“ES GIBT KEIN GUTES LEBEN OHNE BETEILIGUNG”

Guillermo Churuchumbi Der Politiker gehört zum linken Flügel der indigenen Partei Pachakutik. Er gewann 2014 die Bürgermeisterwahl und regiert seither als erster Indigener den Kanton Cayambe. Der trotz Morddrohungen vor Energie sprühende Bürgermeister nutzt die Spielräume, die die Verfassung bietet: zum Beispiel, um die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern. (Foto: Ulli Winkler)
Guillermo Churuchumbi
Der Politiker gehört zum linken Flügel der indigenen Partei Pachakutik. Er gewann 2014 die Bürgermeisterwahl und regiert seither als erster Indigener den Kanton Cayambe. Der trotz Morddrohungen vor Energie sprühende Bürgermeister nutzt die Spielräume, die die Verfassung bietet: zum Beispiel, um die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern. (Foto: Ulli Winkler)

Guillermo Churuchumbi ist seit 2014 erster indigener Bürgermeister eines Bezirks in Ecuador, Cayambe mit 120.000 Einwohner*innen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über Ecuador nach den Erdbeben und das Einbringen indigener Elemente in die Realpolitik.

Seit dem schweren Erdstoß im April 2016 gab es bis zuletzt viele Nachbeben. Sie sind Bürgermeister im Landkreis Cayambe. Inwiefern ist Ihre Region betroffen?
Die Erdbeben haben das ganze Volk getroffen – die einen direkt, die anderen indirekt. Wenn wir über Cayambe sprechen: Hier leben viele Menschen, deren Familien ursprünglich von der Küste im Nordwesten stammen, wo das Epizentrum lag. Die meisten sind auf der Suche nach Arbeit wegen der Blumenplantagen nach Cayambe gekommen. Viele Familien haben nun Verwandte aus der betroffenen Provinz aufgenommen, die kein Obdach mehr haben und müssen sie mitversorgen. Wir haben mehrere Solidaritätskampagnen organisiert, um Lebensmittel, Wasser, Kleidung zu beschaffen und gemeinsame Mittagessen zu veranstalten. Das alles unter Beteiligung der Bewohner und der kommunalen Behörden. Wir bemühen uns, die Hilfe direkt dort ankommen zu lassen, wo sie die Menschen benötigen.

An Solidarität fehlt es nicht?
Nein. Es gab und gibt sehr viel Solidarität. Leider haben wir nicht alle Orte erreicht, die Hilfe benötigen könnten, weil sie zu weit entfernt und zu schwer erreichbar sind. So sind manche Betroffenen zu kurz gekommen. Dessen ungeachtet praktizieren wir in Cayambe weiterhin gelebte Solidarität mit einigen der betroffenen Gemeinden in der nördlichen Küstenprovinz Esmeraldas.
Das Erdbeben mit über 650 Toten ist nun bald ein halbes Jahr her. Ist der Wiederaufbau im Gang?
An einigen Stellen, an anderen Stellen noch nicht. Es gibt ja auch nach wie vor Nachbeben, einschließlich in der Hauptstadt Quito. Wie lange das noch andauert, ist ungewiss. Aber was wir sagen können, ist, dass betroffene Familien bereits Pläne für den Wiederaufbau gemacht haben. Was es nun braucht, ist, dass auf allen Ebenen dafür gearbeitet wird, dass die Menschen sich selbst organisieren, um ihren Bedürfnissen beizukommen – selbstverständlich bedarf es dabei der staatlichen Unterstützung. Der Staat muss für die wirtschaftliche Wiederbelebung sorgen, beim Tourismus, bei der Landwirtschaft und beim Prozess der Vermarktung. Wenn diese Sektoren wieder in Schwung kommen, entstehen auch Einkommen für die Familien. Wir müssen gemeinsam den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Wirtschaft vorantreiben. Die Häuser, die Schulen, die zerstörte Infrastruktur muss neu aufgebaut werden. Da setzen unsere Solidaritätskampagnen in Cayambe an. Unser Schwerpunkt liegt dabei auf der Region Cabo San Francisco und der Stadt Muisne in der Provinz Esmeraldas..

Es ist eine große Herausforderung für das ganze Land?
Genau. Für alle. Für die Bürgermeister wie mich, ob nun direkt betroffen oder nicht, allein wegen unserer Verantwortung und den sozialen Beziehungen, die wir zwischen den Regionen haben. Insgesamt ist es eine gemeinsame Verantwortung von allen für alles. Das geht bei der Zentralregierung los, die Steuern und Sonderabgaben auf den Weg gebracht hat, um Gelder für den Wiederaufbau zu generieren. So leisten alle Ecuadorianer ihren Beitrag für den Wiederaufbau der Küste im Norden.

Stimmt es, dass Sie seit 2014 der erste Bürgermeister in Ecuador mit indigenem Hintergrund sind?
Auf kantonaler Ebene, ja. Seit vor 180 Jahren Ecuador in Kantone strukturiert wurde, bin ich der erste indigene Bürgermeister eines solchen Kantons. Im Kanton leben 120.000 Menschen, die Hälfte davon sind Indígenas. Es gibt aber eine kulturelle Vielfalt, nicht nur die indigene Kultur. Für mich und die indigene Partei Pachakutik bedeutet das eine Herausforderung.

Wie kam es zum Wahlsieg?
Wir haben 2014 die Wahlen gewonnen, weil die Leute die Zustände satt hatten: die Korruption, die Vetternwirtschaft, den Populismus. Keiner konnte sich auf den öffentlichen Sektor verlassen. Öffentliche Politik muss doch heißen, die Menschen zu beteiligen, muss doch heißen, sich mit den Bürgern über ihre Forderungen abzustimmen. All das war leider keine Praxis in der Vergangenheit. Weil die Leute mit der traditionellen Politik nichts mehr anfangen konnten, waren sie offen für die neuen Ansätze und Ideen, die die indigene Partei Pachakutik einbringt, und für neue Personen.

Neue Personen wie Sie. Wie wurden Sie überhaupt Kandidat?
Ich wurde von den sozialen Bewegungen auf den ersten Listenplatz von Pachakutik gewählt. Die sozialen Bewegungen haben entschieden, dass ich der Kandidat für das Bürgermeisteramt sein sollte. Das ist das Prinzip: Der Kandidat braucht die Unterstützung der sozialen Bewegungen, die politischen Ansätze den Rückhalt der Bevölkerung. Für den Sieg brauchten wir eine kollektive Kampagne, denn wir mussten uns auch der üblichen Praxis des Stimmenkaufs erwehren, wir mussten uns der traditionellen Parteien erwehren, die den Kanton immer in ihrer Hand hatten. Wir haben uns als Alternative präsentiert und damit gewonnen!

Worin besteht die Alternative?
In der Partizipation, wir beteiligen die Bürger am Entscheidungsprozess. Wir stehen im ständigen Dialog mit der Bevölkerung im Allgemeinen und mit den Stadtteilbewohnern im Konkreten, wenn es darum geht, Politik umzusetzen. Bei der Müllentsorgung, bei der Parkerneuerung, bei der Wasserversorgung. Hier geht es nicht darum, dass die Leute passiv darauf warten, dass der Staat alles für sie tut. Sie sollen in direkter Demokratie mit­entscheiden, aber auch direkt mitgestalten und dabei mit Hand anlegen, sodass Stadtverwaltung und Bürger wirklich zusammenarbeiten.

Und funktioniert das?
Ja. Das Problem der Wasserqualität war über viele Jahre ungelöst: In weniger als zwei Jahren haben wir es geschafft, die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern und das mit qualitativ gutem Wasser. Auch den Kampf gegen die Korruption haben wir angepackt, sowohl im Transportwesen als auch bei den sozialen Programmen. Dort setzen wir auf einen Prozess der transparenten Beteiligung. Das gibt uns eine Garantie, dass wir ein nachhaltiges Regieren schaffen, und das bedeutet, dass wir eine partizipative Demokratie entwickeln mit den Menschen, von den Menschen, für die Menschen.

Im Einklang mit sich selbst: Im Kanton Cayambe wird an der Praxis des "Guten Lebens" gearbeitet (Foto: Marcio Ramalho CC-BY-2-0 )
Im Einklang mit sich selbst: Im Kanton Cayambe wird an der Praxis des “Guten Lebens” gearbeitet (Foto: Marcio Ramalho CC-BY-2-0 )

Das partizipative Element entspricht ja auch dem „Buen Vivir“ oder „Sumak Kawsay“, dem „Konzept vom Guten Leben“, wie es seit 2008 auch in der Verfassung Ecuadors festgehalten ist. Wo liegen die Schwierigkeiten, dieses Konzept in Realpolitik zu überführen?
Vorab muss festgehalten werden, dass es sich bei „Buen Vivir“ oder „Sumak Kawsay“ auch um eine Utopie handelt, einen Traum, wie der Mensch in Fülle und Harmonie mit Mutter Natur zusammenlebt. Aber davon abgesehen geht es darum, sich im Hier und Jetzt die Frage zu stellen, wie man jeden Tag das „Gute Leben“ praktizieren kann. Gut zu leben bedeutet, mit sich selbst im Einklang zu leben, mit deiner Familie glücklich zusammenzuleben, mit deinen Nachbarn glücklich zusammenzuleben, deinen Freunden und Bekannten und sich zu überlegen, wie man in Harmonie mit der Natur leben kann. Wenn das in einer Gemeinde möglich ist, ist es im Prinzip auch in einem Land möglich, ist es auch geopolitisch möglich. Man kann in Deutschland das „Gute Leben“ praktizieren.

Sie halten „Buen Vivir“ im Kapitalismus für möglich?
In Ansätzen. Leider ist der Kapitalismus in jede Ecke Deutschlands, aber auch Ecuadors vorgedrungen. Was bedeutet Kapitalismus? Konzentration des Reichtums, Armut von vielen Menschen, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zur Bereicherung weniger und nicht zur Umverteilung an viele. Das ist mit „Sumak Kawsay“ unvereinbar. Beim „Sumak Kawsay“ wird der Natur nur so viel entnommen, wie man zum „Guten Leben“ benötigt, der Reichtum wird umverteilt zum Wohlbefinden der Menschen und der Natur. Das ist die ökonomische Ebene. Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bereits über 150 Jahre währt und sich nicht von heute auf morgen überwinden lässt. Aber klar: Es ist notwendig, den Kapitalismus zu überwinden, um den Weg für ein „Buen Vivir“ frei zu machen. Mit dem Kapitalismus lässt sich der Klimaerwärmung nicht begegnen, mit dem Kapitalismus geht die Armut von vielen Millionen Kindern einher und ein paar wenige Familien haben unermessliche Reichtümer angesammelt. Das ist kein humanes System, das ist Barbarei. Wegen der Akkumulation der Reichtümer existieren Kriege.

In Ihrer Region Cayambe wird das „Sumak Kawsay“ schon angewandt. Wie läuft das, wenn es in der Bevölkerung Gruppen gibt, die unter „Gutem Leben“ eher den „American way of life“ verstehen und vor allem ihre Konsumlust ausleben wollen?
Dieser Frage stellen wir uns praktisch. Ein Thema, an dem wir arbeiten, ist, wie wir das Gemeinschaftswesen zurückerlangen. Das gemeinschaftliche Wissen, die gemeinschaftlich betriebene Wasserversorgung, das gemeinschaftliche Nutzen von Brachflächen. Wir wollen auch eine gemeinschaftliche Ökonomie entwickeln, eine solidarische auf Gegenseitigkeit beruhende Wirtschaft. In kleinen Gemeinden funktioniert das schon. Was im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen funktionieren. Wir arbeiten am Thema Minga: So heißt die besondere Form der Gemeinschaftsarbeit, die in Ecuador Tradition hat. In zwei Jahren haben wir es geschafft, dass diese Form auch in städtischen Vierteln praktiziert wird und nicht nur in den indigenen Gemeinden, wo sie herstammt. Auch in den Städten müssen die Menschen lernen, wie Selbstorganisation funktioniert.

Und die Leute sind mit Ihrer Regierungsführung zufrieden?
Bis zum jetzigen Zeitpunkt 70 Prozent. 15 Prozent aus der Opposition, die die Wahlen verloren hat, sind gegen uns, auch weil sie bis heute nicht verstehen, warum sie verloren haben.

Bei den nationalen Präsidentschaftswahlen 2017 tritt Präsident Rafael Correa nach zehn Jahren nicht mehr an. Wie ist seine Bilanz?
Die Regierung Correa hat Erfolge und Misserfolge vorzuweisen. Ich bin weder Correalista noch Opposition – die Opposition ist die Rechte. Wir von Pachakutik sind eine linke Alternative, kommen aus alternativen Bewegungen und schlagen Alternativen auf lokaler und nationaler Ebene vor. Correa hat den Staat modernisiert und gestärkt, auf der Strecke blieb die Partizipation. Die Regierung hört nicht auf die Bevölkerung, bezieht sie nicht mit ein und die Ureinwohner auch nicht. Die Regierung war sehr stark in den fetten Zeiten, aber in Zeiten der Wirtschaftskrise zeigt sie sich schwach, aber auch die sozialen Bewegungen zeigen da ihre Schwächen. Was auch immer die Wahlen 2017 bringen mögen, ob die Regierungspartei Alianza País gewinnt oder nicht. Wir haben eine Empfehlung an alle: Bezieht die Ureinwohner mit ein, gewinnt sie für die Gesellschaft, nutzt ihr Wissen und wendet „Sumak Kawsay“ an, erklärt den Leuten alles, macht alles mit den Leuten und hört ihnen zu. Deswegen halten wir von Pachakutik es für wichtig, mit einer eigenen Kandidatin anzutreten, das wird Lourdes Tibán sein, die die parteiinternen Vorwahlen im August deutlich gewonnen hat. Wir werden auch versuchen, Allianzen für eine Alternativregierung zu schmieden. Wir hoffen, dass wir von Pachakutik bei den Wahlen 2017 mit unserem Alternativprojekt Anklang finden. Sonst droht Ecuador der rohe Neoliberalismus, so wie in Argentinien derzeit unter Mauricio Macri: Privatisierung der Bildung, Entlassungswelle bei den staatlich Beschäftigten, Preiserhöhungen bei Strom und Wasser. Oder was mit Dilma Rousseff in Brasilien passiert ist: Krise – und die Rechte ist zurück.

Wie viel Realitätsgehalt hat der Slogan „Bürgerrevolution“, den die Regierung Correa propagiert?
Er ist auf alle Fälle mehr Slogan als Wirklichkeit. Wie gesagt, es gab Erfolge, bedeutende Fortschritte in der Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Aber es fehlt die Partizipation. Der Staat ist engagiert, aber der Staat kann so stark sein, wie er will, ohne die Beteiligung der Bürger lässt sich kein „Buen Vivir“ schaffen.

DER EWIGE ORTEGA

„Es gibt niemanden, den man wählen könnte“, stand auf dem Zettel, den Mitglieder der Gruppe der 27 auf der Pressekonferenz am 9. August in Managua in die Kameras hielten. Der demokratische Raum sei von den Regierenden geschlossen worden, kritisierte Fabio Gadea Mantilla. Er ist einer der Sprecher der Gruppe der 27 und scheiterte bei den letzten Präsidentschaftswahlen als Gegenkandidat von Daniel Ortega, der grauen Eminenz der Sandinisten*innen. Er zieht im Hintergrund die Fäden und sorgt dafür, dass der Opposition in Nicaragua die Luft zum Atmen fehlt.
Die Wahlen seien nur eine Maske, mit der eine Diktatur verschleiert werde, hieß es bei der Pressekonferenz der 27. Dieser gehören auch der Befreiungstheologe, Sandinist und Dichter Ernesto Cardenal sowie die populäre Schriftstellerin Gioconda Belli an. Letztere warnte vor der Zentralisierung der Macht in den Händen von Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo. Das Paar stehe der Regierung vor, als seien sie von Gott gesalbt um an der Macht zu bleiben, kritisiert die 67-Jährige, die einst selbst in der sandinistischen Guerilla gekämpft hat und Ortega entsprechend lange kennt.
Ortega war einer von damals neun Comandantes der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Diese prägt seit dem 19. Juli 1979, seit dem Sieg der Revolution über den seit 1934 regierenden Somoza-Clan, das Land. Bereits 1984 wurde Ortega als erster Präsident nach dem Sturz der Somoza-Diktatur gewählt. Er scheiterte dann jedoch in den Wahlen vom Februar 1990 an der konservativen Kandidatin Violeta Chamorro. Das Land war kriegsmüde und vom Terror der von den Vereinigten Staaten unterstützten Contra-Guerilla zerrüttet. Nach der Wahl Chamorros kandidierte Ortega in den folgenden Jahren immer wieder für das höchste Staatsamt – ohne Erfolg. Erst 2006 schaffte er es wieder in den Präsident*innenpalast einzuziehen, dank eines Bündnisses mit dem korrupten Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán von der Liberalen Partei. Seitdem regiert der heute 70-jährige Ortega das Land gemeinsam mit seiner 65-jährigen Frau Rosario Murillo. Sie ist Sprecherin der Regierung, Ministerin und de facto das Gesicht der Macht. Bei der Wahl vom 10. November kandidiert die durchsetzungsstarke Murillo als Vizepräsidentin. Ortegas Kritiker*innen sehen deshalb eine neue Familiendynastie aufziehen.
Ortega sei dabei, so Fabio Gadea Mantilla, ein Einparteien-Regime mit dynastischen Zügen zu errichten. „Illegitim“ seien die anstehenden Wahlen, denn die Opposition sei „praktisch ausgesperrt“, kritisierte Carlos Tunnermann, ein weiterer aus der Gruppe der 27. Daran lässt sich kaum rütteln, denn in den vergangenen Jahren wurden die oppositionellen Parteien nach und nach mundtot gemacht. Erst wurde die vom ehemaligen Vizepräsident Sergio Ramírez mitgegründete Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) unter einem fadenscheinigen Vorwand für aufgelöst erklärt. Seitdem tritt die MRS als Teil der Allianz der nationalen Koalition für die Demokratie an, der als größte Partei die Liberale Partei (PLI) vorsteht. Doch auch die ist nun kaum mehr handlungsfähig: Denn im Juni hat der Oberste Gerichtshof einen Streit um die parteiinterne Vorherrschaft zugunsten des Ortega nahestehenden Pedro Reyes entschieden. Dagegen liefen die 16 Anhänger*innen des Parteivorsitzenden Eduardo Montealegre Sturm und wurden auf Anordnung des Obersten Wahlrats aus dem Parlament geworfen.
Dort verfügt die PLI über 24 Sitze, die absolute Mehrheit hat mit 64 der 90 Sitze aber die FSNL von Daniel Ortega. Daran wird sich Umfragen zufolge nichts ändern, denn Ortega führt sie mit 64 Prozent der Stimmen an und sollte der 70-Jährige, dem eine angegriffene Gesundheit nachgesagt wird, die Legislaturperiode nicht durchhalten, stünde seine Frau und Vizepräsidentin zur Stelle. Die ist in den letzten Jahren zu mehr als einer Präsidentengattin geworden und gilt vielen Oppositionellen als diejenige, die den Ton in der Regierung und der FSLN angibt. Die Partei stellt sechs der sieben Posten im Parlamentsvorsitz und auch die Justiz und der oberste Wahlrat gelten als Ortega-treu. Alles Gründe, weshalb nicht nur die Gruppe der 27 von einer Wahlfarce spricht.
Anfang September gab nun der frühere Außenminister und ehemalige Vorsitzende der Liberalen Partei, Eduardo Montealegre, bekannt, dass er sich aus der Politik zurückzieht. Folglich steht die Opposition ohne echten Kandidaten da, wodurch sich der Eindruck einer Wahlfarce verstärkt. Dazu passt, dass internationale Wahlbeobachter*innen ausdrücklich nicht erwünscht sind, wenn die rund 3,5 Millionen Wahlberechtigten am 10. November zu den Urnen schreiten. Das gilt mehr oder weniger auch für Pressevertreter*innen: Kritische Berichterstattung über den Nicaragua-Kanal ist genauso wenig erwünscht wie über die politischen Strukturen des Landes oder gar die Abläufe in der FSLN. „Für Ortega ist wichtig, dass alles den Anschein der Legitimität erweckt“, erklärt Carlos Tunnermann von der Gruppe der 27. Das sei aber immer schwieriger aufrechtzuerhalten, schreibt Sergio Ramírez, Schriftsteller und der ehemalige Vizepräsident der FSLN während Ortegas erster Amtszeit. „Es gibt keine glaubwürdigen Kandidaten, keinen unabhängigen Wahlrat, […] aber eine Wahlmaschine, die mit staatlichen Ressourcen gespeist wird“, betont er auf seiner Homepage. Für Ramírez (siehe den folgenden Text im Heft) ist die Zentralisierung der Macht unter der Regie Ortegas beispiellos und mit der Zunahme der Macht sei das Regime immer intoleranter geworden. So müssten nun auch Journalist*innen mit einer Ausweisung rechnen, wenn sie über unliebsame Themen wie die Armut schreiben.

FREILAUFENDER TIGER

In Nicaragua bewegen wir uns auf Präsidentschaftswahlen zu, die keine echten sein werden. Selbstverständlich ist alles im Voraus entschieden worden, damit der Comandante Daniel Ortega sie zum dritten Mal hintereinander gewinnt. Es gibt keine glaubwürdigen Oppositionskandi­daten, denn diejenigen, die es waren, sind durch einen Beschluss des Hohen Gerichtshofs, welchen der Hohe Wahlrat am selben Tag umsetzte, von den Wahlen ausgeschlossen worden. Diese Wahlen werden ohne internationale Beobachter stattfinden, weil sie der Präsident der Republik höchstpersönlich für unerwünscht erklärt hat. Und ohne eine zumindest minimal glaubwürdige Wahlbehörde, da sie der Regierung unterworfen ist. Was in einem darüber hinaus zerrissenen institutionellen Gefüge des Landes noch bleibt, ist deren absolutem und allgegenwärtigem Willen unterworfen.
Weder gibt es aktuell, noch wird es auf den Straßen oder auf dem Fernsehbildschirm einen enthusiastischen kontrastreichen Wahlkampf geben, noch Meinungsumfragen, die Wahltendenzen zeigen, welche sich von einen Tag auf den nächsten ändern könnten, ebensowenig Debatten zwischen Kandidaten, die in der Lage wären, diese Umfragen zu beeinflussen. Kurz gesagt, all das, was heutzutage als etwas Normales in all den Ländern gilt, in denen das demokratische System gedeiht, und die Macht durch faire Wahlen entschieden wird. Die einzigen Massenkundgebungen werden die des offiziellen Kandidaten sein, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Staatsmitteln, und dahinter der Propagandaapparat der Regierungspartei, fähig die Straßen mit Fahnen und Plakaten zu überfluten,  und die unter offizieller Kontrolle stehenden Radio- und Fernsehsender mit Slogans und Spots. Praktisch eine einzige Partei, die in einem einzigartigen Raum Wahlkampf führt. Es ist was man in gutem nicaraguanischen Spanisch „Kampf des freilaufenden Tigers gegen einen gefesselten Esel“ zu nennen pflegt.
Das Land entfernt sich immer mehr von dem, was man das durchschnittliche Modell der politischen Entwicklung in Lateinamerika nennen könnte. Trotz ökonomischer Krisen, sozialer Unruhen und sogar institutioneller Ungewissheit, sind die demokratischen Wege (in den anderen Ländern) immer noch offen, und die Entscheidung der Wähler*innen wird respektiert. Und selbst im Falle sehr knapper Ergebnisse – so wie bei den vor kurzem durchgeführten Wahlen in Peru – stellt niemand die faire Zählung der Stimmen in Frage, und der Wahlbetrug scheint vom politischen Panorama verbannt zu sein.
Normal funktionierende Demokratie in Bezug auf Wahlen ist natürlich nicht alles, sie beseitigt nicht  per se die gravierenden sozialen Diskrepanzen, noch schiebt sie der Korruption einen Riegel vor, diesem wiederkehrenden Laster, das das gesamte System in Schach hält, wie man in Brasilien gesehen hat. Doch nirgendwo, außer in Nicaragua, ist die absolute Machtkonzentration die Tendenz, und die Demontage der Institutionen, bis sie in reine Dekoration umgewandelt sind, die morgen  ganz von den Bühnen verschwinden werden, weil sie nutzlos sind.
Unter diesem Konzept der absoluten Macht zeigt sich das Regime immer intoleranter, wie man es gesehen hat bei der jüngsten Ausweisung ausländischer Bürger, unter ihnen US-Amerikaner, die in unser Land kommen, um bürokratische Aufgaben oder akademische, soziale oder politische Recherchen oder journalistische Reportagen über Themen durchzuführen, die zu Tabus geworden sind – solche wie die Armut oder den großen Interozeanischen Kanal, oder einfach um sich an ökologischen Programmen in ländlichen Gemeinden zu beteiligen. Dies hat dazu geführt, dass drei Länder – Mexiko, die USA und Costa Rica – ihre Bürger vor den Risiken einer Reise nach Nicaragua öffentlich gewarnt haben.
Doch die regierende Elite fühlt sich sicher und zuversichtlich. Sie baut auf die Gunst der Umfragen, auf eine organisierte und unter Kontrolle gehaltene Basis, die durch den Staatsapparat zu den öffentlichen Plätzen und auch zu den Wahlurnen mobilisiert werden kann und auf einen effektiven und treu ergebenen repressiven Polizeiapparat. Auf der anderen Seite befindet sich die Opposition –  dezimiert oder als illegal erklärt – aber es gibt genügend „Parteien“, die bereit sind, gegen Abgeordnetensitze und andere Posten an dem Wahlspiel teilzunehmen, so wie es in Nicaragua seit Somozas Zeiten (Somoza-Diktatur 1936-1979, Anm. d. Red.) gang und gäbe gewesen ist.
Und vor allem die Apathie ist in Mode. Die Bedürfnisse des täglichen Überlebens haben mehr Gewicht als das Interesse für die Demokratie und der Respekt vor den institutionellen Regeln. Auf den Straßenkundgebungen, die freie und faire Wahlen fordern, versammelt sich nur eine Handvoll Leute. Die einzigen, die in der Lage waren, die ländliche Bevölkerung in großen Mengen zu mobilisieren, sind die Anführer der Bewegung, die ihr Eigentum in den vom Bauprojekt des Großen Kanals gefährdeten Regionen verteidigen. Eine Bewegung, die unter der städtischen Bevölkerung kaum Anklang findet.
Das Regime baut auch auf seine Allianz mit dem Privatunternehmertum, das gelernt hat, sich vor Comandante Ortegas heftigem Diskurs gegen den US-Imperialismus und den Kapitalismus nicht zu ängstigen. Die Goldene Regel dieser Beziehung lautet, dass die politischen Angelegenheiten von den Verhandlungstischen ausgeschlossen bleiben, an welchen die wirtschaftlichen Themen besprochen werden. die sich wiederum an dem vom Internationalen Währungsfonds empfohlenen Rahmen anpassen.
Diese politischen Maßnahmen haben es möglich gemacht, dass die staatlichen Bilanzen ein gewisses Wachstum aufweisen, dennoch ein weniger rasches als der Zuwachs an neuen Millionär; sie haben weder eine nennenswerte Reduzierung der Armut herbeigeführt, auch  nicht der Arbeitslosenquote, noch haben sie Nicaragua aus der Liste der rückständigsten Länder Lateinamerikas herausgeholt, in der wir Haiti den Schlusslichtplatz streitig machen.
Und die USA wissen, dass es hinter der feurigen Rhetorik Ortegas gar keine reale Gefahr für die Interessen ihrer hemisphärischen Sicherheit gibt. Die jüngste Ausweisung US-amerikanischer Funktionäre ist zu einem – wenn überhaupt – störenden Vorfall heruntergespielt worden. Das in Nicaragua vorhandene Modell der Abschaffung der Demokratie steht keineswegs  im Widerspruch zu der alten These Washingtons darüber, dass das, was am meisten zählt, wenn man Lateinamerika zum Fokus der Politik macht, die Stabilität ist, die besteht, bis der Vulkan ausbricht. Doch noch gibt es keine seismischen Erschütterungen, die darauf hinweisen würden, dass etwas Ähnliches sich bald ereignen könnte.
Die Stimmen sind also im Voraus gezählt. Es ist, als ob die Wahlen von November dieses Jahres bereits stattgefunden hätten.

DAS PRINZIP DES KLEINEREN ÜBELS

Peru hat viele Tage der Anspannung hinter sich. Am 5. Juni gingen die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde – eine Stichwahl zwischen der rechtspopulistischen Keiko Fujimori und dem liberalen Technokraten Pedro Pablo Kuczynski, der in Peru in der Vergangenheit schon die Posten als Wirtschafts- und Premierminister inne hatte. Die Hochrechnungen am Wahltag sahen Kuczynski mit seiner Partei Peruanos Por el Kambio (PPK) mit etwa einem Prozent vor der Kandidatin Fujimori von der Partei Fuerza Popular – zu feiern wagte bei solch einem knappen Vorsprung jedoch niemand.
Vier Tage lang blieb die Situation unklar und mit der wachsenden Unsicherheit kam auch die Angst vor einem Wahlbetrug auf – und zwar auf beiden Seiten. Am 9. Juni gab die Nationale Wahlorganisation (ONPE) schließlich die Ergebnisse bekannt, die den Sieg von Kuczynski mit knappen 50,12 Prozent bestätigten – gegen 49,88 Prozent der Stimmen für Keiko Fujimori.
Das Erstaunliche daran: Noch zehn Tage vor den Wahlen hatte Keiko Fujimori bei allen Umfragen vorne gelegen, während Kuczynski eine Niederlage vorausgesagt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein plötzliches Erstarken der PPK aussieht, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nicht der Partei als solcher zuzurechnen. „Die Ergebnisse der Stichwahl stellen weniger einen Triumph des Kandidaten Kuczynski, als vielmehr einen Sieg der Kampagne ‚Nein zu Keiko‘ dar“, so die Einschätzung des Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlers Augusto Álvarez Rodrich in der Zeitung La República.
Keiko Fujimori ist die Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 als Präsident von Peru amtierte und extrem autoritär unter Missachtung der Menschenrechte regierte. Für viele Peruaner*innen symbolisiert Keiko Fujimori die Fortsetzung des autoritären Regimes – von Mitte bis Links gibt es daher eine geschlossene Ablehnung gegen alle Politiker*innen der Familie Fujimori.
Kuczynski hat diese Stimmung vor der anstehenden Stichwahl für sich zu nutzen gewusst. „Ich möchte Präsident von Peru sein, um die Demokratie zu verteidigen”, sagte er im zweiten Fernsehduell, das Ende Mai zwischen ihm und Fujimori stattfand. „Ich glaube an die Freiheit und ich bin überzeugt, dass diese Freiheit in Peru extrem gefährdet ist. Deshalb möchte ich alle Peruaner, egal welcher politischen Überzeugung, dazu aufrufen, die Freiheit zu verteidigen und die Rückkehr der Diktatur, der Korruption und der Lügen mit unseren Stimmen zu verhindern. Bürger, jetzt oder nie. Bis zum letzten Tisch, bis zur letzten Wahlstimme, es lebe Peru!“. Mit diesen Worten hatte Kuzcynski sich erfolgreich als Antifujimorist und als Demokrat positioniert, was denn auch der Schlüssel zu höheren Umfragewerten war. Wähler*innen von links und aus der Mitte konnte Kuzcynski für sich gewinnen, sofern sie gegen Fujimori waren. Auch hatte Kuczynski es geschafft, sich glaubhaft als Bekämpfer der Korruption zu präsentieren.
Fujimori hatte sich besonders mit zwei Fällen in der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht. Zum einen wird der Generalsekretär und Hauptfinanzier der Wahlkampagne von Keiko Fujimori, Joaquín Ramírez, offenbar von der US-amerikanische Drogenfahndung DEA gesucht – wegen möglicher Verbindungen zum Drogenhandel und Verwicklung in Geldwäsche. Das behauptet zumindest der peruanische Ex-Pilot Jesús Vásquez. Zum anderen besteht der Verdacht, dass José Chlimper, der unter Fujimori als Vizepräsident kandidierte und die Kampagne ihrer Partei anführt, einem Fernsehsender eine gefälschte Audio-Datei zukommen lassen habe, auf der angeblich derselbe Jesús Vásquez gesteht, dass die Anschuldigungen gegen Ramírez falsch seien.
Dieser versuchte Betrug, zusammen mit den Beschuldigungen gegen Ramírez und gegen andere Mitglieder der Fuerza Popular, von denen sich Keiko Fuijimori bis heute nicht klar distanziert hat, dürfte viele ihrer Anhänger*innen und Sympathisant*innen abgeschreckt haben. Das war wiederum entscheidend für die Stärkung der anti-fujimoristischen Bewegung, der sich Kuczynski am Ende seiner Wahlkampagne anzunähern vermochte.
Aber auch die formale Unterstützung in letzter Minute von Seiten der peruanischen Linken war entscheidend für den plötzlichen Stimmungswechsel unter den Wähler*innen. Die Kandidatin des linken Parteienbündnisses Frente Amplio („Breite Front“), Verónika Mendoza, verpasste in der ersten Wahlrunde als Dritte knapp die Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang rief sie ihre Anhänger*innen überraschend dazu auf, Kuczynski zu wählen „um dem Fujimorismus den Weg zu versperren, der heute eng mit Korruption und Drogenhandel verbunden ist.“
Durch diesen Aufruf, der auch auf Quechua über  diverse lokale Radios ausgestrahlt wurde, konnte Verónika Mendoza die Bevölkerung im Süden des Landes erreichen, die eigentlich gegen Kuyzynski und vor allem das von ihm repräsentierte Wirtschaftsmodell ist. Der Süden hatte in der ersten Runde großenteils Mendoza gewählt. Ihr Aufruf dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Wähler*innen für Kuzcynski zu gewinnen, die andernfalls ungültige oder leere Wahlzettel bei der Stichwahl abgegeben hätten.
Der Anti-Fujimorismus stellte das ganze Land unter Spannung. Bezeichnend dafür war eine nationale und internationale Großkundgebung am 31. Mai, die von dem Kollektiv „Nein zu Keiko“ organisiert wurde. Eine große Demonstration fand unter anderem auf dem Platz Dos de Mayo in Lima statt: Mehr als 70.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen Politiker*innen, Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, unabhängige Aktivist*innen, Angehörige der Opfer des Regimes von Alberto Fujimori, soziale Bewegungen, öffentliche Personen, Journalist*innen und Studierende. Obwohl bei dieser Demonstration nicht dazu aufgerufen wurde, Kuczynski zu wählen, gab es eine klare Ablehnung der Wahlenthaltung. Dadurch wurden indirekt viele noch unentschiedene Anti-Fujimorist*innen überzeugt, den Ökonomen und ehemaligen Minister zu wählen.
„Der Anti-Fujimorismus stabilisiert sich als ein großer Akteur des politischen Lebens“, schreibt auch der Historiker Antonio Zapata mit Anspielung auf die peruanischen Wahlen im Jahr 2011, wo es zu einem ähnlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Keiko Fujimori und dem damaligen Kandidaten Ollanta Humala gab, bei dem die rechtspopulistische Kandidatin ebenso verloren hatte. Damals hatte es eine ähnliche Bewegung gegen sie gegeben, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.
Die Partei Fujimoris ist damit dauerhaft in eine schwierige Situation geraten. Für den Historiker und Sozialwissenschaftler Nelson Manrique werden sich „die Spannungen zuspitzen, die den Fujimorismus zerreißen“, so seine Einschätzung. Tatsächlich trägt Keiko Fujimoris Partei auch intern viele Konflikte aus. Ihr Vater Alberto Fujimori hat zum Beispiel wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Wahlstrategie seiner Tochter gezeigt. Hinzu kommt ein Machtstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Kenji darüber, wer die Partei anführt.
Vom Tisch ist das Erbe Alberto Fujimoris damit aber noch lange nicht. Mit 73 von insgesamt 130 Kongressmitgliedern stellt die Partei Fuerza Popular die absolute Mehrheit im Kongress und kann Kuczynskis Regierung in vielen Punkten blockieren. Keiko Fujimori hat außerdem eine starke Opposition angekündigt. Es bleibt offen, ob das in Form von Boykott passiert, oder ob es doch ein Stück weit Kooperationen geben wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen, bei denen Fujimori und Kuczynski sich gar nicht so uneinig sind. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Fuerza Popular, die – wie Kuzcynski – den internationalen Markt für Bergbau-Investitionen öffnen will, Interesse daran hat, dass dieses Modell während der PPK-Regierung funktioniert, da sie im Falle eines Scheiterns keine Chance hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Sie könnten aber auch die Taktik einschlagen, die nun an die Macht kommende Kuczynski-Regierung zu destabilisieren. „Wir wissen schon, wem der Kongress gehört“, sagte Pedro Spadaro, Vorsitzender von Fujimoris Partei Fuerza Popular, in einem Anfall von Überheblichkeit. Dieser Vorgeschmack auf möglicherweise Kommendes deutet eher auf eine autoritär und anmaßend agierende Fraktion hin.
Ein Fragezeichen ist die peruanische Linke mit der Fraktion der Frente Amplio. Einerseits war ihr Aufruf entscheidend für den Wahlsieg des zukünftigen Präsidenten: andererseits bedeutete diese Unterstützung in letzter Minute aber noch lange keinen Pakt mit Kuczynski. Die Frente Amplio hat nun also die Hände frei, um als echte Opposition zu handeln, die „die Logik der neoliberalen Akkumulation hinterfragt, die von beiden Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird“, wie Manrique hofft, und die „eine inklusive Politik fordert, ein Zurückholen unserer Kulturen und unserer Identität, und die sich mit jeder Form von Diskriminierung auseinandersetzt, indem sie radikale Änderungen fordert.“
Eine Koalition mit Kuczynski schloss Verónika Mendoza indes aus. Sie stellte klar, dass ihre 20 Kongressmitglieder eine wachsame Opposition stellen würden, die aber jene Projekte der Regierung unterstützen werden, die mit dem Programm der Fraktion vereinbar sind. Wenn die Frente Amplio sich Chancen auf die Präsidentschaft ab 2021 eröffnen will, wird ihre Arbeit im Kongress von zentraler Bedeutung sein. Dafür muss die Fraktion geschlossen und zusammen bleiben, und ihre politische Linie beibehalten, mit der sie sich als dritte politische Kraft in Peru stabilisiert hat – als progressive Linke: inklusiv, offen zum Dialog, dezentralistisch, interkulturell und respektvoll gegenüber Menschenrechten und  Umwelt. Es wird aber auch nötig sein, die mehr als acht Millionen Anhänger*innen von Fujimori zu verstehen und auf sie einzugehen, anstatt sie zu verteufeln.
Kuzcynski wird seine Amtszeit indessen in einem besonderen Kontext antreten. Für Sinesio López, Sozialwissenschaftler von der Katholischen Universität Lima, wird sich mit dem Wahlsieg Kuczynskis in Peru eine geteilte Regierung etablieren: Eine Partei stellt den Präsidenten, die andere Partei stellt die Mehrheit im Kongress. Angesichts diesem möglichen Problem der „Unregierbarkeit“ hält López es für wahrscheinlich, dass Kuczynski „die Konfrontation vermeiden und eine Politik der Einigung in mehrere Richtungen verfolgen wird: Einigungen mit dem Fujimorismus, was das wirtschaftliche Modell angeht, und Abkommen mit der Mitte und der Linken, was die Sozialpolitik und den Kampf gegen Korruption oder für Freiheit und Menschenrechte angeht.“ Das waren auch die ersten Worte Kuczynskis als gewählter Präsident. In einer Rede nach dem Wahlsieg stellte er klar, dass er eine Politik des Dialogs mit allen politischen Kräften im Land etablieren wolle.
Die Herausforderung, vor der der neue Präsident somit steht, ist groß: Ein Land regieren, das polarisiert ist zwischen einem starken Fujimorismus  im Kongress, und einem starken Anti-Fujimorismus, für den die Menschen auf die Straße gehen und der sowohl in der politischen Mitte als auch bei der Linken sehr präsent ist. Er wird daher zeigen müssen, mit beiden Seiten auf ausgeglichene Art und Weise verhandeln zu können. Das ist aber nicht einfach. Wird Kuczynski zum Beispiel mit den Fujimorist*innen über die Freilassung des Ex-Präsidenten verhandeln, der seit Jahren im Gefängnis ist? Als ihm die Frage gestellt wurde, antwortete Kuczynski, dass er Fujimori nicht begnadigen würde, ließ aber die Möglichkeit eines Hausarrests statt einer Gefängnisstrafe offen. Dabei darf er aber auch nicht vergessen, dass es der starke Antifujimorismus war, der ihn überhaupt in den Regierungspalast gebracht hat. Für diese Bewegung ist es inakzeptabel, den Ex-Präsidenten aus dem Gefängnis zu lassen.
Für Salomón Lerner Febres, ehemaliger Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, ist einer der wichtigen Faktoren, dass die neue Regierung ihre Versprechen in Sachen Menschenrechte einhält. Das heißt, dass nicht nur alle Arten der Diskriminierung bekämpft werden, sondern auch ein Plan der Personensuche von Verschwundenen aufgestellt wird. Der „Plan Integral de Reparaciones“ für die Opfer der Gewaltperiode, die Peru zwischen 1980 und 2000 erlebt hat, müsse weitergeführt werden, so Lerner. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass nach einem Null-Toleranz-Prinzip mit Korruption verfahren wird. Das Gesetzesprojekt des „zivilen Todes“ für Korrupte müsste daher weitergeführt werden, sowie die Unverjährbarkeit für Korruptionsdelikte.
Und schließlich müsste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Wirtschaftspolitik Kuczynskis, die ausländische Investitionen besonders im Bergbau fördern will, und dem Schutz der Umwelt, zu dem sie sich verpflichtet hat, sowie der Einhaltung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Befragung indigener Völker bei allem, was auf ihren Territorien stattfinden soll, vorschreibt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Kuczynski in der Vergangenheit sein öffentliches Amt als Minister dazu genutzt hat, den transnationalen Firmen große Vorteile zu bescheren – zum Nachteil der peruanischen Bevölkerung. Bekannt ist unter anderem der auf Kuczynski lastende Vorwurf, er habe der International Petroleum Company geholfen, aus dem peruanischen Finanzsystem 115 Millionen US-Dollar herauzuziehen, als er 1968 Geschäftsführer der Zentralbank war. Außerdem wurde er 2001 als Berater der Firma Hunt Oil eingestellt, im selben Jahr also, in dem er sein Amt als Wirtschaftsminister antrat. Als Minister soll er dem Unternehmen ein Preiszugeständnis für das Erdgasfeld (lote) Nr. 56 gewährt haben. Zudem hatte er auch maßgebliche Gesetzesänderungen unterstützt, die Hunt Oil ermöglichten, die Produktion des Erdgasfeldes Nr. 88 zu exportieren, was die Deckung des nationalen Gasbedarfs gefährdete.
Kuczynski bestreitet diese Vorwürfe bis heute. Viele befürchten, dass er transnationalen Unternehmen Vorteile einräumen wird. Seine öffentlich gezeigte Geringschätzung der andinen und indigenen Völker lassen jedenfalls Jahre der sozialen und ökologischen Konflikte befürchten, deren Preis menschliche Leben sein könnten, wie es in Bagua, Tía María oder Conga der Fall war. Man solle ihn nicht als „kleineres Übel“ wählen, hatte Kuczynski noch gesagt, sondern als Vorteil für das ganze Land. Wie das mit seiner industrienahen Position vereinbar ist, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

FALLSTRICKE DER TRANSFORMATION

Wählerinnen in El Alto
Wähler*innen in El Alto (Fotos: Ximena Montaño)

Erstmals seit seinem Amtsantritt 2006 hat Boliviens Präsident Evo Morales einen Urnengang verloren. Eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Kandidatur im Jahr 2019 erst ermöglicht hätte, wurde im Referendum vom 21. Februar von 51,3 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Es war auch das erste Mal in der Geschichte, dass alle Bolivianer*innen gefragt wurden, ob sie ihre Verfassung ändern wollen. „Ein wichtiges Rendezvous mit der direkten Demokratie“, nannte José Luis Exeni, Mitglied der Wahlbehörde, deshalb das Plebiszit. Die Möglichkeit dafür hatte die Verfassung von 2009 geschaffen. Diese war innovativ, nicht nur weil sie Bolivien aufgrund seiner indigenen Bevölkerungsmehrheit zum plurinationalen Staat erklärt und damit die Existenz von 36 Kulturen anerkannt hatte. Sie sieht auch drei Formen von Demokratie vor: repräsentativ, direkt/partizipativ und kommunitär – und zwar ohne, dass eine dieser Formen den anderen übergeordnet wäre. Unter kommunitärer Demokratie versteht man eine Versammlungsdemokratie mit Rotationsprinzip, eine traditionelle Entscheidungsform in indigenen Gemeinden.
Die Feministin Elisabeth Peredo beklagte vorab dennoch: „Dieses Referendum stellt uns nicht nur zu einem völlig verfrühten Zeitpunkt vor eine wahlpolitische Alternative. Es hat auch die grundsätzlichen Themen unseres Landes auf ein einfaches Ja oder Nein reduziert. Die Debatte über das Entwicklungsmodell, über die Gefahren, die Bolivien angesichts der globalen Veränderungen drohen, die Frage, ob wir weiter auf jenes megalomane Wachstum setzen sollen, dem ­unsere ­Regierenden­ sich verschrieben haben.“
In der Tat steht das südamerikanische Land vor großen Herausforderungen. Dass makroökonomische Indikatoren wie Wachstum (in den vergangenen Jahren über fünf Prozent) und Armutsminderung (rund 20 Prozent seit 2002) Bolivien ein sehr positives Zeugnis ausstellen, bedeutet nicht, dass es keine drängenden Probleme gäbe. Zwar sind die Sozialausgaben gestiegen. Doch sie bestehen vor allem aus monatlichen Zahlungen kleiner Beträge an verschiedene soziale Gruppen (Schwangere, Kinder, Alte, etc.), ohne dass sich beispielsweise die Qualität oder Ausdehnung der staatlichen Gesundheitsversorgung spürbar verbessert hätte. Noch federn die internationalen Reserven des Landes den weltweiten Absturz des Erdgas- und Ölpreises ab. Doch im Bergbau zeigen sich schon Auswirkungen der auf dem Weltmarkt ebenfalls gesunkenen Erzpreise. Diese zu erwartende tiefe Wirtschaftskrise, die in den Nachbarländern bereits wütet, ist der Grund, warum die Regierung schon zum jetzigen Zeitpunkt auf die Abhaltung des Referendums drängte: Sie sah ihre Gewinn-Chancen schwinden. Das Kalkül ging nicht auf,. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.“, kommentierte Evo Morales das Ergebnis.
Bolivien hat zunehmend auf Rohstoffexport und Agroindustrie gesetzt, auch wenn dies laut Vizepräsident Álvaro García Linera nur vorübergehend sein sollte, um irgendwann später eine Industrialisierung und wirtschaftliche Diversifizierung finanzieren zu können. Damit einhergehende Konflikte und Umweltzerstörung wurden in Kauf genommen. Im Sommer 2015 wurden alle Naturschutzgebiete des Landes – Bolivien erstreckt sich weit ins Amazonasbecken hinein – für die Suche nach Ölreserven freigegeben. Vor allem aber hat dieser Extraktivismus längst die typischen Übel hervorgerufen, welche auf Rohstoffrenten zielende Gesellschaften charakterisieren: „Die Überschüsse aus den Rohstoffexporten­ sind nicht für eine Umwandlung der Produktion verwendet worden, sondern um klientelistische Strukturen zu schmieren und so die politische Kontrolle über die Gesellschaft zu verstärken und den Aufstieg einer neuen Bourgeoisie zu ermöglichen“, sagt der Linksintellektuelle Luis Tapia.

Alles korrekt - Stimmauszählung in La Paz
Alles korrekt – Stimmauszählung in La Paz

Seit vergangenem Jahr haben Korruptionsskandale das politische Projekt der Regierungspartei Moviemiento al Socialismo (MAS) schwer erschüttert, an der Spitze wie an der Basis. In der ersten Jahreshälfte 2015 kam heraus, dass praktisch flächendeckend Millionenbeträge in US-Dollar aus dem Fondo Indígena, einem bedeutenden, aus Erdgasexporteinnahmen finanzierten Regierungsfonds zur Förderung indigener und kleinbäuerlicher Organisationen, auf Privatkonten der Führungsriegen gelandet waren. Die geförderten Projekte wurden niemals ausgeführt. Über 200 Gerichtsverfahren sind in Gang, eine ehemalige Ministerin, zwei Senatoren der MAS und eine Reihe bekannter Führungspersonen großer, regierungstreuer Organisationen befinden sich in Haft. Ein politisches Erdbeben für die selbsterklärte „Regierung der sozialen Bewegungen“. Dabei waren­ gerade die indigenen ­Organisationen, die laut Morales für die ethische Integrität seines Transformationsprojekts stehen sollten, besonders betroffen. Zwei davon, CONAMAQ und CIDOB, hatten bereits Jahre zuvor unter anderem diese klientelistischen Praktiken kritisiert und deshalb die Seiten gewechselt. Doch sind sie inzwischen durch systematische Diffamierung und Spaltung seitens der Regierung weitgehend zerrieben.
Die MAS hat sich die großen sozialen Organisationen einverleibt und zur unbedingten Loyalität verdonnert, anstatt ihre Autonomie als notwendiges demokratisches Korrektiv zur enormen Wirkungsmacht staatlicher Institutionen anzusehen und den Dialog zu suchen. Die traditionelle existierende korporative Kultur wurde noch verschärft. Beispielsweise wurden in El Alto ganze Fakultäten der Universität, ganze Stockwerke in Krankenhäusern und ganze Abteilungen der Stadtregierung bestimmten Lokalfürst*innen und ihrem Gefolge „zugesprochen“. Das heißt, sie besetzen dort die Stellen und verteilen die Gelder, ungeachtet von Bedarf, Qualifikation und Qualität. Ansonsten bestünde nicht nur in El Alto die Gefahr, dass massive Demonstrationen den Bürgermeister stürzen könnten – wo wiederum die Teilnahme nicht etwa freiwillig ist, sondern mit Anwesenheitslisten kontrolliert wird. „Die Leute haben diese Strukturen gründlich satt“, erklärt Eliana Tambo, Aktivistin aus einem Jugendprojekt in El Alto. „Nur deshalb ist in El Alto vergangenes Jahr die Oppositionskandidatin Soledad Chapetón Bürgermeisterin geworden.“
Genau das war auch der Hintergrund der tragischen Vorfälle in El Alto vier Tage vor dem Referendum, wo im Zuge einer Demonstration für die bessere Ausstattung von Schulen ein Gebäude der oppositionellen Lokalregierung angezündet wurde. Sechs Angestellte starben an Rauchvergiftung. Wie übel das politische Klima im linksregierten Bolivien in jüngster Zeit ist, wird dadurch deutlich, dass der Vizeinnenminister Marcelo Elío noch am selben Abend öffentlich kommentierte, es handle sich bei dem Angriff auf die Stadtregierung von El Alto um ein „Selbst-Attentat“ der Opposition. Der Fernsehsender Telesur meldete nicht weniger eilfertig, Oppositionelle hätten ein Regierungsgebäude der MAS angezündet – und musste diese Verdrehung der Tatsachen hinterher richtigstellen. Verhaftet wurde schließlich ein Anführer der großen Straßenhändler*innenorganisation, die mit dem ehemaligen MAS-Bürgermeister Patana in enger Verbindung steht. Seine Leute hatten gezielt das Gebäude angezündet, um Ermittlungsakten gegen die Korruption aus der Amtszeit von Patana zu vernichten.
Auch Präsident Morales selbst wurde schließlich Protagonist eines Skandals. Anfang Februar beschuldigte ihn der Fernsehjournalist Carlos Valverde, eine Geliebte in den Aufsichtsrat eines chinesischen Unternehmens namens CAMC Engineering gehievt zu haben. Diese Firma hat in den letzten Jahren Infrastrukturaufträge im Wert von 566 Millionen Dollar von der bolivianischen Regierung zugesprochen bekommen. Valverde legte zum Beweis die Geburtsurkunde eines Kindes von Evo Morales mit der betreffenden Gabriela Zapata vor – die keinerlei Qualifikation für den Posten mitbrachte. Der Präsident gestand ein, mit der damals 19-Jährigen ein paar Jahre ein Verhältnis gehabt zu haben – beschuldigte Valverde jedoch umgehend, als ehemaliger Geheimdienstler im Auftrag des US-Imperialismus zu handeln. Es ist nicht auszuschließen, dass beide Seiten mit ihren Beschuldigungen recht haben. Doch hat die Reputation von Morales durch diese reflexhafte Reaktion nur noch mehr Schaden erlitten.
Auch der international als intellektueller Vordenker der Regierung geltende und durch zahlreiche Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Vizepräsident García Linera musste in der Woche vor dem Referendum Federn lassen: Obwohl er in seinen zahlreichen Büchern als Mathematiker und Soziologe firmiert, wurde bekannt, dass er keinen dieser Studiengänge jemals abgeschlossen hat.
Die Tragik liegt darin, dass Bolivien in einem Kontinent, in dem der koloniale Habitus der Unterordnung unter den Patrón die politische Kultur immer noch sehr stark prägt, eben wegen seiner innovativen Verfassung eine wichtige symbolische Ausstrahlung hatte. Die Begriffe der Entkolonisierung und Entpatriarchalisierung, beides heute zentrale Begriffe der Emanzipation nach lateinamerikanischen Maßstäben, sind dort geprägt worden. Doch sind sie mittlerweile aus dem offiziellen Diskurs der Regierung Morales verschwunden. Das knappe Ergebnis zeigt zwar, dass ein Großteil der indigenen Bevölkerung sich nicht vorstellen kann, wieder zu einer Regierung der rassistischen alten Oligarchie zurückzukehren. Doch entschuldigt das in keiner Weise die Praktiken der neuen Eliten, auch wenn sie ethnisch repräsentativer sind. Die Aktivistin Eliana Tambo aus El Alto meint dazu: „Man kann sich des Eindrucks einfach nicht mehr erwehren, dass alles von innen verrottet ist.“
Die Wandlung der Regierung Morales ist ein Lehrstück in Sachen linker, gesellschaftlicher Transformation und ihrer Fallstricke. Vielleicht ist es für die politische Kultur des Landes, aber auch für die Demokratie heilsam, wenn Morales und García Linera nun 2020 nicht mehr kandidieren dürfen. „Auf jeden Fall hat die Demokratie das Referendum gewonnen. Und hoffentlich bekommen jetzt diejenigen Kräfte Auftrieb, die unsere Organisationskultur von Grund auf erneuern wollen“, gesteht ein zum kritischen Flügel gehörender Abgeordneter der Regierungspartei im inoffiziellen Gespräch. Auch Eliana Tambo ist ähnlicher Meinung: „Ich habe keine Hoffnung mehr, dass Erneuerung von der Regierung ausgeht. Aber es gibt hier jenseits der Großen immer noch eine Vielzahl kleiner Organisationen, die zeigen, dass unser Transformationsprozess lebendig ist. Es kommt jetzt darauf an, dass die Leute aufhören, immer nur auf den ganzen Schmutz da oben zu starren und sich selbst wieder als Akteure begreifen. So, wie wir einmal angefangen haben.“

TWEEDELDEE UND TWEEDELDUM

Portia Simpson über Wahlausgang: „Sehe ich etwa wie eine Verliererin aus?“ (Foto: Georgina Coupe (CC BY-NC-ND 2.0)
Portia Simpson über Wahlausgang: „Sehe ich etwa wie eine Verliererin aus?“ (Foto: Georgina Coupe (CC BY-NC-ND 2.0)

Es war ein gebrauchter Tag für Portia Simpson Miller. Drei Anläufe brauchte die jamaicanische Ministerpräsidentin am 25. Februar, um ihr Wahllokal zu finden. Bei der Stimmabgabe für ihre sozialdemokratische People‘s National Party (PNP) dürfte zwar nichts schief gegangen sein, doch das Ergebnis der Parlamentswahlen in Jamaica ist eine böse Überraschung für Simpson und die PNP: Die konservative Jamaica Labour Party (JLP), die sich in 22 der vergangenen 26 Jahre mit der Oppositionsrolle begnügen musste, hat die Regierungsmacht zurückerobert. 33 der 63 Sitze im Parlament in Kingston entfallen auf sie, 30 auf die PNP. Die Sitze werden nach dem Westminster-Modell der einstigen britischen Kolonialmacht vergeben: Der Sieger im Wahlkreis erhält den Sitz, der Rest geht leer aus, was Jamaica in ein De-facto-Zweiparteiensystem verwandelt. In absoluten Zahlen lag die JLP inselweit nur gut 4000 Stimmen vor der PNP. Die Tendenz der fallenden Wahlbeteiligung hielt an: Nur noch 47 Prozent der 1,8 Millionen wahlberechtigten Jamaicaner*innen fühlten sich zum Gang an die Urne bemüßigt. Das hat damit zu tun, dass beide Parteien – jamaicanisch ausgedrückt – inzwischen tweedledee und tweedledum sind: weder leicht zu unterscheiden, noch ist es der Mühe wert, das zu versuchen. Und es hat damit zu tun, dass vor allem arme Jamaicaner*innen sich weder von der einen noch von der anderen Partei auch nur den Ansatz einer Lösung ihrer Probleme versprechen.
Bei den Wahlen 2011 kam die PNP noch auf 43 der Sitze und löste damit die JLP ab. Die JLP konnte seit dem dritten Wahlsieg des legendären Verfechters des Demokratischen Sozialismus, Michael Manley, im Jahr 1989 nur noch einmal gewinnen: 2007 mit Bruce Golding als Spitzenkandidaten. Golding musste zurücktreten, nachdem in Tivoli Gardens bei der größten Militär- und Polizeioperation in der Landesgeschichte im Mai 2010 mindestens 76 Menschen ums Leben kamen, als erfolglos nach dem Drogenboss Christopher „Dudus“ Coke gefahndet wurde. Dieser ergab sich später „freiwillig“ und wurde von Golding widerwillig an die USA ausgeliefert. Im Oktober 2010 gab Golding dann seine unglückliche Handhabung des Falles „Dudus“ als zentralen Rücktrittsgrund an.
Die offene oder klandestine Komplizenschaft zwischen Politiker*innen und den dons, quasi Kiezgrößen, die bestimmte Gebiete mit Zuckerbrot und Peitsche rund um den Drogenhandel kontrollieren, ist seit den 70er Jahren verbrieft. Die gunmen der dons sind häufig eng mit den Parteien verbandelt. In den garrisons genannten Parteifestungen spielt Gewalt, als Mittel politischer Auseinandersetzung, eine große Rolle. Der Übergang vom bewaffneten Mitglied einer Drogenbande zum Parteisoldaten ist nach wie vor fließend, auch wenn Gewaltexzesse wie die 800 Toten im Wahlkampf 1980 der Vergangenheit angehören und die Politiker*innen beteuern, die Bande zu den gunmen gebrochen zu haben. 2016 gab es nur wenige Tote, die in direkter Verbindung mit dem Wahlkampf gebracht wurden. Trennscharf zwischen Gang-Morden und politischen Morden zu unterscheiden ist dabei schwer. 2015 wurden im Land laut Polizeistatistik insgesamt 1192 Morde verzeichnet, mehr als in den vier Jahren davor, aber weniger als meist seit dem Jahr 2000. Die UNO führt Jamaica als das Land mit der sechsthöchsten Mordrate der Welt, an der Spitze sind Honduras und Venezuela.
Andrew Holness, der 2010 mit gerade mal 39 Jahren die Nachfolge Goldings antrat und damit als bis dato jüngster Premierminister der jamaicanischen Geschichte einging, kehrt nun an die Regierungsführung zurück. An der Staatsspitze steht formal bis heute die britische Königin, auch wenn es Überlegungen gibt, dieses Relikt abzuschaffen. Großbritannien ließ in seiner Kolonie seit 1944 und damit weit vor der Unabhängigkeit 1962 Parlamentswahlen abhalten. Nach dem obligatorischen Dank an Gott in dem tiefreligiös geprägten Land kündigte Holness an, dass er den Jamaicaner*innen für die Gelegenheit danke, sie führen zu können. „Es wird kein business as usual geben,“ versprach er. „Wir haben eine Botschaft verkündet und die Jamaicaner haben sie akzeptiert, aber das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang“, teilte er, flankiert von Parteigrößen jubelnden Anhänger*innen, mit. Versprochen hat Holness das Übliche und im Kern nichts anderes als die Amtsinhaberin Simpson: neue Jobs, Wirtschaftswachstum, Bildung und Gesundheit auf Vordermann zu bringen. Seine Vision ist es, Jamaica in „das Silicon Valley der Karibik“ zu verwandeln. Über den Weg dahin schwieg er sich aus.
Die Ausgangsposition ist alles andere als rosig. Jamaica ist das Land mit der relativ zum Staatshaushalt weltweit höchsten Schuldenlast: Über 60 Prozent des Budgets fließen Jahr für Jahr in die Bedienung und Tilgung von Schulden. Im vergangenen Jahr gab es zwar ein dürftiges Wachstum von 1,3 Prozent, mit eiserner Austeritätspolitik unter Ägide des Internationalen Währungsfonds konnte auch die Inflation erfolgreich gedrückt werden, doch die Jugendarbeitslosigkeit von offiziell 38 Prozent zeigt, dass es dem Land weiter an Perspektiven mangelt. In den vergangenen 30 Jahren gehörte Jamaica zu den Entwicklungsländern mit dem schwächsten Wachstum – im Schnitt um gerade mal ein Prozent jährlich wuchs das reale Pro-Kopf-Einkommen: eine Stagnation, die viele zum Auswandern bewegt. Allein in New York, Toronto und London leben 2,5 Millionen Jamaicanisch-Stämmige – annähernd so viele wie auf der Insel selbst, wo rund 2,8 Millionen leben. Fünf Millionen insgesamt verteilen sich in den Diaspora-Gemeinden über den Globus.
Portia Simpsons‘ Optimismus bewahrheitete sich nicht. Auf die Frage eines Journalisten nach dem Wahlausgang antwortete sie: „Selbstverständlich werden wir gewinnen, sehe ich etwa wie eine Verliererin aus?“ So sah sie am Ende des gebrauchten Tages in der Tat aus. Dass sie ihren Wahlkreis mit 94 Prozent gewann, war nur ein kleiner Trost. Sie bleibt Abgeordnete, aber ihre zweite Amtszeit als Premierministerin dürfte für die 70-Jährige die letzte gewesen sein. Nichtdestotrotz ist Simpson bereits 2006 als die erste Frau, die in Jamaica zur Premierministerin gewählt wurde, in die Geschichte einge

KEINE ENTSPANNUNG IN VENEZUELA

Der Ton in Venezuela wird spürbar rauer. „Für die Streitkräfte ist die Stunde der Wahrheit gekommen“, ließ Mitte Mai der oppositionelle Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski verlauten. Das Militär müsse sich entscheiden, ob es auf der Seite der Verfassung oder der durch Nicolás Maduro hervorgerufenen Krise stehe. Der venezolanische Präsident hingegen sieht sich und seine Regierung in der Opferrolle. „Die Kampagne gegen Venezuela zielt darauf ab, Chaos und Gewalt zu schüren, um so eine Intervention der US-Regierung zu rechtfertigen“, sagte der Staatschef ebenfalls Mitte Mai auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medien.
Wenige Tage zuvor hatte Maduro den bereits seit Januar geltenden Wirtschaftsnotstand für weitere 60 Tage verlängert und um einen Ausnahmezustand erweitert. Dieser ermöglicht es der Exekutive in mehreren Themenbereichen, per Dekret zu regieren. Das Militär und zivile Basisgruppen erhalten zudem weitreichende Befugnisse wie die Verteilung von Lebensmitteln und Überprüfung der Produktion von Privatunternehmen. Capriles, der innerhalb der Opposition zum moderaten Flügel zählt, rief die Bevölkerung dazu auf, „dieses verfassungswidrige Dekret nicht anzuerkennen“.
Ein halbes Jahr, nachdem das oppositionelle Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Sitze gewonnen hat, tragen die staatlichen Gewalten einen offenen Konflikt aus, der zunehmend an Schärfe gewinnt: Die Opposition machte bereits Anfang Januar keinen Hehl daraus, dass der Hauptzweck ihrer parlamentarischen Arbeit darin liegt, einen zeitnahen Regierungswechsel herbeizuführen. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert oppositionelle Gesetzesinitiativen wie eine Amnestie für die als politische Gefangene angesehenen Personen und die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Maduro regiert derweil mit Billigung des TSJ am Parlament vorbei. Dieses wiederum spricht den anderen politischen Gewalten die Legitimität ab, da sie jeweils mehrheitlich von Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez kontrolliert werden.

Venezuela in Not - Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen
Venezuela in Not – Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen (Foto: Carlos Diaz – CC BY 2.0)

Im März hatte sich der MUD nach internen Unstimmigkeiten über die Strategie für einen Regierungswechsel darauf geeinigt, drei Mechanismen in Gang zu setzen. Durch Straßenproteste soll Maduro demnach zum Rücktritt bewegt werden, während das Parlament einen Verfassungszusatz beschließen solle, der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre begrenze. Einen Rücktritt schloss Maduro mehrmals kategorisch aus. Das TSJ hat klar gestellt, das eine mögliche Verfassungsänderung nicht für die laufende Amtszeit gelten könne. Als dritter Mechanismus bleibt ein Abberufungsreferendum. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 ist es möglich, alle Mandatsträger*innen nach Ablauf der Hälfte ihrer Amtszeit per Referendum abzuwählen. Um die Formalitäten und den zeitlichen Ablauf streiten sich nun Regierung, Nationaler Wahlrat (CNE) und Opposition.
Am 11. und 18. Mai mobilisierte die Opposition in allen Bundesstaaten vor die Büros des CNE, um ein baldiges Referendum zu fordern. Vor den Hauptsitz des Wahlrates in Caracas durften die Regierungsgegner*innen jedoch nicht ziehen. Denn im chavistisch dominierten Westen der Hauptstadt fanden zeitgleich regierungsfreundliche Demonstrationen statt. Nachdem es am 18. Mai auf der oppositionellen Kundgebung im Stadtzentrum zu Ausschreitungen gekommen war, untersagte das Oberste Gericht bis auf weiteres Demonstrationen, die den CNE als Ziel haben.
Die Opposition drängt auf einen Wahltermin in diesem Jahr und wirft dem chavistisch dominierten Wahlrat vor, auf Zeit zu spielen. Sollte Maduros mögliche Abwahl erst nach dem 10. Januar 2017 erfolgen, gäbe es keine Neuwahlen. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident dessen Amtszeit beenden. Für die Anhänger*innen der Regierung steht eine Menge auf dem Spiel. Sie fürchten einen Rückfall in neoliberale Zeiten, wenn die Opposition wieder an die Macht kommt.
Damit ein Referendum stattfinden kann, muss dies zunächst ein Prozent der Wahlberechtigten aus allen Bundesstaaten per Unterschrift einfordern. Bereits wenige Tage nachdem der Wahlrat die gültigen Vordrucke ausgegeben hatte, reichte die Opposition statt der erforderlichen 195.000 Unterschriften 1,85 Millionen ein. Laut Gesetz sind dazu 30 Tage Zeit. Der Wahlrat pocht auf die penible Einhaltung der Fristen und will den Prozess nicht beschleunigen, nur weil die Opposition dies fordert. Erkennt der CNE diese Hürde nach genauer Prüfung der Unterschriften als gemeistert an, müssen nochmal 20 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten unterschreiben, damit das Referendum stattfindet. Um dann Erfolg zu haben, muss bei einer Mindestwahlbeteiligung von 25 Prozent nicht nur die Mehrheit der Wahlberechtigten für Maduros Abberufung votieren. Denn für ein erfolgreiches Abberufungsreferendum schreibt die Verfassung als zusätzliche Hürde vor, dass mehr Menschen für die Abwahl der betreffenden Person stimmen müssen, als sie zuvor ins Amt gewählt haben. Maduro erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres votierten mehr als 7,7 Millionen Menschen für die Opposition.
Mehrere Mitglieder des Wahlrates deuteten bereits öffentlich an, dass die Opposition zahlreiche ungültige Unterschriften und teilweise leere Listen eingereicht habe. Der oppositionsnahe CNE-Rektor Luis Emilio Rondón zeigt sich hingegen davon überzeugt, dass das Referendum bis Ende Oktober stattfinden könne. „Es gibt weder einen technischen noch juristischen Aspekt, der verhindert, ein Abberufungsreferendum abzuhalten“.
Aus dem chavistischen Lager werden indes zunehmend Stimmen laut, die vor gefälschten Unterschriften warnen und ein Referendum in diesem Jahr allein aus logistischen Gründen ablehnen, da bis Ende des Jahres auch noch Gouverneur*innen- und Bürgermeister*innen-wahlen stattfinden müssen. „Sie wissen, dass es kein Referendum geben wird, weil sie es erstens zu spät begonnen, es zweitens schlecht gemacht und drittens Betrug begangen haben“, sagte der amtierende Vizepräsident Aristóbulo Isturiz Mitte Mai. Maduro betonte, Referenden seien nicht vorgeschrieben, sondern „eine wunderbare Option, aber um Realität zu werden, müssen das Gesetz und die Anforderungen befolgt werden“. Laut dem Abgeordneten Diosdado Cabello, den viele als den mächtigsten chavistischen Politiker neben Maduro ansehen, verschleiere das Referendum schlicht einen Putschplan der Opposition.
Tatsächlich hatten die Gegner*innen des Chavismus seit jeher ein rein strategisches Verhältnis zu demokratischen Prozessen. Ihnen deswegen ein Referendum zu verweigern, wäre allerdings absurd. Vor dem erfolglosen Versuch, Maduros Vorgänger Hugo Chávez 2004 per Referendum aus dem Amt zu drängen, hatte die Opposition zwei Jahre lang ebenso erfolglos versucht, den damaligen Präsidenten durch einen Putsch und eine Sabotage der Erdölindustrie zu stürzen. Auch damals war es im Vorfeld zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Regierung warf der Opposition vor, Datenbanken geplündert zu haben, um auf die nötige Zahl an Unterschriften zu kommen. Die Opposition wiederum hat nicht vergessen, dass ein Abgeordneter der Regierungspartei die Unterschriftenlisten im Internet mit der Begründung veröffentlichte, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Dennoch fand das Referendum letztlich statt – und führte dazu, dass die Opposition auf Jahre hinweg in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Im Gegensatz zu Chávez wird es Maduro allerdings schwer haben, die Mehrheit der Bevölkerung bei einem möglichen Referendum hinter sich zu bringen. Dass die Regierungsgegner*innen trotz äußerst dürftiger politischer Performance nach anderthalb Jahrzehnten regelmäßiger Wahlniederlagen plötzlich derart an Rückhalt gewinnen konnten, liegt vor allem an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Seit Chávez‘ Tod im März 2013 hat sich die Lage stetig verschlechtert, ohne dass die Regierung Maduro adäquate Mittel gegen die Krise finden konnte. Sie lastet die dreistelligen Inflationsraten und die Knappheit bestimmter Lebensmittel vor allem einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Gruppen und der Privatwirtschaft an. Der verhängte Wirtschaftsnotstand und zaghafte Reformen zeigen keine merklichen Erfolge. Durch den niedrigen Weltmarktpreis des Erdöls, dem zentralen venezolanischen Exportgut, hat die Regierung kaum mehr finanziellen Spielraum. Spätestens nun rächt sich, dass es Chávez trotz ambitionierter Pläne nie gelungen ist, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.
Als wäre dies nicht genug, steht die Elektrizitätsversorgung des Landes nach der schlimmsten Dürreperiode seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Der venezolanische Strom wird zu 70 Prozent aus Wasserkraft erzeugt. Der Pegel des Guri-Stausees im südöstlichen Bundesstaat Bolívar liegt seit Wochen nur noch knapp über dem notwendigen Level, um die Turbinen des mit Abstand wichtigsten venezolanischen Kraftwerkes am Laufen zu halten. Die Regierung versucht sich durch Einsparungsmaßnahmen in die beginnende Regenzeit zu retten und hofft auf ergiebige Niederschläge im Süden des Landes. Seit Ende April wird in fast allen Landesteilen der Strom rationiert, was in einigen Städten zu Ausschreitungen und Plünderungen geführt hat. Angestellte des öffentlichen Sektors arbeiten seit dem 27. April bis mindestens Ende Mai zudem nur noch montags und dienstags.
Die politische Krise in Venezuela wird auch international mit Sorge verfolgt. Die Opposition drängt auf eine Aktivierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), was im äußersten Fall zu einem Ausschluss Venezuelas aus der von den USA dominierten Regionalorganisation führen könnte. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem von OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der US-Regierung und der neuen argentinischen Regierung von Mauricio Macri. Andere Akteure wie Papst Franziskus oder die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) bemühen sich derweil um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Die Rhetorik in beiden politischen Lagern deutet zurzeit allerdings eher auf eine weitere Eskalation hin.

RÜCKKEHR DER ALTEN REPUBLIK

Einen guten Start stellt man sich anders vor. Michel Temer dürfte mit den ersten Wochen seiner Amtszeit als Übergangspräsident alles andere als zufrieden sein. Man könnte fast abergläubisch werden, war es doch Freitag der Dreizehnte, an dem Brasilien zum ersten Mal mit einem regierenden Präsidenten Namens Temer erwachte.Dabei lief zunächst alles nach Plan für den regierenden Vizepräsidenten: Nachdem am 17. April die Abgeordnetenkammer für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff gestimmt hatte (siehe LN 503), gab auch der Senat am 11. Mai grünes Licht für das Impeachment. Verfassungsgemäß suspendierte damit die Legislative die Präsidentin der Arbeiterpartei PT für maximal 180 Tage von ihrem Amt.
Am 12. Mai übernahm Michel Temer die Regierung in Vertretung der gewählten Präsidentin. Doch er tat es nicht als Regierungsvertreter. Bereits am 29. März hatte seine Partei, die rechtsliberale PMDB, die Koalition mit der PT aufgekündigt (siehe LN 502). Im Kabinett von Temer befinden sich folglich keine Mitglieder der PT. Es sind ausschließlich Politiker von rechten Parteien für die 20 Ministerposten nominiert – und es sind ausschließlich weiße Männer. Die öffentliche Empörung folgte sofort. Seit 1979 und der Diktatur von General Ernesto Geisel, gab es in Brasilien kein Kabinett mehr, in dem nicht eine Frau vertreten war. Ebenfalls fehlen schwarze Brasilianer*innen und Repräsentant*innen von sozialen Bewegungen im Kabinett. Auch ethnische Minderheiten sind nicht vertreten. Es ist eine Regierung von alten Männern aus der Elite, die in keiner Weise repräsentativ für die Bevölkerung und die Diversität des Landes ist.
Dies erkannte Temer selbst in seinem ersten Fernsehinterview der Sendung Fantástico von TV Globo an: „Ich schließe eine Wiederwahl für mich aus, auch weil mir das mehr Ruhe bei meinen Entscheidungen gibt […] Ich kann sogar – sagen wir es so – unpopulär sein, aber wenn das dem Land Vorteile bringt, reicht mir das aus.“ Ganz so selbstlos für das Wohl des Landes ist Temers Entscheidung, bei der kommenden Wahl nicht als Kandidat anzutreten, aber nicht. Aufgrund eines Urteils wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung seines letzten Wahlkampfs ist der 76-Jährige für acht Jahre von der Ausübung des passiven Wahlrechts ausgeschlossen.

Interimspräsident Temer - Zustimmung der Bevölkerung nicht zwingend notwendig
Interimspräsident Temer – Zustimmung der Bevölkerung nicht zwingend notwendig (Foto: Agencia Brasil)

Dennoch scheint die neue Regierung gewillt, eine 180-Grad-Wende in der Regierungspolitik zu vollziehen. Die Anzahl der Ministerien wurde von 31 auf 21 gekürzt. Welche Ministerien dem Rotstift zum Opfer fielen, weist den Weg: Das Ministerium für Ländliche Entwicklung, das für die Agrarreform zuständig war, wurde dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Das Sekretariat für Menschenrechte wird von nun an Teil des Justizministeriums sein. Dessen neuer Chef, Alexandre de Moraes von der rechten PSDB, war Sicherheitssekretär des Bundesstaates von São Paulo. Für seine harte Hand und die brutale Repression von sozialen Protesten wurde er in der Vergangenheit scharf kritisiert.
Dies ist allerdings nicht der einzige Fall, in dem Temer den Bock zum Gärtner macht. Landwirtschaftsminister ist Blairo Maggi, Großgrundbesitzer, auch bekannt als „Sojakönig“. Als Senator hatte er noch das Projekt für den Verfassungszusatz PEC 65/2012 auf den Weg gebracht. Nach Maggis Entwurf soll kein Bauvorhaben mehr gestoppt werden können, wenn ein Umweltverträglichkeitsgutachten vorliegt, egal wie Umwelt- und Indigenenbehörden das Gutachten bewerten.
Auch andere Gesetzesvorhaben von Poli­ti­ker*in­nen der neuen Regierungsparteien stellen direkte Angriffe auf die Rechte von Arbeiter*innen und Indigenen dar. Das Gesetzesprojekt PL 3842/12 des Abgeordneten Moreira Mendes ist ein deutliches Beispiel: Mit ihm soll die Definition, welche Arbeitsverhältnisse als Sklaverei gelten, abgeschwächt werden, ganz im Interesse der Agrarindustrie, denn auf Farmen im Hinterland gibt es immer wieder Fäller von extremer Ausbeutung, die eigentlich Sklaverei darstellen.
Die Agrarlobby freut sich auch über den geplanten Verfassungszusatz PEC 215/2000. Wenn der Text verabschiedet wird, ist in Zukunft der Kongress für die Ausweisung indigener Territorien verantwortlich, und nicht mehr die Indigenen-Behörde FUNAI. Da im Kongress die Lobby der Agrarindustriellen die Mehrheit hat, wäre das wohl das Ende von jeglicher Demarkierung indigener Gebiete. Zahlreiche Indigenengruppierungen protestieren seit Monaten gegen dieses Projekt.
Auch die Finanzpolitik der neuen Regierung ist wirtschaftsfreundlich und setzt auf klassisch neoliberale Rezepte. Neuer Finanzminister ist Henrique Meirelles. Der ehemalige Spitzenbanker und Ex-Chef der brasilianischen Zentralbank kündigte eine rigide Sparpolitik sowie eine Anhebung des Rentenalters an. Der Minister für Stadtentwicklung Bruno Araújo teilte mit, starke Kürzungen im staatlichen Wohnungsbauprogramm „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, Mein Leben) vornehmen zu wollen. Auch erließ Temer bereits die Provisorische Maßnahme MP 727, mit der ein Programm zur Erleichterung von Public-Private-Partnerships geschaffen wird.
Die Entscheidung, das Kulturministerium abzuschaffen, musste die Regierung nach heftigen landesweiten Protesten von Künstler*innen wieder zurücknehmen. Aber das noch von Rousseff erlassene Präsidialdekret, das Transsexuellen das Verwenden ihres selbstgewählten Namens bei öffentlichen Angelegenheiten erlaubte, nahm Temer bereits zurück. Auch in anderen Bereichen legt Temer den Rückwärtsgang ein. Ebenfalls sollen Abtreibung – selbst nach Vergewaltigungen – künftig komplett verboten werden. Schließlich befinden sich in der Regierung auch evangelikale Pastoren. Ultrakonservative Christ*innen zählen zu einer der wichtigsten Stützen der politischen Rechten in Brasilien.

Nur wenige Tage im Amt: Ex-Minister Romero Jucá (Foto: Agencia Brasil)
Nur wenige Tage im Amt: Ex-Minister Romero Jucá (Foto: Agencia Brasil)

Renato Boschi, Professor für soziale und politische Studien an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro, erklärte gegenüber dem britischen Guardian: „Sogar Macri in Argentinien ist nicht so rechts wie Temers Regierung.“ Und Macris Regierung ist zumindest durch Wahlen legitimiert, die von Temer dagegen nicht. In seiner Kolumne in der Folha de São Paulo schrieb der Abgeordnete des Landesparlaments von Rio de Janeiro und Führungsfigur der linken Partei PSOL, Marcelo Freixo: „Die Regierung Temers würde mit ihrer Agenda niemals eine Wahl gewinnen!“
Dies alles scheint ihr herzlich egal zu sein. Dem Rückhalt der alten Eliten ist sie sich sicher. Die mehrheitlich älteren Minister aus den wirtschaftlich starken Bundesstaaten São Paulo und Minas Gerais haben beste Verbindungen in die Industrie. Die Regierung sieht aus wie eine Rückkehr in die „Alte Republik“ (1889-1930), als die kolonialen Eliten das Land wie ihren Privatbesitz regierten. Damals hatten weniger als fünf Prozent der Brasilianer*innen das Wahlrecht. Der Bevölkerungsteil, dessen Interessen von der jetzigen Regierung vertreten werden, dürfte kaum größer sein.
Um Korruptionsbekämpfung ging es bei der Regierungsbildung indes gar nicht. Gegen viele neue Minister wird in der Operation Lava Jato (Autowaschanlage) der Bundespolizei wegen Korruption ermittelt. Dabei geht es um ein gigantisches Komplott bei dem Baufirmen – darunter der Gigant Odebrecht – und der staatliche Erdölkonzern Petrobras Millionenzahlungen an Politiker*innen aller Parteien leisteten.
Der britische Journalist Glenn Greenwald erklärte deshalb, dass es beim Impeachmentverfahren nicht um die Bekämpfung der Korruption, sondern um die Bekämpfung der Aufklärung der Korruption gehe. Dies mag paradox erscheinen, gingen doch in den vergangenen Monaten Millionen Menschen in Brasilien wegen der Enthüllungen der Operation Lava Jato auf die Straße. Es war erst dieses gesellschaftliche Klima, das das Impeachmentverfahren ermöglichte. Bislang stützen aber die dominierenden Medien – allen voran das Konsortium Rede Globo – die rechte Regierung. Die Theorie des „Parlamentsputschs der Vertuschung“ wurde als linke Verschwörungstheorie abgetan.
Doch diese Sicht hat sich in den vergangenen Tagen massiv geändert. Die Zeitungen Folha de São Paulo und O Globo publizierten Tonbandaufnahmen von Gesprächen zwischen führenden Politikern und José Sérgio Machado, einem Ex-Manager von Petrobras. Offenbar nahm Machado die Gespräche heimlich im Rahmen einer Kronzeugenregelung auf. Aus der Staatsanwaltschaft wurden die Aufnahmen vermutlich an die Medien geleakt. Entstanden sind sie wohl im März, kurz vor der Abstimmung über das Impeachment.

In den Aufnahmen, die zu Redaktionsschluss nicht vollständig veröffentlicht waren, bespricht Machado mit führenden Politikern, dass man Rousseff absetzen müsse, um die wegen der Korruption in Misskredit geratene politische Klasse zu retten. Unter den Aufnahmen war auch ein Gespräch mit Romero Jucá. Der Interimsminister für Planung und enger Vertrauter von Michel Temer musste nach der Veröffentlichung zurücktreten. In den Tonaufnahmen erklärt Jucá, dass man das „Blutbad“ beenden müsse. Würde Rousseff abgesetzt, so Jucá, „dann haben wir alles begrenzt, dann hört das auf“. Worauf der Politiker aus dem nordbrasilianischen Bundesstaat Roraima hinaus will ist klar: eine Beendigung der Ermittlungen im Rahmen der Operation Lava Jato. In dem Gespräch ist außerdem davon die Rede, dass auch der Oberste Gerichtshof und die Militärführung in das Komplott involviert seien.
Auch Gespräche mit dem Präsidenten des Senats Renan Calheiros – gegen den die Bundespolizei im Rahmen von Lava Jato ermittelt – wurden von Machado aufgezeichnet. In den ebenfalls geleakten Aufnahmen spricht Calheiros von einem „großen Nationalen Pakt“. „So wie die Amnestie nach der Militärdiktatur: Ab jetzt läuft alles sauber“, erklärt Calheiros in dem Telefonat. Deutlicher formuliert: Alles Vergangene möge nun in Vergessenheit geraten.
Selbst in Brasilien, wo Korruption zum Alltag gehört, erstaunt und empört die kriminelle Energie, mit der die Absetzung Rousseffs geplant wurde. Viele Brasilianer*innen, die die Absetzung von Rousseff befürworteten, zeigen sich angesichts der Intrigen in der neuen Regierung erschüttert. Die jüngsten Enthüllungen diskreditieren die politische Klasse in ihrer Gesamtheit.

MEDINA REGIERT VIER WEITERE JAHRE

6,78 Millionen Wähler*innen waren an die Urnen gerufen, um den Staatspräsidenten, die 222 Mitglieder des Parlaments, 20 neue Vertreter*innen im Zentralamerikanischen Parlament, 158 Bürgermeister und 1.164 Ratsfrauen und -männer in dem Land mit zehn Millionen Einwohnern zu bestimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei fast zwei Drittel der Wahlberechtigten.
Allerdings musste die seit drei Legislaturperioden amtierende Befreiungspartei bei der Abstimmung zum Senat eine Niederlage hinnehmen. Zwar behält sie im Oberhaus des Kongresses die absolute Mehrheit der 32 Sitze, sie verliert jedoch fünf Senatoren: drei an die modernen Sozialdemokraten und zwei an die rechten Reformisten. In der Deputiertenkammer dürften die PLD und die mit ihr alliierten Parteien nach wie vor die absolute Mehrheit mit etwa 115 der 190 Sitze besitzen. Die genaue Mandatsverteilung stand zum Redaktionsschluss noch immer nicht fest. Auch den einflussreichen Bürgermeister der Vier-Millionen-Hauptstadt Santo Domingo stellt künftig ein Oppositionsmitglied.
Überschattet wurde die Wahl bereits am Vorabend des Urnengangs durch die Kündigung von 3.000 Wahlhelfer*innen. Sie sollten die elektronische Erfassung organisieren. Als ihre Arbeitszeit verlängert wurde, streikten sie. Dadurch kam es in zahlreichen Wahlzentren zu Verspätungen bei der für sechs Uhr morgens vorgesehen Eröffnung und zu Protesten von Wähler*innen.
Auch mehr als eine Woche nach Ende der Stimm- abgabe kam es in einigen Stimmbezirken zu Tumulten und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsanhänger*innen und -gegner*innen, weil keine definitiven Ergebnisse veröffentlicht wurden. Während der Abstimmung starben nach Schießereien zwischen Regierungsmitgliedern und -gegner*innen mindestens fünf Menschen, zwölf wurden verletzt.
Sechs der sieben Oppositionskandidat*innen haben inzwischen erklärt, dass sie die Wahl nicht anerkennen werden. Sie wollen deren Annullierung und Neuwahlen beantragen. Es gebe gravierende Unstimmigkeiten bei der Zahl der abgegebenen Stimmzettel. In einigen Stimmbezirken wurden bei den drei unterschiedlichen Stimmzetteln für die Präsidenten-, Kongress- und Gemeindewahlen erhebliche Zahlendifferenzen festgestellt. In anderen überstieg die Zahl aller abgegebenen Wahlzettel die Summe der Stimmberechtigten.
Die Bürgerrechtsbewegung Participación Ciudadana, die ebenso wie zahlreiche ausländische Organisationen mit eigenen Delegierten die Abstimmung beobachtete, widersprach der Opposition. „Es gab keinen Wahlbetrug“, teilte sie der Öffentlichkeit mit, auch wenn es vereinzelte Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Allerdings bestätigten internationale Wahlbeobachter*innen und Participación Ciudadana, dass es sowohl Stimmenkauf als auch zahlreiche Fälle von Personen gegeben habe, die gegnerischen Abstimmungswilligen den Personalausweis gegen Zahlung von rund 1.000 Dominikanischen Pesos, umgerechnet rund 20 Euro, abgekauft hätten. Damit wollten sie deren Votum verhindern. Diese Praxis, die noch aus der Zeit des Autokraten Joaquín Balaguer stammt, soll Regimegegner*innen an der Stimmabgabe hindern und sie gleichzeitig korrumpieren.

WIEDERWAHL TROTZ WIDERWILLEN

„Wir müssen aufhören, über die Wiederwahl zu sprechen! Es wäre Zeitverschwendung für den Präsidenten, sich mit dem Thema zu beschäftigen, denn die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten wird von der Verfassung nicht erlaubt“, erklärte Präsident Horacio Cartes Anfang des Jahres gegenüber der Zeitung ABC Color. Damit zog er scheinbar einen demonstrativen Schlussstrich unter die neu aufgeflammte Debatte darüber, ob die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit für den Präsidenten geschaffen werden sollte.
Die Wiederwahl des Präsidenten – das ist ein heikles Thema in Paraguay. Nach dem Ende der langen und blutigen Diktatur (1954-1989) unter dem Colorado-Parteigänger Alfredo Stroessner, sah sich diese kleine Republik vor der Herausforderung, dafür zu sorgen, dass sich Derartiges nicht wiederholt. Aus diesem Grund wurde in der Verfassung von 1992 festgelegt, dass das Mandat für das Präsidentenamt nur fünf Jahre dauern dürfe. Eine Wiederwahl des Präsidenten wurde explizit ausgeschlossen und die Macht der Exekutive gegenüber der Legislative stark eingeschränkt.
Die aktuelle Debatte um eine Wiederwahl ist nicht neu. Bereits während der Präsidentschaften von Nicanor Duartes Frutos (2003-2008) und des linken Fernando Lugo (2008-2012) diskutierte Paraguay vehement aber ergebnislos über eine entsprechende Verfassungsänderung. Bei Cartes, seit 2013 im Amt, könnte es anders ausgehen, viele trauen seiner eingangs zitierten Aussage nicht. Denn etliche seiner Parteigänger*innen der konservativen Nationalen Republikanischen Allianz – Colorado Partei (ANR-PC) werben offen für eine zweite Amtszeit Cartes‘. So integrierten bei den Gemeindewahlen im November letzten Jahres einige Colorado-Kandidat*innen auf ihren Wahlplakaten den Schriftzug „HC2018“ – Horacio Cartes soll 2018 erneut antreten dürfen.
Auch frühere Äußerungen Cartes‘ geben Anlass für Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Ablehnung. So hatte sich der millionenschwere Unternehmer und jetzige Präsident zu Beginn seiner politischen Karriere noch ganz anders zu dem Thema geäußert. Kurz nachdem er 2011 zum neuen Präsidentschaftskandidaten der Colorados gewählt worden war, erklärte er, dass er kein Problem mit einer Wiederwahl des Präsidenten habe, „wenn er gut regiert hat und die Leute ihn wählen; wenn die Leute ihn wählen, dann bedeutet das doch was; man soll die Mehrheit respektieren.“ Damals hatten die Linken im Parlament den Vorstoß unternommen, um dem damals agierenden Präsidenten Fernando Lugo ein zweites Mandat zu ermöglichen; ansonsten, so die damalige Argumentation, könne er die angestoßenen Reformvorhaben nicht realisieren. Durch den kalten Putsch 2012, mit dem die Legislative den bei der armen Bevölkerung sehr beliebten ehemaligen Bischof Lugo im Expressverfahren und mit zweifelhaften Begründungen des Amtes enthob (siehe LN 457/458), erübrigte sich aber die Diskussion schnell wieder.
Die Mühelosigkeit, mit der die Legislative Präsident Lugo 2012 absetzte, demonstrierte eindrucksvoll deren Macht gegenüber der Exekutive. Damals beteiligten sich die Colorado-Abgeordneten und Senator*innen an der Absetzung des Präsidenten. Nun kommen Forderungen nach einer Verfassungsänderung aus dem Lager der Cartes-Anhänger*innen im Kongress. Am 14. Februar 2016 verkündete der Abgeordnete Carlos Núñez Salinas, dass die Colorado-Fraktion für September oder Oktober dieses Jahres planen, bei dem Abgeordnetenhaus eine Wiederwahl des Präsidenten zu beantragen. Es sei „ein Luxus für das Land und die Colorado-Partei“, über eine solche Regierung zu verfügen, die „keine Androhungen von keiner Seite fürchte“, erklärte Núñez Salinas gegenüber Última Hora.
Die Reden der Befürworter*innen einer zweiten Amtszeit im Kongress operieren mit den immer gleichen Argumenten: „Man muss eine gute Regierungsarbeit belohnen!“ oder „In fünf Jahren kann man Paraguay nicht verändern!“ oder „Das Volk bittet uns darum, dass wir weitermachen!“. Der einflussreiche Abgeordnete Alsimio Casco aus Concepción äußerte: „Horacio Cartes verdient die Wiederwahl, er macht eine gute Arbeit und saniert die maroden Finanzen, die seine Vorgänger hinterlassen haben.“ Was der Präsident mache, sei „für das Volk, für die Demokratie und für die Transparenz“, erklärte Casco gegenüber der ABC Color Angesichts der zahlreichen Hinweise auf Verbindungen von Cartes und seinen Geschäftspartner*innen zum Drogen- und Zigarettenschmuggel eine steile These.
Viele Beobachter*innen der paraguayischen Politik sehen in der aktuellen Ablehnung Cartes‘ nur politisches Kalkül. Sie erwarten, dass Cartes sich irgendwann – scheinbar widerwillig – den „Rufen des Volkes“ beugen werde, und eine zweite Amtszeit annehmen würde, wenn man ihm die Möglichkeit anböte. „Man solle die Mehrheit respektieren“, wie er schon 2011 sagte. Diese Haltung würde auch zur populistisch-konservativen Colorado-Partei passen, die seit ihrer Gründung 1887 beansprucht, die „einfachen Paraguayer“ zu vertreten.
Tatsächlich wären derartige Aspirationen auf eine Art Volkstribunat von Cartes keine Überraschung. Dass Cartes die politische Hegemonie im Land anstrebt, wurde schon bei den Kommunalwahlen im November 2015 mehr als deutlich: Damals kündigte er an, das Land „rot färben“ zu wollen, also in die traditionelle Farbe der Colorados. Er selbst bauschte die Kommunalwahl zu einem vermeintlichen Plebiszit über die Regierung auf.
Doch dieser Plan ging gründlich nach hinten los. Die Colorados verloren in den Kommunalwahlen wichtige Städte wie Asunción und Encarnación. Viele politische Beobachter*innen und Intellektuelle sehen darin den wahren Grund für Cartes‘ Rückzug von den Forderungen für eine zweite Amtszeit. So schrieb ABC Color nach den Wahlen: „Nach den Rückschlägen, die die ANR hinnehmen musste, negiert Cartes, jemals eine Wiederwahl angestrebt zu haben.“
Aus gänzlich anderen Gründen stimmen wichtige Sektoren der Linken in der Frage der Wiederwahl mit der Linie der Regierungsanhänger*innen überein – allerdings nicht, um Cartes eine zweite Amtszeit zu ermöglichen. Die parlamentarische Linke Paraguays hat sich seit dem Parlamentsputsch 2012 nicht wieder neu formiert und hängt immer noch von ihrer Galionsfigur Fernando Lugo ab. Der hat bereits angekündigt, erneut als Präsidentschaftskandidat antreten zu wollen. Ein wichtiger Punkt in Lugos Kampagne ist die Forderung nach einer neuen Verfassung. Hier liegt der prinzipielle Unterschied zu den Forderungen der Colorados: Diese wollen nur mittels eines Verfassungszusatzes eine zweite Amtszeit ermöglichen, während die parlamentarischen – und auch die außerparlamentarischen – Linken eine grundlegend neue Verfassung verlangen. Sie gehen also weit über die Forderungen nach einer zweiten Amtszeit hinaus und streben eher Verfassungsänderungen à la Bolivien oder Venezuela an.
Unter den traditionellen Widersachern der Colorados, der eher elitären Liberalen Partei, gibt es ebenfalls viele Kongressmitglieder, die sich für die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit für den Präsidenten aussprechen. Allerdings betonte der Abgeordnete Amado Florentín, dass dies nicht zum Ende des jetzigen Mandats von Horacio Cartes im Schnellverfahren durchgeführt werden dürfe. „Die Verfassung muss bei allen Wahlfragen kategorisch eingehalten werden. Es fehlt die Zeit für eine notwendige umfassende Diskussion des Themas, man kann es nicht über einen einfachen Verfassungszusatz lösen“, erklärte er gegenüber dem paraguayischen Nachrichtenportal El País.
So gibt es über die Parteigrenzen hinweg eine große Zustimmung für die Ermöglichung einer Wiederwahl. Die Frage, an der sich alle Diskussionen entzünden, ist aber: Soll dies über eine Verfassungsreform oder einen Verfassungszusatz geschehen? Für die Colorados steht bei dieser Frage viel auf dem Spiel. Im Falle einer Verfassungsreform würden auch viele andere Wahlmechanismen zur Debatte stehen. Damit würde die traditionsreich verankerte Macht der Partei, die regelmäßig über 40 Prozent der Stimmen erhält, womöglich schwinden. Da es in Paraguay keine Stichwahl gibt, reichen diese 40 Prozent, um sich gegenüber den zersplitterten politischen Gruppierungen zu behaupten.
Wie sich die Judikative zu dem Thema verhält ist offen, dabei kommt ihr eine wichtige Rolle zu. Derzeit muss der Kongress über einen freigewordenen Platz im Obersten Gerichtshof entscheiden. Die drei Kandidat*innen auf den Platz, Miryam Peña, Emiliano Rolón und Linneo Ynsfrán, haben sich bei ihren Gesprächen vor dem Kongress nur sehr ausweichend zum Thema geäußert. Ynsfrán erklärte zum Beispiel, dass die Frage nach der Wiederwahl eine politische Frage sei und er sich deshalb hier zurückhalte. Die Lösung des Problems müsse aber eine juristische sein, die nach der politischen Entscheidung zu treffen sei. Wie er zu der Frage selbst steht, wird man also erst erfahren, wenn es soweit ist.
Würden sich die Colorados mit ihrer Haltung durchsetzen und die zweite Amtszeit über einen einfachen Verfassungszusatz ermöglichen, könnten sie ihre Machtbasis noch mehr verfestigen. Seit 1950 wird das Land von den Colorados regiert, abgesehen von der kurzen Unterbrechung durch Fernando Lugo. Dann würde das Land weiter regiert werden von einer kleinen Unternehmerclique um Cartes, die sich nur rhetorisch volksnah gibt. Die Kontrolle des Präsidenten durch die anderen Gewalten, wie es die Verfassung von 1992 eigentlich vorsah, könnte dadurch unmerklich erodieren. Schon jetzt bestimmen eher informelle Kreise aus Politik und Wirtschaft über die Politik des Landes als die verfassungsmäßigen Institutionen. Eine zweite Amtszeit Cartes‘ könnte diese Strukturen verkrusten lassen, mit unabsehbaren Folgen für die junge Demokratie Paraguays.
Eine echte Verfassungsänderung, die das Wahlsystem grundlegend reformieren und den weit verbreiteten Stimmenkauf eindämmen würde, hätte stattdessen demokratisierendes Potenzial. Denn die meisten Abgeordneten sind nicht wegen ihrer politischen Einstellung und Arbeit, sondern wegen ihrer Beziehungen zur wirtschafltichen Elite im Parlament. Damit weiß sich Paraguay natürlich in schlechtester Gesellschaft.

RASANTE REFORMEN

100 Tage Regierung Macri, 40 Jahre Putsch, der Besuch des US-Präsidenten Barack Obama: Der März war in Argentinien politisch überfrachtet. Der neue Präsident Mauricio Macri baut das Land im Eiltempo um und zieht Teile der Opposition auf seine Seite, während die Linke noch nach geeigneten Strategien gegen die neoliberale Regierungspolitik sucht.

Immer wieder hallen Sprechchöre durch die überfüllten Straßen. Obwohl viele Argentinier*innen in der Osterwoche traditionell verreisen, ist es eng an diesem Gründonnerstag, dem 24. März. Am 40. Jahrestag des Militärputsches erinnern in zahlreichen Städten Argentiniens hunderttausende Menschen an die Opfer der letzten Diktatur (1976-1983). Auf der größten Demo in Buenos Aires ziehen Menschenrechtsgruppen, Anhänger*innen der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und soziale Bewegungen von der Avenida 9 de Julio im Zentrum zur Plaza de Mayo, wo sich der Präsidentenpalast Casa Rosada befindet. Viele Teilnehmer*innen beteuern, dass es mehr seien als jemals zuvor an einem 24. März. Das hat allerdings nicht nur mit dem runden Jahrestag zu tun. „Schon seit der Schulzeit gehe ich jedes Jahr zu dieser Demonstration, aber heute hat es einen besonderen Beigeschmack“, sagt Laura Corti, die mit ihrem zwei Monate alten Sohn im Tragetuch gekommen ist. „Wir haben eine neue Regierung und den Besuch des US-Präsidenten, der mir in diesem Kontext ein wenig provokativ erscheint.“
Tatsächlich ist die Ablehnung gegen die Regierung unter Mauricio Macri an diesem 24. März überall spürbar. Kirchneristische Gruppen skandieren kämpferisch den Slogan „Vamos a volver“ („Wir werden zurückkommen“). Auf der Tribüne vor der Casa Rosada verlesen Vertreter*innen von Menschenrechtsgruppen einen gemeinsam verfassten Text, der kein gutes Haar an Macris Politik lässt. Bereits am Morgen hatte US-Präsident Barack Obama am Erinnerungsort Parque de la Memoria gemeinsam mit seinem argentinischen Amtskollegen den Opfern der Diktatur gedacht. Die USA hätten „lange gebraucht“, um die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien zu kritisieren, räumte er ein und sagte die Freigabe weiterer Militär- und Geheimdienstdokumente über die Diktatur zu. Am Vortag hatte Obama bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Macri erklärt, „dass die Anerkennung der Menschenrechte in den 70er Jahren ebenso wichtig war, wie der Kampf gegen den Kommunismus.“ An Selbstkritik mangele es aber nicht.
An Kritik allerdings noch weniger. Nach dem Willen der argentinischen Regierung hätte Obama die ehemalige Mechanikerschule der Marine (ESMA) besuchen sollen, auf deren Gelände sich nach dem Putsch eines der wichtigsten geheimen Haftzentren Argentiniens befand. Doch Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo oder H.I.J.O.S, die Organisation der Kinder von Verschwundenen, setzten sich erfolgreich dagegen zu Wehr. Daran, dass der US-Präsident auf dem ESMA-Gelände unerwünscht ist, erinnern dort in diesen Tagen an fast jedem Baum und jeder Wand US-kritische Flugblätter. Auch zu dem Akt im Parque de la Memoria erscheint trotz offizieller Einladung keine der Organisationen, die sich mit der Aufarbeitung der Diktatur beschäftigen.
Am 24. März 2004 hatte der damalige Präsident Néstor Kirchner das ESMA-Gelände an die Stadt Buenos Aires übergeben, um einen Ort der Erinnerung und zur Förderung der Menschenrechte zu schaffen. Heute haben die wichtigsten Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen hier ihren Sitz und verwalten das 17 Hektar große Grundstück gemeinsam mit der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires. Bis zum letzten Jahr arbeiteten die Organisationen eng mit Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zusammen, der Ehefrau des 2010 verstorbenen Nestór Kirchner. Doch seit Macris Amtsantritt im Dezember vergangenen Jahres ist die Stimmung angespannt. Abgesehen davon, dass einige Organisationen von Regierungsgeldern abhängig waren, die nun ausbleiben, befinden sich auf dem Gelände auch staatliche Institutionen, die mittlerweile mit Gefolgsleuten von Macri besetzt sind. Dazu zählt etwa das Büro des neuen Menschenrechtssekretärs, Claudio Avruj. „Dieses Ambiente wurde durch Präsident Kirchner geschaffen. Die Menschenrechtsgruppen glauben, dass ihnen dieser Ort gehört“, kritisierte er die Ablehnung Obamas in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País. „Auch wenn wir hier zusammen leben, fehlt ihnen das Verständnis dafür, dass dies ein Raum des argentinischen Staates ist.“ Die Menschenrechtsorganisationen sehen das freilich anders. „Es gibt hier eine grundlegende Konfrontation mit der Macri-Regierung“, sagt Martín Ortíz, der auf dem ESMA-Gelände arbeitet, seinen richtigen Namen zurzeit aber lieber nicht in der Zeitung lesen will. „Unter Kirchner hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass es während der Militärdiktatur einen Staatsterrorismus gegeben hat. Nun wird zunehmend wieder die „Theorie der zwei Dämonen“ bedient, wonach die Gesellschaft Opfer der beiden Extreme Militär und linker bewaffneter Gruppen gewesen sei.“ Seit der Amtsübernahme durch die neue Regierung würden wieder Meinungen geäußert, die in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs tabuisiert waren.
Zum Beispiel von Darío Lopérfido, Kulturminister der von Macris Partei PRO (Republikanischer Vorschlag) regierten Stadt Buenos Aires. Die Zahl von 30.000 Verschwundenen bezeichnete er als „Lüge, die am Verhandlungstisch entstanden sei“, um internationale Aufmerksamkeit und Gelder zu erhalten. „Sie testen gerade die Grenzen aus“, ist sich Ortíz sicher. Die Arbeit auf dem ESMA-Gelände wird derweil zusätzlich durch diffuse Drohungen erschwert. Seit Anfang vergangenen Jahres, also auch noch während der Kirchner-Regierung, gingen etwa 50 telefonische Bombendrohungen ein. Jedes Mal musste das komplette Areal geräumt werden. Wer dahinter steckt, ist unklar. Nach Macris Wahlsieg blieb es eine Zeit lang ruhig, doch mittlerweile seien wieder regelmäßig Drohungen eingegangen. Dass Obama weitere Dokumente zur Militärdiktatur freigibt, begrüßt Ortíz zwar, schließlich hätten die Menschenrechtsorganisationen dies seit langem gefordert. „Aber er hätte sich zumindest für die damalige US-Politik entschuldigen sollen“, fügt er hinzu.
Neben der historisch symbolischen Bedeutung seines Besuches, geht es Obama vor allem darum, der rechten argentinischen Regierung politisch und wirtschaftlich den Rücken zu stärken. Mit dem Wahlsieg der argentinischen Rechten kehrt ein bedeutendes lateinamerikanisches Land in die Einflusssphäre der USA zurück. Macri hofft seinerseits auf eine enorme Investitionswelle und inszeniert das neue Argentinien wie die Rückkehr eines verlorenen Sohnes. Der US-Präsident selbst sprach bei seinem Besuch offen aus, warum er an den Río de la Plata gereist ist: „Wir sind von der Arbeit der ersten 100 Tage beeindruckt.“
In gut drei Monaten Regierungszeit gelang es Macris unternehmernaher Regierung in rasanter Geschwindigkeit zahlreiche Eckpfeiler der Kirchner-Ära zu demontieren, die meisten davon per Dekret. Gleichzeitig pflegt er einen gänzlich anderen politischen Stil als die Kirchners, indem er sich etwa gegenüber Teilen der Opposition dialogbereit zeigt, Pressekonferenzen abhält und reguläre Kabinettssitzungen einberuft.
Kurz nach Amtsantritt vereinheitlichte die Regierung zunächst die unterschiedlichen Wechselkurse des US-Dollars und gab den Devisenhandel frei. Dadurch zieht die ohnehin schon hohe Inflation weiter an, Macri verspricht eine signifikante Senkung in der zweiten Jahreshälfte. Es folgten die Abschaffung beziehungsweise Senkung von Exportabgaben auf Agrar- und Bergbauprodukte. Durch gestrichene Subventionen stieg der Strompreis um bis zu mehrere hundert Prozent, bei Gas, Wasser und dem öffentlichen Nahverkehr sind bereits ähnliche Maßnahmen ankündigt. Einige der kommerziellen Beschränkungen, die das progressive Mediengesetz aus der Kirchner-Ära den großen Medienkonzernen auferlegt hatte, hob Macri wieder auf. Zudem ging in seiner bisherigen Amtszeit bisher eine sechsstellige Zahl von Arbeitsplätzen verloren. Dies betrifft teilweise die Privatwirtschaft, auch weil beispielsweise Bauprojekte aus der Kirchner-Regierung nun nicht umgesetzt werden. Vor allem aber hat die Regierung massenhaft Staatsangestellte mit der Begründung entlassen, sie hätten ihre Posten von der Vorgängerregierung nur aus Gefälligkeit bekommen. In einem Fernsehinterview am 20. März beteuerte Macri, seine Regierung ermögliche den Entlassenen ein neues Leben, denn diese „gingen acht Stunden lang zur Arbeit, ohne irgendetwas zu tun. Das ist erniedrigend.“
Wie schon als Bürgermeister von Buenos Aires setzt Macri außerdem auf ein repressives Vorgehen gegenüber sozialen Protesten. Ein neues Sicherheitsprotokoll sieht eine harte Linie gegenüber den als piquetes bekannten organisierten Straßensperrungen vor. Zwar wurde es bisher noch nicht angewendet, macht staatlicher Repression aber den Weg frei.
Trotz dieser Bilanz sitzt der Präsident erstaunlich fest im Sattel. Zwar gab es seitens der Gewerkschaften Proteste gegen die Entlassungen, doch scheinen die Regierungsgegner*innen mit dem Reformtempo derzeit kaum mithalten zu können. Im Parlament brachte Macri einen Teil der Opposition hinter sich, um den jahrelangen Schuldenstreit mit den so genannten Geierfonds beizulegen. Diese hatten nach der Staatspleite Argentiniens 2001 Schuldentitel zum Ramschpreis aufgekauft und pochen jetzt auf die Rückzahlung des vollen Nominalwertes samt Zinsen. Um die Fonds auszahlen und das dafür nötige Geld auf dem Kapitalmarkt als Neuschulden aufnehmen zu können, müssen zwei Gesetze geändert werden. Macri verfügt jedoch in keiner der Kammern über eine eigene Mehrheit. Sollte mit den Geierfonds keine Einigung erzielt werden, drohten „Sparzwang oder Hyperinflation“, sagte er im Vorfeld der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer. Dort stimmten Mitte März schließlich sowohl die Rechts-Peronist*innen um den Ex-Präsidentschaftskandidaten Sergio Massa, als auch die jüngste Abspaltung des Kirchnerismus, dem Bloque Justicialista um Diego Bossio, für eine Einigung mit den Geierfonds.
Selbst aus der kirchneristischen Frente para la Victoria (FPV) votierten sechs Abgeordnete für die Gesetzesänderungen. Im Senat, wo die FPV die absolute Mehrheit stellt, erreichte Macri Ende März mit 54 Stimmen gar eine Zweidrittelmehrheit, obwohl sein Bündnis Cambiemos (Lasst uns verändern) selbst hier nur über 15 Senator*innen verfügt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die im Senat vertretenen Provinzpolitiker*innen durch Argentiniens mögliche Rückkehr an die Kapitalmärkte neuen finanziellen Spielraum versprechen. Der durchschlagende Abstimmungserfolg bedeutet aber nicht, dass sich Macri nun auf stabile Mehrheiten verlassen könnte. Momentan sehen die meisten Akteur*innen innerhalb des breiten und teilweise diffusen peronistischen Spektrums ihren Gegner aber eher im Kirchnerismus als in Macri.
Für das ehemalige Regierungsbündnis FPV, das sich mehrheitlich der peronistischen Partei (PJ) zugehörig fühlt, steht eine Menge auf dem Spiel. „Entscheidend für die nächsten Jahre ist, wer jetzt die Oberhand gewinnt“, sagt Cristina Quiroga, Politikwissenschaftlerin und kirchneristische Aktivistin. Sollte sich bei den internen Wahlen der PJ am 8. Mai eine rechtsperonistische Führung durchsetzen, würden sich die progressiven Sektoren um die Jugendorganisation La Cámpora wahrscheinlich abspalten. „Das FPV-Bündnis droht dann auseinander zu brechen“, warnt Quiroga.
Argentiniens Linke betont derzeit vor allem die nötige Einheit. Doch daran, wie diese geschaffen werden soll, scheiden sich die Geister. „Optimistisch gesehen scheint es auf der Hand zu liegen, dass angesichts einer Strukturanpassung unter einer rechten Regierung Allianzen von unten geschaffen werden“, sagt die Soziologin und Bewegungsforscherin Maristella Svampa. Grundlegend für diese Allianz zwischen Kichnerismus und unabhängiger Linker sei aber eine Selbstkritik von ersterem und eine Praxis, die nicht auf eine Unterordnung der anderen Organisationen hinauslaufe.
Auch die Basisorganisation Frente Popular Darío Santillán (FPDS) fordert eine Selbstkritik der sozialen Bewegungen, die sich dem Kirchnerismus angeschlossen haben. „Die Grundlage für den Rechtsruck ist auch in den letzten zwölf Jahren gelegt worden, da die Kirchners das Wirtschaftsmodell nicht grundlegend verändert haben“, betont Florencia Puente, Aktivistin der FPDS. Gleichzeitig sei sie aber froh darüber, dass es neue Möglichkeiten gebe, um mit eben diesen Aktivist*innen wieder in Dialog zu treten. „Nur gemeinsam mit allen, die von der Politik Macris betroffenen sind, können wir einen breiten Widerstand aufbauen“. Nach Ansicht der FPDS und einiger anderer Bewegungen soll dieser Widerstand vor allem von einem alternativen Konsens in der Zivilgesellschaft ausgehen, der mittelfristig auch Grundlage für ein neues (Wahl-) Bündnis außerhalb des Peronismus sein sollte.
So viel Geduld haben andere nicht, auch wenn sie ebenfalls davon überzeugt sind, dass eine Alternative innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen muss. „Nur basierend auf der Hegemonie des Kirchnerismus und der dadurch ermöglichten Selbstermächtigung von Teilen der Bevölkerung können wir eine starke Opposition aufbauen“, erklärt Facundo Taboada. Er ist Aktivist beim neu gegründeten Bündnis Proyecto Popular, dem Zusammenschluss einer kirchneristischen und einer unabhängigen Basisorganisation. Die politische Kehrtwende, die die aktuelle Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch bedeute, sei zu drastisch und erfordere eine unmittelbare strategische Einheit, die auf eine Regierungsübernahme ausgerichtet sein müsse. „Trotz aller Kritik ist die Frente para la Victoria momentan die einzige realistische Möglichkeit, die Regierung der neuen Rechten zu beenden“, so Taboada.
Die unterschiedlichen Strategien in der Linken schlugen sich auch am 24. März nieder. Während sich die Aktivist*innen von Proyecto Popular an der kirchnernahen Großdemonstration beteiligten, zogen die Aktivist*innen der FPDS mit anderen unabhängigen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien am späten Nachmittag vom Kongressgebäude zur Plaza de Mayo. Trotz einer ähnlichen Analyse und der allgemeinen Ablehnung der Macri-Regierung gelang es auch dieses Jahr nicht, eine zentrale Demonstration zu organisieren. Dass beide Demos letztlich zu einer verschmolzen, war nicht der politischen Strategie, sondern der massiven Teilnahme geschuldet.

Von Streik- und Protestbewegung

Die Entschlossenheit, mit der der ecuadorianische Präsident Abdalá Bucaram vom Sessel gefegt wurde, erregt Bewunderung. Seine Amtsführung war so haarsträubend, seine politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen so unausgereift und irrational, die Vetternwirtschaft und Selbstbedienung seines Clans so unverschämt, daß die Massenproteste nur legitim zu nennen sind. Die hohe Zahl der Beteiligten – fast ein Fünftel der ecuadorianischen Gesamtbevölkerung – und die Breite des politischen Spektrums, das sich den Protestaufrufen anschloß, erfüllen den Verfassungsgrundsatz von der Souveränität des Volkes überzeugend mit Leben. Nicht ganz so überzeugend ist, daß Bucaram, extravagant, großmäulig, populistisch, wie er ist, überhaupt auf seinen Posten gehievt wurde; der Souverän war dabei schließlich derselbe. Aber als er im Juli 1996 bei der Stichwahl Gegenkandidat des rechtsliberalen Hardliners Nebot war, mögen viele gedacht haben: Unter Bucaram wird es zwar bunt, aber nicht ganz so schlimm. Daraus ist nun nichts geworden, er hat seinem Wahlvolk mehr zugemutet, als es ertragen wollte, und bekam die Quittung auf den Tisch.
Die protestierenden EcuadorianerInnen haben erstaunlich schnell viel erreicht. Heißt das, “die Straße” hat tatsächlich an politischem Einfluß gewonnen? Das Plebiszit als lebendiges Element der Legislative? Basisdemokratie auf Lateinamerikanisch?
Diese Fragen stehen derzeit auch in anderen Regionen der Welt auf der Tagesordnung, so in Serbien, Bulgarien und Albanien. Die verschiedenen Protest- und Streikbewegungen müssen selbstverständlich differenziert betrachtet werden, ihnen allen ist aber zweierlei gemeinsam. Erstens hätten sie noch vor einigen Jahren wahrscheinlich nicht stattfinden können. Während in den Ländern des Ostblocks die Machthaber wohl zur chinesischen Lösung gegriffen und die Demonstrationen niedergeschossen hätten, würde in Ecuador das Militär sich vielleicht nicht – wie 1997 – derart zurückgehalten haben. Die Rahmenbedingungen haben sich wesentlich geändert.
Die zweite Gemeinsamkeit: Sie wenden sich gegen Defekte in Systemen, die demokratische sein sollen und es nicht wirklich sind. In Serbien hat es sehr lange gedauert, bis die Demonstrationen handfeste Wirkungen gezeitigt haben. Aber sie wurden mit solcher Konsequenz durchgehalten, daß sie zu einer politischen Kraft geworden sind, an der in Serbiens Politklasse so schnell keiner vorbei kann. Dabei geht es den Menschen auf Belgrads Straßen nicht um Politikerköpfe, sondern um demokratische Prinzipien, als da sind saubere Wahlen, Freiheit der Medien, Autonomie der Universitäten. Die langanhaltenden Proteste haben dazu beigetragen, daß in Serbien viele Tausend Menschen politisch sensibler geworden sind. Die Oppositionsparteien haben ihre Basis verbreitern können, und die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Opposition, die zur Zeit noch durch große gemeinsame Ziele zusammengehalten wird, ist für lebendige demokratische Verhältnisse auf lange Sicht eher von Vorteil.
Auch in Ecuador haben sich Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Haltungen geeint gegen Bucaram auf die Straße begeben. Daß das Begehren des Volkes im Parlament am 6. Februar umgesetzt und Bucaram gefeuert wurde, beweist, daß sich auch die Mehrheit der ParlamentarierInnen dem Ziel der Proteste anschlossen.
Spätestens hier wird jedoch deutlich, daß die Proteste in Ecuador weniger mit denen auf dem Balkan gemein haben, als es den Anschein hat.
In erster Linie scheint der Generalstreik keine adäquate Fortsetzung zu finden. Von der Straße kommt nichts mehr, der Personalwechsel hat die Gemüter beruhigt. Die politischen Grundlinien, die der neue Präsident Alarcón in seiner 20monatigen Amtszeit verfolgen will, schlagen tatsächlich reformerische Töne an, aber grundsätzlich hat sich in Ecuador nichts geändert. Wenn die Streikenden der Brutalität neoliberaler Reformen entgegentreten wollten, haben sie das mit der Absetzung von Bucaram nicht erreicht. Was die Korruption anbelangt, ist der langjährige Politprofi Alarcón für eine Regierung der sauberen Westen der falsche Mann. Besonders bedenklich stimmt jedoch die allererste von Alarcóns Amtshandlungen: Er legte fest, daß die für April vorgesehene Volksabstimmung über diverse Wirtschaftsreformen nicht stattfinden wird. Die EcuadorianerInnen sollen schon wieder zum Stimmvieh degradiert werden.

Bergbau mit Clowns

Munteres Zirpen und Zwitschern erklingen als Geräuschkulisse in der von subtropischem Nebelwald umgebenen Gemeinde Peñaherrera. An diesem Tag mischen sich die Klänge jedoch mit Bachatas aus Musikvideos, die auf einer Bühne ausgestrahlt werden, welche das staatliche Bergbauunternehmen ENAMI aufgebaut hat. ENAMI möchte im offenen Tagebau die geschätzten 2,2 Millionen Tonnen Kupfer aus der Intag-Region nordwestlich der Hauptstadt Quito fördern. „Gemeinsam mit der Gemeinde” so das Motto, weswegen das Bergbauunternehmen Peñaherrera mit sogenannter ecuadorianischer Kultur bespaßt: Clowns, Musikvideos und Filme. Nicht zufällig fällt die Werbeveranstaltung auf den Tag, an dem auch die asamblea zusammenkommt, die Bürger*innenversammlung des Gemeinderats. Dieses Mal soll die asamblea auch den Haushalt 2015 für die Gemeinde Peñaherrera verabschieden. Zu den etwa alle drei Monate stattfindenden basisdemokratischen Versammlungen können alle Bewohner*innen der Dörfer Peñaherreras kommen und ihre Politik mitgestalten.
Die Stimmung auf der asamblea ist angespannt, die beiden Lager haben sich jeweils auf einer Seite der Tribünen der Sport- und Veranstaltungshalle verteilt. Bei den Wahlen im Februar 2014 hat die Kandidatin der Regierungspartei Alianza País (AP), Margarita Espín, den Vorsitz des Gemeinderats knapp gewonnen. Ihr Vorgänger, Gustavo León vom Wahlbündnis Vivir Bien – Ally Kawsay, ist nun Vizepräsident des Gemeinderats. Die Anhänger*innen von Vivir Bien sind gegen den Bergbau in der Intag-Region. Espín hat die Wahl mit dem Versprechen von Wandel und Arbeit gewonnen – Arbeitsplätze, die der Bergbau bringen soll. María Augusta León, Ehefrau von Gustavo León, regt sich über den Ablauf der asamblea auf: „Der Haushalt wurde gar nicht richtig diskutiert und die Präsidentin war so darauf bedacht, die asamblea mittags zu beenden, dass sie am Ende nicht mal hat abstimmen lassen”. Nachmittags ist schließlich das Programm von ENAMI vorgesehen, das die AP-Politikerin dann auch lobend ankündigt. Interessantes Detail: Espíns Ehemann arbeitet für die ENAMI.
Das staatliche Bergbauunternehmen soll das durchführen, was seit Mitte der 1990er Jahre durch die Bewohner*innen der Intag-Region verhindert wurde. Bereits zweimal ließen transnationale Unternehmen aufgrund des erbitterten Widerstands der Gemeinde von ihren Bergbauvorhaben ab. 2008 wurde im Zuge der neuen Verfassung schließlich das Bergbau-Mandat erlassen, wodurch alle vom ecuadorianischen Staat illegal vergebenen Konzessionen den Unternehmen entzogen wurden, so auch in der Intag-Region. Die damals gültige Verfassung von 1998 schrieb vor, dass die betroffene Bevölkerung vorab konsultiert werden muss, was nicht geschehen war.
Die neue Verfassung beinhaltet diese Vorgabe nicht, hingegen legt sie fest, dass alle strategischen Sektoren Staatseigentum sind. Die strategischen Sektoren sollen zur Entwicklung Ecuadors beitragen: Die seit Jahrzehnten andauernde Erdölförderung wird ausgeweitet und nun soll Ecuador auch ein Bergbau-Land werden, weshalb der Staat mit fünf Mega-Projekten den industriellen Großbergbau in Ecuador einführen will. Dafür wurde auch die staatliche Bergbaufirma ENAMI gegründet. Sie hat Anfang Mai mit der Explorations-Phase des Bergbauprojektes Llurimagua in der Kordillere Toisán begonnen, die die Intag-Region säumt. Diese ist Teil des Naturreservats Cotacachi Cayapas und beherbergt eine hohe Artenvielfal, das Tal soll nun durch fast 5000 Hektar Tagebau durchrissen werden. Die beiden vergebenen Konzessionen gelten für die Gemeinden García Moreno und Peñaherrera. Zur Durchführung des Projektes hat ENAMI ein Abkommen mit dem chilenischen staatlichen Bergbauunternehmen Codelco abgeschlossen. „ENAMI ist eine Firma auf dem Papier, die keinen einzigen Bohrer besitzt, sondern Veranstaltungen mit Clowns organisiert, so wie heute“, meint Gustavo León. Die Aufgabe des ecuadorianischen Bergbauunternehmens bestehe darin, Abkommen mit ausländischen Minenfirmen zu schließen, so wie in der Intag-Region mit Codelco. Da die Region für ihren Widerstand bekannt ist, erschien es der Regierung Correa zu Beginn der Explorationsphase angemessen, gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen ENAMIs Anfang Mai drei Hundertschaften Polizei in die umliegenden Gemeinden einmarschieren zu lassen. Die Bürger*innen haben sich in all den Jahren nicht nur widersetzt, sondern ihr eigenes alternatives Entwicklungsmodell aufgebaut. In Peñaherrera gehören dazu vor allem Ökotourismus und Biolandwirtschaft, deren Erlöse in soziale Projekte fließen. Den Projektträger*innen ist bewusst, dass dieses Alternativmodell sich mit Bergbau schlecht vereinbaren lässt, deswegen unterstützen auch sie den Kampf gegen Llurimagua, dem die Behörden mit verstärkter Repression begegnen. So nahm die Polizei nach Rangeleien bei Protesten Javier Ramírez fest, den Bürgermeister des Dorfs Junín, das vom Projekt Llurimagua am meisten betroffen ist. Seither ist er in Haft. Unter dem Vorwurf der Sabotage, der Rebellion oder des Terrorismus können Aktivist*innen in Ecuador bis zu zwölf Jahre Haft drohen. Gustavo León sieht in der zunehmenden Kriminalisierung des Protests auch einen Grund dafür, dass der offene Widerstand in der Gemeinde nachgelassen hat: „Die Leute kennen den Fall von Javier Ramírez und haben Angst, ihr Recht auf Information, eine eigene Meinung und Widerstand einzufordern”.
Doch warum gibt es nach Jahren des Widerstandes und dem Aufbau von Alternativen nun immer mehr Befürworter*innen der Ausbeutung des Kupfers? In Peñaherrera sitzt Espín nach der Bürger*innenversammlung auf dem Platz, auf dem die Bühne aufgebaut ist und schaut einigen Männern beim Volleyball-Spielen zu. „Wir glauben an die Regierung Rafael Correas. Jetzt haben wir eine staatliche Firma, der Bergbau ist nicht mehr für transnationale Konzerne, sondern er ist für uns. Die Erlöse gehen in unser Bildungs- und Gesundheitswesen”, zeigt sich die AP-Politikerin überzeugt. Deswegen wollten die Leute nun den Bergbau, es handele sich um kein transnationales Unternehmen und es würde Arbeitsplätze für sie geben. Espín will, dass die Emigrierten nach Intag zurückkehren und für ENAMI arbeiten. „ENAMI steht für verantwortungsvollen Umgang mit Umwelt und Mensch, sieh nur die Veranstaltung heute. Die Umweltauswirkungen betreffen nur die knapp 5000 Hektar des Tagebaus und ENAMI wird sich um die Abfälle und Abwässer kümmern”, meint die Präsidentin des Gemeinderats und verweist auf die erteilte Umweltlizenz. In der vier Jahre andauernden Explorationsphase sei auch Zeit, Ingenieur*innen aus der Intag-Zone auszubilden, aber auch alle anderen erwarte Arbeit, als Wächter*innen und Haushälter*innen zum Beispiel. Sie sei gar nicht per se für den Bergbau, alles hinge von den Ergebnissen der Explorationsphase ab, und bisher gäbe es keine Probleme. Sie sehe sich in der Verantwortung, dass es ein nachhaltiges Bergbauprojekt wird.
„Wenn der verantwortungsvolle Bergbau existiert, sagt uns, wo auf dieser Welt, damit wir uns das ansehen können und der verantwortungsvollen Bergbau hier implementiert wird“, widerspricht Bergbau-Gegner Gustavo León. Seine Haltung begründet León mit den Gefahren, die der Bergbau für seine Gemeinde berge: „Sie können uns nicht beweisen, dass Wasser und Luft nicht verschmutzt werden. Das Wasser, von dem unsere Gemeinde lebt, kommt aus dem oberen Teil der Toisán-Kordillere“. Natürlich sei die Gemeinde besorgt, dass es im Zuge des Bergbaus, unten verschmutzt ankommen wird. León spricht von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der Umweltlizenz, zum Beispiel seien Werte aus anderen Regionen herangezogen worden. Noch größer seien jedoch die sozialen Gefahren. In Bergbaugebieten gibt es Immigration, aber nicht von denen, die vorher emigriert sind, sondern von Arbeiter*innen aus anderen Regionen. Prostitution, Frauenhandel, Militarisierung und soziale Konflikte sind oft Folgen. In der Intag-Zone selbst müssten vier Gemeinden umgesiedelt werden. An das Versprechen der Arbeitsplätze für die Bewohner*innen der Intag-Region glaubt León nicht. Es werde Technologie genutzt, für die man nur wenige, gut ausgebildete Personen benötige. Und die vielen Personen, die von der Landwirtschaft im dichtesten Umkreis des Bergbauprojekts leben, verlören ihre Arbeit. Sie hätten hier in der Intag-Region schon ein Beispiel dafür: Bei dem Zement-Bergbauprojekt Selva Alegra habe die betroffene Gemeinde nicht profitiert. In der Region wurde aber auch eine weitere Gefahr für die Landwirtschaft beobachtet. Durch Großprojekte, bei welchen höhere Löhne gezahlt werden, verteuert sich die Arbeitskraft und niemand ist mehr bereit, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Andere Arbeit gibt es dann für wenig Qualifizierte trotzdem nicht.
Der Konflikt in der Intag-Region ist exemplarisch für den Umgang mit dem Ressourcenreichtum in Ecuador seit der Amtsübernahme von Präsident Rafael Correa im Jahr 2007. Der Regierungsdiskurs verlautet, dass der Extraktivismus notwendig sei für die Entwicklung Ecuadors und aus den Einnahmen Infrastruktur, Sozialsysteme und Sozialausgaben finanziert würden. Die signifikante Reduktion der Armutsquote in den letzten sechs Jahren wird als Erfolg dafür angeführt. Definitiv ist es ein Erfolg, dass sich die Lebensbedingungen für viele Menschen verbessert haben. In den Städten hat sich beispielsweise eine Mittelschicht herausgebildet, die von dieser Politik profitiert und nun auch fleißig konsumieren kann. Allerdings bleibt diese „Entwicklung” dem auf Extraktivismus beruhenden kapitalistischen Entwicklungsmodell verhaftet, das von der Regierung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ als alternativlos dargestellt wird. Die in den letzten Jahren relativ hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt begünstigen dieses Modell, es bleibt die Frage, wovon die Sozialausgaben finanziert werden, sobald diese Preise sinken oder sich auf lange Sicht die Rohstoffvorkommen erschöpfen. Oder welche Einkommensquellen künftige Generationen finden werden, wenn große Teile des kleinen, megadiversen Ecuadors aufgrund der Umweltfolgen des Extraktivismus verwüstet sind.
In der Intag-Region ist der Konflikt noch nicht endgültig entschieden. Zwar hat die letzte asamblea des Bezirks Cotacachi (nächst höhere Verwaltungsebene nach den Gemeinden, zu der auch die Intag-Region gehört; Anm. d. Red), deren Bürgermeister vom Wahlbündnis Vivir Bien ist, gegen den Bergbau ausgesprochen. Doch bindend ist das Votum nicht, da der Bergbau laut der offiziellen Diktion von nationalem Interesse ist und somit der Bundesregierung alleinige Entscheidungsgewalt obliegt. Aber mit dem öffentlichen Druck wollen die Bergbaugegner*innen weiter machen. Auch auf lokaler Ebene haben sie eine Strategie: Sich gut informieren, wissen was passiert und die Informationen verbreiten. Gustavo León erzählt davon, dass Personen aus der Intag-Region in Bergbaugebiete in Chile und Peru gefahren sind, um andere Erfahrungen kennenzulernen: „Dort haben wir gesehen, dass die vom Bergbau betroffenen Gemeinden die Ärmsten geblieben sind und unter Umweltverschmutzungen leiden”.
Dabei gibt es neben den bereits geschilderten Alternativen noch weitere: Ein Projekt von neun kleinen kommunalen Wasserkraftwerken. Ein Bündnis aus dem zivilgesellschaftlichen Consorcio Toisán und lokalen Regierungen haben 2007 die Initiative Ecoenergia Hidrointag – Cotacachi ins Leben gerufen. Inzwischen haben sie das Kapital für das erste Projekt. Die umweltgerechten Wasserkraftwerke sollen eine nicht-extraktivistische lokale Ökonomie fördern. Im Besitz und unter der Kontrolle der Gemeinden sollen die Einkünfte aus dem Stromverkauf in die lokale Entwicklung investiert werden. Auch in Nangulví, Teil von Peñaherrera, ist ein kleines Wasserkraftwerk geplant.
Am Abend wird die ENAMI-Bühne zusammengeräumt und es schallt nur noch Tecnocumbia-Musik von auf dem Platz verteilten Grüppchen durch die Nacht. Zumindest für diesen Abend ist die Präsenz des Bergbaus nicht mehr vor aller Augen. Gespräche über die Bürger*innenversammlung vermischen sich mit Alltagsgesprächen und Feiertagsplanungen für den Tag der Toten.

Die leere Hülle des Gesetzes

Vergangenen November sind in La Paz und Cochabamba besonders grausame Feminizide begangen worden: Eine Frau wurde von ihrem Mann zu Tode geschlagen, eine andere geviertelt. Dies ist aber nur die Spitze des Eisbergs, oder?
Eliana Quiñones: Seit Anfang 2013 bis November 2014 wurden laut des Informations- und Entwicklungszentrums der Frau (CIDEM) 206 Frauen ermordet, davon 96 dieses Jahr. Im März 2013 trat das Gesetz 348 in Kraft, das Frauen ein gewaltfreies Leben garantieren soll. Trotzdem wurden bis Mitte November bisher nur acht Morde an Frauen verurteilt! Wir sehen, wie die Gewalt anhält und durch die Straflosigkeit noch verschärft wird. Das ist empörend, denn die Gewalt wird normalisiert und naturalisiert. Laut einiger Medien wird die Gewalt erst jetzt sichtbar gemacht, aber im Namen der Sichtbarmachung wird sie zugleich normalisiert. Zu den letzten Fällen: Frauen protestierten empört auf der Straße – aber dann vergeht nur eine Woche und ein achtmonatiges Baby wird zu Tode vergewaltigt. Die Fälle erscheinen als Schlagzeilen in der Presse, aber es fehlt eine tiefgehende Analyse, warum das alles wirklich passiert.

Und warum gibt es diese horrende Gewalt gegen Frauen Ihrer Meinung nach?
Eliana Quiñones: Die Gewalt gegen Frauen ist ein Produkt der Krankheit des Patriarchats und der Objektivierung der Frau. Es gibt die Annahme, eine Frau könne zu Tode geschlagen werden oder gevierteilt werden, weil sie nichts wert sei.
Andrea Flores: Die genannten Zahlen erfassen längst nicht alle Fälle. Unsichtbar bleiben Frauen, die auf dem Land und in den Vorstadtgebieten vergewaltigt und getötet werden. Es fehlt der politische Wille, das zu sehen. Die Forensiker kommen zum Beispiel erst zwei Tage nach dem Tod einer Frau. Hier müsste die Politik ansetzen. In unserer langjährigen Arbeit auf dem Land haben wir beobachtet, dass viele Gewalttaten, die früher unsichtbar waren, nun publik gemacht werden. Die Gewalt steigt aber auch immer weiter an. Jetzt werden Anklagen erhoben – aber die Anklagenden haben Angst und sind ohne Gewissheit, ob der Staat reagiert. Die gewalttätigsten sind die Militärs und Polizisten. Man muss an das Bewusstsein der Regierung appellieren.

Sie arbeiten auch zur Problematik des Menschenhandels. Wie ist die Situation in Bolivien?
Andrea Flores: Der Menschenhandel ist kein sichtbares Thema. Eine Frau geht aus dem Haus und kommt nicht wieder. Es gibt Zeitungsartikel und dann passiert nichts mehr. Es gibt keine Informationen, sie verschwinden.
Eliana Quiñones: Es ist ein schwerwiegendes Problem! Der Menschenhandel ist in den letzten fünf Jahren um 96 Prozent gestiegen, in der Mehrheit sind Frauen und Kinder betroffen. In Bolivien verschwindet pro Tag eine Frau! Sie sind Opfer von Organhandel, Zwangsarbeit, oder, in den meisten Fällen, von sexueller Ausbeutung. Und wieder zeigt sich die Straflosigkeit. Von all en Fällen, die angezeigt wurden, wurde bis heute kein einziger aufgeklärt. Grund hierfür ist, dass die Mehrheit der Frauen aus der Provinz und aus den Grenzgebieten stammt – das ist eine überaus verletzliche Gruppe. In tausenden Fällen verschwinden die Unterlagen irgendwo bei der Polizei – und mit den Unterlagen verschwindet auch das Leben der Betroffenen vollkommen.

Die Straflosigkeit lässt an den neu verabschiedeten Gesetzen zweifeln.
Andrea Flores: Die neuen Gesetze sind sehr schön. Aber wenn die Gesellschaft sie nicht kennt, bringen sie nichts. Es ist unsere Aufgabe, uns der Gesetze zu bemächtigen und Strategien zu suchen, wie sie angewandt werden. Ansonsten wäre ein großer Aufwand für Gesetze verschwendet, die nur auf dem Papier stehen. Es muss einen Wandel geben, sowohl beim Staat, der die Umsetzung der Gesetze wollen muss, als auch bei uns Frauen.
Eliana Quiñones: Der Staat gibt uns Gesetze, die das Grundproblem nicht lösen. Stattdessen sind sie darauf ausgerichtet, die Frauenbewegung, die auf die Straße geht, verstummen zu lassen. Der Staat mach sich beispielsweise durch die Straflosigkeit zum Mittäter und trägt Verantwortung für die steigende Gewalt. Die Gleichgültigkeit der staatlichen Organisationen, des Gesundheitssystems, der Schulen, der Polizei, und auch der Familie spielen da hinein. Ein sicheres, gewaltfreies Leben wird somit unmöglich gemacht: Du gehst zum Arzt und wirst nicht behandelt, gehst zur Polizei und wirst schuldig gemacht, gehst in die Kirche und wirst verurteilt – die patriarchale Mentalität ist totaler Komplize.

Welche Reaktionen sind in der Gesellschaft zu beobachten?
Eliana Quiñones: Nach den Vorfällen gab es Demonstrationen, was ich sehr wichtig finde. Denn sie verleihen der Wut und Empörung Ausdruck. Aber die Mobilisierungen dürfen nicht nur konjunkturell sein und für die einzelnen Fälle Gerechtigkeit einfordern. Das ist zwar auch wichtig. Aber darüber hinaus müssen sie die Gesellschaft zu einer tiefgehenden Reflexion über das patriarchale System und die machistische Mentalität im Alltag bewegen. Sonst wird sich nichts ändern. Es muss Druck auf alle Institutionen ausgeübt werden, bis hin zur Meinung des Präsidenten selbst: Die sexistischen Äußerungen und Handlungen der ‚unanfechtbaren Autoritäten‘ dürfen nicht toleriert werden. Die Mobilisierung muss also größer werden, muss denunzieren, aber auch ihre Kritik vertiefen, um die Realität zu verändern. Denn wenn nicht, scheint es so, als ob die Genossinnen und Frauen nur bestimmte Fälle beklagen würden, und nicht mehr.

In Reaktion auf die Fälle Anfang November 2013 wurde in Cochabamba ein Alarmzustand erklärt. Viele Organisationen forderten die Ausrufung des Zustands auf nationaler Ebene. Die Polizei hat den Notzustand erklärt, was bedeutet, dass sie nun sofort auf Anzeigen reagieren will; außerdem wurden kostenlose Hotlines zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen in La Paz, El Alto, Cochabamba und Santa Cruz eingerichtet. Sind das erste Schritte zu Veränderungen?
Eliana Quiñones: Das waren Reaktionen auf Forderungen von Organisationen, aber sie verändern strukturell nichts. Außerdem mussten immer erst sehr, sehr blutige Taten geschehen, damit etwas passiert. Beispielsweise wurde das Gesetz 348, das jahrelang auf Eis lag, erst verabschiedet, nachdem eine Journalistin ermordet worden war.Damals sind viele Frauen auf die Straße gegangen und daraufhin, so meine Meinung, wurde das Gesetz verabschiedet, um zu demobilisieren. Aber das Gesetz wird nicht umgesetzt. Die Verantwortlichen sind nicht geschult. Sie wissen nicht, wie sie mit Frauen, die in Gewalt leben, umgehen sollen und verstärken die Gewalt zusätzlich. Dann kommt es zu Vorfällen wie Anfang November und Gesetze werden verschärft oder erweitert, aber das ändert nichts an der gleichen Mentalität. Eine kostenlose Hotline ist keine Strategie, um die machistische Mentalität zu verändern, sondern um zu demobilisieren. Wir sehen, wie die Gewalt gegen Frauen angestiegen ist und das in einem Staat, der sich vermeintlich in einem Prozess des Wandels und der Depatriarchalisierung befindet.

Bei den nationalen Wahlen im vergangenen Oktober wurde im Parlament zum ersten Mal die Geschlechterparität erreicht, 51 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Steht das nicht im Widerspruch zu der erlebten Gewalt?
Andrea Flores: OMAK (Organisation der Aymara-Frauen von Kollasuyo, siehe Infokasten; Anm. d. Red.) hat mit vielen anderen Organisationen und Frauen bei diesen Wahlen für die 50-50-Quote gekämpft. Leider sind die Frauen, die ins Parlament eingezogen sind, von Männern aufgestellt worden. Die Politiker haben Angst vor Frauen, die widersprechen. Die Frauen im Parlament sollen schweigend alles akzeptieren. Es ist ein herausfordernder Kampf – aber ich habe noch die Hoffnung, dass die Frauen sich befreien können und Wandel bewirken. Aber diese Frauen werden ihre Arbeit verlieren und leiden. Wir Organisationen müssen deshalb auch von außen dafür kämpfen, dass Parität und Gleichheit im Staat umgesetzt werden. Die materielle Basis muss ebenfalls thematisiert werden. Eine arme oder finanziell abhängige Frau wird sich lieber still verhalten, als auf die Einnahmen zu verzichten. Deswegen haben wir ökonomisch-politische Strategien entwickelt, um eigene Ressourcen und eine starke Position im Kampf zu haben.
Eliana Quiñones: Die weiblichen Abgeordneten werden instrumentalisiert, sie partizipieren innerhalb der Struktur eines patriarchalen, maskulinen Staats. Sie partizipieren unter dessen eigenen Logiken und dessen eigenen Gewaltformen, und so verwandeln sich die Abgeordneten in Verbündete des patriarchalen Systems. Ein Beispiel aus vielen: In der Regierung sind Männer wie zum Beispiel jener Senator, der erzählt, dass Frauen lernen müssen, wie sie sich benehmen und kleiden, damit sie nicht vergewaltigt werden. Wer hat ihn hinterfragt und kritisiert? Keine.
Die 50-50-Quote funktioniert noch nicht, denn wir Frauen fühlen uns von denen im Parlament nicht repräsentiert. Warum? In diesem Parlament wirst du keine subversive Frau finden, die frei ist und widerspricht. Die werden rausgeschmissen. Eine andere Basisbewegung ist notwendig.

Afrobolivianische Identität im plurinationalen Staat

Schotterstraßen, Serpentinen und steile Berghänge. Der Ort Tocaña liegt mit 160 Einwohner*innen rund drei Autostunden von La Paz entfernt im subtropischen Norden Boliviens. Die kleine Häusersiedlung erstreckt sich auf einem mächtigen grünen Hügel voller Vegetation: Lemongras und Lianen wuchern an den Abhängen. Der Blick vom Dorfplatz schweift über die benachbarten Berggipfel, die von dichten Wolken bedeckt werden. Eine mächtige Kulisse. Doch der Ortskern von Tocaña wirkt öde: eine verriegelte Kirche, ein überdachter Beton-Sportplatz, zwei winzige Lebensmittelläden, kaum Menschen. Auf den ersten Blick hat die kleine Gemeinde nichts zu bieten. Dennoch: Tocaña ist anders als die meisten Ortschaften in der Umgebung. Das liegt an den Bewohner*innen.
„Wir sind gar nicht ursprünglich von hier“, sagt Jhony Perez. Dabei ist der 39-Jährige in Tocaña aufgewachsen. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Etwa 15 Dorfbewohner*innen haben sich neben dem Bolzplatz versammelt und trinken Bier aus Plastikbechern. Jhony Perez sitzt auf einer alten Schulbank aus Holz, die als Sitzgelegenheit aufgestellt wurde. Mit „nicht ursprünglich von hier“ meint er seine Vorfahren. „Die wurden hergebracht“, sagt er. Wie fast alle Menschen im Dorf ist Jhony Perez Nachfahre afrikanischer Sklav*innen. Im 16. und 17. Jahrhundert verschleppten die spanischen Kolonisator*innen massenhaft Frauen und Männer aus Afrika nach Bolivien. Der Plan der Konquistador*innen: Sie sollten sich in den Silberminen von Potosí für den Reichtum des spanischen Königshauses abarbeiten. Doch Höhenluft, Kälte und miserable Arbeitsbedingungen trieben viele in den Tod. Daraufhin wurden die versklavten Afrikaner*innen in den wärmeren Norden verkauft, um in den subtropischen Yungas in der Landwirtschaft ausgebeutet zu werden – vor allem in Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten.
Jhony Perez erzählt, seine Vorfahren kämen wahrscheinlich aus Mosambik. Das hätte vor ein paar Jahren mal jemand anhand der Untersuchung seines Kiefers festgestellt. Bei anderen Dorfbewohner*innen sei das Ergebnis der Kongo, Angola oder Nigeria gewesen. „Die spanischen Kolonisatoren haben absichtlich Sklaven aus verschiedensten Ländern verschleppt“, sagt Perez. „Damit sie sich nicht verständigen konnten und keine Rebellion starteten“. Die Frage der Ahnenforschung – wer jetzt aus welchem Land kommt – interessiert in Tocaña aber ohnehin keinen so wirklich. Keiner ist je nach Afrika gereist.
Unter den damals verschleppten Sklav*innen war auch der Thronfolger einer senegalesischen Ethnie. So jedenfalls erzählt der Mythos unter den Afrobolivianer*innen und so berichten bolivianische Medien, die BBC und die ARD. Seit dem offiziellen Ende der Sklaverei im Jahr 1826 wird auch unter den Nachfahren der Sklav*innen in Bolivien wieder ein König gekrönt, der König für die ganze afrobolivianische Community sein soll. Zwar wurde der Thron lange nicht vom bolivianischen Staat anerkannt, aber die Königsdynastie gab Anlass zu einer gemeinsamen afrobolivianischen Identität. Der US-amerikanische Anthroploge Norman E. Whitten schrieb etwa über den im 20. Jahrhundert thronenden Bonifaz, er sei ein black leader gewesen, den die Afrobolivianer*innen noch bis nach seinem Tod verehrt hätten.
Bis heute währt das Königreich. Im Internet präsentiert sich die Casa Real Afroboliviana (Afrobolivianisches Königshaus) mit eigenem Wappen und Throngeschichte. Der amtierende König, Don Julio Pinedo, wohnt in Murrata, rund zwei Stunden Fußmarsch von Tocaña entfernt. Der 72-jährige ist seit 1992 auf dem Thron und seit 2007 staatlich anerkannt. Er soll in einem kargen Eckhaus nahe des Dorfplatzes wohnen. Doch die Tür öffnet eine alte, dunkelhäutige Frau im traditionellen bolivianischen Pollera-Rock. Der König sei nicht da, sagt Königin Angélica. „Er arbeitet schon seit dem frühen Morgen auf dem Feld“. Die meisten Afrobolivianer*innen in den Yungas leben von der Landwirtschaft. In einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von 2011 liegt der Verkauf von Koka als Einkommensquelle unter den Afrobolivianer*innen an erster Stelle, 75 Prozent der Befragten gab an, mindestens einen Teil ihres Einkommens durch den Verkauf der Pflanze zu erwirtschaften. So lebt auch die Königsfamilie von der Landwirtschaft. Die 70-jährige Angélica sitzt im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie verkauft Sardinendosen, Nudeln und Koka-Blätter in ihrem kleinen Dorfladen und schaut dabei eine Telenovela. „Wir haben nur das Nötigste“, erklärt die Königin. Sie und ihr Mann stünden der Community zwar mit Rat und Tat zur Seite, leider seien die finanziellen Mittel aber begrenzt. Auch wenn der afrobolivianische König von der nationalen Regierung in La Paz offiziell anerkannt ist, hat er keine exekutive Macht. „Mein Mann hat repräsentative, aber keine politischen Funktionen“, resümiert Doña Angélica und ist erpicht darauf, jetzt weiter ihre Fernsehsendung zu schauen.
Zurück in Tocaña. Von den rund 35 Familien hier sind fast alle schwarz. Die Afro-Identität spielt eine entscheidende Rolle im Dorf. In ganz Bolivien gibt es nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 30.000 und 35.000 Afrobolivianer*innen. Beim bolivianischen Zensus 2012 gaben laut Nationaler Statistikbehörde INE rund 23.300 Menschen an, sich als Afrobolivianer*innen zu fühlen. Diese Daten wurden zum ersten Mal überhaupt erfasst, denn erst seit der plurinationalen Verfassung von 2009 sind die Afrobolivianer*innen eine der 36 staatlich anerkannten Ethnien in Bolivien. In der neuen Verfassung werden sie in Artikel drei explizit als Teil der Nation aufgeführt und in Artikel 32 werden ihnen die gleichen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte zugesichert, wie der indigenen Bevölkerung.
Allein wegen dieser formalen Anerkennung hat Verfassungsvater und Präsident Evo Morales auch bei den Menschen in Tocaña einen Stein im Brett. „Früher mussten wir beim Zensus die Kategorie „andere“ ankreuzen. Wir waren nicht existent – Jetzt sind wir wer!“, freut sich Jhony Perez. Evo Morales’ Wertschätzung der afrobolivianischen Identität hat dafür gesorgt, dass so gut wie jede*r im Dorf den Präsidenten unterstützt. Landesweite Statistiken zum Wahlverhalten der Afrobolivianer*innen gibt es laut nationalem Wahltribunal zwar nicht, dennoch: „Wir Afrobolivianer haben bei den Wahlen 2014 vollends Evo Morales und seine Partei MAS unterstützt“, sagt Zenaida Avendaño Vasquez, eine Mitarbeiterin des Afrobolivianischen Zentrums (CADIC) in La Paz.
In Bolivien herrschte auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1826 noch eine extreme Abhängigkeit vom Großgrundbesitz. Zwar änderten sich die Besitzverhältnisse mit der Agrarreform von 1953, trotzdem gehören die Afrobolivianer*innen auch heute noch zum ärmeren Bevölkerungsteil Boliviens. NGOs und Internationale Organisationen wie die Minority Rights Group International oder das Welternährungsprogramm der UN gehen davon aus, dass Afrobolivianer*innen im Vergleich mit anderen Gruppen weniger verdienen und schlechteren Zugang zu Gesundheit und Bildung haben. Auch die Diskriminierung ist immer noch ein Problem, auch wenn 2010 ein Gesetz (Ley 045) verabschiedet wurde, das rassistische und diskriminierende Äußerungen und Handlungen mit einem Strafmaß von bis zu sieben Jahren Haft ahnden soll. Von den 135 angezeigten Verstößen gegen das Gesetz in den ersten 10 Monaten von 2013 wurden laut der Tageszeitung La Razon nur sieben tatsächlich verfolgt. Auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kam 2013 zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Gesetzes noch nicht funktioniere. In dem UN-Bericht heißt es: „Eine große Zahl der Afrobolivianer ist systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt, sie leiden unter fehlenden Meldemechanismen und mangelnder Unparteilichkeit von Behörden und Polizei“. Racial Profiling sei beispielsweise auch weiterhin ein großes Problem für die schwarze Bevölkerung. Jorge Medina ist der erste und im Moment einzige Afrobolivianer in der bolivianischen Abgeordnetenkammer und hat selbst am Gesetz 045 mitgearbeitet. Vier Jahre nach Verkündung des Gesetzes hätten rassistische Sprüche wie „¡Suerte negrito!“ zwar abgenommen, resümiert Medina auf seiner Website. Ein latenter Rassismus sei aber weiterhin vorhanden. Der spöttische Spruch, dem „kleinen Schwarzen“ Glück dabei zu wünschen, wenn er sich etwas anderem als der Feldarbeit widmet, charakterisiert den schwierigen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Institutionen für Afrobolivianer*innen. „Früher ging kaum einer auf die Universität“, erklärt Medina am Telefon. „Heute zieht es immer mehr junge Leute in die Städte, für ihre Ausbildung gehen sie nach La Paz, Cochabamba und Santa Cruz“. In der Hauptstadt verschaffen sie sich auch immer mehr politisches Gehör: Neben dem Abgeordneten Medina setzt sich auch das Afrobolivianische Zentrum für ihre Belange ein. „Bolivien befindet sich in einer Transformation,“ fasst Medina zusammen. „Es ist jetzt die Aufgabe von Politik und Medien die Möglichkeiten der neuen Gesetze zu verbreiten, damit sie dann auch richtig angewendet werden“.Zurück in Tocaña. Hier sind es auch 188 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei immer noch die Afrobolivianer*innen, die die Felder bestellen. Sie züchten heute vor allem la coca. „Die kann man drei bis vier Mal im Jahr anbauen“, sagt Reyna Ballivián, eine weitere Bewohnerin Tocañas, die seit sie denken kann auf dem Feld steht. Reich ist sie davon nicht geworden. Die 40-Jährige schaut aus einem kleinen Fenster ihrer Küche aus Lehmziegeln. „Mein Bruder arbeitet für die Regierung in La Paz, meine Schwester lebt in Spanien“, sagt Reyna. Auch sie wäre gern rausgekommen. Mit dem Koka-Anbau kann die alleinerziehende Mutter aber immerhin ihre zwei Kinder durchbringen. Früher habe die Dorfbevölkerung hauptsächlich Kaffee gepflanzt. Doch in den 90ern sei der von Schädlingen befallen worden. Ohnehin ist es in Bolivien – spätestens seitdem der Präsident selbst ein ehemaliger Koka-Bauer ist – lukrativer, die grünen Blätter anzubauen. Von den USA gestützte Anti-Koka-Kampagnen der Vorgänger-Regierungen beendete Evo Morales – auch deshalb sind ihm viele afrobolivianische Koka-Bauern und Bäuerinnen treu. In der neuen Verfassung genießt die Koka-Pflanze den Status eines Kulturerbes und ist in ihrer traditionellen Form ausdrücklich kein Betäubungsmittel. 2013 erreichte Bolivien für den legalen Koka-Anbau sogar eine Ausnahmeregelung im UN-Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel.
Auch Jhony Perez lebt vom Koka-Strauch. Schon als Achtjähriger hat er auf dem Acker mitgeholfen. Während er spricht, kaut er immer wieder auf einem dicken Koka-Knäuel herum. In seiner linken Backenhälfte klemmen mindestens 20 Blätter, denen er den grasig schmeckenden Saft entzieht, die gegen Höhenkrankheit und Müdigkeit helfen. Diese kaubaren Energie-Booster kann Jhony Perez auch gut gebrauchen. Seine Ex-Frau ist mit einem anderen Mann nach Chile abgehauen und Perez muss seinen vier Kindern das Internat finanzieren. Tagsüber arbeitet er deshalb von 9 bis 17.30 Uhr auf den Koka-Feldern Tocañas. Nachts fährt er runter ins Tal, um in einer Mine Gold abzubauen. „Manchmal komme ich erst um sieben Uhr morgens nach Hause“, sagt Perez. Zwei Stunden später beginnt schon wieder die Feldarbeit.
Macht ihn die Schufterei nicht kaputt? „Nein“, betont der 39-Jährige später am Abend bei einer kleinen Feier in seinem etwa zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Es gibt Bier, Koka-Blätter und Gitarrenmusik. „Tocaña, meine Liebe, du bist meine Inspiration, singen Jhony, Reyna und die anderen. An der Wand hängen Fotos von Perez‘ Kindern. „Es ist schlicht hier, aber mir fehlt es an nichts“, sagt er gelassen. Zwei Mittzwanzigjährige kommen noch auf ein Bier vorbei. Sie sind in Tocaña aufgewachsen, aber haben sich in der nahegelegenen Provinzstadt Coroico mit einem kleinen Laden selbständig gemacht. „Das ist die neue Generation“, freut sich Jhony Perez, auch wenn sein eigener Alltag ein anderer ist: Am Tag nach der Feier in seinem Zimmer wollte Jhony Perez eigentlich zum Abendessen ins Dorf kommen. Aber dann kann er doch nicht. Es gebe viel Arbeit unten im Tal, sagt er am Telefon. „Ich muss heute Nacht in der Mine schlafen“.

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