigene in Busse und brachten die Protestierenden in die nahe Stadt San Borja. Dabei setzte die Polizei Tränengas und Schlagstöcke ein.
Aufgrund der Brutalität der Repression überschlugen sich die Meldungen und es kam landesweit zu Demonstrationen gegen die Regierung. International verurteilten die EU, UN und katholische Kirche den Einsatz öffentlich. Während eigentlich wohlwollende Medien vom „Niedergang des Mythos Morales“ (taz) oder dem „Fall einer Ikone“ (the democracy center) sprachen, gingen andere aufs Ganze: Evo regiere im Stile eines „andinen Autoritarismus“, analysierte der Ex-Präsident Carlos Mesa in der Zeitung Pagina Siete, und das ehemalige Regierungsmitglied Raul Prada sprach in seinem Blog von einer „anti-indigenen Tyrannei“ der Regierung Morales. Diese steht nun mit dem Rücken zur Wand. In Folge des Konflikts traten bereits drei Minister_innen zurück, und die Regierung scheint dauerhaft den Rückhalt bedeutender sozialer Bewegungen zu verlieren. Wie konnte es dazu kommen? Das konkrete politische Problem scheint zunächst paradox für eine Regierung, die stets für Naturschutz und die Rechte der Indigenen eingetreten war. Es geht um den Bau einer Verbindungsstraße zwischen Villa Tunari im Departamento Cochabamba und San Ignacio de Moxos im Departamento Beni. Diese soll durch das rechtlich geschützte Indigenengebiet TIPNIS führen, welches zudem ein Nationalpark ist. Trotz der diskursiv auch auf internationaler Ebene stets vertretenen Position einer „anderen Entwicklung“ scheint es sich also um ein klassisches Entwicklungsprojekt zu handeln. Dafür spricht, dass die Straße mit Hilfe von brasilianischen Krediten finanziert wird, aber auch, dass der Bau seit fast 20 Jahren als Projekt in der Schublade lag.
Zu dem Eindruck eines Modernisierungsprojekts alter Prägung passt auch, dass keine Befragung der im TIPNIS lebenden Menschen bezüglich des Baus durchgeführt wurde. Dies sieht die Konvention 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Bolivien ratifiziert hat, eigentlich für derartige Projekte vor. In der Verfassung des plurinationalen Staats Bolivien von 2009 wird das TIPNIS-Gebiet ebenfalls besonders geschützt; dennoch soll das Bauvorhaben durchgesetzt werden.
Die Regierung führt als Argument an, dass Befragungen lokaler Ethnien lediglich bei der geplanten Ausbeutung von Rohstoffen durchgeführt werden müssten. Sie erhofft sich von der Straße vor allem eine stärkere wirtschaftliche und politische Integration des Landes. Durch die direkte Anbindung an die Absatzmärkte in den Tälern und dem Hochland soll die kleine und mittlere Vieh- und Agrarwirtschaft im Departamento Beni gestärkt werden. Bislang macht die einzige asphaltierte Straße von Cochabamba nach Trinidad im Beni eine riesigen Umweg über Santa Cruz. Straßenrouten, welche den Park umgehen, gelten wegen des schwierigen Terrains als nur schwer realisierbar. Zudem soll mit Hilfe der Straße der Kokaanbau sowie die illegale Abholzung im Naturschutzgebiet selbst stärker kontrolliert werden.
Die Gegner des Straßenbaus befürchten dagegen eine Zerstörung des natürlichen Ökosystems des Gebiets, in dem mehr als 100 Säugetier- und 400 Vogelarten leben, sowie die Einschränkung der traditionell extensiven Lebensweise der dort lebenden indigenen Ethnien. Durch den Straßenbau würden sich Siedler_innen aus den Hochlandethnien entlang der Straße niederlassen und Kokaanbau betreiben. Migrant_innen aus den Hochlandregionen haben bereits einige Bereiche des TIPNIS illegal besiedelt und sind lokal die stärksten Befürworter_innen des Baus. Die Entwicklung der letzten 30 Jahre im Chapare, der Übergangsregion von den Anden zum tropischen Tiefland, wo viel Kokaanbau betrieben wird, dient als abschreckendes Beispiel. Von linker Seite aus wird das Projekt als Fortführung eines extraktivistischen Entwicklungsmodells interpretiert, und so in die allgemeinere Kritik an der Regierung eingereiht. Aber auch nationalistische Töne mischen sich in die Argumentation. Aufgrund der Finanzierung aus Brasilien spricht etwa der Journalist Pablo Stefanoni von einem Projekt „im Dienste des brasilianischen Subimperialismus“.
Aus Protest gegen den Straßenbau mobilisierten zunächst die lokalen Gemeinden sowie der Verband der Tieflandindigenen (CIDOB), darunter federführend der Verband der Guaraní (APG), mit den Forderungen eines sofortigen Baustopps und der Durchführung einer Befragung. Als klar wurde, dass die Regierung auf den Protest nicht eingehen würde, formierte sich am 15. August in Trinidad ein Demonstrationszug von zunächst etwa 700 Vertreter_innen der Tieflandindigenen mit dem Ziel La Paz. Sie gewannen schnell die Unterstützung einiger Vertreter_innen des Verbandes der Hochlandindigenen (CONAMAQ), der schon seit einiger Zeit auf Distanz zur Regierung Morales gegangen war. Sie stellten gemeinsam einen weitreichenden Forderungskatalog mit 16 Punkten auf, darunter auch solche, die nichts mehr direkt mit dem Straßenbau zu tun hatten, und gaben bekannt, dass sie nur mit Präsident Morales persönlich verhandeln würden. Unter großer öffentlicher Anteilnahme gerade auch linker Gruppen der großen Städte, setzte sich der Marsch in Bewegung. Während die Regierung zunächst abweisend auf die Forderung der Protestierenden reagierte, formierte sich auch örtlicher Widerstand gegen den Demonstrationszug. Dieser wurde von Siedler_innen, zumeist Kokabauern und -bäuerinnen, sowie einigen Ethnien aus dem TIPNIS, die sich von dem durch ortsfremde Guaraní dominierten Protest gegen den Straßenbau nicht repräsentiert fühlten, organisiert. Die Gegenprotestler organisierten eine Straßenblockade für den eigentlichen Demonstrationszug in der Ortschaft Yucumo im Departamento Beni. In der angeheizten öffentlichen Stimmung verband sich immer stärker der konkrete Protest gegen den Straßenbau mit allgemeinerer Kritik an der Regierung Morales. Zudem schaltete sich die rechte Opposition in den Konflikt ein, und stützte sich dabei reichlich selbstvergessen auf linke und ökologische Argumente, die sie sonst nie vorbrachten.
Evo reagierte schließlich, indem er öffentlich erklärte, die Straße werde „so oder so“ gebaut. Dennoch erklärte sich die Regierung zu Gesprächen mit den Protestierenden bereit, wobei sie allerdings einige von deren Forderungen von Diskussionen ausschloss. In der Folge reiste Außenminister David Choquehuanca mehrmals zu Gesprächen mit den Protestierenden in den Beni, die allerdings wiederholt scheiterten. Als der Marsch am Wochenende des 24. September schließlich in der Nähe der Gegenblockade angekommen war, sperrte die Polizei die Straße. Die Protestierenden nahmen daraufhin Choquehuanca für mehrere Stunden als Geisel, um ihren Zug fortsetzen zu können. Am folgenden Tag wurden beide Protestcamps von der Polizei geräumt.
Die Eskalation des konkreten politischen Konflikts hin zu einer Legitimitätskrise der Regierung wurde vor allem von dieser selbst, aber auch durch Oppositionsgruppierungen vorangetrieben. Sie ist nur im Kontext verschiedener Strukturprobleme des politischen Systems sowie weiterer politischer Auseinandersetzungen zu verstehen. Dabei sind besonders drei Momente zu berücksichtigen.
Zum ersten erweist sich das von der Regierung propagierte Programm des „Interkulturalismus“ als konfliktsteigernd. Während nunmehr die kulturelle Identität einzelner Ethnien etwa durch Sprachunterricht gestärkt wird, führt der darin enthaltene essentialistische Kulturbegriff und der ungleiche Zugang zu staatlichen Machtressourcen zu einer stärkeren Trennung der indigenen Ethnien untereinander. Vor allem die zahlenmäßig kleineren Ethnien erfahren dadurch Nachteile. Dass sich gegenwärtig größere Gruppen indigener Ethnien gegen einen legitimen indigenen Protest anderer Ethnien stellen, steht im Gegensatz zu dem vergleichbaren marcha por la vida (Demonstration für das Leben) von 1990, bei dem die nach La Paz ziehenden Tieflandindigenen große Unterstützung im Hochland bekommen haben. „Dass sich die Situation dermaßen geändert hat, ist Folge dieses Interkulturalismus“, sagte José Teijeiro Villarroel, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der staatlichen Universität San Andreas in La Paz (UMSA) den Lateinamerika Nachrichten.
Zum zweiten wirkt der seit längerem anhaltende Streit zwischen verschiedenen linken Intellektuellen der Mittelschicht eskalierend auf die gegenseitige Kommunikation im Konflikt. Vor der Wahl 2005 galt es als genialer Schachzug, diese weitgehend in die MAS zu integrieren. Am sichtbarsten geschah dies durch die Ernennung von Alvaro Garcia Linera zum Vizepräsidenten, aber auch andere Mitglieder seines Kreises (die „Comuna“) erhielten wichtige Regierungsposten. In den letzten Jahren sind jedoch einige, auch engste Mitarbeiter von Garcia aus seiner Zeit als Universitätsdozent, auf deutliche Distanz zur Regierung gegangen, und unterstützten von Anfang an den Protest im TIPNIS – als wichtigste sind hier Raul Prada und Felix Patzi zu nennen. Die aggressive und arrogante Rhetorik Garcias und anderer Regierungsmitglieder gegen die Forderungen und Unterstützer_innen der Proteste sind im Licht dieses Dissens´ ehemaliger Mitstreiter zu sehen. So schreibt Garcia in seinem neuesten Buch von den linken Kritiker_innen der Regierung: „sie lügen, verfälschen und betrügen“ und handelten „im Auftrag der alten neoliberalen Rechten zur Wiederherstellung des alten Regimes“.
Zum dritten ist der politische Kontext genauer zu betrachten. Seit dem massiven öffentlichen Protest gegen den Wegfall der Subventionen im sogenannten Gasolinazo Ende 2010 wirkt die Regierung erstmals wieder durch politische Gegner_innen angreifbar. Diese Position versuchen die Oppositionsparteien auch in gegenwärtigen politischen Kontroversen, wie dem Konflikt um die Fiskalgrenzen der Stadt La Paz oder die direkte Wahl der Richter diesen Oktober, auszubauen. Besonders heftig ergriffen sie im Tipnis-Konflikt Partei gegen die Regierung, obwohl sie in der Vergangenheit weder durch ökologische Positionen noch durch ihr Eintreten für die Rechte der Indigenen bekannt waren. Diese Strukturelemente haben dazu beigetragen, dass die Regierung den Konflikt um den Straßenbau im TIPNIS Licht einer Auseinandersetzung mit der rechten Opposition begriffen und durch eigenes Agieren eskaliert hat. Es herrschte im Regierungslager lange eine Schwarz-Weiß-Sicht, welche den legitimen Protest der Gegner des Straßenbaus mit der heuchlerischen Haltung der rechten Opposition in einen Topf warf. Dadurch konnte kein offener Dialog über die Ziele der Infrastrukturpolitik zustande kommen ließ. Aber auch die Linke hat in ihrer heftigen Kritik an der Regierung oft übersehen, dass sie dadurch eine nach wie vor linke Regierung delegitimiert und sie de facto im politischen Prozess die rechte Opposition stärkt. Negativbeispiele für einen solchen Prozess gibt es in der bolivianischen Geschichte genug – es sei nur an die Regierung Siles Zuazo erinnert, welche durch das Ausscheiden linker Parteien gestürzt wurde. Das Ergebnis war die Installation des Neoliberalismus 1985. Um den Konflikt nicht zu einer allgemeinen Krise der Regierung werden zu lassen, bleibt vor allem eins zu tun. Es gilt, einen offenen Dialog der betroffenen Gruppen – Bewohner_innen des TIPNIS und örtliche Siedler – für und wider anzustoßen, ohne dass die Regierung als Partei auftritt. Denn ein Großteil der Eskalation ist eben durch dieses deutliche Eintreten für den Straßenbau entstanden.
Am Abend des 26. September. verurteilte Evo Morales den Polizeieinsatz gegen die Gegner_innen des Straßenbaus öffentlich, und kündigte die Einsetzung einer Untersuchungskommission an. Diese hat mittlerweile unter Beteiligung der UN, der Organisation Amerikanischer Staaten und der Unasur ihre Arbeit aufgenommen. Zu Hoffen wäre, dass die Regierung den Protest gegen den Straßenbau im TIPNIS als Weckruf versteht, den Prozess des Wandels wieder stärker unter Berücksichtigung der sozialen Bewegungen voranzutreiben. Doch danach sieht es derzeit nicht aus: Zwar ist nun eine nachträgliche Befragung der Bevölkerung im TIPNIS geplant. Jedoch soll diese keinen bindenden Charakter haben, wie Evo Morales am 13. Oktober ankündigte. Noch sieht es aus, als solle die Straße gebaut werden. So oder so.

„Wir haben unsere eigene Vision von Feminismus“

Warum haben Sie sich dazu entschieden mit den Opfern des Erdrutsches zu arbeiten? Auf den ersten Blick scheint es sich nicht gerade um ein typisch feministisches Thema zu handeln.
Zuerst einmal haben wir eine Möglichkeit zur Soforthilfe gesehen, denn eine der Betroffenen war eine Arbeiterin, die schon seit längerem in Kontakt mit uns ist. Für diese Frau haben wir Geld gesammelt. Das hatte eher Symbolcharakter. Maria Galindo (eine der Gründerinnen von Mujeres Creando, Anm. d. Red.) war der Meinung, dass es langfristig gesehen effektiver wäre, das Thema der Schulden anzugehen. Wir wussten, dass viele derer, die beim Erdrutsch alles verloren hatten, im informellen Sektor tätig und verschuldet waren. Bereits im Jahr 2001 haben wir mit Schuldnerinnen gearbeitet, in erster Linie mit Frauen, da sie in diesem Bereich in der Überzahl sind. Es gab damals eine große Mobilisierung, die in der Besetzung der ASFI (eine Art Bankenaufsicht, Anm. d. Red.) gipfelte. So haben wir einen Schuldenerlass erreicht. Weiter haben wir im Jahr 2009 hier in unserem Haus ein „Büro gegen die Wucher der Banken“ eröffnet.

Und aktuell?
Während dieses Jahres haben wir mit Frauen und Männern gearbeitet, die Probleme mit einem Bankinstitut hatten: Zahlungsprobleme und Ähnliches. Wir haben diese Menschen juristisch unterstützt und gleichzeitig eine Feldstudie gemacht. Die Daten, die wir dabei gesammelt haben, hat Graciela Toro (Soziologin und Ökonomin, Ex-Entwicklungsministerin in der Regierung Evo Morales, Anm. d. Red.) in ihrem Buch La Pobreza: Un Gran Negocio („Die Armut: ein großes Geschäft“) zusammengefasst. Wir von Mujeres Creando haben unsere eigene Vision von Feminismus und lassen uns weder von der Regierung noch von der Internationalen Kooperative noch von der Mode vorschreiben, zu welchen Themen wir zu arbeiten haben. Wir agieren in einem lokalen Kontext und wollen auf die Probleme in unserer Gesellschaft antworten. Und wir wollen die Spielregeln des Finanzsystems ändern. Denn die Finanzdienstleister verkaufen die Mikrokredite als soziale Hilfe, um die Armut zu lindern; das ist ihre neoliberale Sichtweise. In Wahrheit handelt es sich um Unternehmen, die auf Profit aus sind.

Es gibt in Bolivien viele Nicht-Regierungsorgganisationen (NRO), die Mikrokredite anbieten. Welche Erfahrung haben Sie mit diesen Einrichtungen?
Die Mehrheit der Finanzdienstleister, die mit Mikrokrediten arbeiten, hat als NRO begonnen und Geld von der Internationalen Kooperative erhalten. Danach wollen viele in unternehmerischem Sinne bis zur Bank aufsteigen, damit sie mehr Produkte, wie zum Beispiel Sparformen, anbieten können. Die Mehrheit dieser NRO steht nicht unter Aufsicht der ASFI, weshalb jegliche Kontrolle fehlt. Viele Frauen leihen sich bei vier, fünf verschiedenen Finanzinstituten Geld und sind dann natürlich extrem überschuldet.

Mikrokredite werden häufig an Frauen vergeben werden, die sich zu Solidaritätsgruppen zusammenschließen. Viele halten dann dem sozialen Druck nicht stand. Aus Indien ist zum Beispiel bekannt, dass es deshalb bereits Suizide gab. Wie ist das hier?
Ja, viele jener, die im informellen Sektor tätig sind, sind Frauen. Auf den Straßen wimmelt es nur so von Verkäuferinnen. Wenn diese einen Mikrokredit aufnehmen wollen, haben sie in der Regel nichts, womit sie für den Kredit garantieren könnten. Also werden die Kredite an Solidaritätsgruppen vergeben, deren Mitglieder füreinander garantieren. Wenn eine Frau nicht zahlen kann, wird also nicht nur seitens des Finanzinstitutes, sondern auch innerhalb dieser Gruppe Druck ausgeübt. Die anderen Frauen suchen ihr Haus auf, nehmen ihr Sachen weg, bedrohen sie, schreien sie auf der Straße an, in vielen Fällen schlagen sie die Frau, sperren sie ein. So werden die zuvor vorhandenen sozialen Netzwerke zerstört. Was bleibt, ist die Solidarität gegenüber den Banken und den Finanzinstituten. In den Medien und über Mund-Propaganda wurde auch schon von Suiziden berichtet. Ein weiteres Phänomen ist, dass viele Frauen, die schon verschiedenen Firmen Geld schulden, sich zusätzlich bei privaten Anbietern Geld ausleihen. Diese verlangen Wucherzinsen und setzen auch Gewalt ein, um die SchuldnerInnen zum Zahlen zu bringen.

Sie haben eine Studie gemacht, um die Situation der Opfer der Naturkatastrophe besser darzustellen, und diese Daten der Regierung übergeben. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Es waren rund 5.000 Personen vom großen Erdrutsch Anfang dieses Jahres betroffen, das sind die offiziellen Zahlen der Stadtverwaltung. Laut der Bankenvereinigung sind unter ihnen 2.500 Schuldnerinnen und Schuldner. Davon sind wiederum circa 70 Prozent Frauen, viele sind geschieden, alleinerziehende Mütter. In unserer Studie haben wir uns auf drei Aspekte konzentriert: Im ersten Teil haben wir die persönlichen Daten inklusive der Arbeitssituation erfragt. Im zweiten Teil haben wir uns auf die betroffene Wohnung oder das Haus konzentriert und natürlich nachgefragt, wo die Leute jetzt leben, im Zeltlager oder anderswo. Und im dritten Teil fragten wir nach ihrer Schuldensituation, ob sie einen Teil des Kredits schon zurückbezahlt hatten, zu welchem Zinssatz und welche persönliche Geschichte jede und jeder mit den Finanzinstituten hat. Denn wir nehmen wahr, dass viele Schuldnerinnen und Schuldner nicht erst seit Kurzem verschuldet sind, sondern schon seit Jahren Kredite aufnehmen und diese bisher auf fast religiöse Art und Weise zurückbezahlt haben.

Wie hoch sind die Schulden einer Einzelperson ungefähr?
Etwa 70 Prozent der Personen, die wir interviewt haben, haben Schulden in der Höhe von ein- bis dreitausend US-Dollar, ungefähr zehn Prozent zwischen drei- und sechstausend US-Dollar. Es gibt auch welche, die Schulden in Höhe von zwanzig- bis fünfzigtausend US-Dollar haben, aber das sind wenige.Weiter wissen wir, dass rund 40 Prozent der Befragten das geliehene Geld in das Haus, sprich in den Kauf eines Hauses oder eines Grundstücks, den Hausausbau oder Renovierungen investiert haben. Und dann gibt es noch jene 20 Prozent, die ihren Betrieb innerhalb ihres Wohnhauses hatten: ein Geschäft, einen Verkaufsstand, die Schneiderei, die Kuh im Garten. Diese Leute haben durch den Erdrutsch sowohl ihr Haus als auch ihre Einkommensquelle verloren. Deshalb sind wir der Meinung, dass die Schulden erlassen werden müssen. Dieser Erdrutsch war ein unglaublicher Schicksalsschlag, der viele in existentielle Krisen gestürzt hat.

Welche Unterstützung gab es für die Opfer der Naturkatastrophe seitens des Staates?
Im Falle des Mega-Erdrutschs hat sich die Zentralregierung mit der lokalen Regierung gestritten, wer was zu tun hätte. Erst jetzt haben sie damit begonnen, die betroffenen Personen zu registrieren. Die Regierung verliert sich in Streitereien anstatt wirklich etwas für die Leute hier zu tun. Evo Morales trifft seine Entscheidungen sehr willkürlich.

Was haben Sie erreicht? Denken Sie der Schuldenerlass ist realistisch?
Der Prozess war folgendermaßen: Wir haben mit der Studie am 17. April begonnen, bis Mitte Juli hatten wir alle Daten ausgewertet. Daraufhin haben wir der Regierung, dem Finanzministerium und der ASFI ein Schreiben mit dem Vorschlag des Schuldenerlasses übergeben. Damit haben wir erreicht, dass die Zahlungsfrist, die die Finanzinstitute den Opfern des Erdrutsches gegeben haben, von einem halben auf eineinhalb Jahre verlängert wurde. In diesem Zeitraum werden die Schulden eingefroren. Durch weitere Mobilisierungen haben wir dann erreicht, dass sich die Gesundheitsministerin Mila Eredia eingeschaltet hat. Sie hat uns unterstützt und uns zu ihr ins Büro zu einem Verhandlungstisch eingeladen, gemeinsam mit den Autoritäten der ASFI und den Schuldnerinnen und Schuldnern. Ergebnis dessen war, dass die ASFI zugesagt hat, ein Büro einzurichten, in dem jeder Fall individuell, Schuld für Schuld, unter Anwesenheit eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin der ASFI, des jeweiligen Finanzinstituts und der Schuldnerin oder des Schuldners verhandelt wird. Zudem wird der Schuldner oder die Schuldnerin durch Mujeres Creando professionell unterstützt. Wahrscheinlich werden wir nicht in allen Fällen einen Schuldenerlass erreichen können, aber in vielen Fällen. Bisher hat die ASFI allerdings nichts weiter unternommen. Deshalb werden wir weiter demonstrieren.

Welche Rolle haben die Demonstrationen gespielt, die Sie zu dem Thema organisiert haben?
Ich glaube an die Mobilisierung, ich glaube an den Kampf und bin absolut sicher dass es ohne diese Demos weder eine Fristenverlängerung noch die Möglichkeit zur Neuverhandlung der Schulden gegeben hätte. Die Banken hätten sich schön ruhig verhalten und darauf gewartet, dass die Leute weiter zahlen. Dadurch, dass wir auf die Straße gegangen sind, haben wir die soziale und ökonomische Situation der SchuldnerInnen sichtbar gemacht.

Kasten:

JULIETA OJEDA PUMA
ist Mitstreiterin der feministischen Gruppe Mujeres Creando (auf Deutsch in etwa: Frauen, die erschaffen) in Bolivien, die seit 1992 durch gleichsam politische wie künstlerische Aktionen auf sich aufmerksam macht. In der Virgen de los Deseos („Jungfrau der Wünsche“), dem Haus der Bewegung in La Paz, befinden sich ein Cafe-Restaurant, eine Buchhandlung, das Radio Deseo, eine Radioschule, eine Kinderbetreuungsstätte und eine juristische Beratungsstelle. Mujeres Creando sind in Europa vor allem durch ihre Graffitiaktionen bekannt geworden. Maria Galindo, Mitgründerin der Gruppe, zeigte ihre Kunst dieses Jahr auch im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im Rahmen der Ausstellung „Das Potosí-Prinzip“ (siehe LN 439). Derzeit befinden sich einige der Frauen im Naturreservat TIPNIS, um die indigene Bevölkerung dort auf ihrem Marsch gegen den Bau einer Schnellstraße zu unterstützen (siehe Artikel in dieser Ausgabe).
// www.mujerescreando.org

Neue Hoffnung für Yasuní

Es geht voran mit Ecuadors visionärem „Dschungel statt Öl“-Projekt: Als „Erfolg auf der ganzen Linie“ wertete Präsident Rafael Correa die Veranstaltung am Rande der UN-Vollversammlung, zu der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Ende September geladen hatte. Kommen genug Mittel von der internationalen Gemeinschaft zusammen, will Ecuador auf die Förderung von Erdöl im östlichen Teil des Yasuní-Nationalparks verzichten, dem nach den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha benannten ITT-Gebiet. Jahresziel bis Ende 2011: 100 Millionen US-Dollar.
„Die Welt lernt von Yasuní“, sagte Ban Ki Moon, mit Führungsstärke, Kreativität und Engagement sei nachhaltige Entwicklung möglich. Italien zahlt im Rahmen eines Schuldentauschs 35 Millionen Euro in den Treuhandfonds ein, der voriges Jahr unter dem Dach des UN-Entwicklungsprogramms eingerichtet wurde. Nach Chile sagte Kolumbien 100.000 Dollar zu, Peru 300.000 und Australien 500.000 Dollar.
Belgische und französische Regionalregierungen sind ebenfalls mit von der Partie, sogar multinationale Konzerne wie der brasilianische Bauriese Odebrecht. Mit dem Geld sollen 45 neue Naturschutzgebiete ausgewiesen, Wiederaufforstung und erneuerbare Energien vorangetrieben und Forschungsprogramme finanziert werden.
Correa machte aber auch wieder deutlich, dass er persönlich am liebsten das Öl im ITT-Gebiet fördern will, rund 20 Prozent der in Ecuador entdeckten Vorkommen. „Finanziell wäre das für uns besser“, sagte er, zu den heutigen Ölpreisen sei das „schwarze Gold“ 14 Milliarden Dollar wert. Und Ecuador brauche diese Mittel für Straßen, Krankenhäuser, Schulen, Bücher und seine Landwirtschaft. Kritiker_innen in Ecuador werfen Correa mit einigem Recht vor, wegen dieser Ambivalenz sei er der größte Bremser des Projekts.
Der Staatschef erinnerte erneut daran, dass vor allem die Industrieländer den Klimawandel verursacht haben, und erklärte: „Wir möchten gegen die Erderwärmung kämpfen, aber dafür brauchen wir die Mitverantwortung der Welt.“ Durch den Verzicht auf die Ölförderung würde nicht nur das artenreichste Gebiet Amazoniens und der Lebensraum zweier isoliert lebender indigener Völker geschützt, sondern auch direkt das Klima: 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid würden der Erdatmosphäre erspart.
Ivonne Baki, die Chefin der Yasuní-Verhandlungskommission, jubelte bereits, der Plan B, also die Ölförderung, sei „auf dem Müllhaufen“ gelandet. Die Türkei, Katar und weitere arabische Staaten sollen folgen, ebenso „ganz Südamerika“, kündigte sie an. Der Pragmatiker Correa, der offen auf umstrittene Öl-, Bergbau- und Agrospritprojekte setzt, will aber erst im Dezember Bilanz ziehen.
In Deutschland, woher in der Anfangsphase ab 2007 die wichtigste Unterstützung kam, machen Umweltgruppen und -politiker_innen mobil. Sogar die Unionsfraktion im Bundestag forderte die Bundesregierung auf, zum Yasuní-Fonds beizutragen. Grüne, Linke und SPD stehen einhellig hinter der ITT-Initiative. Vier Bundestagsabgeordnete flogen im Oktober nach Ecuador, die Grüne Ute Koczy und auch Delegationsleiter Volkmar Klein (CDU) berichteten auf ihren Webseiten. „Insgesamt … ein wirklich begeisternder Besuch, der unterstrichen hat: Die Kooperation mit den Freunden in Ecuador lohnt sich im Interesse unseres weltweiten Naturerbes wirklich“, lautete Kleins Fazit.
Nur die FDP stellt sich weiterhin quer. Da traf es sich gut, dass der ecuadorianische Außenminister Ricardo Patiño in Berlin von Guido Westerwelle empfangen wurde. Bei einem „absolut angenehmen und herzlichen Dialog“ habe er seine Kritik an Westerwelles Parteifreund Dirk Niebel „ganz offen auf den Tisch gelegt“, sagte Patiño. Ecuador könne es nicht hinnehmen, dass es durch Regierungsmitglieder eines anderen Landes „angezählt“ werde.
BMZ-Minister Niebel, der im September 2010 die Kehrtwende der Bundesregierung verkündet hatte, aalt sich seither geradezu lustvoll in seinem „Nein“ zu Yasuní-ITT. Der Spiegel berichtete über den „Zorn“ des selbsternannten „Globalisierungsministers“ wörtlich: „Ausgerechnet Italien, das seine eigenen Schulden in den Griff bekommen müsse, habe Ecuador zugesagt, 35 Millionen Euro an Schulden zu erlassen, kritisierte Niebel. ‚Die europäische Solidarität würde es erwarten lassen, dass Italien erst mal die eigenen Finanzen in den Griff bekommt‘, sagte der FDP-Politiker. ‚Soll Berlusconi das Geld doch aus seinem Privatvermögen bezahlen‘.“
Umwelt- und Nord-Süd-Verbände erhöhen unterdessen den Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und der BUND Hannover lancierte das Yasuní-Portal www.saveyasuni.eu, die umfassendste deutschsprachige Website zum Thema.
In der taz plädierte Niebel für Marktmechanismen wie das in der Klimadebatte vor allem von westlichen Industrieländern propagierte REDD (Reducing Emissions from Deforestation und Forest Degradation). Über die jüngste Variante des Emissions- oder Ablasshandels soll auf dem kommenden Klimagipfel in Durban weiter diskutiert werden.
Für Alberto Acosta, Correas früheren Freund und ersten Energieminister, ist Yasuní-ITT hingegen auch eine „praktische Kritik an der Kommerzialisierung der Natur“ – es sei sinnlos, Fonds zu gründen, „um Umweltzerstörung an einer Stelle der Welt dadurch zu rechtfertigen, dass woanders Verantwortung wahrgenommen wird.“ Wer REDD fördere, leugne dessen negative Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften, erwiderte Acosta. Mit REDD werde der Regenwaldschutz zum Geschäft: „Statt den dringend notwendigen Schwenk in Richtung der Post-Erdöl-Zivilisation zu vollziehen und die Atmosphäre von schädlichen Emissionen zu befreien, ist REDD ein Akt blindwütiger Kommerzialisierung“.
„REDD ähnelt den Glasperlen, mit denen europäische Konquistadoren bei der Eroberung Amerikas den Ureinwohnern ihr Gold abluchsten“, sagt Acosta: Es könne in der Praxis sogar ein Anreiz für indigene Gemeinschaften werden, die Ausbeutung der Ressourcen zuzulassen, die sie ansonsten verhindern würden. Rafael Correa hingegen verteidigte die REDD-Mechanismen auf dem Klimagipfel von Cancún, anders etwa als Bolivien. Auch wenn in der innenpolitischen Debatte die Unterschiede zwischen der ecuadorianischen Regierung und ihren Kritiker_innen von links deutlicher zutage treten denn je: Zumindest verbal setzten beide Seiten jetzt ganz auf die „Zivilgesellschaft“, vor allem in den USA und Europa.
Niebel befürchtet zudem einen „Präzedenzfall“: Sollte Yasuní-ITT Erfolg haben, könnten auch andere Länder genauso Geld für unterlassene Umweltzerstörung fordern, meint der Ultraliberale. Dazu sagt Acosta: „Genau das ist unsere Hoffnung. Schaffen wir zwei, drei, viele Yasuní auf der Welt“. Ecuadors Kultur- und Naturerbe-Ministerin María Fernanda Espinosa ist in der Regierung Correa eine der hartnäckigsten Verfechter_innen des Plans A, also der Nicht-Förderung. „Die andauernden Spekulationen über den Plan B führen zur Kritik an der Regierung“, analysiert sie. „Das ist erfrischend, denn dadurch werden diese Gruppen zu Wächtern der Initiative. Indem sie den Präsidenten kritisieren, wenn er den Plan B auch nur erwähnt, erhalten sie die Initiative am Leben. Hinzu kommt der Rückhalt von 80 Prozent der Ecuadorianer“.
All dies hält den Präsidenten nicht davon ab, die Vorbereitungen für die Ölförderung in zwei Dritteln des ITT-Gebiets systematisch voranzutreiben. Typisch der Auftritt in seinem wöchentlichen Liveprogramm Enlace vom 8. Oktober: Zunächst lobte er den Rückhalt der Parlamentarier_innen und tat Berichte über deren Kritik am Verleumdungsprozess gegen die Tageszeitung El Universo als „Lügen“ ab. Dann erwähnte er Studien für die Ölförderung im Tambococha-Block. Dort könnten „horizontale Fördertechniken“ zum Einsatz kommen, sagte Correa. Ähnliches gelte für den Tiputini-Block, der nur zu 10 Prozent innerhalb des Nationalpark liege. „Nur für Ishpingo muss ich das Parlament um Erlaubnis bitten oder eine Volksbefragung ansetzen“, sagt Correa, denn dieses Ölfeld liege „im Herzen des Yasuní“: „Ich habe nicht vor, diesen Block anzutasten“.

Ein nachhaltiges Modell

Vor knapp zehn Jahren befand sich Argentinien auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise. Wie haben sich seitdem die zahlreichen von Arbeiter_innen besetzten und übernommenen Betriebe, die sogenannten empresas recuperadas (EERR), entwickelt?
Die EERR entstanden in der Tat in der schlimmsten Krise Argentiniens. Als die ursprünglichen Besitzer die Betriebe schlossen und ihre Angestellten hinauswarfen, gab es kaum eine Möglichkeit, wieder Arbeit zu finden und das auch noch zu einem angemessenen Lohn! Also mussten wir uns selbst um Arbeit, unsere Gehälter und deswegen um den Betrieb kümmern – ohne Kapital, ohne Geld und nur mit dem Wissen über den jeweiligen Produktionsprozess.
Es waren dann zwei Stützpfeiler, auf die wir bauen konnten: Die Aufopferung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die soweit auf ihren Lohn verzichtet haben wie der jeweilige Betrieb das Geld brauchte. Zudem eine intelligente Politik der Arbeiter, die dafür sorgte, dass die Rohstofflieferanten die Betriebe als Kunden behalten konnten. Mit einem Startkapital von umgerechnet zehn Euro haben wir im Fall der Backfabrik Mil hojas nur von einem Tag zum nächsten Mehl gekauft, dann für fünf, irgendwann für 30 Tage und so weiter.
Die Mehrheit der EERR hat ihr Produktionsniveau heute verfünffacht im Vergleich zu der Zeit vor der Krise, als die Betriebe sich noch nicht in Besitz der Arbeiter befanden. Im Vergleich zur Krise hat sich das Niveau wahrscheinlich verhundertfacht, auch begünstigt durch die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft.

Welche Aufgaben und Herausforderungen stehen für die EERR derzeit an?
Prinzipiell gilt es, dieses Modell zu festigen, das sich noch im Anfangsstadium befindet. Statt auszugrenzen, bietet es eine Antwort auf die strukturelle Krise des neoliberalen Kapitalismus. Wir wollen mehr als dass die Armut einfach ausgehalten wird. Arbeit soll wieder die Basis für ein würdiges Leben und soziale Inklusion sein. Wir zeigen, dass der Gesamtwert eines Betriebs neben dem Kapital aus den Menschen, dem Know-how, der Technologie besteht. Und dass das erwirtschaftete Geld egalitär unter den Arbeiterinnen und Arbeitern verteilt werden kann.

Werden immer noch Betriebe besetzt und instand gesetzt?
Ja, natürlich. Die Besetzungen waren keine Reaktion allein auf eine konjunkturelle Krise, sondern auf das strukturelle Problem neoliberaler Makroökonomie. Der Neoliberalismus zerschlägt jedweden gesellschaftlichen Sozialvertrag und geläufige Beschäftigungsformen. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis dieser entfesselten Politik, in Lateinamerika wie in Europa. Was stellen sich die Europäer zum Beispiel vor? Eine Eurozone, eine Dienstleistungszone, eine Technologiezone, Unterstützung für einzelne Unternehmen – das kommt allerdings nur Wenigen zugute. Die restliche Politik besteht in Beihilfe für Arbeitslosigkeit oder verdeckter Subvention der Beschäftigung, die mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergeht.
Die Perspektive, die den Arbeitern bleibt, sind neue Formen der Organisation und des Arbeitskampfes. Dabei kümmern sich die Arbeiter um die Produktion von Waren und Dienstleitungen und damit um die Schaffung von Wohlstand – auf Basis von Lohnarbeit, von Betrieben. Nicht nur in Argentinien übernehmen Arbeiter die Betriebe, sondern auch in Deutschland, Frankreich, Japan, den USA.

Wie erkennt die Präsidentin Cristina Kirchner Ihre Arbeit an, gibt es Unterstützung durch die Regierung?
Vor der Krise wurden wir durch die neoliberalen Regierungen unter Carlos Menem und Fernando de la Rúa in unserem Arbeitskampf wie Straftäter behandelt und unterdrückt. Seit der Krise und nach der Regierungsübernahme 2003 von Néstor Kirchner waren wir keinen Repressionen mehr ausgesetzt und wurden sogar in den Präsidentenpalast eingeladen. Das hat sich unter Cristina Kirchner fortgesetzt. In diesem Jahr gab es eine Gesetzesinitiative, die sehr bedeutsam für die EERR ist: die Veränderung des Konkursrechts zugunsten der Arbeiter, die nun alles der Produktion Dienliche selbstverwaltet weiter betreiben dürfen. Auch wenn die inzwischen etablierte Politik noch unzureichend ist und verbessert werden muss, so gab es zumindest hinsichtlich unserer Situation eine Drehung von 180 Grad.

Was bedarf es seitens des Staates?
Durch die unterdrückerischen und blutigen Diktaturen überall in Lateinamerika haben sich Strukturen und Mentalitäten durchgesetzt, die nicht so leicht aufzulösen sind, auch wenn sie aufgedeckt sind. Wir stellen uns einen Staat vor, der mit den Arbeits- und den sozialen Organisationen zusammenarbeitet, um die größte Herausforderung in Lateinamerika zu lösen: die soziale Inklusion. Diese schafft man über einen aktiven Staat, der Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Denn jeder dieser Betriebe bedeutet Arbeitsmöglichkeiten und jeder Arbeitsplatz mehr, bedeutet einen ausgegrenzten Arbeiter weniger.

Gibt es auch Sektoren jenseits des Staates, mit denen die Zusammenarbeit gesucht wird?
Ja. Von Anfang an haben wir Beziehungen zu denjenigen gesucht, die vor Ort sind und Forschung betreiben oder mithelfen können. Mit mehr als 20 Universitäten haben wir Verbindungen zu EERR hergestellt. Aber es stellte sich heraus, dass die akademische Welt unsere Erwartungen nicht erfüllen konnte. 2008 gründeten wir dann in der Universität von Rosario einen Aufbaustudiengang „Soziale Ökonomie“ für Ingenieure, Anwälte und Buchhalter – alle aus verschiedenen Disziplinen, um ihnen etwas über solidarische Ökonomie zu vermitteln, über Kooperativen usw. So schufen wir uns selbst professionelle Quellen, die wir in die Unternehmen miteinbeziehen.

Wie wird die demokratische Partizipation in den EERR gesichert?
Das ist ein kompliziertes Thema. Formell gesehen sind wir 100 Prozent demokratisch. Dazu gehört aber auch ein Partizipationsprozess und in diesem haben wir immer noch ein klares Defizit. Das beruht auf kulturellen Bedingungen bei der Entstehung einer Kooperative: Wir sind ja nicht als Genossenschafter geboren worden. Vorher waren die Arbeitsbeziehungen ganz klar: auf der einen Seite der Chef und auf der anderen die Arbeiter.
Es ist tatsächlich eine der schwierigsten Fragen und wir mobilisieren alle notwendigen Kräfte und bitten um Hilfe bei verschiedenen Akteuren, um eine Basis zu schaffen, die auf der Partizipation der Arbeitenden beruht.

Wie läuft die Vernetzung zwischen den Unternehmen auf regionalem, nationalem und internationalem Niveau?
In den Neunzigern hatte niemand eine Antwort auf unsere Fragen. Wir haben schnell begriffen: Wenn wir nicht untereinander solidarisch sind mit denjenigen, denen dasselbe passiert, wird es nirgends eine helfende Hand geben. Deswegen bauten wir ein solidarisches Netz auf, das in Argentinien geholfen hat, 300 Betriebe wieder instand zu setzen. Durch den großen Einfluss, den dieses Netz hatte, geschah das Gleiche in Brasilien. In Venezuela haben wir 2005 ein Treffen mit Vertretern von EERR aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Venezuela, Bolivien, Peru veranstaltet. Im Rahmen einer internationalen kooperativen Allianz konnten wir fundamentale Verbindungen zu italienischen Kooperativen aufbauen und jetzt haben wir ein Netz über fast die ganze Welt gespannt. Heute werden wir gebeten, unsere Lösungsvorschläge in Ländern zu unterbreiten, in denen Unternehmen geschlossen werden.

Das Kooperativensystem stellt für Sie eine Alternative zum Neoliberalismus oder gar zum Kapitalismus dar?
Na klar! Es ist kein politisches Modell oder erfüllt eine ideologische Funktion. Es ist ein wirtschaftlich nachhaltiges Modell. Zum Beispiel hier in Argentinien gibt es Hunderte von Verbraucher-Kooperativen in den Bereichen Licht, Gas, Telefon, Internet usw. Problematisch ist eben nur, dass Genossenschaften kaum Außenwirkung haben, dadurch verlieren sie an Leistungsfähigkeit, an Kraft. Dass Kooperativen zu Krisenzeiten weniger entlassen oder gar neu einstellen können – darüber wird nicht gesprochen. Wenn man sich mehr über diese Wirklichkeit öffentlich austauschen würde, könnte man besser verstehen, dass durch eine andere Form der wirtschaftlichen Organisation Erfolg möglich wäre.

Welche Art von Unterstützung bräuchten die EERR besonders aus Europa?
Das Wichtigste ist, Verbindungen zwischen Universitäten, Gewerkschaftern und sozialen Bewegungen im Bereich von fairem Handel, nachhaltiger Landwirtschaft, Technologietransfer und auch der Forschung herzustellen, und auch, was zum Beispiel die Festigung der demokratischen Partizipation angeht: Welche ist die neue Rolle des selbstverwalteten Arbeiters?
Wir glauben, dass der sich in der Krise befindenden europäischen Ökonomie mit kooperativ organisierten Unternehmen geholfen werden könnte und wir sind bereit, unsere Erfahrungen bereitzustellen und Wissen auszutauschen. Wir können auch mit klein- und mittelständischen Unternehmen zusammenarbeiten, denn das ist der Unternehmenssektor, der dem Neoliberalismus am stärksten ausgesetzt wird. Ein kleines deutsches Unternehmen, das sich mit einem Multi an einen Tisch setzt, wird kein gutes Geschäft machen, mit jedwedem selbstverwalteten lateinamerikanischen Unternehmen schon eher.

José Abelli
stammt aus Rosario, Argentinien, und arbeitet zum einen für den genossenschaftlichen Dachverband IN.DA.CO, der sich um Markterschließungen für Kooperativen und Technologie und Know-how-Transfer zwischen Genossenschaften kümmert. Er ist verantwortlich für die spanischsprachige Region Lateinamerikas. Zum anderen arbeitet José Abelli für eine Kristallglasbläserei, wo er mit der Produktionsleitung und administrativen Aufgaben betraut ist. Er hat die Besetzung von Betrieben in und um Rosario von Anfang an begleitet, indem er sich für Vernetzung, Kredite und den Dialog mit der Gemeinde und Politik einsetzt.

Peru wird nicht an Chávez übergeben

An Selbstzweifeln leidet ein Präsident wie Alan García selten. Im letzten Wahlkampf verkündete er öffentlich, seine Machtfülle würde ausreichen, um die Übergabe der Präsidentenschärpe an einen Kandidaten zu verhindern, den er ablehne. Doch da täuschte er sich gewaltig. Am peruanischen Nationalfeiertag, dem 28. Juli, wurde mit Ollanta Humala exakt der Kandidat zum neuen peruanischen Präsidenten vereidigt, den García im Wahlkampf am vehementesten attackiert hatte. García übergab seine Schärpe trotzdem nicht an den Nachfolger. Entgegen aller Gepflogenheiten und Traditionen blieb er während der Vereidigungszeremonie einfach zu Hause.
García stand nicht allein mit seiner Antipathie gegen Humala. Ein mächtiges politisches Bündnis, das die wichtigsten Parteien und die Unternehmerverbände umfasste sowie auf die Zustimmung großer Teile der Ober- und Mittelschicht zählte, hatte im Wahlkampf mit Unterstützung fast aller großen Medien gegen Humala Front gemacht. Humala wurde im Rahmen einer gigantischen Hetzkampagne als Zögling des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ausgemacht, seine Wahl als hohes Risiko für die weitere wirtschaftliche und demokratische Entwicklung des Landes dargestellt. Potentiellen Wähler_innen Humalas wurde die demokratische Reife abgesprochen. Ein schlechter Witz angesichts der Tatsache, dass dieses Bündnis in der Stichwahl Humalas Gegenkandidatin Keiko Fujimori unterstützte. Deren Wahlkampfteam gehörten nämlich zum großen Teil ehemalige Berater_innen und Kompliz_innen ihres Vaters an, des zu 30 Jahren Gefängnis verurteilten Ex-Präsidenten Alberto Fujimori: ausgewiesene Spezialist_innen für Korruption, Wahlbetrug und Verfassungsbruch.
Humala nutzte es nichts, dass sein Wahlkampfteam im Vergleich dazu aus anerkannten Fachleuten und integren Persönlichkeiten bestand. Selbst die konservative Tageszeitung El Comercio, die sich ansonsten in politischen Debatten vornehm zurückzuhalten pflegt, attackierte den Kandidaten auf so niedrigem Niveau, dass Humala dem Blatt in einem Interview entgegnete: „Ich bin nicht der Leibhaftige! Ich werde Peru nicht an Chávez übergeben.“ Lediglich Ex-Präsident Alejandro Toledo, der im ersten Wahlgang ausgeschieden war, stellte sich vor der Stichwahl überraschend auf die Seite Humalas. Die Kampagne gegen Humala verlor selbst bei seiner Amtseinführung nicht an Fahrt. Der neue Präsident schwor seinen Eid nämlich auf die Grundsätze der alten Verfassung von 1979 und nicht auf die aktuelle Verfassung, die der damalige Machthaber Alberto Fujimori 1993 nach einer verfassungswidrigen Auflösung des Parlaments diktiert hatte. Die Unterstützer_innen Keiko Fujimoris schäumten und behaupteten, Humala sei kein rechtmäßiger Präsident, weil er auf etwas geschworen habe, das es gar nicht gibt. Keine Aufregung gab es dagegen in den Medien, als Martha Chávez, die auf der Liste Keiko Fujimoris ins Parlament gewählt wurde, ihren Eid als Abgeordnete auf ihr politisches Vorbild Alberto Fujimori ablegte. Mit anderen Worten: Sie schwor, ihre Entscheidungen im Parlament im Sinne eines rechtskräftig verurteilten Verbrechers und Chefs einer Todesschwadron zu fällen.
Inzwischen hat sich die Aufregung um Ollanta Humala gelegt, der Wind hat sich gedreht in Peru. Humberto Speziano, Präsident des Unternehmerverbandes Confiep, verkündet jetzt eine neue Botschaft: Seine Zweifel gegenüber dem Wahlsieger hätten sich aufgelöst, die Unternehmer_innen würden Humala unterstützen und ihm zu einer erfolgreichen Präsidentschaft verhelfen. Und selbst Alan García zeigt sich geläutert: „Präsident Humala macht das sehr viel besser, als viele seiner Gegner glaubten.“ Vielleicht sind Speziano und García tatsächlich positiv überrascht, zumal sie bislang nicht in einen venezolanischen Steinbruch geschickt wurden. Wahrscheinlich haben sie ihre Erklärungen aber eher aus taktischen Gründen verfasst. Laut Meinungsumfragen unterstützen zweieinhalb Monate nach seinem Amtsantritt etwa 70 Prozent der Bevölkerung die Politik Ollanta Humalas. Deswegen ist es plötzlich nicht mehr opportun, sich gegen Humala zu stellen.
Aber schön der Reihe nach: Die neue Regierung legte einen rasanten Start hin. In weniger als einem Monat hatte sie bereits den Mindestlohn von 160 Euro auf 180 Euro erhöht, das Haushaltsbudget im Jahr 2012 für Bildung um 15 Prozent und das für Gesundheit um 11,5 Prozent Prozent heraufgesetzt. Damit verkürzt Peru zumindest den Abstand zu den Durchschnittswerten in der Region. Außerdem beschloss die Regierung, bis Ende 2013 allen Bürger_innen über 65 eine Grundrente von etwa 80 Euro zu zahlen. All das ist keine Revolution, aber es sind Maßnahmen in Bereichen, die während der letzten 20 Jahre verwaist blieben.
Den eigentlichen Paukenschlag setzte die Regierung nach einer Verhandlungsrunde mit den Bergbauunternehmen in Peru. Aufgrund der außergewöhnlichen Gewinnsteigerungen in der Branche zeigte sich die Minenindustrie bereit, zusätzliche Abgaben von knapp 850 Millionen Euro pro Jahr zu entrichten. Auch Alan García hatte vor fünf Jahren zusätzliche Abgaben für den Bergbau in seinem Wahlprogramm vorgesehen. Während seiner Amtszeit erreichte er jedoch lediglich einen freiwilligen Obolus von etwa 135 Millionen Euro pro Jahr, den die Firmen an den Fiskus überwiesen. Inzwischen werden allerdings erste Zweifel an der Rechnung der Regierung laut. Womöglich werden die Minenkonzerne die Auszahlung der von García ausgehandelten 135 Millionen Euro stornieren. Außerdem werden die Abgaben der Konzerne vermutlich auf deren Gewinnsteuern angerechnet. Übrig bliebe eine Summe, die weit entfernt wäre von den 1,5 Milliarden Euro, die Humala im Wahlkampf von der Bergbauindustrie forderte. Aber immerhin, die Regierung wurde in der Presse einhellig für ihr Verhandlungsgeschick gelobt. Solche Schritte kommen bei der Bevölkerung an.
Der Obolus der Bergbauunternehmen reicht allerdings nicht aus, um weiterhin die Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialressorts aufzustocken. Deswegen plant die Regierung eine überfällige Steuerreform, an die sich weder Alan García, noch seine Vorgänger Toledo und Fujimori heranwagten. Innerhalb dieser Wahlperiode sollen laut Auskunft des neuen Ministerpräsidenten Salomón Lerner Ghitis die Steuereinkünfte von 14 Prozent auf 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Angesichts der Tatsache, dass diese Steuerquote in Brasilien 35 Prozent und selbst in Bolivien 20 Prozent beträgt, ist auch dies ein bescheidenes Unterfangen, aber gleichfalls ein Anfang. Lerner setzte überdies anspruchsvolle Ziele für die laufende Legislaturperiode fest: Zum Beispiel eine Reduzierung der Armutsquote von 30 Prozent auf 20 Prozent, der absoluten Armutsquote von zehn Prozent auf fünf Prozent sowie eine Verdoppelung der Haushalte mit Stromanschluss. Das funktioniert aber nur, wenn keine Wirtschaftskrise dazwischen kommt, denn Lerners Visionen setzen ein Wirtschaftswachstum von mindestens sechs Prozent pro Jahr voraus.
Auch in der Innenpolitik weht ein frischer Wind. Die Regierung brachte im Kongress ein Gesetz durch, dem zufolge indigene Gemeinschaften künftig befragt werden müssen, bevor die Bagger der Bergbauunternehmen in ihr Gebiet einrücken. Alan García hatte ein solches Gesetz immer wieder aufgeschoben und eine rücksichtslose Politik zugunsten der Minenbranche betrieben, die eine Mitbestimmung der Bevölkerung bei Industrieprojekten nicht vorsah. Soziale Proteste wurden unter García kriminalisiert und zum Teil blutig niedergeschlagen. Die traurige Bilanz: 191 Tote in den letzten fünf Jahren. Die Regierung Lerner scheint behutsamer vorzugehen. Im südlich gelegenen Ort Toquepala, wo ein Minenprojekt erweitert werden soll, folgten Straßenblockaden zwar zunächst nach altem Muster gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch Lerner berief einen Runden Tisch ein, um über die Angelegenheit zu verhandeln und entschärfte damit den Konflikt. Andere Streiks und Blockaden versuchte die Regierung möglichst ohne Festnahmen zu beenden.
Einen besonderen Platz erhielt die Korruptionsbeämpfung in Humalas Programm. Obwohl Transparency International das Fujimori-Regime an die siebente Stelle der weltweit korruptesten Regierungen im Zeitraum zwischen 1984 und 2004 gesetzt hatte, unternahmen die Präsidenten Toledo und García daran gemessen zu wenig, um solche Exzesse in Zukunft zu verhindern. Erst Humala und Lerner brachten nun eine Verfassungsreform auf den Weg, nach der schwere Korruptionsdelikte gegen den Staat nicht mehr verjähren können. Wer öffentliche Funktionäre besticht, wird künftig genauso bestraft werden wie diese Funktionäre selbst. Außerdem richtete der Kongress eine Untersuchungskommission ein, die sich mit zahlreichen Korruptionsskandalen während der Präsidentschaft Alan Garcías beschäftigen soll. Die peruanische Polizei wurde bereits von zahlreichen Funktionären gesäubert, gegen die ein Korruptionsverdacht bestand.
Ollanta Humala versucht einen breiten Spagat von links nach rechts. Auf der linken Seite seiner Regierung und seiner Parlamentsliste mit dem wenig originellen Namen „Gana Perú“ („Peru gewinnt“) stehen die neue Frauenministerin und Vorsitzende der Sozialistischen Partei Aída García Naranjo und deren Parteigenosse Javier Díez Canseco. Díez Canseco ist Mitglied der Untersuchungskommission gegen Alan García und setzt sich besonders stark für höhere Abgaben und Steuern der Bergbauunternehmen sowie für eine höhere Steuerquote ein. Chef der Antidrogenbehörde Devida und damit sogenannter Antidrogenzar wurde mit Ricardo Soberón ein Mann, der nicht wie seine erfolglosen Vorgänger in Zusammenarbeit mit den USA einseitig die Kokapflanzungen vernichten will, sondern auf mehr Kontrollen und alternative landwirtschaftliche Entwicklung setzt. Die rechten Medien schossen sich bereits auf Soberón ein, bevor dieser seine Arbeit überhaupt beginnen konnte.
Dagegen stehen auf der rechten Seite vor allem der Wirtschafts- und Finanzminister Luis Miguel Castilla, der in seinem Ministerium bereits Stellvertreter unter Alan García war und Julio Velarde, der seinen Posten als Präsident der Zentralbank BCR behalten darf. Beide haben sich als orthodoxe Neoliberale einen Namen gemacht und sollen offenbar zur Beruhigung der Unternehmerverbände beitragen. Die Gewerkschaften kritisierten diese Personalien scharf. Im Kabinett befinden sich neben dem Unternehmer und Bankier Salomón Lerner als Ministerpräsident etliche weitere Vertreter der Wirtschaft. Verteidigungsminister wurde der ehemalige General Daniel Mora, der sich dafür stark machte, ein Gesetz zu verabschieden, das die strafrechtliche Verfolgung von Armeeangehörigen wegen Menschenrechtsverbrechen während des Konflikts mit dem Leuchtenden Pfad in den achtziger und neunziger Jahren beendet.
Noch darf die Linke innerhalb und außerhalb des Parlaments hoffen, dass die Regierung das enorme Wirtschaftswachstum in Peru künftig für eine stärkere Bekämpfung der Armut oder für höhere Investitionen in der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik nutzt. Die Unternehmerverbände und die Investoren setzen – beflügelt durch die Personalpolitik Humalas – womöglich darauf, dass dieser Präsident genau wie seine Vorgänger Alejandro Toledo und Alan García mit Druck dazu bewegt werden kann, das liberale Wirtschaftsmodell der letzten 20 Jahre fortzusetzen, dessen Basis der Export von Rohstoffen ist. Schließlich waren sowohl Toledo als auch García einst mit einem tendenziell sozialdemokratischen Programm angetreten, doch von dessen Umsetzung während ihrer Präsidentschaft sahen sie ab.
Die Zusammensetzung des Kabinetts und der Fraktion „Gana Perú“ bietet genügend Zündstoff für Konflikte im eigenen Lager. Die könnten beispielsweise dann beginnen, wenn die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Peru erreicht. Eine solche Krise mit fallenden Rohstoffpreisen würde Peru vermutlich empfindlich treffen, weil die exportorientierte peruanische Wirtschaft in hohem Grade vom Wohl der Bergbaufirmen abhängt. Was auch geschieht: Trotz eines guten Starts bleibt die künftige Orientierung der Regierung vorerst offen. Fest steht nur, dass es keine Übergabe des Landes an Chávez gibt.

Der Kolonist von nebenan

„Gilson Pinesso zeigt denselben Pioniergeist wie einst sein Vater!“, schrieb die brasilianische Zeitung Estado de São Paulo im August 2010. Pinessos Vater zog in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom südlichen Bundesstaat Paraná in den Westen Brasiliens, nach Mato Grosso, um dort Landwirtschaft im großen Stil zu betreiben. Nun sucht der Sohn neue Investitionsmöglichkeiten für seinen großen Landwirtschaftsbetrieb – und findet sie jenseits der brasilianischen Grenze, ja, sogar jenseits des Kontinents.
Pinesso hat 2010 einen Pachtvertrag über 10.000 Hektar mit der sudanesischen Regierung abgeschlossen. Im ersten Jahr kultivierte er auf 500 Hektar Baumwolle, in diesem Jahr sollen die restlichen Flächen mit Soja bebaut werden. Verkauft wird auf dem Weltmarkt, Nahrungsmittel für die Bevölkerung der Region produziert Pinesso nicht. Vorteile für sein Geschäft erreicht er vor allem durch eine gute Straßenanbindung und den günstigen Bodenpreis im Sudan. 50 US-Dollar pro Hektar pro Jahr muss er zahlen. „Das ist sehr wenig für die Qualität des Bodens“, sagte er der Estado de São Paulo. Zudem müsse er deutlich weniger Insektizide verwenden, als er es von Brasilien gewohnt sei. Er denke bereits über weitere Investitionen in Äthiopien und Uganda nach. „Brasilianer werden die Region wirtschaftlich entwickeln!“, prophezeit er, und die Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung.
Unternehmer_innen wie Gilson Pinesso sind kein Einzelfall. Brasilien ist eben nicht nur ein Land, das Agrarinvestoren anzieht, viele kommen auch von dort. Zahlreiche Agrarunternehmer_innen in Brasilien sind zu erheblichem Wohlstand gekommen. Die zweite Generation der Agrarbourgeoisie drängt nun auf den weltweiten Agrarmarkt, sie hält Ausschau nach neuen Geschäftsfeldern, auch jenseits der Grenze des Nationalstaats. Nach Afrika drängt es wie Gilson Pinesso bisher aber nur relativ wenige brasilianische Großfarmer_innen – insofern ist er eher die Ausnahme. Aber in der unmittelbaren Nachbarschaft des größten südamerikanischen Landes sind die brasilianischen Geschäftsleute mitt­lerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Im kleinen Nachbarland Paraguay etwa werden auf drei Millionen Hektar Soja angebaut, 60 Prozent dieser Fläche gehört Brasilianer_innen. Allein von Januar bis Juni dieses Jahres wurden hier 100.000 Hektar an ausländische Investoren verkauft, meistens an Unternehmer_innen aus dem großen Nachbarland. Dieser Trend existiert bereits seit Jahren, die sogenannten brasiguayos sind wirtschaftlich sehr einflussreich. Insbesondere in den wenig besiedelten Westen des Landes drängen die Unternehmer_innen, angezogen vom niedrigen Bodenpreis, erklärte Rodrigo Artagaveytia von der Landwirtschaftlichen Studiengruppe Estudio 3000 in einer Untersuchung. Früher galt der Westen des Landes als zu trocken und abgelegen, um dort erfolgreich zu wirtschaften, doch verbesserte Verkehrsanbindungen und Produktiosmethoden machen diese Region zunehmend interessant. Der Bodenpreis ist hingegen weiterhin sehr niedrig: Im Gegensatz zu Uruguay, wo der Preis pro Hektar bei über 2.000 US-Dollar liegt, sei das Land im westlichen Paraguay mit 120 bis 180 US-Dollar pro Hektar unschlagbar billig.
Insgesamt haben die Investoren aus Brasilien dennoch einen guten Ruf in Paraguay. Die meisten Paraguayer_innen schätzen Brasilien und die Brasilianer_innen, da sie Entwicklung und Investitionen in das Land brächten. Doch es gibt auch Kritiker_innen, die eine Gefahr für die nationale Souveränität befürchten. Das brasilianische Außenministerium Itamaraty – dessen Stimme traditionell viel Gewicht in Paraguay hat – übt gerne auch mal Druck auf die Gerichte des Nachbarlandes aus, um juristische Entscheidungen zugunsten brasilianischer Agrarunternehmen zu beeinflussen. Das Bündnis „Front für die Souveränität und das Leben“, das verschiedene Organisationen von Kleinbäuerinnen und -bauern vereint, sieht gar eine schleichende Kolonisierung des Landes durch brasilianische Unternehmer_innen voranschreiten.
In Bolivien will die Regierung den ausländischen Investitionen einen Riegel vorschieben. Auch hier sind es vor allem Brasilianer_innen, die am Agrargeschäft beteiligt sind. Im März dieses Jahres kündigte die Regierung Evo Morales medienwirksam an, in Zukunft eine Million Hektar Land, das sich in den Händen von Ausländer_innen befinde, enteignen zu wollen. Der Vizeminister für Landfragen, José Manuel Pinto, erklärte, dass viele Unternehmer_innen das Land illegal erworben hätten. Nur diese wolle man enteignen. „Wir sind nicht gegen Ausländer in Bolivien. Aber sie sollen sich an unsere Gesetze und Normen halten“, erklärte er. Wie und wann genau dies geschehen soll, ist aber bis heute ungeklärt.
Vor allem mexikanische Mennonit_innen und Brasilianer_innen hätten in Bolivien illegal Land erworben, erklärte Vizeminister Pinto. Nach einer Studie der bolivianischen Stiftung Tierra haben ausländische Investoren in den letzten Jahren über eine Million Hektar Land in Bolivien erworben. Etwa 700.000 Hektar davon gingen auf das Konto brasilianischer Unternehmer_innen.
Nach Informationen der bolivianischen Umweltorganisation PROBIOMA werden auf diesen Flächen vor allem Baumwolle und Soja angebaut. Dabei komme auch transgenes Saatgut zum Einsatz, welches eigentlich seit 2006 verboten ist. „Doch daran wird nichts geändert, denn es gibt praktisch keine Kontrolle der industriellen Landwirtschaft im Osten Boliviens“, heißt es im Bericht.
Nach Bolivien angezogen werden die brasilianischen Unternehmer_innen weniger von den guten Produktionsbedingungen. Die Erträge liegen mit 2,5 Tonnen pro Hektar deutlich niedriger als in Brasilien, wo über vier Tonnen pro Hektar erwirtschaftet werden. Vielmehr ist es der bis zu 50 Prozent billigere Diesel, der in der industriellen Landwirtschaft in großen Mengen benötigt wird, der Bolivien als Investitionsland attraktiv macht. Der bolivianische Staat subventioniert großzügig den Treibstoff und lockt so ausländische Investoren ins Land.
Von den ausländischen Unternehmer_innen gehe vor allem eine Gefahr für die Ernährungssouveränität des Landes aus, sagen Kritiker_innen wie Miguel Urioste. Der Gründer und Forscher von Tierra erklärte der Presse, dass diese Unternehmer_innen für den Export produzierten, anstatt Nahrung für die Bevölkerung. Unter der Regierung Morales hätte sich daran nichts geändert: „Der Staat schützt weiterhin die industrielle Landwirtschaft, obwohl es komplett gegen den Diskurs der Regierung geht“, erklärt er. Die Regierung bejahe öffentlich die Erhaltung der Ernährungssouveränität und verdamme die industrielle Landwirtschaft, konkret geschehe aber wenig. Dies liegt wohl nicht zuletzt an dem Einfluss des mächtigen Nachbarlandes. Ginge die Regierung entschlossener gegen die industrielle Landwirtschaft vor, wären zahlreiche brasilianische Unternehmen betroffen, was das Itamaraty auf den Plan riefe. So wird die Ernährungssouveränität Boliviens durch das Nachbarland direkt gefährdet.
Auch die Natur wird durch den Boom der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der zentrale Chaco, die savannenartigen Ebene im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Paraguay, wird derzeit komplett umgewandelt. Von 1932 bis 1935 führten Bolivien und Paraguay dort den blutigsten zwischenstaatlichen Krieg des 20. Jahrhunderts in Südamerika, doch in den Jahrzehnten danach passierte wenig mit dem so begehrten Land. Als zu kostenintensiv galt die Landwirtschaft im trockenen Chaco, nur einige mennonitische Siedler_innen pflanzten erfolgreich Baumwolle oder züchteten Rinder. Doch wo früher dichte Dornenwälder standen, erstrecken sich heute oft riesige Weideflächen.
Protagonist_innen dieser Verwandlung des Chaco sind neben den Mennonit_innen wieder einmal brasilianische Unternehmer_innen. Vor allem Viehwirtschaft sowie der Anbau von Baumwolle und Sesam rentieren sich im sehr trockenen Chaco. Durch neue Technologien und den Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts wird der Chaco nun kapitalistisch in Wert gesetzt. Der Landwirtschaftsboom im zentralen Südamerika gefährdet nicht nur das fragile Ökosytem des Chaco. Auch die indigenen Ethnien sehen sich zunehmend von den Soja- und Baumwollplantagen bedroht. Die Ayoreo des nördlichen Chaco zum Beispiel leben bis heute weitgehend ohne Kontakt zu der weltweit verflochtenen Gesellschaft. Aus diesem Grund haben sie meist auch keine offiziellen Besitztitel für das Land, das sie seit Generationen bewohnen. Durch den Druck des Landwirtschaftsbooms sind viele Ayoreo gezwungen, ihre selbstgewählte Isolation aufzugeben. Eine Interessenvertretung der Indigenen reichte nun eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen ein. In dem Schreiben beklagen sie die Zerstörung ihres Landes durch brasilianische Unternehmen.
Gerade Brasilianer_innen gehören zur Avantgarde des Land Grabbings, weil sie bereits Generationen übergreifende Erfahrungen mit der industriellen Landwirtschaft gemacht haben. Der Boom der industriellen Landwirtschaft in Brasilien setzte bereits in den 1960er Jahren ein. Mit großzügiger Unterstützung der damaligen Militärregierungen siedelten viele Landwirte aus den Bevölkerungszentren des Südens und Südostens in den kaum wirtschaftlich integrierten Westen des Landes, um Soja, Baumwolle und Getreide im großen Maßstab zu produzieren. Die „grüne Revolution“ nannte man damals dieses neue, auf den Export orientierte Entwicklungsmodell. Für die brasilianische Volkswirtschaft ergaben sich dadurch enorme Einnahmen, und viele Unternehmer_innen sind am Geschäft steinreich geworden. Die Schattenseiten waren Umweltzerstörung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung, auch der indigenen Ethnien.
Die damaligen Konflikte ähneln den heutigen dabei frappant. So ist es keineswegs abwegig, wenn die Zeitung Estado de São Paulo den „Pioniergeist“ des Vaters in Gilson Pinesso, dem Großfarmer, der im Sudan investiert, weiterleben sieht. Er bringt das brasilianische Entwicklungsmodell nun auf einen anderen Kontinent. Der Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung, obwohl die Gefahren für die Ernährungssouveränität und auch -sicherheit durch dieses Agrarmodell, das nur auf Export orientiert ist, gerade in Ostafrika augenscheinlich sind. Wenige hundert Kilometer von Pinessos Farmen entfernt, am Horn von Afrika, verhungern derzeit tausende Menschen.

Zwischen Patriotismus und Plünderung

Bei Investoren, die sich heute auf die weltweite Jagd nach fruchtbaren Böden machen, ist Lateinamerika sehr beliebt: Anders als Afrika bietet der Subkontinent den Vorteil größerer Rechtssicherheit und entwickelter Infrastrukturen. Angetrieben durch hohe Profitaussichten dank steigender Lebensmittelpreise kanalisieren Banken und Fonds Milliarden-Summen in südamerikanische Agrarfirmen, die meist mehrere Anwesen zugleich für internationale Anleger_innen verwalten. In einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird davon ausgegangen, dass „ein Drittel der Fonds, die weltweit in Farmland investieren, Gelder in Brasilien angelegt haben“.
Cosan, der Gigant unter den brasilianischen Zuckerfabrikanten, ist einer der Land Grabber, in dem nationales und internationales Kapital verschmelzen. Eigene Zuckerrohrfelder in der Größe von 700.000 Hektar liefern den Rohstoff für Cosans 23 Zucker- und Ethanolfabriken. Anfang des Jahres gründete der Großgrundbesitzer mit der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell das Gemeinschaftsunternehmen Raízen, das den internen und internationalen Markt mit Ethanol beliefern soll. Um die Expansion zu ermöglich, füllen deutsche Kleinanleger_innen Cosans Kriegskasse auf. Mehrere Fonds der DWS, die Investmentgesellschaft der Deutschen Bank, beteiligen sich an dem berüchtigten Konzern. 2010 setzte das brasilianische Arbeitsministerium Cosan auf die schwarze Liste der Sklavenhalter, nachdem 42 Zwangsarbeiter_innen auf einer seiner Plantagen befreit werden mussten. Ebenso beschuldigte die Staatsanwaltschaft im Bundesstaat Mato Grosso do Sul das Unternehmen, Zuckerrohr auf einer Plantage anzubauen, die es illegal auf Indigenen-Land der Guarani-Kaiowá angelegt hatte.
Die Deutsche Bank lässt ihre Anleger_innen auch an der Waldzerstörung mitverdienen. So investieren drei DWS-Fonds in die argentische Cresud, die über 650.000 Hektar in Argentinien, Brasilien, Bolivien und Paraguay besitzt. Neben Viehzucht und Getreideanbau für den Export, gehören Aufkauf und Erschließung von Ackerland zum Schwerpunkt des Unternehmens. In der nordargentinischen Provinz Salta führt Cresud die Liste der lokalen Abholzer an: Über 56.000 Hektar artenreicher Quebracho-Wälder fielen dem Konzern zum Opfer, um Platz für Felder und Weiden zu schaffen. Leidtragende sind vor allem die Indigenen der Wichí, die mit den Wäldern einen Teil ihrer Lebensgrundlagen verloren haben. „Die Wichí sind traditionell Jäger und Sammler“, erläutert Ana Álvarez von der Nichtregierungsorganisation Asociana. Durch den Waldverlust ist ihre Verarmung mittlerweile so groß, dass in diesem Jahr bereits zehn Kinder an Unterernährung gestorben sind.
Doch die Milliarden, die internationale Investoren in landraubende Agrarfirmen pumpen, heizen auch Debatten um den Verlust nationaler Souveränität in der Region an. Als 2010 im Vorwahlkampf brasilianische Medien mit Berichten über Investitionspläne chinesischer, arabischer und europäischer Unternehmen überquollen, warnte auch der damalige Präsident Lula da Silva vor dem „Missbrauch von Landkäufen durch Ausländer“. Wenn Brasilien diesen Trend nicht aufhalte, werde das Land auf „ein winziges Territorium“ zusammenschrumpfen. Guilherme Cassel, der Minister für Agrarentwicklung, sekundierte: „Brasilianisches Land muss in der Hand von Brasilianern bleiben“.
Die brasilianische Zentralbank untermauerte die Befürchtungen vom Ausverkauf mit ihrer Schätzung, dass Ausländer_innen zwischen 2002 und 2008 2,4 Milliarden US-Dollar in Landkäufe investierten. Doch wie groß die Flächen in ausländischem Besitz konkret sind, ist unbekannt. So weist die Agrarreformbehörde INCRA nur die Zahl der Grundstücke aus, die sich auch namentlich im Besitz von Ausländer_innen befinden. Dies seien 34.000 mit einer Gesamtfläche von über vier Millionen Hektar. Da viele Investoren aber brasilianische Strohmänner, Briefkastenfirmen oder Unternehmen als formale Grundeigentümer einsetzen, ist der von Ausländer_innen kontrollierte Besitz faktisch weit größer. Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Hektar aus.
Im August 2010 schließlich ließ Lula eine neue Interpretation eines Gesetzes von 1971 durch den Generalstaatsanwalt verkünden, die den Landkauf von Ausländer_innen oder Unternehmen, die von Ausländer_innen kontrolliert werden, beschränkt. Danach dürfen ausländische Investoren künftig nicht mehr als 50 Parzellen einer brasilianischen Gemeinde erwerben. Da die Parzellen je nach Region und physischer Ausstattung unterschiedlich groß ausfallen, kann die Gesamtfläche, die sie künftig noch kaufen dürfen, zwischen 250 und 5.000 Hektar betragen. Doch darf sie nicht 25 Prozent der gesamten Ackerflächen einer Gemeinde überschreiten.
Generalstaatsanwalt Luís Lucena Adams versicherte zugleich, dass die Maßnahme ausländische Investitionen nicht ausbremsen werde: „Wir schließen nicht die ausländische Beteiligung aus, aber wir wollen die nationale Kontrolle über den Landbesitz ausüben. Die Unternehmen werden sich anpassen und enger mit lokalen Firmen kooperieren müssen.“ Genau daran aber setzt die Kritik von Linken und sozialen Bewegungen an. Professor Horácio Martins de Carvalho, Agraringenieur und Berater des Kleinbauernetzwerks Via Campesina, schimpft: „Nichts verhindert, dass ausländische Aktionäre Anteile nationaler Unternehmen erwerben, die Land kaufen.“ Für ihn steht außer Frage, dass sowohl die Regierung als auch wichtige Teile der Unternehmerschaft das ausländische Kapital willkommen heißen.
Ohnehin sei die Effektivität dieser Maßnahme zu bezweifeln, da ihre Umsetzung vom guten Willen der Katasterämter abhänge. Diese jedoch sind längst privatisiert worden und berüchtigt für die Korruption bei der Registrierung von Landtiteln. All die Sorgen um den Ausverkauf wären letztlich erst dann hinfällig, wenn die Regierung eine umfassende Agrarreform durchführen würde, die vier bis fünf Millionen Landlose ansiedelt und die Latifundien zerschlägt. Dann nämlich, so Carvalho, stünde das brasilianische Territorium „unter der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontrolle der Bauernschaft“. Dagegen werde der Vormarsch des Agrobusiness solange nicht zu stoppen sein, wie nur halbherzige Maßnahmen ergriffen würden, „die sich auf das ausländische Kapital in unserer Landwirtschaft beschränken“.
Ähnliche Initiativen werden nun auch in anderen Ländern diskutiert, etwa in Argentinien, Bolivien und Uruguay. „Die Verfügung über Land ist eine vitale, strategische Frage im 21. Jahrhundert“, erklärte Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner bei der Vorstellung ihres Entwurfs für ein Landgesetz, das derzeit im Kongress debattiert wird. In Anlehnung an die brasilianischen Regeln sieht es vor, den Landbesitz von Ausländer_innen und Unternehmen, die von Ausländer_innen dominiert werden, auf 20 Prozent der Agrarflächen auf nationaler, Provinz- und Gemeindeebene zu beschränken. In den fruchtbaren Gebieten der zentralen Pampa sollen Ausländer_innen nicht mehr als 1.000 Hektar kaufen dürfen. Ähnliche Schwellen will man auch in anderen Regionen etablieren.
Weil auch in Argentinien unbekannt ist, wie groß die Grundstücke in ausländischem Besitz tatsächlich sind, soll ein nationales Grundbuch eingeführt werden. Eine Besonderheit des Kirchner-Entwurfs ist, dass der Erwerb von knappen und nicht erneuerbaren Gütern wie Land nicht als Investition betrachtet wird. „Eine Investition ist es, wenn jemand Technologie mitbringt, nicht wenn er ein Grundstück kauft“, erläutert der an dem Entwurf beteiligte Jurist Eduardo Barcesat. Mit dieser Regelung will die Regierung Ausländer_innen die Möglichkeit verbauen, im Streitfall die in bilateralen Investitionsschutzabkommen vorgesehenen Schiedsgerichte anrufen zu können.
Doch der argentinische Gesetzentwurf bleibt ebenfalls nicht von Kritik verschont. Die Zeitung Página/12 verweist darauf, dass die 20-Prozent-Schwelle 40 Millionen Hektar entspricht. Da die Regierung das Land, das derzeit in Besitz von Ausländer_innen ist, auf sieben Millionen Hektar schätzt, bekundet sie mit dieser Schwelle letztlich die Absicht, das Drei- bis Vierfache der bisherigen Flächen an das internationale Agrobusiness zu verkaufen. So kann nicht verwundern, dass die Aktivist_innen der Grupo Reflexión Rural Kirchners Gesetz als „nutzlos“ bezeichnen, da es der Plünderung keinen Riegel vorschiebe.
Tatsächlich lassen die derzeit ergriffenen Regierungsmaßnahmen nicht erkennen, dass Kleinbauern und -bäuerinnen sowie Indigene, also jene, die am stärksten unter Verdrängung leiden, profitieren könnten. Im besten Fall sorgen die Beschränkungen für ausländische Investoren nur dafür, dass die Verflechtungen zwischen nationalem und ausländischem Kapital zunehmen und die intensivlandwirtschaftlichen Produktionsmethoden sich noch rascher ausbreiten. Während so das Paket aus Monokultur, Hochleistungssaatgut und Agrarchemie immer mehr zur Norm wird, fehlt es weiterhin an Initiativen, die den Vormarsch der Agrarfront und die Landnahme effektiv eindämmen könnten.

Agrarrevolution mit Handbremse

Am 15. August begannen etwa 1.500 Mitglieder verschiedener indigener Gruppen des bolivianischen Tieflandes ihren Marsch von Trinidad, der Hauptstadt des Departamento Beni, in Richtung des Regierungssitzes La Paz. 500 Kilometer wollen die Aktivist_innen zurücklegen, um so gegen den von der Regierung von Evo Morales beschlossenen Bau einer Überlandstraße zu demonstrieren, die quer durch das so genannte Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) führen soll. Der Präsident selbst hat die Bewohner_innen des TIPNIS hart kritisiert und schon angekündigt, die Straße werde gebaut, „ob sie das nun wollen oder nicht“. Unterstützung erhält er dabei unter anderem von den Kokabäuerinnen und -bauern, die sich in einem gesonderten Teil des TIPNIS niedergelassen haben. Diese erhoffen sich von der Nord-Süd-Trasse die Erschließung neuer Märkte und Einnahmequellen, wohingegen indigene Gemeinschaften einen massiven Zustrom von campesin@s aus La Paz und Cochabamba und den damit verbundenen Verlust ihres Territoriums befürchten.
Mit dem Konflikt um das TIPNIS ist die Diskussion um die „Agrarrevolution“, die Evo Morales 2006 ausrief, erneut voll entfacht – insbesondere, weil die „indigenen Territorien“ eigentlich deren Herzstück sein sollten. Damals hatte der bolivianische Präsident dem Großgrundbesitz den Kampf angesagt und eine Umverteilung des Landes sowie günstige Kredite für Kleinbauern und _bäuerinnen, die Schaffung alternativer Märkte und eine Technisierung der Landwirtschaft in Aussicht gestellt. Doch anstatt eine neue Agrargesetzgebung zu erarbeiten, beschloss die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS), die geltende, aus der neoliberalen Hochphase stammende Rechtslage um das „Gesetz zur gemeinschaftlichen Ausrichtung der Agrarreform“ zu erweitern. Auf diese Weise wurden dem Nationalen Institut für die Agrarreform (INRA) neue Instrumente an die Hand gegeben, um zu überprüfen, ob die Agrareinheiten die gesetzlich vorgeschriebene „ökonomisch-soziale Funktion“ erfüllen, also wirtschaftlich und sozial nutzbringend sind. Sind sie dies nicht, wie beispielsweise unproduktiver oder auf Sklavenarbeit basierender Agrarbesitz, kann das INRA den Besitz enteignen und das Land in Form von kollektiven Besitztiteln indigenen Gruppen zuschreiben. In diesen „ursprünglichen gemeinschaftlichen Ländereien“ (TCO), von denen das seit 1990 bestehende TIPNIS eine der ersten ist, genießen indigene Gemeinschaften gewisse Autonomierechte und – zumindest theoretisch – Mitbestimmungsrecht über die Nutzung von Ressourcen.
Parallel dazu hat das INRA die Überprüfung der Rechtmäßigkeit bestehenden Privatbesitzes und Schlichtungen im Fall von unklaren Besitzverhältnissen vorangetrieben. Durch diesen schon seit 1996 laufenden Prozess erhalten Landbesitzer_innen neue, gültige Besitztitel, was Rechtssicherheit und einen funktionierenden Landmarkt ermöglichen soll. Im Zuge dessen ist auch die Identifizierung der Ländereien, die sich in Staatsbesitz befinden, vorangeschritten. Diese sollen laut Gesetz ebenfalls an landlose oder landarme Bäuerinnen und Bauern sowie indigene Gruppen verteilt werden, auch hier zumeist in Form von kollektiven Landtiteln.
In den vergangenen fünf Jahren hat die Regierung Morales so etwa vier Millionen Hektar Land von mittelgroßen und großen Agrarbetrieben sowie weitere drei Millionen Hektar von individuellen Kleinbäuerinnen und -bauern mit gültigen Besitztiteln versehen. Vor allem aber hat ihr die Verteilung ehemals staatlicher Ländereien erlaubt, 16 Millionen Hektar Land in Form von TCOs indigenen Gruppen zuzuerkennen, weitere vier Millionen Hektar gingen, ebenfalls als kollektives Eigentum, an Bauerngemeinschaften.
Doch genau damit soll nun Schluss sein. Inmitten des Konflikts um das TIPNIS erklärte Roberto Coraite, Generalsekretär der bolivianischen Bauerngewerkschaft CSUTCB, die derzeitige Agrargesetzgebung sei „diskriminierend“ und „obsolet“, da „kleine Gruppen immense Territorien besitzen, während die Mehrheit der Bauern winzige Schollen bearbeitet“. Dabei bezieht Coraite sich wohlgemerkt nicht auf Großgrundbesitzer, sondern auf indigene Gruppen. Die Forderung nach einem völlig neuen Agrargesetz, die CSUTCB und andere Bäuerinnen- und Bauernorganisationen vertreten, wurde von Evo Morales begeistert aufgenommen. Anfang August bat der bolivianische Präsident die CSUTCB einen Gesetzesvorschlag vorzubereiten. Schon Mitte Oktober soll das neue Gesetz verabschiedet werden. Zwar soll dessen Hauptziel die Beseitigung des klassischen Latifundiums sein, kritische Beobachter_innen befürchten dennoch, dass einige der zentralen Errungenschaften der bisherigen Agrarpolitik der Regierung in Frage gestellt werden könnten. Denn die derzeitige Führungsriege der CSUTCB favorisiert, ebenso wie wichtige Teile der Regierung von Morales, die Aufteilung des neu zu verteilenden Landes in individuelle Parzellen. Solcher Privatbesitz kann aber, im Gegensatz zum kollektiven Eigentum, veräußert werden – und die Erfahrung in Bolivien wie anderswo belegt, dass Kleinbäuerinnen und -bauern auf einem freien Landmarkt zumeist einen schweren Stand gegenüber großen Agrarkonsortien haben.
Der Ruf nach einem neuen Gesetz zeigt, dass trotz der beeindruckenden Zahlen, die die Regierung vorzuweisen hat, nicht alle zufrieden sind mit dem bisherigen Verlauf der „Agrarrevolution“. Insbesondere die Kleinbäuerinnen und -bauern, die zahlenmäßig und organisatorisch die wichtigsten Unterstützer_innen der MAS darstellen, pochen nun auf ihre Rechte. Die Forderung nach individuellen Landtiteln ist in nicht geringem Maße der Tatsache geschuldet, dass die Regierung ihnen finanzielle Unterstützung versagt und es außerdem versäumt hat, ihnen die Aufnahme von günstigen Krediten zu ermöglichen. Ohne eigenen Besitz können die Kleinbäuerinnen und -bauern diese auch nicht bei privaten Banken beantragen.
Im Zentrum der Debatte steht jedoch die Tatsache, dass es der MAS bisher nicht gelang, eine Antwort auf die historische Spaltung Boliviens in das von großen Landwirtschaftsbetrieben geprägte Tiefland und das durch extrem kleine, kaum mechanisierte Parzellen charakterisierte Hochland zu finden. Durch die erste bolivianische Agrarreform von 1953 wurde der Großgrundbesitz in dem dicht besiedelten andinen Teil des Landes zerschlagen und an die Kleinbäuerinnen und ‑bauern verteilt. Seitdem wurde der Besitz mit jeder neuen Generation weiter aufgesplittet. Im Tiefland hingegen wurde keines der bestehenden Latifundien belangt. Zudem wurden zwischen 1953 und 1993 mehr als 30 Millionen Hektar an individuelle Besitzer_innen vergeben, häufig als Großbesitz, mit dem Boliviens Militärregierungen ihren Getreuen dankten. Der unter extremer Landarmut leidenden, zumeist indigenen Bevölkerung im Westen des Landes steht somit eine sich „weiß“ wähnende Klasse von Großgrundbesitzern gegenüber, deren Besitz von der Regierung Morales bisher kaum belangt wurde. Zwar wurde die Mehrzahl der neuen, kollektiven Landtitel im Tiefland vergeben, doch statt enteignetes Land wurde vielmehr sich schon in staatlicher Hand befindlicher Besitz verteilt. Von den vier Millionen Hektar, die in den letzten fünf Jahren effektiv enteignet wurden, befinden sich über die Hälfte in nicht für die Landwirtschaft geeigneten Gebieten der Amazonasregion. Zwar wird versucht, dort einige landarme campesin@s aus dem Hochland anzusiedeln, die Erfolge sind jedoch mäßig.
Der Unmut der Kleinbäuerinnen und -bauern über das Ausbleiben einer effektiven, gegen das Latifundium gerichteten Politik erklärt sich auch daraus, dass die Regierung von Evo Morales in den letzten Jahren kaum neue Prozesse zur Überprüfung der Besitzverhältnisse und Titulierung von Ländereien in Angriff genommen hat. Stattdessen wurden die unter den neoliberalen Regierungen verschleppten Anträge auf Landtitel nun endlich bearbeitet und schon begonnene Prozesse zu Ende geführt. Dieses pragmatische Vorgehen hat der Regierung zwar eine ansehnliche Bilanz bei der Ausstellung von neuen Landtiteln beschert, eine „Revolution“ aber bedeutet es nicht.
Denn die Konsequenz dieser Praxis ist, dass seit 1996, als das derzeit immer noch gültige Agrargesetz erlassen wurde, gerade einmal vier Prozent des Großgrundbesitzes überhaupt auf die Rechtmäßigkeit der Besitztitel und die Erfüllung der „ökonomisch-sozialen Funktion“ hin überprüft wurden. Dabei wäre ein solches Vorgehen höchst Erfolg versprechend: Von der effektiv für die bolivianische Landwirtschaft nutzbaren Fläche wurde in den letzten Jahren nur etwa ein Viertel auch tatsächlich landwirtschaftlich genutzt. Der verbleibende Rest liegt brach und dient seinen Besitzern als Pfand, um an günstige Kredite zu gelangen, die sie zumeist in Immobilien- oder Börsengeschäfte investieren. Und dieses Land könnte, selbst ohne neue Gesetze, enteignet und umverteilt werden.
Dazu allerdings hat der bolivianischen Regierung bisher die Entschlossenheit gefehlt. Dieser aber bedarf es, denn die Angst vor dem Verlust ihres Landbesitzes trieb die „Barone des Ostens“ genannte Elite des Tieflandes dazu, der MAS-Regierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen zu treten. Die zum so genannten Halbmond zusammengeschlossenen Departamentos des Tieflandes, in denen die „Barone“ weiterhin die Kontrolle über die staatlichen Institutionen inne hielten, erklärten schon 2006 den Boykott der staatlichen Agrarpolitik. Die ersten drei Amtsjahre Evo Morales‘ waren gekennzeichnet von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der maßgeblich von Großgrundbesitzern und Unternehmer_innen organisierten und finanzierten „Bewegung für departamentale Autonomie“ einerseits sowie campesin@s, Indigenen und zentralstaatlichen Behörden andererseits. Parallel dazu versuchte die Tiefland-Elite, sowohl im Parlament als auch in der Verfassunggebenden Versammlung (VV) jede progressive Agrarpolitik zu torpedieren. Trotzdem gelang es ihr nicht, zu verhindern, dass die VV einen Artikel in ihren Verfassungsentwurf aufnahm, der eine Maximalgrenze von 5.000 Hektar für Landbesitz festlegte.
Seinen Höhepunkt fand der Konflikt im September 2008: Während der Kongress über das Gesetz zur Einberufung des Verfassungsreferendums diskutierte, waren die Departamentos des „Halbmondes“ Schauplatz eines gewalttätigen Aufstands der Autonomiebewegung, der fast zwanzig Tote forderte. Santa Cruz, die Hochburg der Autonomiebewegung, wurde tagelang von zehntausenden Indigenen und campesin@s eingekesselt. Die Wellen legten sich erst wieder, nachdem Regierungsvertreter_innen, Oppositionspolitiker_innen und die Gouverneure des Tieflandes sich über die VV stellten, den Verfassungsentwurf gemeinsam neu verhandelten – und dabei unter anderem festlegten, dass die Maximalgrenze keine Auswirkung auf bereits bestehenden Besitz habe. Kritiker_innen bemerkten bereits damals, dass dieser Beschluss einer de facto-Legalisierung von dem zumeist illegal erworbenem Großgrundbesitz gleichkomme (siehe LN 414).
Zwar stellte die bolivianische Regierung mit diesem Schritt ein Mindestmaß an Regierbarkeit wieder her, doch der Preis dafür war hoch. Die Regierung hat längst nicht mehr den gesellschaftlichen Rückhalt, über den sie in den kritischen Momenten des Konflikts mit der Autonomiebewegung verfügte, und den es für eine Offensive gegen das Latifundium wohl auch bedarf. Dabei stehen auch in Bolivien die Zeichen auf eine Verschärfung der Situation: Seit 1990 ist die für den Sojaanbau verwendete Fläche stetig gewachsen, mittlerweile wird er auf einer Million Hektar bolivianischen Bodens angebaut. Und obwohl weder Anbaufläche noch Produktivität der Agrarbetriebe auf der Höhe der Nachbarstaaten Brasilien und Argentinien sind, bildet Soja heute nach Erdgas und Mineralien das wichtigste bolivianische Exportgut.
Mit der Expansion des Sojaanbaus wächst sowohl der Druck auf die Kleinbäuerinnen und -bauern des Tieflandes, als auch die ökonomische und politische Macht der „Barone des Ostens“ und der transnationalen Unternehmen, die knapp die Hälfte der bolivianischen Sojaproduktion kontrollieren. Das Versprechen von Präsident Morales, den Großgrundbesitz aufzulösen, wird nunmehr nur sehr schwer zu halten sein – was auch bedeutet, dass eine Lösung für das Problem der Landarmut unzähliger Kleinbäuerinnen und -bauern immer weiter in Ferne rücken würde.
Das sich nun in Arbeit befindliche neue Agrargesetz wird zeigen, in welche Richtung das Land in der Agrarfrage steuert. Boliviens Bauerngewerkschaft, die mit dem ersten Gesetzesentwurf betraute CSUTCB, drängt auf entschiedenere Schritte zur Auflösung des Großgrundbesitzes sowie eine individuelle Dotierung des Landes. Die Regierung der MAS hingegen scheint in den letzten zwei Jahren einen modus vivendi mit ihren ehemaligen Widersachern aus dem Tiefland gefunden zu haben. Parallel dazu hat sie sich immer weiter von den indigenen Bewegungen entfremdet. Der Konflikt um das TIPNIS markiert den bisherigen Tiefpunkt dieser Beziehung, gleichzeitig ist der Marsch auf La Paz ein Zeichen der Unabhängigkeit und Stärke der indigenen Organisationen. Noch ist also nicht ausgemacht, wer in dem Kampf um das Land die Oberhand behalten wird.

„Niemand will wissen, wie viele Opfer es gibt“

Seit wann ist Frauenhandel ein Thema in Argentinien, das öffentlich diskutiert wird, und seit wann beschäftigt sich die Regierung damit?
Das Thema des Menschenhandels wurde in Argentinien mit dem Fall von María de los Ángeles Veron – „Marita Veron“ – publik. Die 23-jährige Frau aus Tucumán verließ im April 2002 ihr Haus und wurde daraufhin nie wieder gesehen. Seit dem Zeitpunkt des Verschwindens begann ihre Mutter nachzuforschen, was mit Marita geschehen war und entdeckte ein Frauenhandelsnetz in Tucumán. Die Händler entführten Frauen und brachten sie dann in andere Provinzen Argentiniens, um sie dort zur Prostitution zu zwingen. So wurde das Thema in Argentinien öffentlich gemacht. Diese Geschichte gelang an internationale Medien und im Jahre 2007 wurde der Mutter Maritas der Preis der „Frau des Jahres“ von den Vereinigten Staaten überreicht.
Im Jahr 2002 wurde in Argentinien das Protokoll von Palermo unterzeichnet, welches für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, inklusive des Menschenhandels, steht. Im Jahr 2008 wurde das Gesetz zu Menschenhandel in Argentinien verabschiedet. Abgesehen von Präventions- und Bestrafungsmaßnahmen beinhaltet das Menschenrechtsgesetz Unterstützungsmaßnahmen für die Opfer. Trotzdem ist dieses Gesetz ziemlich polemisch und wird von sozialen Organisationen in Frage gestellt, die schon viel früher als der Staat mit dieser Thematik gearbeitet haben. Zur Zeit wird das Gesetz im Parlament überprüft, um es zu verbessern.

Können Sie uns Ihre Arbeit genauer erklären? Nach der Verabschiedung des nationalen Menschenhandelsgesetzes hat die Stadt Buenos Aires auch ihr eigenes Gesetz verabschiedet, das den Schwerpunkt auf die Unterstützung der Opfer des Menschenhandels setzt. Somit verpflichtet sich die Stadt Buenos Aires zur Unterstützung und Beherbergung von Frauen, die aus den Menschenhandelsnetzen befreit wurden. Diese Einrichtung wurde im September 2010 eröffnet. Ich arbeite dort als administrative Koordinatorin. Im Refugium sind wir 21 Personen. Dieser Zufluchtsort kann 18 Frauen oder Kinder aufnehmen. Er ist rund um die Uhr geöffnet. Es arbeiten hier zwei Psychologinnen, eine Sozialarbeiterin, eine Hauptkoordinatorin und ich – wir bilden das technische Team. Der Rest des Personals unterteilt sich in zwei Rollen: Einerseits Betreuerinnen, die mit den Frauen den Alltag verbringen, mit ihnen den Tagesablauf festlegen und ihnen wieder Gewohnheiten wie Zähneputzen, sich zum Essen zu setzen, regelmäßig zu baden und so weiter näher bringen, die oft nach so vielen Jahren der Ausbeutung verloren gingen – und jene Mitarbeiterinnen, die Workshops und Aktivitäten mit den Frauen realisieren.

Wie viele Frauen kommen im Durchschnitt pro Woche oder Monat in das Refugium?
Um die Privatsphäre der Opfer zu schützen, können wir keine spezifischen Angaben über die Anzahl der Fälle geben. Wir haben Kapazität für 18 Personen. Es sind auch schon Jungen gekommen, obwohl der Ort ausschließlich für weibliche Opfer sexueller Ausbeutung gedacht ist.

Müssen die Opfer, die sich illegal im Land aufhalten, nach der Befreiung das Land verlassen?
Argentinien hat im Vergleich zu Europa ein flexibleres Einwanderungsgesetz, welches es Migrant_innen, vor allem Staatsbürger_innen des Mercosur und lateinamerikanischer Staaten, leichter macht, eine Aufenthaltsgenehmigung in Argentinien zu bekommen. Zusätzlich existiert ein spezifisches Menschenhandelsgesetz, das besagt, dass der argentinische Staat Verantwortung übernehmen muss für die, die nicht in ihr Land zurückkehren wollen. Unsere Betreuung ist für Argentinierinnen sowie für Ausländerinnen die gleiche. Wir helfen den Opfern, eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen, wenn sie das wollen. Sobald sie den DNI (Personalausweis; Anm.d.Red.) bekommen haben, haben sie Zugang zu allen Unterstützungen, genauso wie jeder andere Staatsbürger.

Was sagen die offiziellen Statistiken?
Offizielle Statistiken gibt es nicht, vor allem aus politischen Gründen. Niemand will wissen, wie viele Menschenhandelsopfer es in Argentinien gibt, da es sich um eine Verletzung der Menschenrechte handelt und der Staat nicht dagegen interveniert. Allerdings gibt es allgemeine Daten auf Basis der Anzahl der verschwundenen oder wieder aufgetauchten Frauen. In der Regel handelt es sich um Frauen im Alter zwischen dreizehn und maximal 25 Jahren. Die Definition des Menschenhandels beinhaltet auch eine Ortsversetzung von Personen. Die Opfer werden beispielsweise von Tucumán nach Buenos Aires und nach einer gewissen Zeit, in der bereits sexuelle Ausbeutung stattfindet, in den Süden Argentiniens gebracht. So ist es besonders schwierig, die Opfer zu finden. Argentinien ist ein Transit- und Empfängerland für Opfer. Deswegen werden die Mädchen, die in Buenos Aires entführt werden, oft ins Ausland oder in andere Provinzen gebracht. Sie bleiben nie am gleichen Ort. In Buenos Aires gibt es eine hohe Anzahl an Arbeitsausbeutung von Frauen aus Bolivien und an sexueller Ausbeutung von Frauen aus der Dominikanischen Republik.

Viele Opfer kommen aus dem Norden des Landes. Warum?
Der Nordosten Argentiniens, wie beispielsweise Misiones, ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Es gibt viel Armut. Viele Menschen sprechen kein Spanisch, sie sprechen Guaraní oder Deutsch. Es gibt viele deutsche Siedlungen und die Regierung ist für diese Menschen nicht präsent. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Frauen von dort angeworben werden. Zum Beispiel macht die Nähe zu den Grenzen der Nachbarländer Brasilien und Paraguay es besonders leicht, die Mädchen aus dem Land zu bringen. Obwohl es seit einigen Jahren viel mehr Kontrollen gibt und sogar ein eigenes Ministerium gegründet wurde, bleibt Misiones immer noch die Provinz mit der höchsten Opferzahl.

Wie können die Opfer den Ausstieg schaffen und welche Unterstützung erhalten sie dabei?
Normalerweise flüchten sie. Letzte Woche gab es einen Fall von einem Mädchen aus Paraguay. Sie reiste von Paraguay nach La Plata, da eine Cousine sie anrief und ihr erzählte, dass Reinigungspersonal in La Plata gesucht werde. Die Cousine sagte ihr, dass sie sie von der Bushaltestelle abholen würde, aber als das Mädchen ankam, wartete nicht ihre Cousine auf sie, sondern ein Mann, der ihr sagte, dass er sie zum Haus der Familie bringen würde. Tatsächlich brachte er sie jedoch in ein Bordell, genauso wie es im Film Nina gezeigt wird. Das Mädchen war sieben Tage lang allein in einem Zimmer ohne Licht eingesperrt. Das einzige, was sie bekam, war Essen. Pro Tag kamen zwischen sieben und zehn Männer, die sie vergewaltigten. Sie erzählte jedem dieser „Kunden“, die 100 Peso (circa 17 Euro) bezahlten, dass sie gegen ihren Willen hier war, dass man sie entführt hat. Nur ein Mann vergewaltigte sie nicht, sondern erstattete Anzeige – ein einziger von circa siebzig. Sie wurde befreit und nach Paraguay zurückgebracht, da sie darauf bestand. Normalerweise wird in diesen Fällen empfohlen, den Frauen zuerst eine psychologische Behandlung zukommen zu lassen, da sie natürlich traumatisiert sind. Die meisten Frauen befreien sich, indem sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit der Aufseher_innen aus dem Bordell flüchten.

Gibt es auch Fälle, in denen Familienangehörige Teil des Geschäfts sind?
Ja, oft sind es Familienangehörige, die ihre Kinder verkaufen. Meist sind es nicht die Eltern, oft aber Tanten oder Onkel. Oft sind die Familien Mittäter, und daher ist es auch schwierig bis unmöglich, die Opfer nach der Befreiung in ihr Herkunftsland zurückzubringen.

Wie bekannt ist die Einrichtung, in der Sie arbeiten?
Unser Haus ist einer der ersten Zufluchtsorte und ist nicht sehr bekannt, da der Ort der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und zum Schutz der Opfer geheim gehalten werden muss.

Warum eröffnete die Stadtregierung den Zufluchtsort?
Der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, war wegen des Gesetzes dazu gezwungen. Sobald der Nationalstaat in Argentinien ein landesweites Gesetz verabschiedet, werden die Provinzen verpflichtet, Gesetze in Abstimmung mit diesem zu erlassen. Die Stadt Buenos Aires musste daher ihr eigenes Menschenhandelsgesetz im gleichen Jahr verabschieden, in dem das Nationalgesetz beschlossen wurde. Bei diesem geht es hauptsächlich um Betreuung und Hilfe, da man weiß, dass Buenos Aires eine Empfängerstadt für Opfer ist. Auf Bundesebene soll die Nationalregierung einen Zufluchtsort für Opfer des Menschenhandels in der Stadt geschaffen haben, aber man weiß es nicht sicher, da keine Informationen preis gegeben werden. Bekannt ist, dass man befreite Opfer in Hotels brachte, um ihnen dort zwei oder drei Tage Beratung zu leisten. Was danach weiter mit ihnen passierte, weiß man nicht.

Was wäre Ihrer Meinung nach wichtig?
Für mich ist grundlegend, dass eine wirkliche politische Entscheidung zur Bekämpfung des Menschenhandels gefällt wird. Dies impliziert die Bereitstellung ökonomischer Ressourcen, gut ausgebildeten Personals und Büros in allen Provinzen, welche in dieser Thematik arbeiten, sowie die Säuberung der Polizei und vor allem, dass man die Zivilgesellschaft lehrt, dass Prostitution unvermeidlich zu Menschenhandel führt. Wenn es keine Nachfrage gibt, gibt es kein Angebot, so einfach ist es. Wenn es keine Männer gibt, die Frauen in Situationen der Ausbeutung konsumieren, ist kein Geschäft möglich. Für mich ist ein Umdenken in den Köpfen der Menschen fundamental.

Zur Person:

Victoria Vaccaro
ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2005 bei der Menschenrechtsorgainsation Instituto Social y Político de la Mujer (ISPM). Seit 2010 koordiniert sie die Verwaltungsaufgaben im Zufluchtsort, das von der Stadtregierung Buenos Aires für Opfer des Menschenhandels und der Zwangsprostitution eingerichtet wurde.

// DOSSIER: LANDHUNGER

Ein Bauer der Siedlung 13 de Mayo in Paraguay, der gegen die Vertreibung von seinem Land kämpft // Foto: Sub [Cooperativa de fotógrafos]

(Download des gesamten Dossiers)

Ackerland gilt neuerdings als höchst lukrativ. Spätestens seit der jüngsten Finanzkrise 2008/2009 widmen Unternehmen, Politik, Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen dem ländlichen Raum unter dem Schlagwort „Land Grabbing“ verstärktes Interesse. Akteure gibt es dabei viele. Private Fonds investieren in Land, um Profite zu erzielen, Schwellenländer bauen jenseits ihrer Territorialgrenzen Lebensmittel für die eigene Bevölkerung an und Unternehmen kaufen oder pachten in vielen Ländern des globalen Südens Ackerland zu Spottpreisen. Die Rechnung ist simpel: Eine anwachsende Weltbevölkerung, steigender Bedarf an Lebensmitteln, zunehmender Fleischkonsum in Schwellenländern und die Begrenztheit landwirtschaftlicher Anbauflächen garantieren auf lange Sicht gute Geschäfte im Agrarbereich.

Hinter dem Trend steht die grundsätzliche Frage, welches Agrarmodell den Menschen nützt, sprich, was zu welchen Bedingungen und für welche Zwecke auf dem zur Verfügung stehenden Ackerland angebaut werden soll. Denn dieses wird nicht nur zur Produktion von Lebensmitteln genutzt, sondern bringt auch Futtermittel für die Massentierhaltung oder Agrosprit hervor. Verliererin ist vor allem die kleinbäuerliche Landwirtschaft, der es oftmals an politischer Unterstützung und technischen Verbesserungen mangelt. Entgegen den Argumenten der Agrarindustrie stellt die kleinbäuerliche Landwirtschaft weltweit einen Großteil der Lebensmittel her und ist nicht selten produktiver als industrielle Landwirtschaft. Durch entsprechende Rahmenbedingungen wären Kleinbäuerinnen und -bauern in der Lage, die Welt nachhaltig zu ernähren. In der heutigen Realität leben von den weltweit etwa eine Milliarde hungernden Menschen die meisten jedoch auf dem Land. Durch die einseitige Handelsliberalisierung und unfaire Freihandelspraktiken müssen viele Staaten, die sich früher weitgehend selbst ernähren konnten, heute einen Großteil der benötigten Lebensmittel importieren. Wenngleich sich der Wandel im Agrarsektor in den letzten Jahren intensiviert hat, ist die Landfrage für Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonisierung stellen Großgrundbesitz und Landkonzentration ein Problem für die Gesellschaften des Subkontinents dar, leiden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern unter Repressalien, werden traditionelle, indigene Bedeutungen und Nutzungen von Land ignoriert. Die zahlreichen Versuche, in lateinamerikanischen Ländern Landreformen durchzuführen sind im Laufe der Jahrhunderte überwiegend gescheitert.

Die Triebkräfte für Landkonflikte sind heute etwa die exportorientierte industrielle Landwirtschaft und der Anbau in Monokulturen. Beide haben häufig eine internationale Dimension. Die Folgen sind verheerend: Das vorherrschende Agrarmodell basiert auf Vertreibungen und Umweltzerstörung, verhindert Ernährungssouveränität und untergräbt Ernährungssicherheit.

Doch es gibt auch vielfältigen Widerstand gegen dieses industrielle Auslaugen von Land. Landlose besetzen Flächen, Aktivist_innen wehren sich gegen Gensoja, und mancherorts werden Alternativen zur industriellen Landwirtschaft erprobt. Viele Landkonflikte werden dabei gewaltsam ausgetragen. Internationalen Organisationen wie der Weltbank oder der Welternährungsorganisa­tion FAO geht es vor allem um die Frage der Ernährungssicherheit, die in erster Linie durch eine Steigerung der Produktion zu erreichen sei. Das internationale kleinbäuerliche Netzwerk La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) und andere so­ziale Bewegungen propagieren hingegen das Konzept der Ernährungssouveränität. Dieses schließt eine lokale Komponente und die demokratische Entscheidung über den Anbau von Lebensmitteln mit ein. Dank des Drucks von unten stehen Landreformen in einigen Ländern zumindest diskursiv immer noch oder wieder auf der Tagesordnung.

Mit dem Dossier Landhunger und satte Gewinne wollen die Lateinamerika Nachrichten und das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) Einblicke in Ausmaß, Entwicklung und Triebkräfte des Land Grabbing in Lateinamerika vermitteln sowie Alternativen zum derzeit vorherrschenden Agrarmodell vorstellen. Dazu wird zunächst in die Thematik eingeführt. Ein historischer Überblick über die Landfrage in Lateinamerika von der Kolonialzeit bis heute zeigt die zahlreichen (gescheiterten) Versuche von Landreformen auf. Dass es in Lateinamerika durchaus Alternativen zur industriellen Landwirtschaft in Monokultur gibt, zeigt ein Text über die milpa, die traditionelle zentralamerikanische Anbauweise, bei der Mais mit Bohnen, Kürbis, Chili und andere Spezies typischerweise eine Symbiose bildet.

Der neoliberale Wandel der Landwirtschaft wird anhand des Beispiels Mexiko erläutert, wo im Vorfeld des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada 1992 die Unverkäuflichkeit des traditionellen Gemeindelandes (ejido) aufgehoben wurde. Als Triebkräfte des Land Grabbing werden in weiteren Artikeln Sojaanbau in Paraguay und Palmölanbau in Kolumbien behandelt. Der kolumbianische Aktivist Mauricio Meza erläutert im Interview die Folgen der kolumbianischen Agrarpolitik für die kleinbäuerliche Landbevölkerung.
Bei der Jagd nach Land mischen dabei keineswegs nur europäische oder US-amerikanische Akteure mit, wie ein Artikel über brasilianische Agrarunternehmen zeigt, die weit über die Landesgrenzen hinaus aktiv sind. Außerdem werden die Rolle von Investment-Fonds sowie die Reaktionen der nationalen Regierungen auf den massiven Ausverkauf von Land an ausländische Investoren beleuchtet. Zuletzt wird beispielhaft die aktuelle Landreform in Bolivien einer kritischen Bilanz unterzogen. Abgerundet wird das Dossier durch ein Glossar, in dem einige der häufiger vorkommenden Fachbegriffe kurz erklärt werden, sowie Tipps zum Weiterlesen.

Bei der Breite des Themas müssen in diesem Rahmen notgedrungen interessante Aspekte auf der Strecke bleiben. Zum Beispiel stehen auch die Ausbeutung nicht agrarischer Rohstoffe sowie die mit der Ressourcenausbeutung einhergehenden Infrastrukturmaßnahmen in Flächenkonkurrenz zu kleinbäuerlicher Landwirtschaft.

Die Möglichkeiten von Widerstand und der Entwicklung von Alternativen werden nur angerissen. Das Dossier bietet Einblicke in einen Themenbereich, der für die Zukunft des Kontinents und darüber hinaus immense Bedeutung hat. Die dabei vorhandenen Lücken sollen auch als Aufforderung dienen, das Thema zu vertiefen.

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

„Für das Leben“

„Noch vor 30 Jahren war hier alles mit Wald bedeckt“, erinnert sich Gerónimo Arévalo und schwenkt den Arm in einer weiten Geste über die Sojafelder die sich bis zum Horizont erstrecken. „Heute leben wir in einem Meer aus Soja“, sagt der Öko-Landwirt, dessen Gemeinde im östlichen Alto Paraná von Sojafeldern umringt ist. Bereits in den 1970er Jahren wurden hier Sojamonokulturen im großen Stil angelegt. Von Brasilien kommend hielt die „grüne Revolution“ Einzug, eine industrialisierte Landwirtschaft die auf riesigen Flächen bis heute gigantische Erträge erzielt. Paraguay gehört zum über 40 Millionen Hektar großen „Sojagürtel Südamerikas“. Dazu zählen neben Paraguay der Süden Brasiliens, Nord-Argentinien, das östliche Bolivien sowie Teile Uruguays.
In Gerónimos Gemeinde bewirtschaften 44 Familien 500 Hektar Land als Selbstversorger_innen. In kleinen Mischkulturen bauen sie die Hauptnahrungsmittel Maniok und Mais, Bohnen, Erdnüsse, Gemüse und etwas Sesam zum Verkaufen an. Tiere laufen frei umher, ein Bach plätschert munter vor sich hin. Doch die Idylle trügt: „Kinder werden blind, Schwangere verlieren ihre Babys, unsere Tiere sterben“ erklärt Gerónimo die Folgen der Ackergifte, die auf den Sojafeldern rundherum regelmäßig versprüht werden. Mit den gentechnisch veränderten Sojasorten, die seit Ende der 1990er Jahre angebaut werden, ist die Belastung enorm gestiegen. Mittlerweile wird zu über 90 Prozent der angebauten Soja gentechnisch verändert. Die Pflanzen wurden gegen bestimmte Breitbandherbizide resistent gemacht, die alles außer den genetisch veränderten Sojapflanzen abtöten. Hersteller, wie Monsanto mit seinem „Roundup Ready“, versprechen mehr Ertrag bei weniger Pestizideinsatz.
Doch „mit der transgenen Soja verringert sich der Einsatz der Ackergifte nicht, im Gegenteil“, betont der Agraringenieur Pedro Peralta von der Nichtregierungsorganisation CECTEC, die nachhaltige Landwirtschaft von Kleinbäuerinnen und -bauern fördert. Seit 15 Jahren beobachtet er die Nebenwirkungen der Sojaexpansion: „Heutzutage werden die Chemikalien viel aggressiver versprüht, weil es in den gigantischen Monokulturen bei Krankheiten oder Plagen keine natürliche Regulation mehr gibt. Also werden mehr Fungizide, Herbizide und Pestizide eingesetzt,“ erklärt er weiter: „Bis zu fünf Mal zwischen der Aussaat im September und der Ernte im Januar.“ Nicht nur ausgelaugte Böden, Erosion und vergiftete Gewässer sind die Folge, insbesondere die familiäre Subsistenzwirtschaft der Kleinbäuerinnen und -bauern ist betroffen „weil die Pflanzen auf ihren Äckern verdorren und sie selbst krank werden“, so Peralta.
Für die Landbevölkerung bedeuten die Ackergifte einen schleichenden Tod,“ bestätigt auch Dr. Silvia Gonzales vom Forschungsinstitut CEIDRA die Langzeitfolgen der Mittel, die vom Wind kilometerweit getragen werden. Besonders fatal sei die Applikation aus der Luft, die nicht einmal angekündigt werden muss, so dass die Landbevölkerung nicht rechtzeitig Schutz vor den giftigen Dämpfen suchen könne. Viele Chemikalien, die in Paraguay zum Einsatz kämen, seien in Europa längst als krebserregend verboten. Immer wieder gebe es Todesfälle, Langzeitfolgen wie Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen nähmen zu. „Der Versuch, gesetzliche Richtlinien zum Schutz der Landbevölkerung zu verbessern, wird immer wieder von der Agrar-Lobby im Parlament boykotiert“, erlebt die energische Soziologin und Anwältin.
Selbst bei Todesfällen wie dem des elfjährigen Silvino Talavera, der 2003 zweimal in Folge mit Pestizid besprüht wurde, verneinen Sojaunterneh­mer_innen ihre Verantwortung: „Dann werden immer Beweise dafür gefordert, wodurch der Tod verursacht wurde und schließlich verkünden sie dann, dass die Betroffenen an Unterernährung, Durchfall oder Fieber starben – was genau die Symptome sind, die von Ackergiften verursacht werden. Aber es ist sehr schwer, Ursache und Wirkung wissenschaftlich nachzuweisen.“ Solche Untersuchungen seien langwierig und unerwünscht. Engagierte Mediziner_innen würden oft bedroht.
Doch die Aktivistin gibt die Hoffnung nicht auf. Genauso wenig wie die Mitglieder von CONAMURI, der Dachorganisation der ländlichen und indigenen Frauenverbände, durch deren breite Lobbyarbeit der Fall Silvino schließlich vor Gericht verhandelt und 2004 gewonnen wurde.
Mit der Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo im Jahr 2008, die die 61-jährige Alleinherrschaft der rechtskonservativen Colorado-Partei beendete, erhofften sich Kleinbäuerinnen und -bauern grundlegende Reformen. Doch ihre Situation hat sich nicht verbessert, und sie kämpfen innerhalb zahlreicher Verbände und Organisationen weiterhin für eine Agrarreform sowie eine selbstbestimmte Landwirtschafts- und Ernährungspolitik in Paraguay. Denn vom Sojaboom profitieren vor allem die vielen brasilianischen, einheimischen, aber auch deutschen Großgrundbesitzer_innen durch unbegrenzten Landerwerb, Steuerfreiheit auf das Exportgut und steigende Weltmarktpreise. Zweieinhalb Tonnen Sojabohnen und mehr werden heute bei guter Ernte pro Hektar erzielt. Das bringt um die 900 US-Dollar Verkaufspreis pro Hektar. Auf 2,7 Millionen Hektar wird in Paraguay zurzeit Soja angebaut und die Anbaufläche wächst unkontrolliert weiter. Die größten Gewinnerinnen sind aber internationale Agrar- und Chemiefirmen wie ADM, Monsanto und BASF. Der Bedarf der Industrieländer an Soja als Viehfutter und in zunehmendem Maße auch als Energiepflanze für Agrotreibstoffe ist enorm. Paraguay stieg in den letzten Jahren zum viertgrößten Sojaexporteur auf. Von den insgesamt 35 Millionen Tonnen Soja, die vor allem aus Südamerika jährlich in die EU importiert werden, sind deutsche Bäuerinnen und Bauern und Massentierbetriebe mit 8 Millionen Tonnen die größten Abnehmer. Während gentechnisch veränderte Lebensmittel hier verboten sind, gilt das nicht für die Futtermittel; Gen-Soja landet somit täglich in Form von Fleisch, Milch und Eiern auf den meisten Tellern.
Ein lohnendes Geschäft, das auch in den kommenden Jahren gigantische Gewinne verspricht. Und so verleiben sich die Sojabarone und internationalen Agrarfirmen immer mehr fruchtbares Land ein, um Soja in Monokulturen anzubauen. Sie verdrängen die kleinbäuerliche Landwirtschaft und damit das traditionelle Modell, von dem immerhin die Hälfte der Bevölkerung lebt.
Die Sojaexpansion verschärft den Landkonflikt, der ohnehin das brennendste soziale Problem ist. Paraguay gehört mit etwa 80 Prozent der Ackerfläche im Besitz von zwei Prozent der Bevölkerung zu einem der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit.
Ginge es nach Héctor Cristaldo, Präsident des wichtigsten Verbandes der Sojalobby, ließe sich die Fläche problemlos um 1,3 Millionen Hektar steigern. Die Zukunft liegt für ihn im globalen Markt: „Das hohe Agrar-Potential in einem Land wie unserem nicht zu nutzen, um eine hungernde Welt zu versorgen, sondern zu sagen wir pflanzen nur, was wir selbst essen, das macht doch keinen Sinn!“ Er wird nicht müde zu betonen, dass der kleinbäuerliche Sektor hoffnungslos rückständig sei. Im übrigen seien in der modernen Landwirtschaft die Pestizide bei sachgemäßer Anwendung sicher.
Das Gegenteil spüren immer mehr Kleinbäuerinnen und -bauern auch im Norden Paraguays wie in der Provinz San Pedro, wo sich die Sojakulturen, vor allem in brasilianischer Hand, seit zehn Jahren immer rasanter ausbreiten. Kopfschmerzen, Hautausschläge, Bauchschmerzen und Durchfall, Übelkeit mit Erbrechen, Missbildungen bei Neugeborenen sind nur einige der Nebenwirkungen, die die Bäuerin Lucía Pavón aufzählt. Schützende Grünstreifen, die für die Großproduzent_innen eigentlich gesetzlich vorgeschrieben sind, gibt es nicht: „Sie wollen ihre Anbaufläche nicht verkleinern sondern jeden Zentimeter mit Soja bepflanzen.“
Weil die Situation unerträglich ist, stellen sie sich immer häufiger dem Besprühen der Felder als lebende Mauern in den Weg. Doch die brasilianischen Sojabäuerinnen und -bauern werden von Polizei und Militär unterstützt und heuern bewaffnete Sicherheitskräfte an, die ganze Gemeinden einschüchtern und Aktivist_innen bedrohen. „Für sie sind wir Kakerlaken“ sagt Lucía. „Aber wenn wir aufgeben und unser Land verlassen, was bleibt uns dann noch?“ fragt sie.
Immer mehr Menschen wandern in die Städte ab, denn sie ertragen das Gift nicht mehr oder werden solange unter Druck gesetzt bis sie ihre wenigen Hektar Land verkaufen. Viele Kleinbauern und -bäuerinnen verlieren ihr Land auch durch Verschuldung, weil sie in der Hoffnung, gut zu verdienen, selbst Soja anbauen. Doch teure Pestizide und Technik lohnen sich nur auf großen Flächen.
Allein 90.000 Familien gaben während des letzten Jahrzehnts ihr Land auf. Sie harren in illegalisierten Camps aus oder landen in den Armutsvierteln der Hauptstadt Asunción. Dort schlagen sie sich als Straßenverkäufer_innen und Müll-Recycler_innen durch, prostituieren sich oder betteln.
„Gürtel der Misere“ nennen die Soja-Gegner_innen diese Orte. Insbesondere die indigene Bevölkerung ist von Vertreibung und Hunger betroffen, denn sie sind die marginalisierteste Bevölkerungsgruppe und haben keine Lobby.
In ganz Paraguay wächst mittlerweile der Widerstand. Viele Bauern sind bereits organisiert. Sie mobilisieren zu Demonstrationen und Straßenblockaden und unterstützen die vielen Landbesetzungen. Ein Kampf um Land und gegen das Agrobusiness, der trotz starker Repression von Seiten des Staates und der Mächtigen im Lande auf vielfältige Weise geführt wird. „Wir haben keine andere Wahl“, betont Gerónimo Arévalo, „wir kämpfen für unser Recht auf Land und für das Leben.“
Für ihn ist die industrialisierte Landwirtschaft kein tragfähiges Modell: „Wir wissen sehr gut, dass hinter der industriellen Sojaproduktion ein großes Geschäft steckt, aber für die kleinen Produzent_innen ist sie weder rentabel noch nachhaltig, denn sie zerstört die Umwelt und damit unsere Lebensgrundlage. Unsere Zukunft kann nur in einer Landwirtschaft liegen, die das Leben verteidigt.“

Hoffnungssignal aus Peru

Südamerikas progressive Regierungen haben ihre romantische Aufbruchsphase längst hinter sich. Allesamt kämpfen sie mit den Mühen der Ebene. Soziale Bewegungen kooptieren sie zumeist, wirtschaftspolitisch setzen sie auf den Neoextraktivismus, die Ausbeutung von Rohstoffen unter größerer staatlicher Kontrolle als bisher.
Visionären Entwürfen wie der Yasuní-ITT-Initiative in Ecuador wird das Wasser von ganz oben abgegraben; nirgendwo sonst gibt es eine dermaßen starke linke Opposition gegen einen linken Präsidenten. Bolivien, das in der internationalen Klimadebatte von sich reden macht, hat umweltpolitisch wenig vorzuweisen. Und in Brasilien versucht Präsidentin Dilma Rousseff mehr schlecht als recht, dem Durchmarsch der Agrarlobby, die bisher nicht nur eine Landreform verhindert hat, sondern nun auch noch zum ganz legalen Raubbau auf die Primärwälder bläst, etwas entgegenzusetzen.
In diesem Panorama kommt der Wahlsieg Ollanta Humalas in Peru gerade recht. Es ist eingetreten, womit vor Monaten kaum jemand gerechnet hatte: Die durch und durch neoliberale, stark auf die USA ausgerichtete Pazifikachse, die zwei Jahrzehnte lang von Chile über Peru nach Kolumbien bis nach Mexiko reichte, hat einen kleinen Riss bekommen. Unter dem schon jetzt zum Pragmatiker gewandelten Humala wird sich Peru stärker am Projekt einer Integration Südamerikas unter sozialen Vorzeichen beteiligen, das unter der Führung Brasiliens langsam Formen annimmt.

Von der Autokratentochter Keiko Fujimori hatten sich in- und ausländische Kapitalinteressen eine noch autoritärere Version eines Systems versprochen, durch die die Ressourcen des Andenlandes immer ungehemmter verscherbelt wurden. Inzwischen sind nahezu sämtliche Öl- und Bergbaureserven zur Ausbeutung freigegeben, doch bei der Bevölkerung kam von den astronomischen Wachstumsraten kaum etwas an. Kein Wunder daher, dass die Humala-Hochburgen in jenen ländlichen Gebieten liegen, wo man zudem hautnah mit den Folgen der Umweltzerstörung konfrontiert wird.
Wegen ihres neoliberalen Kurses ist die ehedem linke APRA-Partei von Noch-Präsident Alan García so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Die drei chancenreichen Kandidaten, die allesamt eine Fortsetzung seines Kurses versprochen hatten, wurden trotz einer massiven medialen Anti-Humala-Kampagne geschlagen. Erneut zeigte sich, wie tief der Wunsch nach einer sozialen Wende selbst in Ländern sitzt, in denen die klassische Restlinke allein keine Chance auf einen Wahlsieg hätte. Dabei kam Humala die Zerrissenheit der Neoliberalen entgegen. Hätten sich die VerteidigerInnen des Status Quo auf eine gemeinsame Kandidatur geeinigt, er hätte in der Stichwahl wohl kaum eine Chance gehabt.

So kam es zu der pikanten Situation, dass Humala ausgerechnet aus dem liberalen Lager um Mario Vargas Llosa und Alejandro Toledo entscheidende Stimmen zum Sieg in der Stichwahl bekommen hat. Schon längst ist Humala klar, dass er sich ähnlich wie sein erklärtes Vorbild Lula Verbündete im bürgerlichen Lager suchen muss, will er überhaupt anfangen zu regieren. Für tiefgreifende Änderungen fehlt Humala schlicht die politische Basis, da er im Parlament keine Mehrheit hinter sich hat.
Und anders als etliche seiner künftigen KollegInnen, hatte er auch nie eine starke soziale Bewegung im Rücken. Er wird zu erheblichen Kompromissen mit den wirklich Mächtigen gezwungen sein. Schon deshalb kann man bestenfalls allmähliche Kurskorrekturen erwarten: mehr Achtung der Menschenrechte, eine Zähmung des exportgetriebenen Kapitalismus durch einen aktiveren Staat, eine etwas gerechtere Verteilung der Rohstofferlöse zugunsten der Armen. Es wäre eine weitere Spielart des sozialdemokratischen Wegs, den Südamerikas Linke im letzten Jahrzehnt eingeschlagen hat. Für weitergehende Veränderungen ist mehr Druck von unten nötig.

Zweifel schlagen Beweise

Noch vor Mitternacht des 5. Juni trat Ollanta Humala von der Wahlallianz Gana Perú auf dem Platz des 2. Mai in Lima vor seine AnhängerInnen und erklärte sich zum Sieger der Stichwahl um die Präsidentschaft: „Ihr habt mich gewählt und nur vor Euch werde ich Rechenschaft ablegen.“ rief er aus. Die Stimmen waren am Wahlabend und dem Folgetag rasch ausgezählt, die Tendenzen zugunsten Humalas schnell eindeutig. Anders als bei den Wahlen in Lima im vergangenen Oktober gab es zwischen den Parteien keine quälenden Scharmützel über große Mengen angefochtener Stimmzettel. Die WahlbeobachterInnen der EU-Delegation beschrieben den Prozess in der Mehrheit der von ihnen beobachteten Wahllokale mit ‚gut‘ und ‚befriedigend‘.
Am Ende waren es rund 450.000 Stimmen, die Humala vor der unterlegenen Keiko Fujimori (Fuerza 2011) lag. Diese schien ihren Rückstand aus der ersten Wahlrunde vom 10. April nach zahlreichen Wahlumfragen verschiedener – mehr oder weniger seriöser – Meinungsforschungsinstitute bereits in einen nicht mehr einholbaren Vorsprung umgewandelt zu haben. Letztlich gewann Fujimori zwar deutlich in Lima, bei den AuslandsperuanerInnen und in den Regionen der nördlichen Küstenzone. Die restlichen Regionen jedoch votierten mehrheitlich für Humala. Dessen Hochburgen liegen im Süden des Landes. In Cuzco und Puno entfielen nahezu 80 Prozent der Stimmen auf ihn. Die Wahlbeteiligung der rund 20 Millionen Stimmberechtigten lag bei rund 82 Prozent.
„Über Humala können wir Zeifel haben, über Keiko haben wir Beweise“. Dieser Satz wurde zum Leitspruch im Kampf um Stimmen für die Stichwahl als Ausdruck der Tatsache, man suche in Peru mal wieder das kleinere Übel. Auf der einen Seite Humala: ehemaliger Militär, dem Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden (die peruanische Justiz schloß das Verfahren im Dezember 2009, da sie für die Vorwürfe keine Beweise fand), gescheiterter Putschist gegen Alberto Fujimori im Oktober 2000, Militärattaché während der Präsidentschaft von Alejandro Toledo in Seoul. 2006 dann unterlag er in der Stichwahl gegen Alan García: Sein Diskurs galt als zu radikal und die Nähe zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez als zu groß. Jetzt trat er mit einem gemäßigten Diskurs auf, gab als Orientierung die Politik an Brasiliens Ex-Präsident Lula vor. Viele aber fragten sich: Was bleibt davon übrig, wenn er erst einmal im Amt ist? Auf der anderen Seite die Kandidatin Keiko Fujimori. Die noch recht luxoriöse Gefängniszelle ihres Vaters, Ex-Präsident Alberto Fujimori, mutierte zum Wahlkampfbüro. Vor allem in – medial abgelegenen – ländlichen Regionen warb sie auf Plakaten mit dessen Konterfei, umgeben ist sie von Leuten, die schon für ihren Vater während dessen Präsidentschaft arbeiteten und die den Unterschied zu Humala in den Worten fassten: „Wir haben weniger Menschen umgebracht.“ Keiko Fujimori stand für die Kontinuität des bestehenden Wirtschaftsmodells, Humala bietet zumindest die Aussicht auf Wandel.
Ein wichtiger Faktor: Humalas öffentlich vorgetragenes Versprechen für die Verteidigung der Demokratie und gegen die Diktatur. Diesen Schwur, die rechte Hand auf der Bibel, gab Ollanta Humala Mitte Mai in Lima in Anwesenheit zahlreicher peruanischer KünstlerInnen und Persönlichkeiten ab. Keine Minute länger im Präsidentenamt als die von der Verfassung vorgesehenen fünf Jahre. Keine direkte Wiederwahl als Präsident. Respekt, Schutz und Förderung für die Pressefreiheit. Dies sind wesentliche Punkte des Versprechens, das Humala Wahlstimmen der politischen Mitte sichern sollte, die als mitentscheidend für einen Wahlsieg galten. Es war ein Schritt, der von vielen bekannten und meinungsbestimmenden Leuten des öffentlichen Lebens wie dem Journalisten Gustavo Gorriti – und nicht zuletzt von Mario Vargas Llosa gefordert wurde. Llosa, der Literaturnobelpreisträger von 2010, hatte die Entscheidung zwischen Keiko Fujimori und Ollanta Humala im April noch als Wahl zwischen „Aids im Endstadium und Krebs“ beschrieben. Er und sein Sohn Álvaro, letzterer ein in den USA lebender medial gewandter liberaler Publizist, wurden zu wichtigen öffentlichen Fürsprechern von Ollanta Humala.
Klar muss jedoch bleiben: Hätte es anstelle von Keiko Fujimori einer der drei Kandidaten aus dem bürgerlichen Mitte-Rechts Spektrum in die zweite Wahlrunde geschafft – Pedro Pablo Kuczynski, Alejandro Toledo oder Luis Castañeda – Vargas Llosa und viele andere hätten mit Sicherheit nicht für Humala votiert. Es war primär die Abneigung gegen den fujimorismo, die Angst vor dessen Wiederkehr mitsamt seinen Begleiterscheinungen wie massiver Korruption und Unterwanderung der vorhandenen demokratischen Institutionen, die viele für Humala stimmen ließ. Die Wahl Humalas zum Präsidenten ist auch ein Sieg über den noch amtierenden Präsidenten Alan García, der sich im Wahlkampf klar zugunsten Keiko Fujimoris positionierte und noch vor einem Jahr wörtlich sagte, „dass er als Präsident zwar keinen Präsidenten nach seinem Wollen machen kann, jedoch sehr wohl einen Präsidenten verhindern kann, den er nicht möchte.“
Der Wahlsieg von Ollanta Humala könnte das harte neoliberal-investitionsfreundliche Weiter-so der vergangenen Jahre brechen. Dieses sorgte zwar für makroökonomisch gute Zahlen und hohe Wachstumsraten, doch das vielbeschworene Durchsickern der Gewinne nach unten setzte kaum ein. Im ländlichen Raum erreicht die Armutsrate teils Werte über 60 Prozent, im landesweiten Durchschnitt sind es weiterhin rund 34 Prozent. Keine wesentlichen Veränderungen in der produktiven Wirtschaftsstruktur sind zu verzeichnen, auch die Exportgüter sind noch klassisch strukturiert: Der größte Teil der Deviseneinnahmen kommt aus unverarbeiteten Rohstoffexporten. Humala will die Wirtschaft Perus stabilisieren, die bisher Ausgegrenzten und in Armut Lebenden jedoch integrieren und in höherem Maße davon profitieren lassen, unter anderem durch die Erhöhung des Mindestlohnes.
Nicht nur García hätte lieber Keiko Fujimori als Präsidentin gesehen, sondern auch die Wirtschaftselite des Landes, nachdem die drei bürgerlichen Kandidaten bereits in der ersten Wahlrunde ausgeschieden waren. Auf das Wahlergebnis reagierte Perus mächtiger Unternehmerverband CONFIEP jedoch pragmatisch und klang nach Humalas Wahlsieg überraschenderweise eher wie der Wahlgewinner. „Er ist schon unser Präsident. Es ist eine pragmatische Frage, wir müssen ihn unterstützen, die Wahlkampagne ist nun vorbei.“ so Humberto Speziani, Präsident des CONFIEP in den peruanischen Medien. Vielleicht ist die Reaktion gar nicht so verwunderlich: Bereits vor den Wahlen gab es Sondierungsgespräche mit Humala – auch wenn für den CONFIEP weiterhin Zweifel blieben – und möglicherweise wird Humalas Wirtschaftskurs ein sehr pragmatischer sein, der sich an Brasilien orientiert. Dies hieße für Peru: Weitestgehend freie Fahrt für die Wirtschaft, die Investoren nicht verschrecken, mit etwas mehr staatlicher Regulierung und vor allem umverteilenden Maßnahmen.
Fordernder trat die Nationale Gesellschaft für Bergbau, Erdöl und Energie (SNMEP) auf. In einer Pressemitteilung vom 7. Juni wies sie vorsorglich auf die für den Zeitraum 2011 bis 2020 zurzeit geplanten 55 Milliarden US-Dollar an Investitionen im Energie- und Bergbausektor hin. Verbunden wurde dies mit der Forderung nach „stabilen juristischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen im Land für die Unternehmen“. Pedro Martínez, Präsident der SNMPE merkte an: „Die privaten Investitionen sind unverzichtbare Alliierte, um weiterhin Arbeitsplätze zu schaffen, welche die einzige nachhaltige Möglichkeit bieten der Armut beizukommen.“
Angesichts der jüngsten Konflikte wie in der an Bolivien grenzenden Region Puno wird sich zeigen, wie weit der von Wirtschaftsseite geäußerte Pragmatismus trägt. Dort hatten protestierende Aymara mit Straßenblockaden in einem rund 45 Tage dauernden Streik gefordert, bereits ausgestellte Bergbaukonzessionen zurückzunehmen und keine weiteren zu vergeben. Immer wieder entzünden sich eskalierende Konflikte an den negativen Auswirkungen von Projekten des formalen Großbergbaus und des informellen Kleinbergbaus. Der letzte Bericht der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte listete insgesamt 227 soziale Konflikte im Land auf, von denen 51 Prozent Umweltkonflikte und dem Bergbausektor zuzuordnen sind.
Humalas Position zur Rohstoffförderung ist recht klar: Sie soll weiter vorangetrieben werden. Im Februar dieses Jahres äußerte er sich in peruanischen Medien mit den Worten, dass Peru „nur rund 14 Prozent seines bergbaulichen Potenzials ausbeute und daher für die verbleibenden 86 Prozent noch neue Verträge mit Unternehmen geschlossen werden können“. Angesichts der Konflikte droht ein ziemlicher Spagat. Eine Steuer auf erhöhte Rohstoffgewinne der Bergbauunternehmen soll auf jeden Fall kommen. Damit und mit weiteren Steuerreformen sollen soziale Programme und die geplante Pension ab 65 Jahren bezahlt werden.
Seit dem Tag nach dem Wahlsieg sind Humala und sein Team unter Druck rasche personelle Entscheidungen zu treffen. Dieser Druck beschleunige jedoch nicht seine Entscheidungen, so Humala in seinen Interviews. Bisher ist offiziell kein Ministerposten vergeben. Gegenüber Perú Posible, der Partei von Alejandro Toledo, die Humala im Wahlkampf schließlich unterstützte, hat Gana Perú mehrere Ministerposten angeboten. Von den Medien und aus der Wirtschaft geforderte Entscheidungen über die Besetzung von Wirtschaftsministerium, Präsident der Zentralbank oder Ministerpräsident sind noch nicht gefallen.
Dennoch laufen die Aktivitäten zur Regierungsvorbereitung auf Hochtouren. Bereits am Tag nach dem Wahlsieg wurde zu diesem Zweck ein 19köpfiges Team aufgestellt. Unter der Führung der gewählten esten Vize-Präsidentin Marizol Espinoza – der einzigen Frau in der Runde – wird alles daran gesetzt, ein Programm für die ersten 100 Tage Regierungszeit zu erarbeiten, um zeitnah Fakten zu gemachten Wahlversprechen im sozialen Bereich schaffen zu können.
Für Fernando Tuesta, Direktor des Meinungsforschungsinstitutes der PUCP, ist der Wahlerfolg von Gana Perú trotz der Vorschläge für eine neue Sozialpolitik nicht der einer gefestigten organisierten Linken in einer Partei, sondern eher ein persönlicher Triumph Humalas. „Mit dem Erfolg von Humala hat sich Peru nach links bewegt, […] aber dieses links ist weit davon entfernt den anderen linken Regierungen in Lateinamerika ähnlich zu sein“, so Tuesta in seinem Blog. Hinzu kommt: Ollanta Humala ist ein Präsident mit einer Minderheit im peruanischen Kongress. Zwar sind die Devisenkassen gut genug gefüllt, um eine neue Verteilungspolitik zu entwickeln. Um politisch erfolgreich zu sein und Wahlversprechen umzusetzen, wird Gana Perú jedoch das schwierige Spiel der politischen Koalitionen suchen müssen. Die zweitstärkste Kraft im Kongress sind im übrigen die Fujimoristas von Fuerza2011.

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