Das produzierte Territorium

Er sieht es als göttlichen Auftrag. Dr. Albrecht Glatzle aus Filadelfia, der größten Stadt des Chaco, verteidigt den Ausbau der Viehwirtschaft im nördlichen Chacogebiet Paraguays. Er begründet dies mit der Bibel, aus der er einen „göttlichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren“ herausliest. Mit diesem Argument versucht der in Deutschland promovierte Agrarbiologe die fortschreitende Abholzung des Trockenwaldes in der Chacoregion zu rechtfertigen. Der Spezialist für tropische Viehwirtschaft erklärte in verschiedenen Leserbriefen und anderen journalistischen Beiträgen, dass die Viehwirtschaft im Chaco mitnichten die Biodiversität verringern oder der Wüstenbildung Vorschub leisten würde. Stattdessen sieht er in der Viehwirtschaft eine nachhaltige Wirtschaftsform, die Devisen und Fortschritt ins Land bringen würde. In anderen Äußerungen leugnet er auch den menschengemachten Klimawandel.
Auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, kann man nicht behaupten, dass Dr. Albrecht Glatzle nicht wüsste, wovon er spricht. Seit 1990 ist er Viehzüchter im Chaco, als Direktor eines privaten Instituts für Raumplanung und Viehzucht hat er maßgeblich zur heutigen Raumordnung des Chaco beigetragen. Für ihn ist die Integration des Chaco in die Weltwirtschaft eine Erfolgsgeschichte, die weitergeführt werden sollte: Der leere und nutzlose Raum Chaco wurde und wird durch die Viehwirtschaft in Wert gesetzt und somit auch für die Nation Paraguay erobert.
Leer war dieser Raum aber noch nie. Im Chaco leben seit tausenden Jahren Indigene verschiedener Ethnien. Während der Kolonialzeit galt die regenarme und heiße Tiefebene den aus Europa kommenden Kolonialherren als nutzlos und lebensfeindlich. Sie ignorierten das Gebiet, das etwas größer als Polen ist. Deshalb blieben bis weit ins 20. Jahrhundert viele Indigene des Chaco isoliert von der restlichen Welt; einige sogar bis heute.
Einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode vermeiden auch heute noch jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie leben als Jäger_innen und Sammler_innen und ernähren sich von Landschildkröten, Chaco-Pekaris, Wurzeln und wildem Honig. Sie verkaufen ihre Produkte nicht, sie sind nicht in den Weltmarkt eingebunden. Sie identifizieren sich weder als Paraguayer_innen, noch als Bolivianer_innen und leben außerhalb nationaler Räume.
Aus diesem Grund besitzen die Ayoreo Totobiegosode keine legalen Besitztitel des paraguayischen Staates über ihr Land. Aber Viehzuchtunternehmen wie die spanisch-argentinische Carlos Casado S.A. oder die brasilianische Yaguareté Porã S.A. besitzen sie. Carlos Casado S.A. ist seit 1886, als der paraguayische Staat die vermeintlich „leeren“ Ländereien des Chaco zu verkaufen begann, auf dem Papier der größte Landeigentümer der Region.
Insbesondere diese beiden Firmen – aber auch zahlreiche andere – dringen immer weiter in den nördlichen Chaco ein, um den artenreichen Trockenwald zu roden und vor allem Viehweiden anzulegen, aber auch um Sesam oder andere trockenheitsresistente Feldfrüchte anzubauen. Neue Technologien – schwere Bulldozer und Wasserspeicheranlagen – geben die Möglichkeiten dazu. In Loma Plata, mit etwas weniger als 6.000 Einwohner_innen eine der größten Städte des Chaco, ist eine der modernsten Viehschlachtanlagen der Welt entstanden. Sie funktioniert ausschließlich mit Regenwasser, das immer wieder aufbereitet und gereinigt wird. Der Chaco ist für die globale Agrarindustrie geöffnet und Investor_innen aus aller Welt, vor allem aus Brasilien, drängen in das vermeintliche Niemandsland.
Den Ayoreo bleibt nichts übrig, als ihre überlieferte Lebensweise aufzugeben. In den 1970er Jahren haben evangelikale Missionare aus den USA etliche Ayoreo-Gruppen – oft mit Gewalt – sesshaft gemacht. Diese Ayoreo, die sich frei zwischen den nationalen Räumen Boliviens und Paraguays bewegten, sind unter Zwang in die jeweiligen Nationen und die kapitalistische Wirtschaft integriert worden. Nur einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bleiben außerhalb der Nationen.
Doch die Integration der Ayoreo blieb unvollständig. Bis heute haben die meisten von ihnen enorme Anpassungsschwierigkeiten. Lohnarbeit ist ein Konzept, dass den ehemaligen Jäger_innen und Sammler_innen fremd ist und bleibt. In den Städten im paraguayischen Chaco und im Südosten Boliviens leben die Ayoreo in Slums unter menschenunwürdigen Bedingungen. Für die meisten Familien sind Sexarbeit und Betteln die einzigen Einnahmequellen. Bei vielen sesshaft gemachten Ayoreo grassiert eine rätselhafte Lungenkrankheit, der Tuberkolose ähnlich, die weder verstanden noch behandelt wird. Die kapitalistische Inwertsetzung des Chaco war für sie keine Erfolgsgeschichte wie für Herrn Dr. Glatzle.
Die Pionierarbeit für die wirtschaftliche Erschließung des Chaco leisteten deutschsprachige Mennonit_innen, die ab 1921 aus Kanada und der Sowjetunion den Chaco besiedelten. Hintergrund für ihre Ansiedlung war der Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay um das umstrittenen Gebiet. Die beiden Länder lieferten sich einen Wettlauf um die „Kolonisierung des Chaco“, wie dies damals genannt wurde. Das „herrenlose“ Land zwischen den beiden Staaten sollte in Nationalterritorium umgewandelt werden. Paraguay lud die Mitglieder verschiedener mennonitischer Kirchen in den Chaco ein, damit sie diesen Raum für Paraguay integrierten.
Die mennonitischen Immigrant_innen sollten im Raum die Nation repräsentieren, auch wenn die meisten bis heute in den Schulen auf Deutsch lernen und zu Hause ihren Plautdietsch genannten Dialekt pflegen. Sie gründeten die wichtigsten Städte Filadelfia und Loma, in denen auch heute viele Hinweisschilder auf Deutsch geschrieben sind. In der rassistisch geprägten Welt galten die weißen Siedler_innen dennoch als angemessenere Repräsentant_innen der paraguayischen Nation als die Indigenen, die als „barbarisch“ und „zurückgeblieben“ diffamiert wurden. Nur eine Nutzung des Raums, die in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert war, galt als legitim. Der Raum, den die Indigenen nutzen und beleben, war nicht in die Nation integriert und sollte umstrukturiert, als Nationalterritorium produziert werden.
Dieses Muster ist im Streit um die Raumnutzung des Chaco und anderer „staatsferner Räume“ in Lateinamerika bis heute erkennbar. Als 2003 das Biosphärenreservat des Chaco gegründet wurde, protestierten Farmer_innen in Filadelfia dagegen. Sie hielten Schilder hoch, auf denen stand: „Ihr wollt den Tod der Produzenten!“. Auch der Agronom Dr. Glatzle sieht das so. Er will nicht auf die „Nutzung einer Fläche von der Größe Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens“ verzichten, wegen einer „Handvoll Waldbewohner“. Die Produktion der Ayoreo Totobiegosode, auch wenn sie den Wald und seine Biodiversität schont, wird nicht anerkannt und als unangemessen dargestellt. Sie beleben ihren Raum, und doch stellen die Agrarunternehmer_innen diesen Raum weiterhin als „leer“ dar.
Staatliche Institutionen teilen meistens diese Sicht. In Brasilien stellen nationalistische Gruppen und Militärs Indigene und Umweltorganisationen in der Amazonasregion als „Feinde der Nation“ dar, da sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen. Nur kapitalistisch genutzter Raum gilt als Nationalterritorium, anderen Formen der Raumnutzung wird die Berechtigung abgesprochen.
So auch im Chaco. Das paraguayische Umweltministerium SEDAM hat im März dieses Jahres den Unternehmen Yaguarté Porã S.A. und Carlos Casado S.A. das Recht bestätigt, mit der Rodung im Chaco fortzufahren. Ministerin Cristina Morales beruft sich dabei auf die von Gerichten bestätigten Landtitel der Unternehmen. Dieses Recht ist aber strukturell rassistisch, da es die jahrhundertealte Landnutzung der Ayoreo Totobiegosode nicht berücksichtigt.
Doch selbst die legalen Landrechte der Indigenen werden nicht respektiert. Im Februar dieses Jahres drangen Bulldozer auf das Land der Ayoreo Cuyabia, dass ihnen die Indigenenbehörde INDI zugestanden hatte. Ein Vertreter des Agrarunternehmens zeigte dabei Dokumente vor, denen zufolge dieses Gebiet von der INDI auf eine Julia Beatriz Vargas Meza übertragen wurde. Laut Artikel 64 der paraguayischen Verfassung ist es illegal, indigenes Land ohne die Zustimmung der Bewohner_innen zu veräußern. Doch Agrarunternehmen haben in Paraguay die besseren Beziehungen zu Politik und Gerichten als die Ayoreo. Dagegen leisten die Indigenen des Chaco – nicht nur die Ayoreo – zunehmend Widerstand.
Im vergangenen Jahr haben Ayoreo die Transchaco-Straße, den wichtigsten Verkehrsweg der Region, blockiert, um gegen ihre weitergehende Enteignung durch Agrarunternehmen zu protestieren. Sie fordern Landtitel und den Stopp weiterer Rodungen des Chacowaldes. Sie forderten auch, dass das Land der letzten im Wald lebenden Totobiegosode respektiert wird. Sie forderten letztlich, dass die Landnutzung der Ayoreo, die den Naturraum Chaco nur wenig beeinflusst, als legitime Landnutzung anerkannt wird. Die Zeit eilt. Eine Studie der Universität Maryland vom Januar kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Ausweitung der Rinderzucht der Chaco die höchste Abholzungsrate der Welt vorweist.

Info: Survival International führt eine Kampagne zur Unterstützung der Indigenen in ihrem Kampf um ihr Land im Chaco: http://www.survivalinternational.de/indigene/ayoreo

“Frequenzen konnten vererbt werden“

Eigentlich sollte das neue Mediengesetz mehr Raum für kontroverse Debatten und kulturelle Vielfalt schaffen. Zugleich gibt es aber immer wieder auch Nachrichten darüber, dass einzelne Menschen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei ihrer Arbeit massiv behindert werden. Wie passt das zusammen?
Was in Ecuador gerade passiert, ist schon ziemlich beunruhigend. Es gibt verschiedene Beispiele, die zeigen, wie brüchig die Meinungsfreiheit ist. Ende vergangenen Jahres wurde beispielsweise die Stiftung Pacha Mama geschlossen, wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten. Bei einer Demonstration gab es einen Zwischenfall, ein ausländischer Diplomat wurde mit einem Speer verletzt. Doch anstatt wie sonst üblich einen strafrechtlichen Prozess gegen den Täter einzuleiten, nahm die Regierung den Vorfall zum Anlass, Pacha Mama zu schließen. Ihre Begründung: Als NGO hätten sie nicht das Recht, sich in die Politik einzumischen oder Wahlkampf zu machen. Und der Beleg dafür war eben die Anwesenheit von Mitarbeitern der Stiftung auf dieser Demonstration.

Gibt es auch Angriffe auf einzelne Medienschaffende, die kritisch oder zu kontroversen Themen in Ecuador arbeiten?
Ja, auch solche Übergriffe beobachten wir immer wieder. Vor einiger Zeit schrieb eine junge Journalistin aus den USA über ein Massaker an zwei Gruppen der Taromenane-Indigenen. Kurze Zeit später erklärte Präsident Rafael Correa in einer Fernsehansprache, dass diese Ausländerin kein Recht habe, sich darüber eine Meinung zu bilden und dass ihre Schilderungen nicht stimmen würden. Correa erniedrigte sie nicht nur öffentlich, einige Menschen nahmen diese Anschuldigungen auch sehr ernst. Ein Shitstorm entlud sich in den sozialen Netzwerken, eine mediale Lynchjustiz setzte ein. Ich finde es furchtbar, die Bevölkerung so gegen eine Person aufzuhetzen. Jede und jeder hat doch das Recht seine oder ihre Meinung zu sagen und an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Sind auch Personen des öffentlichen Lebens in Ecuador von solchen Hasskampagnen betroffen?
Der Fall von Jaime Guevara, der für seine Protestlieder bekannt ist, hat für Aufsehen gesorgt. Guevara machte auf einer Demo eine obszöne Handbewegung als der Wagen des Präsidenten vorbeifuhr. Daraufhin stieg Correa aus und ordnete an, den Sänger wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festzunehmen. Im Polizeibericht wurden dann diese Anschuldigungen einfach übernommen, Trunkenheit und Drogenkonsum. Einige Tage später machten Freunde des Verhafteten jedoch darauf aufmerksam, dass Guevara aus gesundheitlichen Gründen starke Medikamente nimmt und seit jeher völlig abstinent lebt. Correa entgegnete darauf, es sei ja wohl nicht seine Schuld, dass er betrunken gewirkt habe.
All diese Zwischenfälle zeigen, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem die Regierung jegliche Kritik, jede Geste sofort als einen Angriff, als einen oppositionellen Akt wahrnimmt. Es sollte doch möglich sein, ein gemeinsames Terrain zu finden und so auch wieder die positiven Seiten der aktuellen staatlichen Politik ansprechen zu können, denn die gibt es ja auch. Doch dafür ist es notwendig, dass sich die Regierung den gesellschaftlichen Debatten stellt.

Zumindest der Forderung nach einem neuen Mediengesetz scheint die Regierung ja nachgekommen zu sein. Wie verliefen die Verhandlungen?
Es war schon ein ziemlich langwieriger Prozess. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen haben wir jahrelang darauf hingearbeitet, die Kommunikationsmittel zu demokratisieren und anders als bisher zu regulieren. Gemeinsam waren wir direkt daran beteiligt, die Novellierung der Gesetze inhaltlich zu begleiten.

Und was waren Ihre konkreten Forderungen und Prinzipien, mit denen Sie die Medienlandschaft demokratisieren wollten?
Im Radiobereich griffen wir auf das inzwischen bekannte Prinzip einer paritätischen Dreiteilung aller verfügbaren Frequenzen zurück, das beispielsweise auch in Bolivien Anwendung findet: ein Drittel der Kanäle für öffentlich-staatliche Sender, ein Drittel für kommerzielle Anbieter und ein Drittel für kommunitäre Medien (wie Gemeinderadios; Anm. d. Red). Anfangs hat den staatlichen Vertretern diese Idee überhaupt nicht gefallen. Bei unserem ersten Treffen haben sie uns ausgelacht und gesagt, man könne das elektromagnetische Spektrum doch nicht wie eine Torte aufteilen. Aber dieselben, die anfangs nur lachten, machten sich später unser Argument zu eigen.

Das Problem ist doch auch, dass gerade in größeren Städten oft keine Frequenzen mehr frei sind für unabhängige, nicht-kommerzielle Projekte. Wie läuft das in Ecuador?
Die Regierung setzte eigens eine Kommission ein, die die Praktiken der Frequenzvergabe prüfen sollte. Das war ein ganz wichtiger Schritt und die dokumentierten Ergebnisse sehr plastisch. In Ecuador wurden Frequenzen schlicht und einfach verkauft, es war möglich, Frequenzen zu vererben und es gab auch spezifische Verfahren, Frequenzen an Freunde zu überschreiben. Correa sagte darauf, das sei eine Zeitbombe die sofort entschärft werden müsse. Leider verlief der danach angestrebte Reformprozess im Nichts.

Sind seit der Gesetzesreform auch neue kommunitäre Medien entstanden?
Vor dem neuen Gesetz gab es offiziell keine kommunitären Medien, nur einen TV-Sender, der von der Indigenenbewegung in Cotopaxi organisiert wurde. Nun finden kommunitäre Medien gesetzlich explizit Erwähnung und die Regierung übergab insgesamt 14 Sender an indigene Gemeinden, in Anerkennung einer historischen Schuld. Inzwischen sind weitere solche Sender entstanden. Aber es handelt sich eben nicht um einen Prozess, bei dem soziale Organisationen oder Gemeinden selbst eine Genehmigung anstrengen. Die Regierung bereitet alles vor und die späteren Träger unterschreiben nur. Auf diese Weise sind es insgesamt 54 Sender und es werden noch viele folgen. Aber sie sind Ausdruck des Regierungswillens und nicht das Ergebnis sozialer Forderungen.

Und was geschieht mit anderen Anträgen, um beispielsweise ein kommunitäres Radio legal anzuerkennen?
Mit unserer Organisation Radialistas informieren wir die Bevölkerung über ihr Recht, selbstbestimmt ein Radio organisieren zu können. Doch leider sind all diese Anträge bisher in einem Sammelordner abgeheftet worden, um zu einem späteren Zeitpunkt allen Projekten gleichzeitig ihre Lizenzen auszustellen. So heißt es von Regierungsseite. Schauen wir mal, wann das wirklich passiert, ich fürchte, dass es vielleicht gar nicht dazu kommt. Aber wir müssen trotzdem weiter Druck machen.

Worin genau sehen Sie das Problem bei den Sendern, die aktiv vom Staat geschaffen wurden?
Diese Sender wurden von Beginn an stark gefördert. Der Staat stellte jeweils das komplette Equipment zur Verfügung und zwei Techniker, denen jeweils ein monatliches Gehalt von 700 US-Dollar gezahlt wird. Die Sender funktionieren also de facto unter staatlicher Vormundschaft. Der Staat liefert alles und niemand macht sich Gedanken darüber, wie so ein Radio auch selbstverwaltet arbeiten könnte. Ich halte das für gefährlich. Klar, momentan schafft das auch viele positive Effekte für die einzelnen Gemeinden, aber was, wenn der Staat den Geldhahn irgendwann aus irgendeinem Grund zudreht?

Was für Möglichkeiten räumt das Gesetz denn den kommunitären Medien ein, um sich nachhaltig und unabhängig finanzieren zu können?
Solche Medien dürfen entgeltlich Dienstleistungen anbieten und auch Werbung senden, um mit den Einkünften ihren nicht-kommerziellen Betrieb zu gewährleisten. Aber genau das macht eben keiner der neu entstandenen Sender, da sie es wegen der staatlichen Förderung nicht nötig haben. Eine seltsame Situation. Das Gesetz hat den kommunitären Medien nur wenige Grenzen gesteckt, aber niemand erkundet diese Möglichkeiten.

In Lateinamerika wird inzwischen auch vermehrt über Radiofrequenzen als ein Gemeingut nachgedacht. Neben Radio und TV sollen sie auch eine weiterführende kommunitäre Nutzung des elektromagnetischen Spektrums im Auge haben, zum Beispiel den Aufbau nicht-kommerzieller Mobiltelefon- und drahtloser Datennetzwerke. Welche Ideen werden diesbezüglich in Ecuador diskutiert?
Unser Bündnis sozialer Organisationen tritt bei der Digitalisierung terrestrischer TV-Frequenzen zum Beispiel für die Einführung des japanisch-brasilianischen Standards ein. Der würde es erlauben, statt einem analogen Kanal, vier digitale Kanäle auf derselben Frequenz zu senden. Die Zahl der Sender könnte sich potenziell extrem vervielfältigen. Und natürlich treten wir auch im digitalen Spektrum für die bereits angesprochene paritätische Dreiteilung ein. Auch wenn wir vielleicht noch nicht die Kapazitäten für eine konkrete Nutzung haben, ist es wichtig, jetzt wachsam zu sein, um von Beginn an die Weichen für eine gerechte Verteilung zu stellen. Dieser Kampf ist von fundamentaler Bedeutung, um die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums zu demokratisieren.

Infokasten

Clara Robayo ist Mitarbeiterin der Organisation Radialistas Apasionadas y Apasionados („Leidenschaftliche Rundfunker_innen“), die sich für eine Demokratisierung der Medien, besonders des Radios, einsetzt. Mit Sitz in Quito bieten sie ihr Knowhow allen Interessierten in Lateinamerika und der Karibik an. Auf ihrer Homepage sind über 4.000 unabhängig produzierte Audiobeiträge abrufbar.
Mehr Infos: www.radialistas.net/

Ein Buch voller Lebensrealitäten

Eine Jugendliche in einer Anstalt, deren Leben durch unvorhergesehene Ereignisse scheinbar aus den Bahnen geraten ist. Ihre Situation können wir durch die Autorin, die sie in der Pflegeeinrichtung besucht, miterleben. Wir sitzen der Jugendlichen gegenüber. Wir hören zu, was sie von ihrem Leben erzählt. Das ist die erste kleine Geschichte des Buches Verdammter Süden.
Der Sammelband ist ein Werk verschiedenster zeitgenössischer Autor_innen Lateinamerikas, die in journalistischer Manier Geschichten ihres Kontinents dokumentieren und dadurch eine lustige, komische, traurige, brutale und faszinierende Lektüre schaffen, die beim Lesen unterschiedlichste Emotionen auslösen. 17 kleine literarische Reportagen führen von Argentinien, Brasilien und Paraguay über Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama nach Mexiko und in die USA. Das Buch erzählt von selbstproduzierten Dorf-Telenovelas, von einem Liebesknast, einem Ort, in dem fast nur Zwillinge geboren werden, von Wrestlerinnen aus dem Hochland oder einer Insel in der Karibik, die eigentlich nur aus Müll besteht und durch den Müll der Bewohner_innen stetig wächst. Es wird von Kuriositäten berichtet wie vom letzten Totenwachenkomiker in Soledad, Kolumbien, der Menschen auf Beerdigungen zum Lachen bringt, oder über die vereinsamten Nilpferde Pablo Escobars, die nun statt im Nil im Río Magdalena leben. Es finden sich auch bedrückende Berichte von der Grenze Mexikos und dem Überlebenskampf migrierender Menschen in der Wüste zu den USA.
Es sind keine erfundenen Geschichten, die man zu lesen bekommt, sondern Reportagen, crónicas, die im Stil Kurzgeschichten ähneln. Der Titel „Verdammter Süden“ lässt jedoch nichts über die crónicas erahnen und noch weniger darüber, was die Lektüre tatsächlich zu bieten hat. Das „Verdammte“ am Süden oder am Sammelband erschließt sich nämlich nicht. Die Autor_innen brechen vielmehr mit Klischees und stereotypen Bildern. Durch die Beschreibung der einzelnen Personen und Hauptfiguren ihrer Reportagen führen sie uns an die Wirklichkeit heran und bringen uns individuelle Lebenslagen nahe. Dadurch werden gleichzeitig Einblicke in die jeweilige Gesellschaft und Umgebung freigelegt, in soziale Kontakte und Gebräuche, familiäre Konstellationen, politische Strukturen und Arbeitsfelder.
Die Herausgeberin Carmen Pinilla und der Herausgeber Franz Wegner fassen es passend zusammen: Man braucht Geschichten nicht zu erfinden – es reicht, sie zu entdecken. Sie geben Alltägliches wieder und verdeutlichen Lebensrealitäten, wo das Bizarre im Normalen liegt. Das Buch lädt ein, zum Lachen und Weinen, zum Eintauchen in die Welten vor Ort, es liest sich wie eine kleine Lateinamerika-Reise. Verdammt gutes Lesevergnügen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hg.) // Verdammter Süden. Das andere Amerika // Suhrkamp Verlag // Berlin 2014 // 315 Seiten // 20 Euro // www.suhrkamp.de

Der Macht verfallen

Ungewöhnlich ist es nicht, dass Alvaro García Linera vor die Presse tritt, um die Positionen und Absichten der Regierung bekanntzugeben, zu erklären oder gar von Missverständnissen zu befreien. Doch als er am Dienstagmorgen, dem 26. März, vor die Presse trat, wirkte der bolivianische Vizepräsident ganz anders als sonst. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sah erschöpft aus. Es war das zweite Mal in nur wenigen Wochen, dass er sich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen musste. Das Unternehmen Air Catering, das für das Essen an Bord der staatlichen Fluglinie Boliviana de Aviación BOA zuständig ist, soll zum Teil Silvana del Castillo Tejada, Ehefrau von Mauricio García Linera und Schwägerin des Vizepräsidenten, gehören. So hatte es die Oppositionspartei Unidad Nacional UN am Tag zuvor bekanntgegeben.
In jüngster Vergangenheit sind immer mehr Korruptions- und Erpressungsfälle, die angeblich durch Staatsfunktionäre ausgeführt wurden, öffentlich bekannt geworden. Immer öfter tritt dabei auch der Name García Linera in Erscheinung. Vieles deutet darauf hin, dass die Regierung Evo Morales in Korruption versinkt und dass Alvaro García Linera nicht derjenige ist, für den ihn alle hielten.
Die Unterstützer_innen von Evo Morales‘ Regierung sind überzeugt, dass es sich in erster Linie um eine Kampagne der Opposition handelt. Sie versuche, die Regierung vor den Wahlen so weit wie möglich zu schwächen. Im Gegensatz zu anderen Affären liegt im Falle Air Catering keine eigentliche Straftat vor. Dennoch deutet alles auf eine mögliche widerrechtliche Vorteilsgewährung hin, auf ein Zeichen der üblichen Vetternwirtschaft Boliviens, welcher die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus MAS doch eigentlich ein Ende setzen wollte.
Das Unternehmen sei laut Unidad Nacional UN vor weniger als einem Jahr mit einem Ausgangskapital, nicht höher als 140.000 Bolivianos (etwa 14.000 Euro), gegründet worden. Wegen des Vertrags mit der staatlichen Fluggesellschaft sollen sich die jährlichen Einnahmen aber bis auf 26 Millionen Bolivianos (2,6 Millionen Euro) belaufen. Der UN Sprecher Arturo Murillo nimmt an, Air Catering sei ausschließlich gegründet worden, um den BOA Vertrag wahrzunehmen.
Er habe nichts von dem Vertrag gewusst, erklärt García Linera, es handele sich nicht um Vetternwirtschaft, sondern um einen rechtmäßigen Vertrag. Dennoch sagte er: „Kein Angehöriger des Präsidenten oder des Vizepräsidenten darf einen Vertrag mit dem Staat schließen. Ich verlange, dass dieser in den nächsten Stunden aufgelöst wird, damit es keine weiteren Spekulationen gibt.“ Kurz darauf gab die Regierung bekannt, die Schwägerin des Vizepräsidenten werde ihren Anteil des Unternehmens verkaufen.
Raul Prada, früher Anhänger der Regierungspartei MAS und Vizeminister für Wirtschaft und Finanzen im Jahr 2010, ist mittlerweile davon überzeugt, dass die MAS-Regierung sich durch die Korruptionsvorwürfen dem Abgrund nähert. Auch von García Linera ist er enttäuscht: „Er hat die ganze Welt glauben lassen er sei intellektuell, ein Revolutionär, ein Guerrillero, dabei ist er nur in sich selbst und in die Macht verliebt, ein Betrüger.“
Der marxistische Journalist und Autor Hugo Moldiz hingegen argumentiert, der Fall Air Catering werde strategisch ausgenutzt, um die Autorität des Vizepräsidenten zu schwächen und zu unterminieren. „Es besteht die Absicht, Misstrauen selbst in die höchsten Ebenen der Regierung herzustellen“, sagt er.
Der Fall „Air Catering“ ist einer von mehreren Vorfällen, welche die Regierung Evo Morales vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober in einem schlechten Licht erscheinen lassen. Im März beschäftigte ein vom US-amerikanischen FBI aufgezeichnetes Video die bolivianische Öffentlichkeit.
Fabricio Ormachea ist Polizist und arbeitete bis Mitte 2013 bei der Antikorruptionseinheit der Polizei. Im August flog er in die USA und erpresste dort den Ex-Inhaber der bolivianischen Fluggesellschaft Aero Sur, Humberto Roca. 2012 wurde Aero Sur die Lizenz entzogen. Roca floh in die USA und behauptete dort, Opfer politischer Verfolgung zu sein und beantragte Asyl. In Bolivien laufen gegen ihn Prozesse wegen illegaler Bereicherung, Schädigung des Staates und Begünstigung seiner eigenen Familie. Ormachea bot ihm an, sich für die Stilllegung der gegen ihn laufenden Prozesse einzusetzen. 30.000 Dollar verlangt er im Gegenzug für seine Gefälligkeiten. Roca gab ihm einen Vorschuss von 5.000. Wenig später wurde Ormachea auf der Straße verhaftet, als er gerade dabei war, die Dollarscheine, welche er bei sich trug, zu zählen. Roca hatte das FBI über das Treffen mit Ormachea infomiert. Der Besuch in Rocas Wohnzimmer war von einer versteckten Kamera aufgezeichnet worden. Ormachea wird wegen Erpressung angeklagt.
Die bolivianische Polizei teilte mit, Ormachea sei nicht der Leiter der Antikorruptionseinheit, sondern ein Deserteur, er habe also auf eigene Faust gehandelt. Im März 2014 wurde Fabricio Ormachea von einem US-amerikanischen Gericht für schuldig erklärt. Das endgültige Urteil wird Ende Mai bekanntgegeben. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren beantragt.
Im März wurde auch das Erpressungsvideo veröffentlicht. Dort behauptet Ormachea, der Vizepräsident hätte ihn mehrmals zu sich gebeten, um ihm Befehle zu erteilen. Er habe persönlich gesehen, wie Alvaro García Linera selbst über bestimmte Urteile entscheide und der Justiz vorgebe, was zu tun sei. Auch andere Regierungsmitglieder wie der Präsidentschaftsminister Juan Ramón Quintana belastete er und sogar García Lineras Bruder. „Alvaro García Lineras Bruder Raúl hat Millionen. Er steckt in allem drin, in Aufträgen, Ausschreibungen und anderen Gaunereien“, sagte Ormachea auf dem Video.
Auch nach der Veröffentlichung des Videos gab der Vizepräsident eine Pressekonferenz, bei der er bestritt Ormachea zu kennen. „Diesen Ormachea kennen wir nicht einmal im Traum“, sagte er und erklärte, dass die angeblichen Besuche Ormacheas in der Vizepräsidentschaft in keinem einzigen Besucherregister zu finden seien. Über die Aussagen bezüglich seines Bruders ist er empört. „Mein Bruder ist Ingenieur von Beruf, er arbeitet nicht für die Regierung, der Arme lebt zur Miete.“ García machte die Opposition dafür verantwortlich, sich „hinter Verbrechern zu verstecken“, um die Regierung zu attackieren.
Eine weitere Affäre in der Sammlung bolivianischer Korruptionsskandale ist die des Staatsanwalts Marcelo Soza, der an einem der wahrscheinlich größten Justizfälle Boliviens arbeitete. Im April 2009 kamen in Santa Cruz im Kreuzfeuer einer Spezialeinheit der Polizei drei Menschen, die angeblich einer größeren Separatistenbewegung angehörten, ums Leben. Die Separatisten hätten die Absicht gehabt, Evo Morales zu ermorden, erklärte die Regierung. Der Staatsanwalt Marcelo Soza übernahm den Fall. Es wurden über 30 Personen festgenommen und wegen Terrorismus angeklagt. Anfang 2013 während des immer noch laufenden Terrorismusprozesses geriet eine Tonaufnahme an die Öffentlichkeit, in der Soza zwar sich selbst nicht belastet, jedoch behauptet, mehrere Angeklagte seien von regierungsnahen Personen erpresst worden. Abermals kam der Name Raúl García Lineras ins Gespräch. Er sei in Drogengeschäfte verwickelt, behauptete Soza. Nach der Veröffentlichung des Videos trat er zurück.
Anfang 2014 erschienen Beweise für die Erpressungen, die Soza durch seinen Anwalt durchführte. Der Anwalt wurde festgenommen. Marcelo Soza floh nach Brasilien und beantragte Asyl. In einem Brief, den er zurückließ, behauptete er, Regierungsautoritäten hätten ihn oft dazu drängen wollen Ermittlungsmaßnahmen auszuführen, die rechtswidrig seien. Er habe sich immer geweigert, fügte er hinzu.
Sozas Flucht empörte die bolivianische Bevölkerung. Der Journalist Raúl Peñaranda vermutet, man habe den Staatsanwalt fliehen lassen. „Seine Flucht war im Interesse der Regierung. Sonst hätte sich wahrscheinlich herausgestellt, dass die meisten Anklagen aufgrund von Terrorismus nichts anderes als Intrigen waren“. Mit diesem Vorwurf wurde die Opposition, die Evo Morales hätte gefährlich werden können, komplett „ausgerottet“, fügte er hinzu. Peñaranda weist auf Anzeigen hin, nach denen Soza mit seinen Erpressungen 5 Millionen Dollar „erwirtschaftet“ habe.
Dies sind nur einige der Korruptionsaffären dieses und des letzten Jahres in Bolivien. Raúl Prada meint, die MAS habe nicht die Macht übernommen, sondern sei ihr verfallen. Wie alle Revolutionen sei auch diese in ihren eigenen Widersprüchen versunken. Prada gehört der Gruppe der politischen Theoretikern „Comuna“ an, der einst auch Álvaro García Linera angehörte und dessen Mitglieder nun eine Erneuerung des Prozesses des Wandels fordern. Hugo Moldiz argumentiert dagegen, die Opposition mache im Vorfeld der Wahl nur eine Kampagne, die die Regierung der Korruption und des Drogenhandels bezichtige und eigentlich Ausdruck ihrer eigenen Unfähigkeit, die erfolgreichen Ergebnisse des bolivianischen Wirtschaftsmodells zu widerlegen. Nichtsdestotrotz hat Evo Morales große Chancen im Oktober wiedergewählt zu werden, auch wenn sein Wahlsieg diesmal nicht so überzeugend ausfallen könnte.

„Denkweisen des Kalten Krieges“

In Lateinamerika sind mehrere Regionalorganisationen als Alternative zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten entstanden, so etwa die Celac oder das Wirtschaftsbündnis Mercosur. Welche Rolle spielt dabei die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA)?
Nun, die ALBA gibt es jetzt seit zehn Jahren und sie hat von Beginn an alle möglichen Initiativen zur Schaffung eigener lateinamerikanischer Foren unterstützt. Es ging dabei darum, unter Anerkennung bestehender Differenzen miteinander zu sprechen, ohne den Großmächten und ihren Interessen Raum zur Einflussnahme zu geben. Diese von Hugo Chávez vertretene Vision richtete sich vor allem gegen die traditionelle Dominanz der USA. Und diese Position hat uns viel abverlangt. Es wurde und wird immer wieder von den USA und ihren Alliierten versucht, Venezuela als einen der Motoren dieser Entwicklung zu isolieren, aufzuhalten oder gar zu kriminalisieren. Aber nach diesen zehn Jahren muss man auch festhalten, dass die ALBA eine wichtige Rolle bei den Integrationsprozessen gespielt hat.

Aber das ALBA-Bündnis ist nach wie vor kein Rechtssubjekt, sondern eher ein loser Zusammenschluss. Ist Ihr Handeln damit nicht auf Symbolpolitik beschränkt?
Wir haben ja eine organisatorische Struktur. Aber die ALBA ist bislang vor allem ein Dialogforum, ein Instrument, um politische Einigkeit zu fördern. Die Prinzipien sind in einem Gründungsdokument definiert. Es gibt aber bislang keinen Gründungsvertrag, dem sich Staaten anschließen könnten. Das erklärt sich aus der Geschichte: Die ALBA wurde ursprünglich als „Bolivarische Alternative“ von Kuba und Venezuela ins Leben gerufen und etliche Länder stießen dann dazu. Bolivien war der Meinung, dass es nicht nur um einen alternativen Staatenbund gehen dürfe, sondern dass man auch einen alternativen Handelsvertrag anstreben müsse. Deswegen heißen wir heute „ALBA-Handelsvertrag der Völker“, oder ALBA-TCP. Das definiert deutlich den Unterschied zu dem neoliberalen Modell und dem klassischen kapitalistischen Entwicklungsmodell. Wir streben einen gerechten Handel an. Wir versuchen, Mechanismen zur Demokratisierung der Wirtschaft zu entwickeln.

Die organisatorische Schwäche aber bleibt.
Bislang hat die ALBA ein Exekutivsekretariat, das ich ja vertrete. Ernannt wurde ich von einem politischen Komitee. Dort sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten vertreten.
Mein Sekretariat ist ursprünglich als Hilfsgremium entstanden und hat sich über die Jahre hinweg zu der Struktur entwickelt, in deren Händen das tägliche Geschäft liegt. Ich arbeite eng mit den nationalen Koordinatoren zusammen. Oft sind das die Vizeaußenminister der jeweiligen Länder. Aus dieser Zusammenarbeit sind verschiedene Initiativen entstanden: Die ALBA-Bank etwa oder die regionale Buchwährung Sucre.

Neben ALBA ist auf Chávez’ Initiative auch das energiepolitische Bündnis Petrocaribe entstanden. Stimmen die Gerüchte, dass
ALBA und Petrocaribe zusammengefasst werden sollen?
Ja, das wird angestrebt. Sehen Sie, ALBA ist zwar keine klassische Organisation, dennoch hat sie in den vergangenen Jahren viel Ansehen gewonnen. Aber die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung. Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft. Dies würde uns erlauben, in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht zu haben – ohne dass wir aber deren Struktur kopieren.

Mitunter werden die neuen Regionalorganisationen und auch ALBA mit der frühen Phase der Europäischen Union verglichen.
Nun, in ALBA haben sich fortschrittliche Regierungen vereint. ALBA strebt für Latein­amerika alternative, zukunftsorientiere politische Konzepte an.

Hängen die strukturellen Reformen von ALBA – die Fusion mit Petrocaribe und ein anvisierter Gründungsvertrag – mit der Ausdehnung der neoliberalen Pazifik-Allianz zusammen, die von der EU und den USA unterstützt wird?
Nein, denn dabei handelt es sich um ein Staatenbündnis, das offenbar vorrangig wirtschaftliche Interessen hat. ALBA hat zudem eine längere Geschichte.

Aber hat ALBA keine wirtschaftlichen Interessen?
Doch, natürlich, aber unser Ziel liegt in der Entwicklung eines Modells, mit dem der Kapitalismus überwunden werden kann und das eine neue Form der wirtschaftlichen Beziehungen etabliert. Wir lehnen diese beschönigende Annahme einer notwendigen „Konkurrenz zwischen den Staaten“ ab. Wir gehen davon aus, dass die Welt nach wie vor in ein wirtschaftliches Zentrum und eine Peripherie geteilt ist. Deswegen müssen wir Länder des Südens uns zusammenschließen und uns gemeinsam helfen sowie gemeinsame Kräfte nutzen. Damit jeder Staat vorankommt, muss er zugleich an die regionale Entwicklung denken. Deswegen unterstützen wir auch die Regionalorganisation Celac, auch wenn sie ideologisch sehr viel breiter aufgestellt ist.

Dennoch – oder vielleicht eben deswegen – stehen die USA und Deutschland den progressiven Staaten Lateinamerikas mit Ablehnung gegenüber.
Wir sind fest davon überzeugt, dass immer mehr Staaten die tiefgreifenden Veränderungen, die Lateinamerika derzeit erlebt, verstehen werden. Vor einigen Jahren wurde versucht, Kuba und Venezuela auf internationaler Ebene zu isolieren. Heute sind beide Länder ein fester Bestandteil der lateinamerikanischen Gemeinschaft. Mitunter entsprechen die Schemata, mit denen Europa oder, besser gesagt, einige Gruppen in Europa auf die Neuerungen in Lateinamerika reagieren, der Denkweise des Kalten Krieges. Ihnen liegen sehr simple Annahmen zugrunde, die oft von der extremen Rechten der USA gezielt beeinflusst werden. Aber wenn man dann mit den Parteien hier spricht, mit den Gewerkschaften, Bürgermeistern oder Intellektuellen, dann sieht man doch, dass das Verständnis für die Umbruchprozesse in
Lateinamerika wächst. Auch in Europa merkt man, dass wir Lateinamerikaner uns heute sehr viel näher stehen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wir lassen uns heute von externen Interessen nicht mehr dazu verführen, andere Staaten der Region zu kriminalisieren.

Infokasten

Bernardo Álvarez Herrera ist seit September 2013 Exekutivsekretär des linksgerichteten lateinamerikanischen Staatenbündnisses „Bolivarische Allianz für Amerika – Handelsvertrag der Völker“ (ALBA-TCP). Der Venezolaner hatte sein Land zuvor in mehreren Staaten, darunter Spanien, als Botschafter vertreten. Ihm kam 2010, wie er sagt, „die Ehre zuteil“, als Botschafter aus den USA ausgewiesen worden zu sein.

Das Verbrechen Frau zu sein

Entkriminalisierung von Abtreibung bei Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung – diese Mindestforderung formulierten Frauenrechtsbewegungen zur Aktualisierung des Abtreibungsgesetzes. Dies erfolgte im Zuge der Überarbeitung des Strafgesetzes durch das ecuadorianische Parlament im vergangenen Herbst. Nach dem Abtreibungsgesetz, das in seiner heutigen Fassung seit 70 Jahren existiert, ist eine Abtreibung zulässig, wenn eine geistig behinderte Frau vergewaltigt wurde oder wenn generell das Leben der Frau gefährdet ist. In Ecuador wird jedoch jede Stunde ein Mädchen oder eine Frau vergewaltigt, häufig im engeren Familienkreis, wo die Vergewaltigung nicht angezeigt wird oder nicht ans Licht kommt.
Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihren Körper und ihre Lebensziele ist seit jeher wichtigste Forderung ecuadorianischer Frauenrechtler_innen gewesen. Ihre Aktionen reichen von politischen Vorschlägen in den Bereichen Gesundheit und Gewalt über Medienkampagnen bis hin zur Entwicklung eigener Informationsstrukturen. Ein Beispiel dafür ist das Notfalltelefon „Sichere Abtreibung“ des Colectiva Salud Mujeres („Kollektiv Gesundheit Frauen“). Hier können sich Frauen zu medikamentöser Abtreibung sowie zu Verhütungsmitteln beraten lassen.
Den Höhepunkt der vergangenen Jahre erreichte die Arbeit der Frauenrechtler_innen am 10. Oktober 2013, als im ecuadorianischen Parlament die mögliche Neufassung des Strafgesetzes debattiert wurde und der Zivilgesellschaft die Möglichkeit gegeben wurde, Reformen anzustoßen. Zu den Novellierungen gehörten unter anderem die Forderungen der Frauenrechtsbewegung: Darunter die Entkriminalisierung von Abtreibung nach Vergewaltigung. Diese Forderungen wur­den von zwei Frauenrechtlerinnen vor der parlamentarischen Vollversammlung vorgetragen, während andere auf den oberen Rängen warteten und schließlich nackt demonstrierten.
Die Parlamentarier_innen ließ das nicht unberührt, die Reaktionen waren höchst unterschiedlich: die Sicherheitskräfte wussten nicht, wie sie mit den nackt demonstrierenden Frauen umgehen sollten, 24 Parlamentarier_innen sprachen sich für die Nichtverfolgung von Abtreibung aus. Drei Tage lang war die Debatte wichtigstes Gesprächsthema in der Nationalversammlung, der Presse und in der Bevölkerung. Die Frage der Freiheit körperlicher Selbstbestimmung wurde neu aufgeworfen.
Am Abend der Debatte äußerte sich Präsident Rafael Correa öffentlich dazu und betonte, dass er als gläubiger Katholik Abtreibung nicht legalisieren könne. Solange er Präsident sei, werde es nicht dazu kommen. Die Frauenrechtler_innen bezeichnete er als „schlecht erzogen“ und – um jeglicher Möglichkeit der Veränderung Einhalt zu gebieten – drohte er mit seinem Rücktritt, falls seine Partei diesen Forderungen nachgeben sollte. Somit stellte er erneut seinen Autoritarismus, sein konservatives Denken und seinen Machismus zur Schau.
In dem beständigen Kampf seit den 1930ern um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung der Frau in Ecuador und ganz Lateinamerika werden höchst unterschiedliche Haltungen angetroffen. Sexuelle Gesundheit hat in Lateinamerika viele verschiedene Nuancen und das Recht auf freie Entscheidung über die eigene Fortpflanzung ist ein Mittel zum Wählerfang oder dient der Zurschaustellung von Macht. Die Beispiele sind divers.
Dem linken Spektrum zuzuordnende lateinamerikanische Regierungen zeigen sich fortschrittlich, sobald es aber um Frauenrechte geht, tritt eine andere Realität zu Tage. In Mittelamerika richten Staat und Kirche gemeinsam über die Entscheidung jeder einzelnen Frau und predigen Enthaltsamkeit als öffentlich gewünschte Politik. Dementsprechend wird die Frauenbewegung in dieser Region verfolgt.
In Mexiko hingegen hat der Kampf der Feminist_innen dazu geführt, dass 2011 Schwangerschaftsabbrüche im Hauptstadtdistrikt in allen Fällen entkriminalisiert wurden. In den meisten anderen Bundesstaaten des Landes bleibt Abtreibung jedoch weiterhin illegal. In Kolumbien wurden 2006 Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigung nur auf Grund des Drucks der Wähler_innen legalisiert. In Bolivien hingegen werden die Entscheidungen durch Abgeordnete und Regierungsmitglieder selbst vorangetrieben.
2013 wurde in einer Studie des ecuadorianischen Gesundheitsministeriums herausgefunden, dass unsichere Abtreibung an zweiter Stelle bei den Todesursachen von Frauen in Ecuador steht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation treibt in Ecuador alle vier Minuten eine Frau ab. Häufig nutzen Frauen dabei höchst unsichere Methoden: Sie lassen sich mehrmals Treppen oder kleine Abhänge hinunter stoßen bis sie bluten, sie benutzen Nähnadeln um die Gebärmutter zu reizen oder führen sich Rattengift durch die Scheide ein, um starke Blutungen zu verursachen. Viele von ihnen sterben möglicherweise daran. Demgegenüber ist das Colectiva Salud Mujeres mit dem Notfalltelefon zur sicheren Abtreibung eine eigenständige Alternative, die vielen Frauen das Leben rettet und es ihnen ermöglicht, gut informiert eine Entscheidung zu treffen. Diese Möglichkeit sollte von staatlicher Seite allen Frauen garantiert werden.
Ecuador hat internationale Menschenrechtsvereinbarungen unterzeichnet und sich diesen verpflichtet. Internationale Organisationen fordern, dass Ecuador seine Gesetze reformiert. Und dennoch werden Frauen, die abtreiben, weiterhin gesellschaftlich und rechtlich kriminalisiert und das aus einer moralischen Laune seitens eines konservativen Teils der Gesellschaft, der sich im Diskurs des Präsidenten noch bestätigt sieht. Dabei vertritt dieser nicht einmal die Meinung der Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung: 65 Prozent der Ecuadorianer_innen befürworten die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Folge einer Vergewaltigung. Außerdem ist es unverantwortlich gegenüber den ecuadorianischen Frauen, ihnen von staatlicher Seite dieses Recht abzusprechen und sie wegen Abtreibung strafrechtlich zu verfolgen – ob dieser nun eine Vergewaltigung vorausgegangen ist oder nicht, da diese Entscheidung allein der Frau überlassen sein sollte. Der Prozess hat zu einer nationalen Debatte rund um das Thema Abtreibung geführt. Sie sollte dazu dienen zu zeigen, dass Abtreibung weit verbreitet ist und trotz Illegalität ein legitimes Mittel für Frauen ist, die selbstbestimmt entscheiden wollen. Frauen über Sexualität und ihre Rechte aufzuklären ist Ziel der Frauenbewegungen, zwar ohne staatliche Unterstützung, aber doch mit Rückhalt in der Zivilgesellschaft. Wenn die Legalisierung per Gesetz nicht funktioniert, dann doch vielleicht in den Köpfen.

„Das was ich bin, bin ich dank meiner Arbeit“

“Ich weiß, dass ihr genervt seid, aber ich werde jetzt mit euch über eure Rechte reden.“ Noemí versucht an einem Samstag im November 2013 die Aufmerksamkeit arbeitender Kinder der bolivianischen Bergwerksstadt Potosí zu gewinnen. „Bei mir war es genauso“, erklärt die 19-Jährige. Bis vor kurzem war sie noch Sprecherin der Organisation der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen (NATs) von Potosí. Noemí ist personifiziertes Gegenbeispiel zu der These, dass Erwerbstätigkeit Kinder notwendigerweise von der Schule fernhalte und ihnen deshalb eine bessere Zukunft verwehre. Wie Hunderte Gleichaltrige in Potosí hat Noemí als Kind mit ihrem Einkommen zum Unterhalt ihrer Familie beigetragen und die Kosten für das Schulmaterial und ihre Kleidung finanziert. Heute steht sie in einem biederen Kostüm vor der bunt zusammengewürfelten Gruppe von jungen Schuhputzer_innen, Bergarbeiter_innen, Hausangestellten, Verkäufer_innen. Noemí kommt gerade von einem der Touristenhotels der Kolonialstadt. Dort arbeitet sie neben ihrem Studium als Rezeptionistin. Viele ihrer jugendlichen Altersgenoss_innen haben keine Arbeit, geschweige denn eine Anstellung oder Studienplatz. Noemís Beispiel motiviert die Kinder für ihre Rechte zu kämpfen. Diese malen sie in Gruppen auf Plakate. Das fällt vielen der Anwesenden die neu sind, leichter, als vor allen zu reden. Da steht direkt unter dem Recht auf Freizeit das Recht, unter würdigen Bedingungen arbeiten zu dürfen. Sie wollen von niemandem zum Arbeiten, aber auch nicht in die Schule, gezwungen werden. Sie wissen, dass es in Bolivien Schulpflicht gibt. Weil Schule ihnen wichtig ist, hatte die Organisation zeitweise sogar die Regel, dass nur Mitglied werden könne, wer auch die Schule besucht oder eine Ausbildung macht. Doch die Erfahrung zeigte, dass Zwang weder die Lernmotivation erhöht, noch die Qualität des Unterrichts verbessert, die viele zum Schulabbruch bewegt.
Nach der Präsentation seiner Gruppe steuert Andrés, ein sehr lebendiger 16-Jähriger, noch eine Erfahrung bei: Der Vater seiner Freundin habe ihr den Umgang mit ihm verboten. „Er arbeitet, du brauchst nicht zu arbeiten“, habe er dies begründet. „Niemand hat das Recht uns zu diskriminieren, nur weil wir Geld verdienen“, bringt Andrés heraus, bevor ihm Tränen kommen. Erst müssen die Kinder ihr Leben selbst meistern und dann wird ihre Leistung nicht einmal anerkannt. Die meisten erwerbstätigen Kinder würden nur für Markenkleidung und anderen Luxus arbeiten, hieß es aus dem Arbeitsministerium. Nur ein geringer Anteil benötige das Einkommen wirklich. Für die werde es Sozialprogramme geben.
Doch die kleinen Arbeiter_innen verweigern sich dem Klischee der Hungerleidenden, die Objekte fremder Hilfe sind. Ebenso dem Idealbild einer behüteten Kindheit zwischen Schule, Spielplatz und Zuhause. „Das was ich heute bin, bin ich dank meiner Arbeit“, richtet Noemí schließlich ihren Appell an die nachfolgende Generation. „Jetzt muss gehandelt werden“. Rubén und Lourdes werden zu den neuen Sprecher_innen gewählt. Die beiden stehen am 18. Dezember 2013 zusammen mit anderen Delegierten der Union der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen in Bolivien (UNATSBO) vor der Absperrung in La Paz. Sie wollen mit den Parlamentsabgeordneten reden, die an diesem Tag über das neue Kinder- und Jugendgesetz abstimmen sollen. Stein des Anstoßes ist der geplante Paragraph 126: Ein pauschales Verbot der Erwerbstätigkeit von Kindern unter 12 Jahren. Das widerspricht Artikel 61 der bolivianischen Verfassung. Bei deren Verabschiedung hatte die UNATSBO erreicht, dass bildende und sozial nützliche Arbeit im familiären und gemeinschaftlichen Kontext anerkannt wird. Nur die Ausbeutung ist verboten.
An diesem 18. Dezember kommt es bei dem Versuch, in die Bannmeile zu kommen, zu Rangeleien. Die Polizei setzt Tränengas ein, verhaftet drei Jugendliche kurzfristig. Zwei Mädchen müssen im Krankenhaus behandelt werden. Die Bilder erreichen nationale und internationale Medien. Am Tag nach den Auseinandersetzungen, nach vielen Interviews auf dem Murillo Platz vor dem Parlament, nimmt Lourdes vor diesem die Einladung der Senatspräsidentin Gabriela Montaño zu den geforderten Verhandlungen entgegen.
„Wir hoffen, dass wir wirklich Ernst genommen werden. Jedes Gesetz sollte unter Beteiligung der Betroffenen formuliert werden: Nur so findet man Antworten auf die realen Probleme der Bevölkerung, in diesem Fall der erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen“, so Lourdes. Immerhin handelt es sich um schätzungsweise 850.000 Kinder und Jugendliche, ein gutes Viertel der fünf bis 17-Jährigen in Bolivien. Schon kurz nach der Verabschiedung der Verfassung hatte die UNATSBO einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Schutz der Rechte arbeitender Kinder in den Mittelpunkt stellt. Den Entwurf hatten sie an alle Abgeordneten und zuständigen Ministerien verteilt. Die Ortsgruppe von Tarija hatte das Büchlein höchstpersönlich dem Präsidenten Evo Morales übergeben. Der hatte ihnen wenig später in seiner Ansprache zum Tag des Kindes seine Unterstützung zugesagt.
Doch vielen Abgeordneten und Ministerialangestellten ist die Welt der arbeitenden Kinder fremd. „Sie glauben, sie leben in der Schweiz“, stichelte die ehemalige Parlamentspräsidentin Rebecca Delgado. Sie hatte mit der UNATSBO über ihren Gesetzentwurf diskutiert und die Kinder bei seiner Verbreitung unterstützt. Dahinter steht die Frage, ob die Erwerbstätigkeit der Kinder Ursache von Armut ist, oder ob die Armut und die prekären Arbeitsverhältnisse von Kindern wie Erwachsenen Ursache dafür sind, dass Kinder Geld verdienen müssen.
Bolivien steht unter internationalem Druck. Vor allem das Arbeitsministerium, das seine Programme auch aus Mitteln der ILO finanziert. Die Internationale Arbeitsorganisation kümmert sich weltweit um die Durchsetzung von Rechtsstandards wie der ILO Konvention 138, die Bolivien vor 16 Jahren ratifiziert hat.
Bei aller Empörung über die – zudem unnötige – Polizeigewalt, muss anerkannt werden, dass die arbeitenden Kinder vom für das Kinder- und Jugendgesetz verantwortlichen Justizministerium in öffentlichen Veranstaltungen zuvor angehört worden waren. Im Fall von Potosi zwar erst auf expliziten Wunsch der Kinder und im allerletzten Moment, als der Entwurf bereits dem Parlament vorlag. Doch damit dürfte Bolivien den meisten Staaten weit voraus sein, was die Umsetzung der Beteiligungsrechte der UN-Kinderrechtskonvention betrifft. Einige Paragraphen im Gesetzentwurf versuchten auch, den Spagat zwischen internationaler Rechtslage und nationalen Realitäten zu überbrücken. So verpflichtet der Artikel 14 nicht zu den andernorts üblichen Programmen zur Ausrottung der Kinderarbeit, sondern zur Abschaffung der Ursachen von Kinderarbeit. Und Artikel 124 und 125 erkennen Tätigkeiten im familiären und gemeinschaftlichen Kontext an. Dabei wird jedoch der Begriff Arbeit vermieden. Für die UNATSBO dient freiwillige Arbeit aber nicht nur zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse, sondern auch der persönlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung in der Gesellschaft. Sie unterscheiden das von Zwangsarbeit und Ausbeutung. Davor müssten alle, vor allem aber die jüngeren Kinder geschützt werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Krankenversicherung, das Recht, Zeiten für den Schulbesuch frei zu bekommen – das alles war im Gesetzentwurf nur für die Jugendlichen vorgesehen. Und bei der Liste der Tätigkeiten, die für Kinder wie Jugendliche generell verboten sind, finden sich solche, die in vielen indigenen Gemeinden selbstverständlich auch von den Kleinen im familiären Rahmen erledigt werden: Das Hüten von Vieh, oder das Fischen in Flüssen. Dabei sehen sie keine besonderen Gefahren, die ein Verbot rechtfertigen würden.
Welche paradoxen Folgen ein Verbot bewirken kann, haben die Jugendlichen in den Bergwerken von Potosí erlebt. Weil Polizist_innen vor die Stollen postiert wurden, gingen sie im Morgengrauen in den Berg und kamen erst nach Dunkelanbruch wieder heraus. Und wer einer „verbotenen“ Tätigkeit nachgeht, kann schwerlich bei der Arbeitsbehörde Unterstützung einfordern, wenn ihr_ihm der vereinbarte Lohn verweigert wird oder die Arbeitszeiten einen Schulbesuch unmöglich machen. Hinzu kommt, dass die Lösungsvorschläge der Erwachsenen, Stipendienprogramme, nicht neu sind. Die meisten sind inzwischen ausgelaufen, ohne dass sich an der Situation der Kinder etwas geändert hat. Entsprechend skeptisch ist die UNATSBO gegenüber den Ankündigungen, die Arbeit der Kinder mit ähnlichen Maßnahmen überflüssig zu machen.
Am 7. Januar fuhren Lourdes und Rubén aus Potosí wieder nach La Paz, um zu insgesamt sieben Artikeln ihre Änderungswünsche einzubringen. Dass alle ihre Wünsche umgesetzt würden, konnten sie nicht erwarten. Aber auch nicht, dass die Unterstützung, die ihnen Präsident Evo Morales nach dem Konflikt mit der Polizei zugesagt hatte, so wenig Wirkung haben würde. Mit dem Senat einigte man sich darauf, dass Zwangsarbeit, Ausbeutung und gesundheitsschädliche Tätigkeiten ausgeschlossen werden müssen. Das Mindestalter solle in Einklang mit der Verfassung stehen. Die Frage, ob das Mindestalter nur für Beschäftigungsverhältnisse aber nicht für unabhängige Erwerbstätigkeit gelten solle und ob das Mindestalter gesenkt werden oder ganz wegfallen könne, wurde an eine Arbeitsgruppe verwiesen. Ebenso die Überarbeitung der Liste verbotener Tätigkeiten.
Um so größer war der Zorn der UNATSBO, als die Regierungszeitung Cambio am nächsten Tag einen Artikel veröffentlichte, in dem René Zavaleta, Vorsitzender der Kinderkommission des Unterhauses, ankündigte, dass die Kinderarbeit in den nächsten fünf Jahren mit individuellen Hilfsangeboten abgeschafft werde. Viele Arbeiten, die Kinder erledigen müssen, mögen nämlich körperliche Schmerzen verursachen. Eine solche Missachtung getroffener Vereinbarungen jedoch schmerzt in der Seele. „Wir wollen keine Almosen, sondern würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen“, entgegnete Lourdes, wie die Mehrheit der arbeitenden Kinder in Protestschreiben. Dafür setzen sie sich in den noch andauernden Verhandlungen ein.

Hintergründe // http://www.michaela-schonhoeft.de/2013/09/11/interview-mit-peter-strack-von-terre-des-hommes-über-arbeitende-kinder-in-bolivien/

Grün ist die Hoffnung

Die Welt richtete am vergangenen 10. Dezember die Augen auf Uruguay. Der Anlass war kein geringer: Der kleine südamerikanische Staat hatte beschlossen, das weltweit erste Land zu werden, das eine umfassende Regulierung zur Legalisierung von Cannabis vorantreibt. Am Ende der Sitzung stimmten die uruguayischen Senator_innen mit 16 zu 13 Stimmen für die Gesetzesvorlage.die die Regierung im Juni 2012 überraschend eingebracht hatte. Damit hat das Gesetz nun die letzte Hürde übersprungen.

Auch wenn die Details der Verordnung erst Anfang April bekannt gegeben werden sollen, sind die Grundlagen des neuen Modells bereits festgelegt. Die Konsument_innen haben künftig drei Möglichkeiten, um an Cannabis zu gelangen: Zum einen auf individuelle Weise, bei der der Besitz von bis zu sechs Pflanzen und eine jährliche Ernte von bis zu 480 Gramm erlaubt ist. Oder gemeinschaftlich, über die Teilhabe an einem Klub, der zwischen 15 und 45 Mitglieder haben kann. Ein Klub kann bis zu 99 Pflanzen besitzen, dabei darf die jährliche Gesamtmenge pro Mitglied nicht 480 Gramm überschreiten. Die dritte Möglichkeit ist der Erwerb von bis zu 40 Gramm pro Monat in einer der Apotheken, die dem Vertriebsnetz angehören. Die uruguayische Staatsbürgerschaft ist allerdings Pflicht für diese Privilegien.

Das Gesetz war nach einem diskussionsreichen Jahr inner- und außerhalb der Regierungspartei, der Allianz Breite Front (Frente Amplio/ FA), zustande gekommen. Anfangs beschränkte sich der Vorschlag der Regierung darauf, ein staatliches Monopol zu schaffen, dem die komplette Produktionskette unterliegen sollte. Dabei war zunächst keine Möglichkeit des Eigenanbaus vorgesehen. Schon seit Jahrzehnten jedoch wird das Recht auf persönlichen Konsum anerkannt, sodass auch im Abgeordnetenhaus Modelle zur Entkriminalisierung des Eigenanbaus diskutiert wurden. Nach einer intensiven Debatte mit reger gesellschaftlicher Beteiligung gewann das Projekt an Komplexität. Über alle möglichen Varianten des Zugangs wurde nachgedacht: „Die Anbauklubs haben zum Beispiel eine kooperativistische Vision. Hierbei beteiligt sich jeder je nach seinen finanziellen Möglichkeiten und seinem Wissen hinsichtlich der Pflanzen und der Anbaumethoden“, erklärt der Cannabisaktivist Julio Rey, Mitglied des kürzlich gegründeten Nationalen Verbandes der Hanfanbauer_innen Uruguays. Diese Organisation soll die uruguayischen Anbauer_innen vereinen, die sich als Kollektiv an der Produktion für das Apothekennetz beteiligen wollen. So soll eine Vision der sozialen Entwicklung und Umverteilung der Gewinne auf dem neuen grünen Markt eingeschlossen werden.

Für den Verkauf von Cannabis in den Apotheken wird der Staat über das Institut zur Regulierung und Kontrolle von Cannabis (IRCCa) Lizenzen an Produzent_innen vergeben, die unter staatlicher Aufsicht Marihuana anbauen. Der psychoaktive Wirkstoff THC wird in diesen Pflanzen auf einen niedrigen Standardgehalt festgesetzt. Statt auf ambulante Ausgabestationen setzt die Regierung auf Apotheken, da das bereits existierende Netz auf wirtschaftlichere und effizientere Weise die Probleme von Strukturen, Arbeitskräften, Software und Logistik lösen kann. „Letztlich sind es die Apotheken, die sowohl die legale Berechtigung haben, Drogen auszugeben, als auch geschultes Personal, um mit den Personen zu reden, die sie benutzen,“ argumentierte der FA-Abgeordnete Sebastián Sabini, der sehr stark an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt war. Die Konsument_innen, die ihre monatlichen 40 Gramm kaufen wollen, müssen sich als solche registrieren lassen. Dies war einer der umstrittensten Punkte: Während die Konsument_innenorganisationen argumentierten, dass die Registrierungen zur Verfolgung der Konsument_innen genutzt werden könnten, waren staatliche Stellen der Meinung, dass ohne diese Maßnahme eine Kontrolle der Legalität des Marihuanas unmöglich wäre. Man einigte sich schließlich auf die Schaffung eines „freiwilligen, verantwortungsbewussten Registers“ das – auch wenn die genauen Details bislang noch nicht festgelegt sind – die Identität der Konsument_innen schützen soll.

Die individuellen Anbauer_innen hingegen sollen ihre Pflanzen registrieren lassen und Samen anbauen, die durch das IRRCa geprüft sind. Für den Fall, dass jemand eine neue Sorte anbauen will, muss er die entsprechenden Samen dem Institut zur Prüfung vorlegen. Die Konsument_innen wiederum, die einen Klub gründen wollen, müssen eine Adresse für Anbau und Lagerung angeben; für den Fall, dass sie jemanden mit dem Anbau beauftragen wollen, muss sich diese Person vorschriftsmäßig registrieren lassen.

Zusätzlich zu den Kontrollen wird der uruguayische Staat aus den Steuereinnahmen von Verkauf und Produktion des Cannabis Präventionskampagnen finanzieren, die von den Bildungsbehörden durchgeführt werden sollen. Alle Kampagnen werden der Prämisse folgen, mögliche Schäden zu begrenzen. Damit einher geht das Ende der bisherigen Logik der kompletten Abstinenz, die die Anzahl der Konsument_innen nicht verringern konnte. Zudem sollen den Konsument_innen ambulante Gesundheitszentren zur Verfügung stehen. Immer noch weit entfernt von einer wirklichen liberalen Drogenpolitik, weist der uruguayische Weg spezifische Verbote auf. Darunter fallen der Verkauf an unter 18-jährige und kommerzielle Werbung für Cannabis. Auch das Führen eines Fahrzeugs oder die Bedienung von Maschinen unter Marihuanaeinfluss soll bestraft werden. Streng genommen hat Uruguay Marihuana gar nicht legalisiert. In der parlamentarischen Debatte wiesen die Abgeordneten der Regierungspartei FA ausdrücklich darauf hin, dass die neue Gesetzgebung darauf abzielt, dem Staat zu erlauben, einen Markt innerhalb eines regionalen Rahmens zu schaffen, in dem weiterhin eine prohibitionistische Politik vorherrscht. Im Kern folgt die Strategie einer Logik geteilter Märkte, wie sie bereits in anderen Ländern erprobt wurde. Aber – und das ist der revolutionäre Aspekt des uruguayischen Vorschlags – wird eine Entkriminalisierung der Konsument_innen und Produzent_innen angestrebt. Das Recht auf persönlichen Konsum wird nun vollständig anerkannt, indem die Beschaffung von Marihuana auf legale Weise ermöglicht wird. Aus rechtlicher Sicht wird in Uruguay so eine juristische Inkohärenz beendet: Wenn der Konsum als Recht verstanden wird, können Besitz und Erwerb nicht verboten sein.

Pedro Bordaberry, Senator der oppositionellen Colorado Partei, bot den internationalen Medien ein Highlight der Gesetzesdebatte, indem er versuchte, die Anerkennung von Rechten als liberale Wirtschaftspolitik auszugeben:„Früher haben sie mit Che für die Verteilung von Land demonstriert, heute marschieren sie mit Rockefeller und Soros für Marihuana.“ (Die US-amerikanischen milliardenschweren Investoren David Rockefeller und George Soros gelten als Unterstützer der Marihuana-Liberalisierungskampagne, Anm. d. Red.) Der übereifrige Protektionismus der Opposition erlaubte den Senator_innen der FA sich einem Punkt zuzuwenden, den auch viele Sympathisant_innen der Pflanze mit Argwohn betrachten. „Das ist kein weiches Gesetz zur Legalisierung“, schaltete sich Ernesto Agassi von der FA ein, „sondern ein Gesetz, das ermöglicht, die kommerziellen Märkte zu kontrollieren.“ Derselben Linie folgte der regierungsnahe Senator Luis Gallo, der nachdrücklich darauf hinwies, wie wichtig es sei, das neue Gesetz als Zwischenlösung von totalem Verbot und Legalisierung zu verstehen. Senator Roberto Conde, ebenfalls von der FA, versicherte hingegen, dass man in Uruguay nicht die Schaffung eines Marktes anstrebe. Vielmehr versuche die Regierung durch die Gestattung von Eigenanbau das Recht auf Selbstversorgung zu unterstützen. In diesem Sinne sei der Verkauf eine Ergänzung, um das Recht auf regulierten Zugang zu Cannabis außerhalb der ganzen illegalen Struktur zu gewährleisten.

Um die Tragweite des neuen Gesetzes zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf den Status quo: Illegale Drogen haben in den letzten Jahrzehnten einen enormen internationalen Markt geschaffen. In dem Handelssystem aus Produktions- und Konsumländern hat es Lateinamerika am Schlimmsten getroffen. Aus Gründen, die klimatische, politische und ökonomische Aspekte umfassen, ist die Region zum Hauptpol von pflanzlichen Drogen geworden. Der Drogenhandel, speziell im Fall des Kokains, hat ganze Länder in tiefe Krisen geführt und bedroht deren staatliche Souveränität. Die illegalen Netze aus Produktion und Vertrieb verwenden einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen zur Zahlung „illegaler Steuern“. Im Falle von Mexiko und Kolumbien haben sie es gar geschafft, staatliche Strukturen zu korrumpieren und kooptieren sowie ganze Landesteile zu kontrollieren. Die Existenz dieser kriminellen Netze rechtfertigt gleichzeitig die Durchsetzung von Drogengesetzen, die – besonders in Ländern, die geopolitisch für die USA von Relevanz sind – bereits oft zur Intervention von ausländischen Geheimdiensten und Militärs führten. Außerdem machten die USA ihre ökonomische Hilfe von der Ausweitung prohibitionistischer Politik abhängig. Auch in Ländern ohne eigene Produktion oder mit geringer Bedeutung für den internationalen Drogenmarkt war die Bilanz der Drogenpolitik negativ: Einhergehend mit dem Krieg gegen die Drogen konstruierte man eine juristische Logik, die die Abhängigen mit Kriminellen gleichsetzte und den Konsum und/ oder den Besitz von Drogen für den persönlichen Gebrauch bestrafte. Dies förderte eine repressive Strategie, die den gleichen Sicherheitskräften, die während den Diktaturen für die interne Repression zuständig waren, erlaubte, ihre Aufmerksamkeit nun auf die Kriminalisierung von Drogenkonsument_innen und mulas zu konzentrieren. Die mulas (Drogenkuriere) sind in ihrer Mehrheit Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die dazu benutzt werden, die Grenzen mit dem Körper voller Kokainpäckchen zu überqueren. Das Resultat waren überfüllte Gefängnisse, eine überlastete Justiz und eine Gefährdung der Gesundheit der Konsument_innen. Ursache war eine Logik, die die Entwicklung eines spezifischen Gesundheitssystems für Verbraucher_innen mit problematischem Konsum unmöglich machte, da der Staat die Konsument_innen als Teil des organisierten Verbrechens betrachtete. Derweil sind die Behörden der Staaten selbst an mit dem Handel zusammenhängenden Straftaten sowie dem Verkauf der illegalen Drogen beteiligt.

Uruguay gehört zu der Gruppe von Ländern, die nicht selbst produzieren, und folgte bis dato derselben prohibitionistischen Strategie. Daher kann die Entscheidung, den Markt für Marihuana zu regulieren, als Teil einer verantwortlichen und souveränen Politik verstanden werden. In Uruguay beinhaltet dieser 70 Prozent der Drogenkonsument_innen. „Die weltweite Drogenproblematik hat eine Dimension erreicht, die die Bühnen der multilateralen Diplomatie überschreitet“ bekräftigte der Senator Roberto Conde während der Gesetzesdebatte. „Unser Land hat die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die seine Gesellschaft beschützen und verbessern; es hat kein Recht diese aufzuschieben und so neue Generationen in der Hoffnung auf einen größeren internationalen Konsens in Gefahr zu bringen.“

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Chef des Internationalen Suchtstoffkontrollrats, Raymond Yans, diskreditierte die Entscheidung Uruguays als „Piraten-Attitüde“. Derweil tauschten sich Minister_innen, Drogenbeauftragte und Kanzler_innen aus Brasilien, Bolivien, Argentinien, Ecuador und Guatemala über ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen aus, aber in allen Fällen erkannten sie den souveränen Charakter der Entscheidung an. Die Umsicht derjenigen, die mit der Maßnahme nicht einverstanden sind, und die offene Unterstützung derjenigen, die diesen Schritt als notwendige Aktion verstehen, zeugen davon, dass in Uruguay derzeit eine neue regionale Diskussion angestoßen wird. Es reicht die Tatsache, dass nun eine Möglichkeit besteht, die bis vor kurzem undenkbar schien: dass ein Staat den Krieg gegen die Drogen beenden kann und eine Alternative sucht, die tatsächlich gerecht, human und effektiv ist.

Den Rassismus nicht vergessen

Im schattigen Inneren der großen Versammlungsstätte steigt im Licht einzelner Sonnenstrahlen, die durch das Dach fallen, der Rauch des heiligen Holzes palo santo auf. Es wird neben verschiedenen Früchten und Blumen, die in einem Kreis angeordnet sind, als Opfergabe dageboten. Das indigene Reservat San María de Piendamó im südwestlichen Departamento Cauca, Heimat verschiedener indigener Gruppen, ist heute stolzer Gastgeber für über 1.000 indigene Frauen. Vier Jahre nach dem ersten kontinentalen Treffen in Peru sind sie nun für das zweite Treffen angereist, bevor direkt im Anschluss das allgemeine Gipfeltreffen der indigenen Gemeinschaften des Kontinents beginnt. In den nächsten zwei Tagen wird es um die Verteidigung ihrer Rechte als indigene Frauen und als indigene Gemeinschaften gehen. Auf der Tagesordnung stehen außerdem die vom globalen Norden aufgezwungenen Entwicklungsmodelle, der vor allem von internationalen Firmen betriebene Extraktivismus, der die Lebensgrundlage und die Menschenrechte der indigenen Völker bedroht, sowie die Gewalt, die indigene Frauen auf verschiedene Weise erfahren: in Form von Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ungleichheit.
Einzelne Grüppchen indigener Frauen sitzen verstreut auf den Plastikstühlen. Auf der Bühne hängt das Plakat für den ersten Teil des kontinentalen Gipfeltreffens der indigenen Völker: „Zwe­ites Gipfeltreffen der indigenen Frauen Ab­ya Yalas“. Der Name kommt aus der indigenen Sprache Kuna und bedeutet Lateinamerika. Einige Frauen sind sichtlich erschöpft von der langen Reise, aber motiviert und entschlossen. Sie sind aus verschiedenen Teilen des Kontinents angereist: Mexiko, Guatemala, dem benachbarten Panama, Venezuela und Ecuador, Bolivien, Peru, Chile sowie aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens.
Inzwischen ist es heißer geworden, immer mehr Frauen versammeln sich unter dem kühlen Dach, um den einführenden Vorträgen zu lauschen. Ein wichtiges Thema, das direkt zu Beginn Eingang findet, ist der Friedensprozess in Kolumbien, von dem die indigenen Gemeinschaften ausgeschlossen sind. Sie sind den bewaffneten Akteuren aufgrund ihrer häufig strategisch gelegenen und rohstoffreichen Territorien besonders ausgeliefert. Vor allem die Frauen werden Opfer von Vertreibungen und Vergewaltigungen. „Wir Frauen sind vom Krieg stärker betroffen und von den Verhandlungen in Havanna ausgeschlossen. Ohne Frauen gibt es keinen Frieden“, sagt Toribia Lero von der Koordination indigener Organisationen der Andenregion (CAOI) und fügt hinzu: „Wir wollen nicht, dass unsere Körper weiterhin Kriegsbeute sind.“
Angesichts einer neuen Welle von Extraktivismus und den damit verbundenen Vertreibungen wird das Recht der Frauen auf ein Leben frei von Gewalt, wie es die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vorsieht, stark eingeschränkt. Deshalb, so Raquel Yrigoyen aus Peru, müssen der Kampf der Indigenen um das Recht auf Selbstbestimmung und der Kampf der Frauen für ein Leben ohne Gewalt Hand in Hand gehen.
Die Gewalt, die indigene Frauen erfahren, ist ein zentrales Thema des Gipfels. Manuela Ochoa von der Nationalen Organisation Indigener Kolumbiens (ONIC) spricht über die Diskriminierung, die indigene Frauen außerhalb, aber auch innerhalb der Gemeinden erfahren. Hierzu zählen sowohl diskrimierende politische Richtlinien als auch Gewalt im familiären Rahmen. Ein zentrales Problem sei der Zugang zum Rechtssystem. Kommunikationsbarrieren aufgrund von unterschiedlichen Sprachen stellen dabei eine besondere Hürde dar.
Dennoch betont Manuela Ochoa, dass sie nicht Opfer, sondern aktiv Handelnde sind: „Wir sind nicht die armen indigenen Frauen“, sagt sie. „Ohne uns geht es nicht!“ Wie für sie ein Leben frei von Gewalt aussehen würde? „In Harmonie leben und sich wohlfühlen“. Dafür sind Mechanismen für die Konfliktlösung sowohl auf staatlicher als auch auf familärer Ebene notwendig. Diese sind jedoch bis jetzt weder vom Staat noch von den indigenen Gemeinden selbst in Angriff genommen worden.
Während die Teilnehmerinnen aufmerksam lauschen, ziehen sie gekonnt Stich um Stich den Faden nach. Fast alle anwesenden Frauen häkeln an einer mochila, einer Tasche aus bunter oder naturfarbener Wolle. Das Häkeln ist nicht einfach eine traditionelle Tätigkeit. Die Muster sind Ausdruck indigener Weltanschauung und der Erfahrung jeder einzelnen Frau — einzigartig.
In der Arbeitsgruppe zu Frauenrechten am nächsten Tag steht schon bald fest, wo die Frauen verschiedener Länder ähnliche Probleme vorfinden. Ein Thema ist der fehlende Zugang zu Bildung, vor allem im Bereich der Weiterbildung. „Wir brauchen gut ausgebildete Frauen, die Politiker kennen unsere Probleme nicht und lassen uns nicht teilhaben“, so eine Teilnehmerin aus Bolivien. Der Vorschlag eines Weiterbildungsprogramms speziell für indigene Frauen wird mit breiter Zustimmung aufgenommen. Als wichtig wird auch das Recht auf eigene, selbstbestimmte Bildung herausgestellt.
Die politische Teilhabe ist ein weiteres zentrales Thema. „Das Recht auf politische Partizipation wird nicht wahrgenommen“, sagt eine Teilnehmerin aus Bolivien, und ihre Kollegin fügt hinzu: „Ohne eigene politische Vision werden wir immer diejenigen sein, die gehorchen. Auch wenn Frauen in der Politik mitmischen, sprechen sie nicht in unserem Namen, weil sie nicht unsere Perspektive haben“. Nichtsdestotrotz zeigt sie sich zuversichtlich: „Es gibt viele Hindernisse, aber wenn wir diese überwinden, werden wir unser Recht auf Teilhabe ausüben.“ Es gibt jedoch auch radikalere Stimmen, die glauben, dass die Partizipation der indigenen Frauen in den aktuellen politischen Rahmenbedingungen nicht gegeben ist. „Die Regierungsformen müssen geändert werden, denn sie sind kolonial, Frauen haben dort keinen Platz“, so eine Teilnehmerin aus Kolumbien.
Ein hochaktuelles Thema ist die sexuelle und reproduktive Gesundheit. Es fehlt an Aufklärung zu Themen wie HIV/Aids und Gebärmutterhalskrebs, Krankheiten, die unter anderem durch die Präsenz von multinationalen Firmen ihren Weg in indigene Gemeinden gefunden haben. Selbst wenn sie versichert sind, nehmen die Frauen die öffentlichen Gesundheitsdienste selten wahr. Angesichts dessen kommt die Forderung nach Krankenhäusern auf, welche die traditionelle Medizin anerkennen und indigene Frauen entsprechend ihrer Weltanschauung und Traditionen betreuen können.
Die Frage nach der Beziehung zu den Männern der indigenen Gemeinschaften durchzieht alle Diskussionen und Themenbereiche des Gipfels: Für die anwesenden Frauen ist klar, dass der Machismo sie lange Zeit zum Schweigen verurteilt hat: „Als Ehefrauen müssen wir bestimmte Aufgaben erfüllen, aber wir haben auch Rechte, nur üben wir diese nicht aus”, sagt eine kolumbianische Teilnehmerin. Eine andere Teilnehmerin kritisiert, dass es im Haushalt keine gemeinsame Verantwortung gibt und fragt: „Warum können die Männer nicht auch etwas machen, wenn die Frau müde ist?“ Von den Männern wird die politische Organisierung der Frauen häufig vorwurfsvoll als Spaltungsprozess der indigenen Gemeinschaft betrachtet. Unter den Frauen herrscht demgegenüber trotz aller Konflikte Einigkeit darüber, dass Frauen und Männer zusammenarbeiten müssen. So wird beschlossen, die Männer zum nächsten Gipfel der Frauen einzuladen: „Wir sprechen aus einer Position der Einheit heraus, nicht um Männer und Frauen zu spalten.”
Diese Aussage macht die Position vieler indigener Frauen im Hinblick auf den in der Regel als westlich wahrgenommenen Feminismus deutlich. In Ländern wie Bolivien, Mexiko und Guatemala haben sich dennoch verschiedene Strömungen von indigenen Feminismen herausgebildet. Auch auf dem Gipfel wird zum Teil mit „feministischen“ Begriffen wie Sexismus, Patriarchat und Ma­chismo umgegangen. So erklärt Carmen Blanco Valer aus Peru die Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen anhand verschiedener Fäden, die sich ineinander verflechten: Ethnizität, Geschlecht, soziale Klasse, Kolonialismus und sexuelle Orientierung. Je mehr Unterdrückungsmechanismen zusammenkommen, desto schwerer sei die Verflechtung aufzulösen. An dieser Stelle macht sie einen Aufruf an nicht-indigene Frauen, die häufig „den Rassismus vergessen“. Es sei wichtig, alle Machtstrukturen und ihre Implikationen anzuerkennen, nicht nur diejenigen, die sie als weiße Frauen betreffen.
Am folgenden Tag füllt sich das Gelände von La María Piendamó. Es sind viele weitere Teilnehmende für den Gipfel der indigenen Gemeinden angereist. Es ist auffällig, wie präsent die Männer auf dem Gipfel sind, die Atmosphäre ist eine andere als an den Vortagen. Die Teilnehmerinnen des Gipfels der Frauen haben sich unter die anderen gemischt. Sie werden ihre Arbeit in Form der neu gegründeten Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen aus Abya Yala, einer Dachorganisation der regionalen Netzwerke, fortsetzen um so die Ergebnisse des Gipfels in eine Agenda zu übersetzen.

// Frage der Würde

Es gibt zwei Varianten: Lässt man sich die Anmaßungen der letzten verbliebenen Weltmacht fast klaglos bieten oder begehrt man wenigstens diplomatisch auf? Für die erstere steht die deutsche Bundesregierung, für die zweite Variante stehen jede Menge südamerikanischer Staaten, von denen Bolivien und Brasilien aus gegebenen Anlässen die Spitze bilden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel schweigt zu der Ausspähung durch den USA-Geheimdienst National Security Agency (NSA). Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gab sich bei seinem USA-Besuch mit fadenscheinigen bis dummdreisten Ausreden zufrieden. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff hingegen sagte Mitte September ihren lange für Oktober geplanten Besuch in Washington ab. Das Maß war einfach voll.

Das Vorgehen von Rousseff, einer ehemaligen Stadtguerillera, ist alles andere als ein Schnellschuss. Schon vor Wochen wurde bekannt, dass die NSA die Präsidentin persönlich abgehört und ihre E-Mails abgefangen hatte. Dabei argumentieren die USA offiziell stets mit derselben Leier: Die NSA-Überwachung diene dem Anti-Terror-Kampf. Gilt Rousseff wegen ihrer Vergangenheit den USA als Terroristin? Das ist nicht anzunehmen – so wenig wie beim mehrheitlich staatlichen brasilianischen Ölriesen Petrobras, der sich ebenfalls der Ausspähung zu erwehren hat. Rousseff hat USA-Präsident Barack Obama freundlichst und mehrfach um Erklärungen bemüht und gefordert, diese Praxis doch künftig zu unterlassen. Die Erklärungen und Zusicherungen fielen so wachsweich aus wie gegenüber Friedrich. Doch während der Franke lächelt, wehrt sich die Brasilianerin. Dafür gebührt ihr Respekt.

Während Merkel bestenfalls – wenn überhaupt – hinter den Kulissen bereit ist, Obama und die USA zu kritisieren, bietet Rousseff dem USA-Präsidenten direkt die Stirn. Bei der Eröffnung der UNO-Generalversammlung im September sprach sie in seiner Anwesenheit Klartext. „Souveräne Staaten dürfen sich niemals über die Souveränität anderer Staaten hinwegsetzen“, sagte die brasilianische Regierungschefin. „Das Argument, dass das illegale Ausspähen von Informationen und Daten Länder gegen den Terrorismus schützen soll, ist nicht haltbar.“ Die Argumente sind so schlüssig, dass sich eigentlich auch die europäischen Staaten ihnen anschließen müssten. Bei der UNO-Generalversammlung war freilich von Rechtsanwalt Guido Westerwelle auf seinem Abschiedstrip darüber nichts zu hören. Rückendeckung erhielt Rousseff dagegen von ihren lateinamerikanischen Konterparts. Ob Argentinien, Bolivien oder Uruguay: Alle forderten eine Reform der Weltorganisation und prangerten die globalen Spionageaktivitäten der USA an.

Rousseff unterbreitete den Vereinten Nationen einen konkreten Vorschlag für einen Mechanismus, der die Integrität von Daten im weltweiten Netz künftig sichern soll. Informations- und Meinungsfreiheit, die Privatsphäre und Menschenwürde und insgesamt die Grundrechte sollen damit geschützt werden. Unwahrscheinlich, dass die USA sich darauf einlassen, ein Land, das gerade dem Schriftsteller und Überwachungskritiker Ilja Trojanoff die Einreise verweigert hat. „Wie kann die UNO weiterhin ihren Sitz in einem Land haben, das sie ausspioniert, die Souveränität ihrer Mitglieder nicht respektiert und seit Jahren – wie im Fall der Blockade gegen Kuba – ihre Beschlüsse missachtet“, fragte Boliviens Präsident Evo Morales in den Saal der Generalversammlung. Eine berechtigte Frage, die nur deswegen einer Antwort harrt, weil de facto niemand die Supermacht USA herausfordern kann.

Es bleiben Nadelstiche. Stoppen wird sich die einzig verbliebene Weltmacht so schnell nicht lassen. Das zeigt insbesondere die Jagd auf den Informanten Edward Snowden. Aber alles, was öffentlich wird, trifft das Imperium.

Sehnsucht nach einem besseren Morgen

„Es gab einen unglaublichen Zusammenhalt in der Nachbarschaft“, erinnert sich Rosalia del Villar an jene Tage im September und Oktober 2003, an denen sich die Ereignisse in der Stadt El Alto überschlugen. Tage, die später als der „Schwarze Oktober” in den Volksmund eingehen sollten.
Del Villar selbst erlebte alles aus nächster Nähe: In ihrem Telefonkiosk gingen die Leute ein und aus, um die Proteste zu koordinieren. Wie an jedem kleinen Lädchen hingen auch an ihrem Kiosk Plakate, auf denen „Das ist unser Gas!“ oder „Gas für Bolivien!“ zu lesen war.
In allen Stadtvierteln versammelten sich die Menschen abends an den Straßenecken um Koch- und Feuerstellen. Sie organisierten gemeinsam die Versorgung der Straßenblockaden. „Wir alle hatten akzeptiert, dass wir in diesem Kampf gemeinsam Opfer bringen mussten”, so del Villar.
„Die Gefühle waren gemischt”, erzählt sie. „Wir fühlten uns gegenüber der Ungerechtigkeit und gegenüber den Toten ohnmächtig. Aber gleichzeitig kam auch eine Aufbruchstimmung auf, weil wir nicht mehr bereit waren, die widerrechtliche Aneignung unserer Bodenschätze hinzunehmen.”
Bereits seit 2000 litten die sozialen Bewegungen des Landes unter den heftigen Repressionen seitens der Polizei und des Militärs. In diesem Szenario staatlicher Gewalt begannen Kokabauern und -bäuerinnen, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen, sich zunehmend militanter dagegen zu wehren. Im September 2003 breiteten sich die Demonstrationen im ganzen Land aus, aus verschiedenen Teilen des Landes bewegten sich große Protestmärsche hin zum politischen Zentrum Boliviens. Auch die Bewohner_innen aus El Alto zogen in Massen in das benachbarte La Paz hinab, wo sich die verschiedenen Protestzüge vereinten. Forderungen nach dem Rücktritt „Gonis”, wie der Spitzname des damaligen Präsidenten Boliviens Gonzalo Sánchez de Lozada lautete, wurden immer lauter.
„Ich erinnere mich, dass die Leute von Haus zu Haus zogen und alle aufforderten, mitzugehen”, entsinnt sich del Villar. „Meine ganze Familie ist mitgegangen und an jeder Straßenecke kamen mehr Menschen hinzu, sie fielen sich in die Arme, ohne sich überhaupt zu kennen.”
Kurz darauf wurde ein Hunger- und Generalstreik ausgerufen, der das Land zeitweilens paralysierte. Der Zugang zu La Paz wurde mit Barrikaden versperrt, die Proteste waren auf der Straße, in den Busbahnhöfen und den Märkten. Überall.
Mario Coaquira Huayta, seinerzeit ein Protagonist der Proteste des Gaskriegs, berichtet von seinen Erfahrungen auf den Straßen, den Barrikaden und den Blockaden. Die Menschen seien aus allen Ecken des Landes gekommen. Alt und Jung hätten dort ausgeharrt, manchmal ohne etwas zu Essen. Aber die Situation hätte den Zusammenhalt gestärkt, alles, was es gab, sei miteinander geteilt worden.
Auf einmal, so Coaquira, seien sie zu einer Bewegung geworden, denn alle spürten die Ungerechtigkeit am eigenen Leib. Die Bewegung entstand so gesehen unterwegs, auf der Straße. Dort wurden Pläne für den nächsten Tag geschmiedet. Durch welche Straßen sollte man laufen? Wer würde auf die Kinder aufpassen? Wer würde die Getränke besorgen? Die Barrikaden sollten nie unbewacht bleiben, deswegen organisierte man sich in Schichten. „Es war die Sehnsucht nach einem besseren Morgen.“
Währenddessen reagierten Polizei und Militär mit immer härteren Repressionen. Um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu verängstigen, schossen sie auf Blockaden und Häuser. Theoretisch um den Aufständischen eine Lektion zu erteilen, um sie verstummen zu lassen und zu demobilisieren. Aber das genaue Gegenteil war der Fall, denn die Wut der Menschen wurde noch größer.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober kam es zu einem traurigen Höhepunkt. Es sollte eine der schlimmsten Nächte in El Alto werden. Nach dem gewaltsamen Durchbrechen der Blockaden, ging das Militär weiter mit Entführungen und Verhaftungen vor. Spezialisten der Streitkräfte drangen auf der Suche nach den Anführer_innen der Revolte gewaltsam in die Häuser der Familien El Altos ein.
Gleichzeitig versuchte die Polizei, die Nachbarschaft weiter durch Gewalt einzuschüchtern. Die Frage war, wer als Erstes nachgeben würde, die aufständische Bevölkerung oder die uniformierten Truppen.„Es war ein Massaker von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozano an der bolivianischen Bevölkerung, um die natürlichen Ressourcen transnationalen Firmen zur Verfügung zu stellen“, ist sich Rodolfo Machiaca, Generalsekretär der Gewerkschaft der bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB) sicher. Auch er beteiligte sich damals an den Hungerstreiks, die sowohl von Felix Quispe, Anführer der kleinbäuerlichen Bewegung als auch dem damaligen Gewerkschaftsführer und heutigem Präsidenten Evo Morales geleitet wurden.
Der Konflikt vor zehn Jahren kennzeichnet einen Bruch in der Geschichte des südamerikanischen Landes. Der Gaskrieg führte zur grundlegenden Neuausrichtung der politischen Agenda.
„Unsere gemeinschaftliche Organisationsform, unser ursprüngliches Wirtschaftssystem, unsere traditionelle Form des Selbstregierens in den Gemeinden wurde durch die Kolonialisierung und 50 Jahre neoliberale Regierungen zerstört“, erklärt Machiaca. „Nun haben wir als erstes die Souveränität über unsere Bodenschätze zurückerobert und langsam sind wir auch dabei, unsere Würde im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich zurückzugewinnen.“ Dafür sei es wichtig, den politischen Prozess an der Seite des Präsidenten Evo Morales zu begleiten und mitzugestalten. Machiaca meint, die heutige Regierung höre den sozialen Bewegungen wenigstens zu. Ihm zufolge sei das eine neue Art des Regierens im Rahmen eines intensiven Demokratisierungsprozesses, den noch nicht alle Regierungsbeamt_innen verstanden hätten. Machiaca weiß, dass es ein langer Weg sein wird, bis alle „zuhörend regieren“ und es eine wirkliche Veränderung geben wird. Aber er hat die Hoffnung, dass es den Bolivianer_innen in zehn bis zwanzig Jahren besser gehen wird: „Das geht nicht von heute auf morgen.“

Infokasten:

Der Gaskrieg in Bolivien 2003

6. August 2002 Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, wird nach 1993-1997 zum zweiten Mal Präsident Boliviens.

August 2003 Erste Proteste gegen die Pläne der bolivianischen Regierung, ein Abkommen mit ausländischen Investoren zur Erschließung der Gasreserven zu unterzeichnen. Das Erdgas sollte an die USA und Mexiko verkauft werden und der Transport des Erdgases zum Meer durch den Bau einer Pipeline durch Chile ermöglicht werden. Die Lizenzgebühr der multinationalen Konzerne sollte bei lediglich 18 Prozent der zukünftigen Exportgewinne liegen. Bolivien hat nach Venezuela die zweitgrößten Gasvorkommen Lateinamerikas.

September 2003 Eine Protestwelle aus Straßenblockaden, Demonstrationen und Generalstreiks konzentriert sich zunächst auf das Hochland in der näheren Umgebung des Titicacasees, um dann das ganze Land zu erfassen. In rasantem Tempo verwandelten sich die Proteste in einen Aufstand gegen die bolivianische Regierung mit „Goni“ und Verteidigungsminister Carlos Sánchez Berzaín an der Spitze.

12. und 13. Oktober 2003 Das Militär richtet in der an La Paz angrenzenden Armenstadt El Alto ein Blutbad an. Es gibt weit über 100 Verletzte und 70 Tote. Die Regierung hatte versucht, die Zufahrtsstraße nach La Paz mit Militärgewalt zu durchbrechen, um 20 Tankwagen mit Treibstoff in die Stadt zu schaffen. Sánchez de Lozada rechtfertigt den Einsatz mit der sich zuspitzenden Versorgungsknappheit in La Paz.

14. bis 17. Oktober 2003 Vize-Präsident Carlos Mesa kritisiert die gewaltsame Repression der Proteste durch die Regierung scharf und distanziert sich vom Präsidenten. La Paz erlebt die größten Demonstration seit der Rückkehr zur Demokratie mit über 50.000 Demonstrierenden. Bürger_innen treten landesweit in Hungerstreiks. Täglich treffen zahlreiche Menschen in La Paz ein, um sich den Protesten vor dem Präsidentenpalast anzuschließen. Die katholische Kirche mahnt, weiteres Blutvergießen sei nur noch durch den Rücktritt des Präsidenten zu vermeiden.

17. Oktober 2003 Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada tritt zurück und flieht aus Bolivien in die USA. Carlos Mesa wird Boliviens Präsident. Gut zwei Jahre später gewinnt Evo Morales erstmals die Präsidentschaftswahl.

„Geh‘ doch nach drüben“ auf brasilianisch

Es war eine historische Rede. Luiz Ruffato hat bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengast Brasilien die Mißstände in seinem Land beschrieben und dessen Paradoxien benannt: Gesicherte Wohnanlagen einerseits und Favelas mit Drogenhändlern und korrupten Polizisten andererseits, die weltweit größte Gay Parade und größte Anzahl homophober Attacken, die siebtgrößte Weltwirtschaftsmacht versus der dritte Platz auf der Liste der Ungleichheiten. Die brasilianische Geschichte stütze sich „fast ausschließlich auf der ausdrücklichen Negation des Anderen durch Gewalt und Gleichgültigkeit.“
Für seine klaren Worte erhielt er stehenden Applaus, aber auch andere Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Cartoonist Ziraldo rief: „Dann geh‘ doch aus Brasilien weg!“ und auch andere Schriftsteller der alten Garde grüßten Ruffato am nächsten Tag nicht mehr.
Viele andere Kolleg_innen lobten indes seine Rede. Der Dichter Chacal, bekannt durch seine experimentelle Poesie, berichtete, wie ergriffen er war. In Anspielung auf den brasilianischen Vize-Präsidenten Michel Temer, der in seiner Rede gesagt hatte, dass er selbst ebenfalls Gedichte schreibe, ließ auch Marçal Aquino es sich nicht nehmen zu kommentieren: „Besser ein Künstler der Politik macht, als ein Politiker, der Gedichte schreibt.“ Der junge Schriftsteller João Paulo Cuenca verfasste direkt ein Manifest zur Unterstützung der Rede Ruffatos. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Ruffato über die Kritik an seinen Auftritt.

Herr Ruffato, welche Reaktionen gab es auf Ihre Eröffnungsrede?
Besonders in den sozialen Medien gab es viele agressive Reaktionen auf meine Rede. Eigentlich wollte ich nur, dass die Leute meine Rede lesen und – egal ob sie der gleichen Meinung sind oder nicht – als ein Vorschlag zu Reflexion betrachten. Viele unterstützten mich. Aber die Menschen, die nicht mit mir einverstanden waren, waren sehr aggressiv.
Sie meinten, ich dürfe nicht schlecht über Brasilien reden – besonders nicht hier in Deutschland. Ich habe nicht schlecht über Brasilien gesprochen. Meine Rede war eine Liebeserklärung an Brasilien. Ich hätte das Recht auf einen europäischen Pass. Alle wollen einen europäischen Pass. Ich habe ihn nie gewollt, weil ich mich als Brasilianer empfinde. Die Kritik hat mich sehr verletzt. Es war keine Kritik des Dialogs. Sie wollen, dass ich das Land verlasse.

Jemand sagte, „Er hat die Polemik im Koffer mitgebracht“. Ist es nicht erlaubt, Brasilien zu kritisieren?
Erstens habe ich nicht anderes gesagt, als das, was ich auch bislang immer in Interviews geantwortet habe. Zweitens habe ich als Bürger das Recht zusagen, was ich denke. Wo kann man eine intellektuelle Meinung äussern, wenn nicht an einem Platz, wo Ideen diskutiert werden. Ich sehe dies nicht als Polemik.

Das Image Brasiliens soll für die WM 2014 nicht beschädigt werden?
Wir sind Machos und scheinheilig. Niemand will dies hören. Die Leute wollen, dass wir weiterhin als fröhliche, nette Menschen gesehen werden. Wir sind gar nicht so.

Migration ist ein bestimmendes Thema in Ihren Büchern. Heutzutage ist in Brasilien noch immer eine Ausländergesetzgebung aus Zeiten der Diktatur in Kraft. Wie sehen Sie das im Zusammenhang mit den kubanischen Ärzt_innen und den Portugies_innen und Spanier_innen, die nach Brasilien kommen?
Die Reaktion auf die kubanischen Ärzte war ein klares Zeugnis der Xenophobie. All diese Kommentare über die Qualität der kubanischen Medizin. Und die brasilianische Medizin? Wir sind ein aufgeschlossenes Land und können uns solch ein Verhalten nicht erlauben. Wenige Leute wissen, dass heutzutage die Migrant_innen Arme aus Bolivien und Paraguay sind, die unter sklavenähnlichen Verhältnissen in Brasilien arbeiten. Wir haben keine hochwertige Erziehung, wir bilden keine qualifizierten Kräfte aus. Heute importieren wir Fachkräfte, um die Probleme zu lösen, die der Staat nicht löst. Noch immer wird Staat mit Regierung verwechselt. Meine Kritik richtet sich an den Staat und nicht an die Regierung. Die Diskussion über Migration müssen wir in Angriff nehmen.

Sie haben den fünfteiligen Zyklus Vorläufige Hölle geschrieben, der bis ins Jahr 2002 reicht. Der erste Band ist bereits auf deutsch unter dem Titel Mama, es geht mir gut bei Assoziation A erschienen. Haben Sie vor, einen weiteren Band über die Migrationsentwicklung bis heute zu schreiben?
Nein, er hört nicht aus Zufall 2002 auf. 2002 wurde Lula gewählt und es begann eine neue Ära. Brasilien ist heute industralisiert und urbanisiert und der größte Teil der Bevölkerung lebt in der Stadt. Aber es ist ein Land, das die grundsätzlichen Probleme, über die ich in meinen Büchern schreibe, nicht gelöst hat. Allerdings ist meine Rolle als Schriftsteller bereits erschöpft. In all meinen acht Romanen habe ich dies beschrieben. Ich möchte jetzt andere Themen diskutieren. Aber sicherlich werde ich es als Bürger nicht sein lassen, die bislang von mir angesprochenen Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich habe dazu nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.

Im August hat die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel kritisiert, dass nur ein schwarzer und ein indigener Repräsentant auf die Buchmesse eingeladen wurden. Ist die afrobrasilianische Literatur ausreichend präsentiert?
Ich glaube, die Diskussion ist eigentlich, wie es überhaupt in der brasilianischen Gesellschaft aussieht. Es gibt kaum schwarze Ärzte, kaum schwarze Ingenieure, kaum Rechtsanwälte, kaum Journalisten. Das Problem liegt nicht bei dem Kuratorium, das verschiedene Stimmen aus Brasilien ausgewählt hat, sondern im Rassismus der brasilianischen Gesellschaft, die den Menschen nicht erlaubt sozial aufzusteigen. Das Paradox ist die schlechte Bildung.

Und zum Abschluss, wie ist die Reaktion auf Ihre Bücher?
Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass meine Bücher in Deutschland heutzutage bekannter beziehungsweise sichtbarer sind als in Brasilien. Das ist unglaublich. Ich habe schon mit meinem Verleger gescherzt – wenn ich in Brasilien Repressionen erfahre, beantrage ich hier Asyl.

Die komplette Rede Ruffatos (in deutscher Übersetzung von Michael Kegler) ist auf www.faustkultur.de nachzulesen.

Rinderfarmen im Pekari-Land

Sie nennen sie „Stahlmonster“: die großen Planierraupen, die sich immer häufiger im Norden des paraguayischen Chacogebietes zeigen. Für die indigenen Ayoreo-Totobiegosode bringen diese modernen Ungetüme die Zerstörung ihrer Lebenswelt. Die schweren Arbeitsgeräte pflügen durch den dichten Trockenbusch der Tiefebene im Nordwesten Paraguays und hinterlassen nur noch nackte Erde. Auf ihr sollen Gräser wachsen, damit Rinder weiden können.
Früher galt der Monte, der Buschwald im nördlichen Chaco, als undurchdringlich und gefährlich. Für moderne Maschinen ist aber diese Vegetation, die perfekt an das semi-aride und extrem heiße Klima im Chaco angepasst ist, keine wirkliche Herausforderung mehr. Das einzigartige Ökosystem ist für Viehzüchter_innen kaum mehr als etwas Unkraut, das sich leicht beseitigen lässt.
Wegen steigender Landpreise in den anderen Teilen Südamerikas und wegen der hohen Lebensmittelpreise wird nun der vormals vergessene Chaco für die Agrarindustrie interessant. Auf Satellitenbildern lässt sich die fortschreitende Zerstörung des typischen Buschwaldes im Chaco gut nachvollziehen. Immer mehr schachbrettartige Muster sind zu erkennen, mit dünnen, dunkleren Streifen zwischen den Feldern. Dies sind gerodete Flächen, auf denen Viehweiden entstehen. Die dunklen Streifen sind dann alles, was vom Buschwald übrig bleibt.
Für die Totobiegosode, eine Untergruppe der Ayoreo, bedeutet dies eine Katastrophe. Die Indigenen leben in Familienverbänden als Halbnomad_innen im dichten Buschwald des Chaco. Sie pflegen Gärten, sammeln Wurzeln und wilden Honig im Wald und jagen die Wildschweinen ähnlichen Chaco-Pekaris. Sie wissen, wie man in den langen Trockenperioden im Chaco Flüssigkeit finden kann. Ihre Selbstbezeichnung Totobiegosode bedeutet in ihrer Sprache „Leute von dort, wo die Pekaris leben“.
Doch wenn einmal der Wald gerodet wurde und Rinder darauf weiden, gibt es keine Pekaris mehr. Mit dem Wald verlieren auch die Totobiegosode ihre Lebensgrundlage. Sie müssen weiterziehen, in der Hoffnung, noch freie Waldflächen zu finden. Widerstand gegen die Fremden, die ihnen ihr Land wegnehmen, das haben die Totobiegosode gelernt, ist zwecklos. Den „Stahlmonstern“ machen ihre Speere wenig aus.
Einige Gruppen der Totobiegosode gehören zu den letzten Indigenen im Chaco, die noch in freiwilliger Isolation leben. Da die Ausbreitung der globalisierten Zivilisation ihnen nur Tod durch eingeschleppte Krankheiten und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage gebracht hat, vermeiden sie jeden Kontakt zu Außenstehenden.
Die meisten anderen Ayoreo, auch viele Totobiegosode, haben aber inzwischen Kontakt mit der Außenwelt. Doch in ihren Überlieferungen bezeichnen sie das Eindringen der Fremden in ihre Welt als Katastrophe. Der erste Kontakt zwischen Fremden und Ayoreo war praktisch immer gewaltsam und brutal. Die evangelikale Missionsgesellschaft New Tribes Mission aus den USA veranstaltete ab den 1950er Jahren Menschenjagden auf die Ayoreo. Mit Hubschraubern und Gewehren schüchterten sie die Ayoreo-Gruppen ein, um ihnen den vermeintlichen Segen des Evangeliums nahezubringen. Die „Bekehrung“ der Indigenen war den nordamerikanischen Missionar_innen dabei wichtiger als deren Überleben. Hunderte Ayoreo starben bei den gewaltsam herbeigeführten Erstkontakten, wie der Anthropologe José Perasso in einer Untersuchung 1987 belegte.
Die meisten Ayoreo erlagen Krankheiten, gegen die sie keine Abwehrkräfte hatten. Die Überlebenden müssen nun verarmt als Bettler oder Wanderarbeiter_innen auf den Viehfarmen leben, die sich über das Land erstrecken, das einstmals ihnen gehörte. Es fanden sich aber auch Anthropolog_innen, die die Ayoreo unterstützten. Verena Regehr, die als Nachfahrin mennonitischer Einwander_innen im Chaco aufwuchs, kämpft seit 1993 mit den Ayoreo gemeinsam für deren Rechte. Seitdem haben sie es geschafft, dass wenigstens einige Territorien der Ayoreo vom paraguayischen Staat als deren Besitz anerkannt wird.
Doch in Paraguay, wo die verfilzte Justiz im Zweifel für die Interessen mächtiger Großgrundbesitzer_innen entscheidet, ist dies eine schwierige Aufgabe. Während die Anerkennung indigener Territorien jahrelange Prozesse vor der Justiz verlangt, schreiten die „Stahlmonster“ weiter im Chaco voran und zerstören die letzten Trockenwälder.
Offiziell ist das Land im Chaco bereits seit 1883 verkauft. Damals veräußerte der bankrotte paraguayische Staat die einzige Ressource, die er noch hatte, das staatliche Land. Nur etwa 50 Personen und Firmen kauften dabei das Land im Chaco Boreal, einer Region, ungefähr so groß wie das heutige Polen.
Im Süden des Chaco wurden gerbstoffreiche Hölzer für die Lederindustrie gewonnen, riesige Viehfarmen entstanden und einige wenige Siedlungen europäischstämmiger Einwander_innen wurden aufgebaut. Doch der Chaco blieb ein sehr dünn besiedeltes Land. Dies galt insbesondere für den nördlichen Chaco, der von den damals Moros genannten Ayoreo bewohnt wurde, die als gefährliche Feind_innen der „Weißen“ galten.
Diese mythische Vorstellung des nördlichen Chaco als gefährliches und unrentables Land hat sich in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich gewandelt. Nun ist es eine der letzten vermeintlich „freien“ Regionen, in die sich die expandierende globale Landwirtschaft noch ausbreiten kann.
An diesem Boom möchte auch das wichtigste Unternehmen im Chaco Boreal teilhaben. Seit 1883 ist das vom spanischen Einwanderer Carlos Casado gegründete Unternehmen der größte Landbesitzer im Chaco. Das argentinisch-paraguayische Mischunternehmen Carlos Casado S.A. gehört inzwischen mehrheitlich der spanischen Unternehmensgruppe San José, im Besitz des Magnaten Jacinto Rey González.
Das Unternehmen möchte nun den nördlichen Teil seiner riesigen Besitzungen im Chaco in Wert setzen. In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierte der Konzern seine Aktivitäten auf den südlichen Teil des Chaco Boreals. Rinderfarmen sollen nun im Norden entstehen und auch der Anbau von Jatropha-Pflanzen für die Biodieselproduktion wird angedacht. Dafür beseitigt das Unternehmen den Buschwald im Chaco, in dem häufig noch unkontaktierte Totobiegosode leben. Gegen dieses Vorgehen haben diverse Nichtregierungsorganisationen Protest eingelegt. Die Totobiegosode-Organisation OPIT, die sich auch für die in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo einsetzt, hatte im vergangenen Jahr Klage gegen Carlos Casado S.A. eingereicht. Auch Survival International machte auf die Zerstörung der Lebensgrundlage der Ayoreo durch das Unternehmen aufmerksam.
Carlos Casado setzte dagegen seine Anwält_innen ein. Von der Umweltbehörde erlangten sie eine Bestätigung, dass ihre Rodungen im Chaco nicht die Umwelt zerstören würden. Eine wirkliche Untersuchung wurde dabei nicht durchgeführt. Schon immer hat der paraguayische Staat gegenüber dem mächtigen argentinischen Unternehmen gekuscht. Carlos Casado S.A. sieht sich im Recht. Auf seiner Homepage veröffentlicht das Unternehmen Erklärungen, dass keine Untersuchungen der Justiz gegen das Unternehmen in Arbeit seien. Das Land, das das Unternehmen bearbeite, gehöre ihm auch. Es lasse sich nichts zu schulden kommen.
Formaljuristisch scheint dies erstmal richtig zu sein. Carlos Casado S.A. ist nach paraguayischem Gesetz Besitzerin der Ländereien im Chaco. Doch dies liegt daran, dass diese Besitztitel im 19. und 20. Jahrhundert vergeben wurden, als niemand auf die Besitzansprüche der indigenen Ayoreo achtete.
Die Totobiegosode, die in freiwilliger Isolation leben, haben naturgemäß keine formalen Besitztitel über ihr Land. Doch die Ayoreo-Organisationen sehen sich dennoch als die Besitzer_innen des Landes. Mateo Sobode Chiquenoi, Präsident der Union der Ayoreos in Paraguay, erklärte es 2011 gegenüber dem US-amerikanischen Journalisten Fred Pearce so: „Wir haben keine Landtitel vorzuweisen, aber es gibt noch unsere Spuren aus der Vergangenheit und der Gegenwart, die beweisen, dass es unser Land ist. Es gibt unsere Hütten, unsere Pfade, die Feldfrüchte, die wir im Wald gezogen haben, und die Löcher in den Bäumen, aus denen wir Honig gesammelt haben. Das sind unsere Besitzurkunden.“
Aber selbst die Legalität der offiziellen Besitztitel von Carlos Casado S.A. kann angezweifelt werden. Wie die argentinische Historikerin Gabriela Dalla Corte 2009 in einer umfassenden Studie zu Carlos Casado S.A. nachwies, waren viele Land­erwerbungen von Carlos Casado 1883 illegal.
Als der paraguayische Staat sein Land damals verkaufte, wurden Regeln aufgestellt, die die Konzentration von riesigen Latifundien in den Händen weniger verhindern sollte. Mit Hilfe von Strohmännern und durch Korruption konnte Carlos Casado diese Gesetze umgehen und kaufte sich damals Land in der Größe von Belgien und Luxemburg zusammen.
Schon in den 1970er Jahren erklärte eine staatliche Untersuchungskommission Paraguays, dass die Aktivitäten des Unternehmens negative Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft erwarten lassen und man eine Teilenteignung erwägen sollte. Da das Unternehmen aber gute Verbindungen zur argentinischen Militärdiktatur hatte, durfte es weitermachen wie bisher, zu groß war die Angst vor einer argentinischen Einflussnahme. Schon lange pflegte die Familie Casado gute Verbindungen in die argentinische Politik und ist mit einigen Präsidenten verwandt gewesen. Auch den Chacokrieg gegen Bolivien kämpfte Paraguay von 1932 bis 1935 nicht zuletzt, um die Investitionen argentinischer Unternehmen im Chaco zu schützen. Der damalige Geschäftsführer José Casado war Schwager des damaligen argentinischen Präsidenten Agustín P. Justo. Auch wenn es heute kein Familienunternehmen mehr ist, kann sich Carlos Casado S.A. auf seine Verbindungen in die Politik verlassen.
So waren die Besitzungen von Carlos Casado S.A. im Chaco immer so etwas wie ein Staat im Staate. Die verstorbene Ethnologin Bratislava Susnik schrieb die Geschichte auf, wie 1925 alle Bewohner_innen eines Dorfs der indigenen Guaná von paraguayischen Militärs ermordet wurden, weil Carlos Casado S.A. die Indigenen des Viehdiebstahls bezichtigte. Das Unternehmen zerstörte den Quebrachowald des südlichen Chaco Boreals, um Gerbstoffe zu gewinnen.
Auf den Fabriken im Hafenort Puerto Casado galten im vergangenen Jahrhundert die Rechte der Arbeiter_innen nichts und das Wort des Geschäftsführers und Sohn des Firmengründers José Casado alles. „Im Himmel Gott, in Puerto Casado José Casado“, soll er gesagt haben.
Angesichts dieser Berichte erscheinen die heutigen Äußerungen von Carlos Casado S.A. zum Streit mit den Ayoreo wie blanker Hohn. Das Unternehmen hätte sich immer ein gutes Verhältnis zu Umwelt und Menschen bemüht, schreibt es im März 2013 in einem offenen Brief an Survival International. Die Indigenen des Chaco Boreal, die nicht erst in den letzten Jahren von Carlos Casado S.A. vertrieben wurden, dürften dies anders sehen.

Kino abseits des Latinohypes

„Cine Global bringt die Filme ins Kino, die ins Kino gehören, aber von den grösseren Verleihfirmen nicht ins Kino gebracht werden“, erklärt Daniel Ó Dochartaigh, Gründer von Cine Global. Der engagierte Lateinamerika-Liebhaber sieht sich auf der Suche nach Filmjuwelen auf internationalen Filmfestivals um.
Er hat festgestellt, dass viele kleine Produktionen es nie bis in die deutschen Kinos schaffen: „Mit ihnen lässt sich nicht genug Geld verdienen, es gibt zu wenig oder gar keine Förderung und ein Verkauf ans Fernsehen ist unmöglich.“ Hier setzt die Idee von Cine Global und der Reihe Cinespañol an. Rund fünf spanischsprachige Filme bringt der Verleih pro Jahr in die deutschen Kinos. Die Filme der ersten Edition, die in mehr als 50 Städten in Deutschland und Österreich zu sehen waren, sind nun auf einer DVD-Box vereint und bieten einen guten Einblick in das kreative Autor_innenkino Lateinamerikas – abseits des Mainstreams. „Aufgrund unserer Größe könnten wir beim Kauf mancher Filmrechte gar nicht mithalten. Aber es gibt eben auch viele kleine Produktionen, die wesentlich günstiger zu haben sind als die ein, zwei großen Latinohypes jedes Jahr”, sagt Daniel Ó Dochartaigh.
Dabei versammeln sich auf der Box keine namenlosen Regisseur_innen. Auch in Deutschland dürfte das Filmschaffen von Daniel Burman bekannt sein. In El Nido Vacío lässt er die beiden argentinischen Schauspielgrössen Cecilia Roth und Óscar Martínez in die Rolle eines in die Jahre gekommenen Ehepaars schlüpfen. Die Kinder sind erwachsen und ziehen aus. Zurück im „leeren Nest“ bleiben verlassene Eltern, die sich erst wieder kennen lernen müssen.
Ein weiterer Höhepunkt der Box ist die kubanische Liebesgeschichte Personal Belongings. Der Einzelgänger Ernesto und Ana, ebenfalls eine Einzelgängerin, lernen sich kennen. Und lieben. Doch während sich die bodenständige Ana mit dem Leben auf der Insel arrangiert hat, gibt es für Ernesto nur einen Traum: Kuba zu verlassen, so schnell wie möglich. So schließen die beiden den Pakt, sich nicht zu verlieben. Wer ihnen dabei zuschaut, weiß bald, dass ihnen das nicht gelingen wird. Dennoch bleibt der Ausgang der Geschichte bis zum Schluss ungewiss. Kann die Liebe Ernesto dazu bringen, auch sein Vaterland wieder schätzen zu lernen?
Aus Mexiko stellt Cine Global den Film Abel vor. Das Regiedebut des Schauspielers Diego Luna ist eine einfühlsame Satire über das Leben in einer mexikanischen Familie und deren Zerfall. Der neunjährige Abel hat aufgehört zu sprechen, seit sein Vater die Familie in Richtung USA verlassen hat. Zwei Jahre hat er in einer Klinik verbracht – ohne Erfolg. Jetzt darf er zurück nach Hause und merkt schon bald, dass ein männliches Familienoberhaupt fehlt. Kurzerhand übernimmt er selbst die Rolle des Vaters und Ehemanns. Schwierig wird es, als der echte Vater eines Tages wieder vor der Tür steht. Abel dreht sich aber nur vordergründig um die Psyche des Jungen. Der Film beschreibt beispielhaft die Situation vieler Kinder Lateinamerikas, die ohne Vater aufwachsen.
Ein anderes Familienporträt zeichnet Zona Sur, eine der seltenen Produktionen aus Bolivien, die es bis nach Europa geschafft haben. Erzählt wird die Geschichte einer Familie der Oberschicht, deren Leben sich durch die Machtübernahme von Evo Morales grundlegend ändert, langsam ihre Privilegien verliert, dies aber nicht wahrhaben will. Die außergewöhnliche Kameraführung erzeugt dabei bei den Zuschauer_innen eine schwindelerregende Beklemmung, die den oberflächlichen und beziehungsarmen Familienalltag charakterisiert.
Die DVD-Box ist nun die Chance für alle, die die Filmreihe Cinespañol im Kino verpasst haben. Alle Filme sind in der spanischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln versehen. Momentan tourt bereits die zweite Version der Filmreihe durch deutschsprachige Kinos. Und eine dritte Edition ist schon in Planung und soll im Dezember 2013 starten, unter anderem mit den Filmen Torrente 4, De Martes a Martes und Tiempos Menos Modernos.

Die komplette DVD-Box Cinespañol ist beim Cine Global Filmverleih direkt im Internet auf www.dvd.cinespanol.de zu einem Preis von 33 Euro erhältlich. Weitere Informationen, Termine und Kontakte auf www.cinespanol.de. Auf Wunsch können dort auch weitere Termine für Gruppen oder Organisationen gebucht oder Unterrichtsmaterialien zu den einzelnen Filmen heruntergeladen werden.

„Europa begeht die gleichen Fehler wie einst Lateinamerika“

Herr Präsident, hunderttausende Europäer_innen leiden derzeit unter den Folgen der Eurokrise, vor allem in den südlichen Staaten der EU: Griechenland, Zypern, Spanien. Während die EU an den alten Rezepten festhält, propagiert Ihre Regierung das Konzept des „Guten Lebens“. Diese Frage stellen sich wohl viele EU-Bürger gerade. Wie lebt man gut? Und vor allem: Wie kann eine Regierung das „Gute Leben“ garantieren?
Nun, garantieren kann es niemand, aber man kann die Grundlagen schaffen. Es ist aber übrigens kein Konzept meiner Regierung, sondern der Indigenen. Es stammt von den Aymara in Bolivien, wurde aber auch von den Angehörigen der Quichua in Ecuador angenommen. In dieser Sprache heißt es „Sumak Kawsay“. Es geht dabei darum, in Würde zu leben, ohne nach immer mehr Reichtum zu streben. Es geht darum, in Harmonie mit der Natur und den Mitmenschen zu leben. Aus dieser Position der Indigenen leitet sich die Kritik unserer Regierung am Konsummodell der westlichen Staaten ab.

Bei einer Konferenz in der Technischen Universität Berlin sagten Sie, Lateinamerika habe bereits zu Genüge erlitten, was Europa gerade durchlebt. Kann Europa von Ihnen lernen?
Es kommt darauf an, ob das Ziel darin besteht, die Krise schnell und mit minimalen Belastungen für die Menschen zu überwinden. In solch einer Situation geht es zunächst natürlich um die Fehler, die gemacht wurden. Etwa bei der Einführung des Euros oder bei der mangelnden Angleichung von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Wenn aber der Wille besteht, diese Krise ohne große Folgen für die einfache Bevölkerung zu meistern, dann besteht die erste Lehre darin, nicht die gleichen Fehler zu begehen, die wir gemacht haben. Denn die Maßnahmen, die einst in Lateinamerika getroffen wurden, haben die Krise verlängert und verstärkt. Und eben die gleiche Politik sehen wir nun in Europa.

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland und Europa ein offenes Ohr für die Lehren aus Lateinamerika haben?
Wissen Sie, ich gebe in der Regel keine Ratschläge, wenn ich nicht darum gebeten werde. Von der TU Berlin aber wurde uns das Thema „Wege aus der Krise“ vorgeschlagen. Wir haben dafür also einige der Krisen in Lateinamerika mit den aktuellen Problemen in Europa verglichen. Die Ähnlichkeiten sind beeindruckend. Anfang der 1980er Jahre hatten wir auch eine Schuldenkrise. Sie rührte daher, dass das internationale Finanzkapital uns Kredite geradezu aufgezwungen hatte. Und als die Krise kam, standen wir dem Problem des over-borrowing gegenüber. In vielen Fällen war dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte zudem an Diktaturen ohne jedwede soziale Kontrolle oder demokratische Legitimation geflossen. Als dann die Krise einsetzte, kam der Internationale Währungsfonds mit seinen sogenannten Hilfspaketen. Ging es ihnen darum, diese Krise zu überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der immensen Schulden zu gewährleisten. Deswegen hat sich die Lösung der Krise über zehn Jahre hinausgezögert. Heute ist von dem verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador etwa ist in die 1990er Jahre mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen gestartet wie es das Land schon 1976 hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Diesen Fehler sehen wir heute auch in Europa.

In Lateinamerika sind in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Bündnisse entstanden wie die Celac oder ALBA. Wie hat das die internationale Politik verändert?
Das kann sehr viel verändern. Wir entwickeln diese Projekte Schritt für Schritt und haben schon einiges erreicht. Etwa in der neuen regionalen Finanzarchitektur, die wir diskutieren und hoffentlich bald ausbauen. Was die Union südamerikanischer Staaten, die UNASUR, seit ihrer Gründung 2008 geleistet hat, geht weit über die Entwicklung der Europäischen Union im gleichen Zeitraum hinaus. Im Handel etwa. Es ist jedoch erstaunlich, wie sich 27 Länder mit verschiedenen Themen und politischen Kulturen, Religionen und Sprachen vereinen konnten. Und es ist ebenso erstaunlich, dass das den lateinamerikanischen Staaten mit einer einigermaßen gleichen Sprache, Kultur und einem politischen System in der Vergangenheit lange Zeit nicht gelungen ist.

Wie kann die Finanzarchitektur in Lateinamerika beeinflusst werden?
Wir schaffen ein neues System der Abrechnung. Wenn ich 500 Millionen US-Dollar aufwende und der regionale Handelspartner 400 Millionen US-Dollar, brauchen wir dann 900 Millionen? Nein, wir rechnen das gegenseitig auf und benötigen 100 Millionen. Das ist eine Sache.
Eine andere Absurdität ist die Politik der autonomen Zentralbanken, die die staatlichen Reserven außer Landes geschafft haben. In Ecuador haben wir das schon korrigiert. Wir sprechen hier von 400 Milliarden US-Dollar, mit denen wir reiche Länder finanziert haben. Für diese Reserven in ihren Banken haben wir lediglich 0,5 Prozent Zinsen bekommen, vielleicht bis zu ein Prozent. Im Gegenzug aber mussten wir uns für sechs bis sieben Prozent Zinsen Gelder leihen.

In Honduras und Paraguay wurden progressive Regierungen gestürzt. Gegen Ihre Regierung gab es einen Putschversuch, ebenso in Bolivien und Venezuela. Weshalb schaffen es die linken Regierungen in Lateinamerika nicht, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen?
Wie können wir einen Konsens erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben fünf Versuche der Destabilisierung erwähnt, zwei davon erfolgreich. Alle fünf Putschversuche und Staatsstreiche richteten sich gegen progressive Regierungen. Keine einzige rechte Regierung war davon betroffen. Das zeigt doch ganz klar, was hier geschieht. Offenbar sind wir die Gefahr. Die Demokratie ist solange gut, wie sie nichts verändert. Aber mit den neuen Demokratien und den progressiven Regierungen gibt es eine Veränderung und das ruft mächtige Feinde auf den Plan.
Wenn es ihnen genehm ist, verteidigen sie die Demokratie, aber wenn wir die Gegebenheiten auf demokratische Weise reformieren, zögern sie nicht, Präsidenten zu stürzen und zu ermorden. Diesen Kräften müssen wir uns in unseren amerikanischen Staaten stellen und sie besiegen.
Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer gemeinhin, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den 1960er Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage in Lateinamerika zu verstehen. Oder an den Kampf gegen die Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg geraten und fast zerbrochen sind. Das ist ein guter Vergleich und Kontext, um das aktuelle Geschehen in Lateinamerika zu verstehen.

Erklärt sich durch diese massiven Differenzen in den Gesellschaften auch der Konflikt nach den jüngsten Wahlen in Venezuela?
Ja. Die venezolanische Rechte hat immer versucht, ein knappes Ergebnis zu erreichen, um ihre Pläne der Destabilisierung in Gang zu setzen. Auch in der Ära von Hugo Chávez. Zum Glück sind während seiner Regierungszeit alle Wahlergebnisse sehr deutlich ausgefallen und das hat ihre Pläne durchkreuzt. Wenn Hugo Chávez mit nur wenigen Prozentpunkten Abstand gewonnen hätte, hätte die Opposition einen solchen Sieg bis heute nicht anerkannt.
Der nun unterlegene Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung durchgesetzt. Nach dem Argument, das er nun anführt, hätte er damals das Amt nicht antreten dürfen. Nicolás Maduro hat sich am vergangenen Sonntag mit über 200.000 Stimmen durchgesetzt. Das entspricht gut einem Prozent. Und das erlaubt ihnen wieder Unruhe zu stiften, was sie ja immer angestrebt haben.
Wir als ecuadorianische Regierung haben eine sehr klare Position. Nach der Wahl soll nachgeprüft werden, was nachgeprüft werden muss. Das ist die Entscheidung der Venezolaner und ihrer staatlichen Institutionen. Für uns aber ist und bleibt Nicolás Maduro der Gewinner dieser Wahl. Und wir müssen sehr deutlich den Versuchen der Destabilisierung entgegentreten.

Sprechen wir über das Verhältnis zu den Medien. Weshalb stehen die linken Reformregierungen ausnahmslos in ständigem Konflikt mit den Medien?
Wer, denken Sie, gehört zu den Gegnern der laufenden Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Zu denjenigen, die Chaos schaffen und putschen? Wer war zur Zeit der Regierung Salvador Allendes der größte Verschwörer? Die Tageszeitung El Mercurio! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.
Wir unterscheiden sehr gut zwischen der Meinungsfreiheit und bestimmten korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren. Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Vertretern der Kräfte gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten, sondern aller Menschen weltweit. Stellen Sie sich vor: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Privatkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. Konzernen, die sich, wenn es um das Recht auf Information und eigene Interessen geht, immer für mehr Gewinn entscheiden werden.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis für die progressiven Kräfte Lateinamerikas in der breiten Öffentlichkeit Europas?
Sicher, weil zwischen uns keine Information, sondern Propaganda steht. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, Mario Vargas Llosa, ein ausgemachter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt El Comercio in Lima während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet. Er tat das, weil die Redaktion die Wahrheit verdreht und andersdenkende Journalisten gefeuert hat. Eine Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist ebenso absurd wie wenn wir Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Demokratie ablehnen würden. Die Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld hatten, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Wir sehen also, dass es zwei unterschiedliche Diskurse über Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in Europa und Lateinamerika gibt. Spielt das auch im Fall Julian Assange eine Rolle?
Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt. Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechtes gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas.

Infokasten:

Rafael Correa
ist seit 2006 Präsident Ecuadors. 2009 und 2013 wurde er mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Der linksgerichtete Staatschef hatte vor seiner politischen Karriere an Universitäten in Ecuador und den USA als Dozent gearbeitet. Während seines Aufenthalts in Berlin war es ihm nach eigenen Angaben ein besonderes Anliegen, an der Technischen Universität einen Vortrag über die Eurokrise und die wirtschaftlichen Konzepte der Neues Linken in Lateinamerika zu halten.

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