Die Einheit von Boden und Wasser

Die Skepsis bei Honorio Ayavire sitzt tief. Bis vor kurzem war er der Vertreter der Atacameños innerhalb der Comisión Especial de Pueblos Indígenas (CEPI). “Früher,” so Honorio, “entstanden unsere Dörfer, dort wo es Wasser gab, sie wurden an den Berghängen oder an Ausläufern des Río Loa gegründet. Viele Bauten sind Beispiel dafür, wie es die Atacameños schafften Ingenieursarbeiten zu vollbringen, kilometerlange Kanäle zu legen, die das Wasser von der Kordillere bis in die Täler gelangen ließen und von dort auf die Felder. Unser ganzer sozialer Umgang in den Dörfern wurde durch das Wasser bestimmt: Da waren und sind die Puricamanis, die Wasserhoheiten, die die kulturelle Tradition rund um das Wasser aufrechterhalten. Sie erneuern mit jedem Ritual aufs neue die innige Verbindung unserer Menschen mit der Pacha Mama, der Mutter Erde. Doch heute dreht uns die Mine mitsamt der Mithilfe der Regierung das Wasser einfach ab. Zurück bleiben wir, die Älteren, allein, auf dem immer mehr austrocknenden Land.”
Seit fast zwei Jahren herrscht in der I. bis IV. Verwaltungsregion Chiles akuter Wassermangel. Dies ist ein geographischer Raum, der in seiner Ausdehnung von Nord nach Süd rund 2000 km lang ist. Die letzten beiden Winter blieb der erhoffte Regen aus, die Sommer wurden immer heißer. Die vielen halbstaatlichen Minen in der Atacamawüste nehmen darauf bei der Wassernutzung immer weniger Rücksicht, so daß ganze Dörfer in den Sommermonaten Dezember bis März ohne fließende Wasserversorgung sind. Selbst die größeren Küsten- und Industriestädte bilden da keine Ausnahme, wie das Beispiel der Stadt Iquique zeigt. Hier galt bereits in den Monaten Dezember 1995 bis März 1996 täglich knapp 18 Stunden Wasserstopp. Nur in den Abendstunden war der Zugriff auf fließendes Wasser gegeben. Den Rest der Zeit konnte sich nur der glücklich schätzen, wer über eine gefüllte Zisterne oder Unmengen Pfandflaschen voller Wasser verfügte. Und diesen Sommer ist die Bilanz nicht besser. Die Folgen sind fatal: Brände an den aus dem Salpeterboom stammenden Holzhäusern konnten nicht rechtzeitig gelöscht werden, Menschen, die aufgrund der Hitzewelle und des Wassermangels zusammenbrachen, gaben den Einwohnern der Stadt eine düstere Vision von den Ausmaßen der, im wahrsten Sinne des Wortes, Verwüstung.
Im Landesinneren, der auf 2000 bis 4000 Meter ansteigenden Gegend der Puna, ist die Bilanz noch trauriger. Ganze Landstriche liegen brach, sind ausgetrocknet und verlassen. Dort, wo einst Subsistenzlandwirtschaft auf den fruchtbaren salpeterhaltigen Böden betrieben wurde, zeugen nur noch die zurückgelassenen Gerätschaften von der ehemaligen menschlichen Präsenz. In den von der Jugend verlassenen Ortschaften nennen die übriggebliebenen Älteren alle denselben Grund für die Abwanderung: “No hay agua, pué! – Es gibt halt kein Wasser!”
Was mit dem noch vorhandenen Wasser passiert, wissen die Einwohner der Dörfer nur zu genau: Abgesehen von den halbstaatlichen Minengesellschaften, zapft auch die staatliche Minengesellschaft CODELCO, neben den recht fragwürdig zugesprochenen Wasserquellen, andere Quellen an. Die meist indigenen Besitzer dieser Quellen können, den selbst für Juristen nur schwer verstehbaren Weg zur Erlangung einer Wasserkonzession, kaum nachvollziehen. So zieht das Ganze nach der Einschreibung in das örtliche Register der Wasserdirektion, einen mehrmonatigen Prozeß von Kartierung, Wider,- bzw. Einspruchsphase nach sich. All das spielt sich im über 1000 km entfernten Santiago de Chile ab, dort, und nicht im hohen Norden vor Ort, wird über die Vergabe der lebenswichtigen Wasserkonzessionen entschieden.

Ein kleines Dorf macht Geschichte

Mußten die Minengesellschaften in der Vergangenheit weder Staat noch sonst wen fürchten, könnte sich das in Zukunft schlagartig ändern. Indigene Organisationen wie die Colla Marka aus Iquique, der größtenteils Aymaras aus Iquique und dem Landesinneren angehören, gehen mittlerweile dazu über Rechtsanwälte die Klage gegen den illegalen Wasserzugriff durch die Minengesellschaften führen zu lassen. Erste Erfolge sind spürbar. Die Oasensiedlung ChiuChiu, eine halbe Autostunde nordöstlich des Kupfermolochs Chuquicamata gelegen, gewann eine dieser Klagen und erhält seit Februar 1996 mehr Wasser. Dieses dient jetzt dem Anbau von Karotten, Rote Beete und Mangold und gibt dem Handel mit der nahegelegenen Bergarbeiterstadt Calama enormen Auftrieb. Dem Dorf gelang es auch, durch die intensive Arbeit der Nachbarschaftsverwaltung, als lokale Wassergemeinschaft weitere Wasserkonzessionen zu erhalten. Die Bewässerungszyklen der einzelnen Felder können seither wieder regelmäßig durchgeführt werden. Ein Beispiel, das Geschichte machen kann: Die erste Siedlung, die eine Klage gegen den übermächtig scheinenden Minengiganten CODELCO gewann, in einem Land, in dem die neoliberalen Strukturen auch nach 6 Jahren Post-Pinochet die aktuelle Wirtschaftspolitik bestimmen.
Bestandteil dieser Politik ist der Código de Aguas (Wassergesetzgebung), der 1981 unter der Militärregierung von Augusto Pinochet entstand. Sie trennt erstens Wasser- von Bodenbesitz als legale und kulturelle Einheit. Zweitens ermöglicht sie den privaten Erwerb von Wasserrechten und drittens erschwert sie den Erwerb von gemeinschaftlichen Wasserrechten, sprich die Bildung von legal gestützten Wassergemeinschaften, wenn sie sie nicht gar unmöglich macht.
12 Jahre später allerdings, 1993, verkündet die 5-Parteienregierung der damaligen Übergangsphase das Ley Indígena. Sie gab damit die Richtung einer sozialethnisch gerecht verlaufenden Integration vor. Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte, seit der Unabhängigkeit von 1818 sprach die Ley Indígena allen indigenen Gruppen ein legales Recht zu, ihre eigene Kultur, innerhalb der Eckpfeiler der Demokratie, zu entfalten.
Die Artikel 20-22 des Ley Indigena schreiben die Gründung eines nationalen Fonds für indigenes Land und Wasser, den Erwerb, Schutz und Ausbau der Wasserquellen, insbesondere der nördlichen Ethnien vor. Somit wird implizit die im Código de Aguas festgelegte Trennung zwischen Land und Wasser aufgehoben.
Während die einen nun also versuchen, mehr Wasserrechte anhand der im Ley Indígena formulierten schrittweisen Sicherung und Ausweitung ethnischer Land- und Bodenrechte zu erlangen, besteht für die anderen mit dem nationalpolitisch als vorrangig eingestuften Minenbergbaus, die Möglichkeit private Wasserrechte Schritt für Schritt einfach aufzukaufen.

Wer hat Recht?

Die Anwendung des Ley Indígena wird von der staatlich unabhängigen indigenen Organisation des Rats aller Ländereien (Consejo de todas las tierras), gemeinsam mit der staatlichen Indianerkommission CEPI sowie den NROs vor Ort vertreten. Sie berufen sich hierbei vor allem auf die Beschlüsse der International Labour Organisation (ILO) die seit dem Jahr 1993, dem UN-Jahr der indigenen Gemeinschaften, und auf die Diskussionen der Rio-Konferenz von 1992, den Schutz und weiteren Erwerb indigener Ländereien aktiv zu unterstützen.
Demgegenüber steht die nationale Bergbaugesellschaft CODELCO, Hand in Hand mit der Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei. Diese stellen die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den Vordergrund. Wie es der Zufall so will, liegen in einem Großraum des Landesinneren des Norte Grande lukrative Kupfer-, Bauxit- und Lithiumvorkommen. Und gerade in den reichen Kupfervorkommen um den Atacamasalzsee wird kurzfristig auf immer mehr unterirdische Wasservorkommen zurückgegriffen, um langfristig ein nationales und auf erschöpfbaren Ressourcen basierendes “Entwicklungsmodell” zu präsentieren. Die Kupferexporte stellen immer noch fast 40 Prozent der chilenischen Exporterzeugnisse dar.
Noch bilden die privatrechtlichen Auslegungen des Código de Aguas die dominantere Regelung beim Streit um das Wasser. Die Auslegungen der Ley Indígena bedeuten in ihrer jetzigen Form eher “Ausnahmeregelungen”, wie es Honorio Ayavire betont und lassen “keinen eindeutigen Willen von Seiten des Staates erkennen, die Wasserfrage zu Gunsten der indigenen Gemeinschaften zu ändern.”
Auf längere Sicht jedoch wird sich zeigen müssen, inwieweit die indigenen Gruppen des Norte Grande, gemeinsam mit anderen Gruppen des Landes (die südlich des Biobío siedelnden Mapuchegruppen haben ähnliche Probleme bei der Vergabe von Waldkonzessionen) zu einer gemeinsamen ethnoökologisch motivierten Kraft zusammenschmelzen werden. Zentrale Anliegen beider Gruppen sind die dringende Regionalisierung der Ressourcenfragen und die Durchsetzung von langfristig angesetzten Planungen einer nachhaltigen und sozialethnisch gerechten Form der Entwicklung.

Die Regierung setzt auf Kupfer

San Pedro de Atacama, Sonntagvormittag. Touristen frühstükken, Facharbeiter aus Deutschland machen Frühschoppen. Das dritte Bier, der zweite Pisco-Schnaps macht die Runde. Fern der Heimat, die ganze Woche die gleichen Gesichter und ohne sie würde “da oben” ja gar nichts gehen. Noch drei Tische weiter ist zu hören, daß da oben, bei Chuquicamata, eine riesige Sauerei am laufen sei, in Deutschland unmöglich. Man könne sich das gar nicht vorstellen: Soweit das Auge reicht, fußballfeldergroße Lagerbecken randvoll mit schwefelsäurevermischtem Schlamm, mitten in der Wüste, unter freiem Himmel. Die alkoholisierte Dramatik hat ihren Höhepunkt erreicht.
Chuquicamata, seit Jahrzehnten das Synonym für Kupferbergbau in Chile, liegt im Norden der Republik in der Atacamawüste. Und “da oben”, das ist genauer gesagt El Abra, nördlich von Chuquicamata. El Abra ist das neue Kupfererzabbaugebiet, das im Oktober letzten Jahres von Staatspräsident Eduardo Frei offiziell eröffnet wurde. “Die Sauerei” ist das dort angewandte, umweltschädigende Verfahren, mit dem das Kupfer aus dem Gestein gewonnen wird.
Drei Jahre zuvor, im Oktober 1993, kurz vor dem Ende der Amtszeit von Staatspräsident Patricio Aylwin, wurde El Abra an die gleichnamige Sociedad Contractual Minera El Abra verkauft. Die SCMEA ist eine der ersten Gesellschaften im chilenischen Bergbau, bei der die staatliche Minengesellschaft CODELCO nur 49 Prozentanteile besitzt. Die knappe Mehrheit von 51 Prozent hält die US-Firma Cyprus Amax Minerals. Den US-Amerikanern war diese Mehrheitsbeteiligung immerhin 404 Millionen US-Dollar wert, die direkt dem chilenischen Staat zuflossen. Zusätzliche 150 Millionen US-Dollar gingen an die staatliche CODELCO. Mit einem Investitionsvolumen von etwas über einer Milliarde US-Dollar bis zum Beginn des Kupferabbaus ist das Projekt eines der größten ausländischen Direktinvestitionen in der chilenischen Geschichte. Mit welcher Kreditsumme japanische Investorfirmen dabei sind, ist nicht bekannt. Es muß aber eine beträchtliche Summe sein, denn immerhin hat sich El Abra verpflichtet rund die Hälfte der Kupferproduktion an die japanischen Financiers zur Schuldentilgung abzugeben. Die Dauer dieser Vereinbarung wird auf zwölf Jahre geschätzt.
Das Auslandsinteresse ist angesichts der Dimensionen von El Abra nicht verwunderlich. Das Gebiet gilt als eines der wichtigsten Kupfererzlagerstätten der Erde. In einer Höhe von 3300 Metern und auf einer Fläche von rund 2400 Hektar lagern 770 Millionen Tonnen Kupfererz. Als Staatspräsident Frei am 25. Oktober 1996 El Abra offiziell einweihte, waren die ersten 300 Tonnen Kupfer bereits in die USA verschickt worden.

Säure statt Hochofen

Gefördert wird im Tagebau, das heißt der Berg wird regelrecht abgebaut. Das Ziel ist ein jährlicher Abbau von 33 Millionen Tonnen Erz und eine Ausbeute von 225000 Tonnen Kupfer. Das Gestein wird zunächst zerkleinert und auf Förderbändern zu der 15 Kilometer entfernten Verarbeitungsanlage transportiert. In riesigen Trommeln wird es mit Schwefelsäure versetzt und anschließend auf einem Gebiet von 1600 mal 800 Quadratmetern ausgebracht. Die zugesetzte Schwefelsäure löst allmählich das Kupfer aus dem Gestein und die Schwefelsäure-Kupfer-Verbindung wird anschließend durch Elektrolyse wieder getrennt. Das Verfahren garantiert nicht nur eine effiziente Ausbeute, sondern auch niedrige Kosten. Außerdem weist das so in El Abra gewonnene Kupfer einen hohen Reinheitsgrad auf.
Billig ist dieses Verfahren, da keine Entsorgungskosten für das mit Schwefelsäure versetzte Geröll entstehen. Hier kommt dem Minenkonsortium die dünnbesiedelte Wüstengegend zugute. Die Abfallmasse wird in riesigen Becken endgelagert. Daß dabei große Schadstoffemissionen entstehen ist offensichtlich, schließlich vollzieht sich der ganze Prozeß unter freiem Himmel.

Wasser für El Abra

Ein zweites Problem bei dem Gewinnungsprozeß ist der hohe Wasserbedarf. 165 Liter pro Sekunde wurden im ersten Jahr der Produktion gebraucht. Wenn El Abra seine anvisierte Produktionskapazität erreicht, werden es 294 Liter Wasser pro Sekunde sein. Abgezapft wird das Wasser aus den unterirdischen Sammelbecken des nahen Ascotán-Salzsees und aus der Quebrada La Perdiz.
“Beim Wasser kommt erst die Mine und dann die Landwirtschaft,” sagt Manuel Olveiro aus Calama, der nächstgrößeren Stadt. Die 100.000 EinwohnerInnen große Stadt lebt von und mit den Minen und gilt als teuerste Stadt Chiles. Fakt ist, daß das Trinkwasser der Gegend hochgradig mit Schadstoffen belastet ist. Die Schuld der Minen daran kann nicht bewiesen werden, denn zur Freude der Minengesellschaften gibt es darüber keine Studien. Mit den Studien, welche Auswirkungen das Extraktionsverfahren bei EL Abra andernorts haben wird, kann begonnen werden.

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

Die Gegenwart ist virtuell

Die letzten Jahre vergingen schnell. Aufbaustimmung, Gründungsfieber und der Gedanke an die neuen Chancen prägten den politischen Diskurs. In der Politik ist das Wort “Versöhnung” ein abgenutztes Schlagwort geworden, seitdem sich die Meinung durchgesetzt hat, daß sowohl Wahrheit als auch Gerechtigkeit “im Rahmen des Möglichen” – so die wichtigste Maxime der chilenischen Politik – geschaffen worden seien. Die Diskussion um die demokratische Transformation Chiles wurde seit dem Amtsantritt von Technokraten-Präsident Eduardo Frei 1994 durch eine Debatte um die Konsolidierung und ökonomische Modernisierung abgelöst. Wenig überraschend, daß sich ein Wunschdenken entwickelte, nachdem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur noch den Schritt zur Versöhnung benötigte, um abgeschlossen zu werden.
“Die neue Demokratie beginnt ihr Leben als virtuelle Realität. Die Vergangenheit ist nicht zuletzt deshalb schwer bearbeitbar, weil sie zum Teil Gegenwart bleibt” schrieb 1996 der chilenische Psychologe David Becker. Er weiß, wovon er spricht.
Tagtäglich hat er mit den Folgen einer nichtbearbeiteten Vergangenheit zu tun, denn er betreut Folteropfer im Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit (ILAS) in Santiago. Nicht nur die traumatischen Erlebnisse der Folter machen dabei nach seinen Erfahrungen das Leiden der Opfer aus. Denn die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung des Opferstatus vergrößert den Schmerz. Die krankhaft auf Konsens ausgerichtete Politik der jungen Demokratie hat daran ihren Anteil. “Wie Seismographen”, so Bekker, reagierten die Patienten auf politische Vorkommnisse, etwa, wenn wieder einmal die Straflosigkeit der Folterer durch ein Gericht bestätigt wird. “Zur Zeit haben wir im ILAS mehr Anfragen nach therapeutischer Hilfe als vor fünf Jahren”, resümiert der Psychologe.
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen, als im März 1991 der Kommissionsbericht, der nach seinem Vorsitzenden Raúl Rettig auch den Namen “Rettig-Bericht” trägt, vorgelegt wurde. Zum ersten Mal war von einer offiziellen Stelle anerkannt worden, daß während Pinochets Diktatur Menschen verschwanden, ermordet und gefoltert wurden. 2279 Menschen, so der Bericht damals, seien der Gewalt zwischen 1973 und 1990 zum Opfer gefallen. Breit wurde die Studie in der Öffentlichkeit diskutiert, die Zeitungen druckten die 1352 Seiten als Sonderausgabe nach. Die Militärs befanden sich, trotz Drohgebärden und Säbelrasseln, in der Defensive.

Politik: Suche nach Wahrheit

Doch für die neue Regierung war mit dem Bericht offensichtlich jegliche Schuld beglichen. Einen Monat nach der Veröffentlichung wurde der rechtsgerichtete Senator Jaime Guzmán auf offener Straße ermordet,was der Regierung einen willkommenen Anlaß bot, das Thema der Menschenrechte und des Kommissionsberichtes zu begraben. Tatsächlich hatte der Regierungsminister schon Tage vor dem Mord erklärt: “Wir betrachten die institutionelle Debatte als beendet.” Der Rettig-Bericht wurde somit zum ersten Verschwundenen der neuen Regierung.
Der Bericht hinterließ dennoch seine Spuren. In der Politik wurden umstrittene Versuche einer weiteren Wahrheitsfindung gemacht. Tatsächlich versuchte sowohl Präsident Aylwin, als auch sein Nachfolger Eduardo Frei, das Thema der Menschenrechtsverletzungen per Gesetz endgültig aus der Welt zu schaffen. Doch sowohl die Ley Aylwin (1993, LN Nr. 231/232) als auch die Ley Figueroa/Otera (1995, LN Nr. 259) scheiterten im Parlament. Zu deutlich war in den Gesetzesentwürfen, daß alles letztendlich auf die Bestätigung der Straffreiheit der Militärs hinausgelaufen wäre – im Austausch für Informationen über die letzte Ruhestätte der noch immer Verschwundenen. Ein hoher Preis für die Wahrheit.
Die Zahl der Opfer stieg indessen an, denn die Corporación de Reparación y Reconciliación, so hieß die Nachfolgeorganisation der Rettig-Kommission, recherchierte weiter. Im Frühjahr 1995 übergab die Organisation Eduardo Frei eine Liste mit weiteren 899 Fällen von Verschwundenen, was die Zahlen der Rettig-Kommission um fast 40 Prozent nach oben korrigierte. Doch die Liste wurde totgeschwiegen, eine Neuauflage der Debatte um die Menschenrechtsverletzungen ist eindeutig nicht erwünscht. “Ich glaube, diese Liste wird nie veröffentlicht werden”, so eine Mitarbeiterin der Corporación. Die Schließung der Regierungsorganisation ist indes bereits beschlossenen Sache, im Laufe des Jahres 1997 müssen die Schreibtische geräumt werden.
Und auch die Arbeit vieler unabhängiger Menschenrechtsorganisationen steht vor dem Aus, soweit sie nicht schon – wie die Vicaría de la Solidaridad 1992, dichtgemacht haben (LN Nr. 229/230). Noch dieses Jahr wird die chilenische Menschenrechtskommission (CCDH) ihre Arbeit einstellen. Zudem halbierte sich das aus dem Ausland für Nichtregierungsorganisationen gespendete Geld nach der Redemokratisierung innerhalb eines Jahres von 60 auf 30 Millionen US-Dollar. Inzwischen dürfte es noch weniger sein. Von der Regierung ist keine Hilfe zu erwarten. Sie will keine weitere Wahrheitssuche.

Justiz: Suche nach Gerechtigkeit

Bruna Truffa: Diese Wunde, die nie aufhört zu bluten. Acryl, 1989
Juristisch, sagen viele, sei einiges erreicht worden bei der Behandlung des Menschenrechtsthemas. Tatsächlich: materielle Wiedergutmachungsleistungen wurden ausgezahlt, Wiedereingliederungsprogramme für rückkehrende Exilierte aufgestellt, politische Gefangene freigelassen. Aber die Leistungen der Regierung werden von vornherein auf die Dauer von fünf jahren beschränkt. Und auch das Rückkehrbüro (Oficina de retorno) setzte bereits im Sommer 1994 einen Schlußstrich unter seine Arbeit, nachdem von offiziell 250.000 Exilierten rund 40.000 mit ihrer Hilfe zurückgekehrt waren. Doch schon verlassen die ersten Rückkehrer Chile wieder in Richtung ihres früheren Exils, weil sie mit dem Leben in ihrer verändertet Heimat nicht mehr zurechtkommen.
Eine Reform des noch von Pinochet-Getreuen durchsetzten Justizsystems ist nach wie vor überfällig, und so verdient die Rechtsprechung oft nicht einmal ihren Namen. Immerhin 220 Verfahren gegen Menschenrechtsverletzer konnten aufgrund der Informationen der Rettig-Kommission wiederaufgenommenen werden. Einige wenige Folterer wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die prominentesten wie Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein Adjutant Pedro Espinoza können ihre Strafen in einem eigens für sie gebauten Gefängniskomplex in Punta de Peuco bei Santiago absitzen (wobei die Verurteilungen wohl auch auf den außenpolitischen Druck der USA zurückgehen, mit denen man gerade über eine – später gescheiterte – Aufnahme in die NAFTA verhandelte).
Hoffnung für das chilenische Rechtssystem und die Zuerkennung von Gerechtigkeit nährt sich hauptsächlich aus dem erwarteten Generationenwechsel der Richterschaft. Mit Hilfe einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Gerichte schleuste die Regierung Aylwin eine große Anzahl junger Juristen in die Behörden, die dem Rechtsstaatprinzip aufgeschlossenener gegenüberstehen als ihre älteren Kollegen. Doch auch die Besetzung des Obersten Gerichtshofes, Hort der Pinochet-hörigen Richterschaft, wird eine Veränderung erfahren: Laut Verfassung muß die Hälfte der noch von Pinochet eingesetzte Robenträger im März 1997 ausgetauscht werden. Aber die von Pinochet ernannten acht Spezialsenatoren werden bis Dezember im Parlament ihre Arbeit weiter verrichten, und ob der greise Obermilitär wie vorgesehen im März 1998 sein Amt niederlegen wird, steht noch in den Sternen.
So ist Skepsis weiterhin angebracht: Die Vereinten Nationen berichten in einem Chile-Bericht im Frühjahr 1995 von 210 Folterfällen durch chilenische Sicherheitsbeamte seit 1990. Die Methoden unterscheiden sich nicht von denen der Diktaturzeit: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Nahrungsmittelentzug sowie Beinahe-Ersticken. Am Abend des 23. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf mindestens 38 Menschen verletzt wurden und 222 Anti-Pinochet-Demonstranten festgenommen wurden. Und auch der Anfang Februar 1997 veröffentlichte jährliche Menschenrechtsbericht des US-State-Departments greift neue Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen auf. So sollen innerhalb des letzten Jahres mindestens drei Menschen wegen unangebrachter Gewalt der Polizei gestorben seien. Die Haftbedingungen sind nach wie vor schlecht. Die Regierung wiegelt nach wie vor ab, spielt sogar ein wenig beleidigt und spricht von “bedauerlichen Einzelfällen”, die allen Polizeiorganisationen der Welt unterkämen. Die rechten Parteien – bis hin zu den an der Regierung beteiligten Sozialisten – sekundieren. Gleichzeitig ist wieder einmal eine heftige Debatte um die innere Sicherheit und den Linksterrorismus losgetreten worden, nachdem Ende Dezember 1996 die vier mutmaßlichen Mörder Jaime Guzmáns mit Hubschrauberhilfe spektakulär aus ihrem Gefängnis entwischen konnten.

Gesellschaft: Suche nach Versöhnung

Wohl kein Wort ist in der chilenischen Rhetorik so vergewaltigt worden wie das der “Versöhnung”. Der Ursprung des Wortes ist religiöser Natur. Die Übertragung dieses auf das Individuum ausgerichteten Konzeptes auf Politik und Gesellschaft wirft viele Schwierigkeiten und Fragen auf, denn was “Versöhnung” bedeutet, bleibt angenehm nebulös. Und so wird “Versöhnung” in Chile zu einem Schutzbegriff für eine ausbleibende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es wundert nicht, daß oft das Wort “verzeihen” unmerklich an Stelle von “versöhnen” tritt: Verzeihen kann man allein, Versöhnung findet zwischeneinander statt. Die Opfer sind einsam wie nie, und niemand will sich mit ihnen versöhnen, sie sollen verzeihen.
Das deutlichste Symbol einer versuchten Versöhnung ist nach wie vor der Rettig-Bericht. Der fünfjährige Jahrestag der Veröffentlichung im März 1996 war allerdings keiner der großen Tageszeitungen auch nur eine Zeile wert. Sicher, ein Monument mit den eingravierten Namen der Verschwundenen wurde auf dem Zentralfriedhof errichtet. Nicht vergessen ist allerdings, daß das Projekt immer wieder an angeblichen Geldproblemen der Regierung zu scheitern drohte. Zur Einweihung 1993 fand sich ein einziger Regierungsvertreter auf dem Friedhof ein.
Das Desinteresse der Öffentlichkeit an den Opfern ist eindeutig. Bücher über die Diktatur verkaufen sich schlecht, soweit sie überhaupt geschrieben werden. Regimekritische Zeitschriften und Zeitungen wie Cauce, Fortin Diario, Análisis, Apsis, El Siglo oder Punto Final, auf die sich zu Plebiszitzeiten alle Hoffnungen einer unabhängigien Presse richteten, erscheinen gar nicht mehr oder im besten Falle seltener. Auch die Sozialwissenschaften sind in einer mißlichen Lage, und das nicht nur, weil sie in der privatisierten Universitätslandschaft nicht mehr nachgefragt werden. Der chilenische Philosoph Jorge Vergara stellt fest: “Die Produktion von vielen Zentren sozialwissenschaftlicher Forschung wird zwar publiziert, aber kaum gelesen. Die Geschichtsinterpretation der Militärs, die besagt, daß der Putsch durch das Chaos unter Allende zwingend notwendig wurde, setzt sich so unmerklich durch und bleibt weithin unwidersprochen. Pinochet kann in einem Interview auch noch im September 1996 behaupten: “Ich war kein Diktator.”
Die allgemeine geschichtliche Apathie zeigt Wirkung. Immer mehr Chilenen und Chileninnen wollen die schmerzlichen Abschnitte der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Während sich in einer Umfrage 1992 nur 13 Prozent der Befragten dafür aussprachen, die Diskussion um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, waren es 1993 schon 17,4 Prozent und 1994 bereits 24,5 Prozent. David Becker hat die Lehren aus diesem Schauspiel für den chilenischen Fall gezogen: “Ohne Haß keine Versöhnung” überschreibt er einen seiner Artikel, der für die berechtigte Wut der Opfer Partei ergreift. Wo die Vermeidung von Konflikten zum Programm wird, entsteht keine neue, hoffnungsvolle Gesellschaft. “Um eine neue Diktatur zu vermeiden, verzichtet man am besten gleich auf den Wunsch nach einer echten Demokratie”, und das betrachtet Becker als Fehler. Insofern war auch der Rettig-Bericht nützlich, denn er war konfliktgeladen. Doch der potentiell reinigende Konflikt wurde zugunsten der Konsenspolitik vermieden.
Und dennoch: Mit der Wahrheitskommission in Chile entstand das erste zugkräftige Exportprodukt. Je nach Zählweise kommt man heute weltweit auf bis zu 60 dieser Kommissionen, doch der kleinste Teil legte schon vor 1991 Ergebnisse vor. Erst die Arbeit José Zalaquetts, chilenischer Rechtsanwalt, Mitglied der Rettig-Kommission und ehemaliger Präsident von amnesty international, entwarf ein Konzept für Wahrheitsfindungskommissionen, das nun in Ländern wie Südafrika oder Guatemala als Vorbild genutzt wird. In Chile entstand kein offener Konflikt, und die Opfer hielten weitgehend still – das ist wohl der Haupterfolg der Kommission, der sie so nachahmenswert für andere Nationen macht.

“Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase”

Wenn Pepe Mujica, Ex-Tupamaro und frischgewählter Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio, seinen Arbeitsplatz betritt, fühlt er sich oft “wie ein folkloristischer Blumenstrauß, um gesellschaftliche Offenheit zu demonstrieren”. Denn in Uruguay, das 1985 nach dreizehn Jahren der Militärdiktatur offiziell zur Demokratie zurückkehrte, besetzen nach wie vor viele der für die Diktatur Verantwortlichen die Schlüsselpositionen – im Parlament und anderswo. Gleichzeitig haben es jedoch die Tupamaros als eine der wenigen lateinamerikanischen Guerillas geschafft, sich ins zivile Leben zu integrieren. Pepe Mujica und seine Frau Lucia Topolansky, Eleuterio Fernández Huidobro und Graciela Jorge – die Ex-Tupamaros, die Heidi Specogna und Rainer Hoffmann für ihren Dokumentarfilm interviewten, sind nach wie vor politisch aktiv, haben sich aber ihre privaten Nischen geschaffen. Pepe Mujica macht keinen Hehl daraus, daß ihm die Arbeit im Gewächshaus, wo er und Lucía Blumen züchten, weitaus mehr Freude bereitet als das “Parteisoldatendasein” als Parlamentarier. “Vielleicht wäre es anders, wenn ich jünger wäre”, merkt er in einem der Gespräche an.
“Tupamaros” ist ein informativer und zugleich sehr bewegender Film über die uruguayische Stadtguerilla, die mit ihren spektakulären, massen- und medienwirksamen Aktionen ab Mitte der 60er Jahre für internationales Aufsehen sorgte. Der Film verleugnet nicht seine Sympathien für die Tupamaros, ist aber niemals pamphletarisch, sondern lebendig und facettenreich. Das liegt zum einen an den Interviewten, ihrem weisen und verschmitzten Charme, ihrer Nachdenklichkeit und Wärme, zum anderen an der behutsamen Inszenierung, die neben der Erinnerung an Diktatur, Folter und Gefangenschaft auch dem Alltäglichem und Anekdotischem Raum läßt. Besonders beeindrukkend sind der Humor und die ungebrochene Vitalität, mit der auch über Heikles, Schmerzhaftes und über Angstsituationen gesprochen wird. “Wir fälschten so ziemlich alles”, erzählen Lucía Topolansky und ihre Zwillingsschwester augenzwinkernd – und meinen damit nicht nur Pässe und Führerscheine, sondern auch die plastische Chirurgie, der sich viele Tupamaros im Untergrund unterzogen, um nicht mehr über Fahndungsfotos identifizierbar zu sein – “Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase.”
In ihrem Dokumentarfilm unternehmen die Filmemacher Specogna und Hoffmann den Versuch, Geschichte in erster Linie mit Hilfe von Bildern aus der Gegenwart sichtbar zu machen. So folgen sie Pepe und Lucía, wie sie auf einem klapprigen Moped zum Blumenmarkt düsen, oder heften sich Huidobro und Mujica an die Fersen, wenn diese durch eine durchgestylte neue Shopping Mall in Montevideo spazieren. An derselben Stelle standen vor Jahren die Mauern des Gefängnisses, in dem sie gefoltert wurden. “Kapitalismus ist wunderbar”, meint Huidobro mit Blick auf die glatten Oberflächenreize der Schaufenster – und die Ironie seiner Worte klingt scharf, aber nicht bitter.

“Tupamaros”, Deutschland/ Schweiz Uruguay 1996; Buch und Regie: Heidi Specogna/ Rainer Hoffmann; Farbe, 95 Minuten.

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Ankläger argentinischer Absurditäten

“Er schrieb nicht für die Schriftstellerzirkel, für die Kritiker oder den literarischen Hühnerstall. Er schrieb für die Menschen und handelte nicht mit Populismus”, resümiert der Publizist José Pablo Feinmann über Soriano. Er war der Komplize der LeserInnen und sie vertrauten ihm. In den Contratapas, der Rückseite der von ihm mitgegründeten Tageszeitung Página /12, kommentierte er die Absurdität der tagespolitischen Vorfälle in Argentinien, mit besonderer Vorliebe die lokale Fußballszene oder schrieb über seinen Vater: Ein Don Niemand, wie Soriano erklärte, ein Angestellter bei den städtischen Wasserwerken, den schließlich alle LeserInnen liebten. Nichts war nicht tiefsinnig, jede kleine Begebenheit konnte er in eine Geschichte verwandeln.
Durch Soriano sei das Leben der Antihelden heroisch geworden, formulierte der Drehbuchautor Antonio Skármeta treffend. Soriano brachte das Leben von Marginalisierten der Gesellschaft und den Gescheiterten aufs Papier. Bezeichnenderweise war der Argentinier ein großer Fan von Stan Laurel und Oliver Hardy, dem er wohl seinen Spitznamen El Gordo – Dicker zu verdanken hat. Beide Darsteller von “Dick und Doof” sind als White Trash, als arme verachtete Weiße gestorben. Soriano, der Laurels Geschichten schätzte, weil sie die Gesellschaftsordnung und das Eigentum angriffen, brachte die beiden 1973 in seinem ersten Roman, Triste, solitario y final unter. Diese urkomische und eigenartige Geschichte des Scheiterns war von Anfang an ein Bestseller. “Heute scheint es einer der großartigsten und begrüßenswertesten Momente jener verkrampften Epoche zu sein”, blickt Sorianos Kollege von Página/12, Juan Forn, zurück. Der in der lateinamerikanischen Literatur neuartige Stil dieses Buches begründete das Género menor.
Soriano verstand die argentinische Seele wie kein anderer. Er beherrschte die Umgangssprache der Leute, kannte ihre Sitten und ihren Humor, den Tango und die Politik. Argentinien bedeutete für ihn eine leicht verrückte Heimat, auf die man sich keinen Reim machen kann. Der Journalist Jacobo Timmerman erklärt: “Soriano verstand diese Nation gut, die in vielen Aspekten absurd erscheint, weil er mit dem Absurden umzugehen wußte. Er hatte Symbole, Ausdrücke, Figuren, Gespenster geschaffen, und das war die Weise, in der er uns die Schwierigkeit, in Argentinien zu leben, verständlich machte. Und die Sehnsucht, in Argentinien zu leben.”

Diktatur, Exil, Rückkehr

Soriano wurde am 6. Januar 1943 in Tandil, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires, geboren. In seinem Geburtsort hatte er als Sportreporter bei dem Blatt “El Eco” angefangen und war mit 26 Jahren zum Schreiben nach Buenos Aires gezogen. Primera Plana, die Zeitung, die er zunächst aufsuchte, wurde kurze Zeit später von der Militärregierung Juan Onganías verboten. Bei der linken Zeitung La Opinión wurde er bald darauf zum Starredakteur für gesellschaftliche Angelegenheiten. Für seine Historias de la vida wählte er die Kolumnenform, damit ihm niemand reinreden konnte. 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch, zog Soriano über Brüssel nach Paris. Dort lernte er seine spätere Frau Catherine kennen.

Die Zeit im Exil

Während seines Exils arbeitete er unter anderen für Le Monde, Libération, Le Canard Echaine, Panorama und für Il Manifesto. Soriano war ein “Sozialist ohne Partei”, wie ihn sein Freund Pasquini Durán nannte. Er verteidigte die Freiheit und die Utopie einer glücklichen Gesellschaft, die ihn vor Zynismus bewahrte. Die Menschenrechte sah er als unerläßliches Fundament des Zusammenlebens.
Aus dem Exil heraus klagte er die Verbrechen der Militärregierung in Argentinien an. Sin Censura hieß die Exilzeitung, in der Soriano mit anderen politischen Flüchtlingen wie Carlos Gabetta und dem Schriftsteller Julio Cortázar über die Verbrechen von General Videla aufklärte. Wenn vor argentinischen Botschaften demonstriert wurde, war Soriano dabei, Flugblätter trugen seine Unterschrift.
Sein Einsatz gegen die Grausamkeit der argentinischen Politik spiegelt sich auch in seinen Werken wider. Er war der erste, der diese literarisch darstellte, besonders in No habrá mas penas ni olvido und Cuarteles de Invierno. Ersteres hatte er noch in Argentinien beendet, konnte es jedoch erst 1980 in Madrid veröffentlichen. Darin thematisiert Soriano die politischen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonisten in den 70er Jahren. Der auf diesem Buch beruhende Film von Héctor Olivera erhielt den Silbernen Bären auf der Berlinale.
“Mit Soriano sterben die Träume einer Generation, die auf ein gerechteres und würdigeres Argentinien vertrauten”, schrieb der Schriftsteller Tomas Eloy Martinez.
Soriano trug wesentlich zur Veränderung der argentinischen Presselandschaft in der Demokratie bei. 1984 kehrte er nach Buenos Aires zurück und gründete die inzwischen wieder eingegangene Wochenzeitung El Periodista und später die Tageszeitung Página/12. Schließlich zählte Soriano zu denen, welche die Vereinigung zur Verteidigung des Unabhängigen Journalismus, PERIODISTAS, ins Leben riefen. An dem Tag, an dem Soriano starb, stand seine Unterschrift neben 22 weiteren unter einer Erklärung an die argentinische Regierung. Darin versicherte PERIODISTAS, daß die argentinische Presse den vor kurzem ermordeten Fotografen José Luis Cabezas nicht vergessen wird und dessen Mörder zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Sorianos literarisches Werk

Seit seiner Rückkehr beglückte Soriano seine Fangemeinde mit vier weiteren Romanen. Für A sus plantas rendido un león, die Geschichte über einen argentinischen Konsul, der zur Zeit des Malvinenkriegs in Afrika steckt und in dessen Verlauf die afrikanischen Soldaten Gardel mit dem argentinischen Präsidenten verwechseln, erhielt der Autor eine in Argentinien unübertroffene Vorauszahlung von 120.000 US-Dollar. Es folgten Una sombra ya pronto serás (1990), El ojo de la patria (1992) und La hora sin sombra (1995). Auch brachte er vier Bücher mit gesammelten Zeitungsartikeln heraus.
Ob Buch oder Artikel – Soriano fiktionalisierte die Wirklichkeit, humorvoll und übertrieben, das Imaginäre stand nicht im Gegensatz zur Wahrheit.
In Argentinien wurde Soriano, jedenfalls von offizieller Seite, so gut wie ignoriert. Doch gestraft fühlte er sich wegen ausbleibender Preise nicht: “Es ist besser so. So ein Preis kompromittiert Dich. Du gehst hin, um ihn zu empfangen und mußt wer weiß welcher unerwünschten Gestalt die Hand geben.”

Anerkennung im Ausland

Dafür fand der Argentinier im Ausland umso mehr Anerkennung. Seine Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt. Besonders in Italien und Deutschland ist man von ihnen begeistert. 1993 erhielt der Raymond Chandler Verehrer Soriano die in Europa höchste Anerkennung für Kriminalautoren, den Raymond Chandler Preis. Für seine Artikelsammlung Cuentos de los años felices überreichten ihm die Italiener den Scanno Preis. Auf die Frage, was er mit den gewonnen drei Kilo Gold gemacht habe, erklärte der Geehrte: “Was in solchen Fällen angebracht ist: Ich habe sie auf einer Insel vergraben.” Erfolg und Geld interessierten ihn nicht. Während seines Exils erhielt Soriano lukrative Angebote von vielen großen italienischen Zeitungen, um ihn von Il Manifesto abzuwerben. Erfolglos, er blieb bei der linken Zeitung.
Osvaldo Sorianos Fan-Gemeinde würdigt seine unvergleichliche Art zu erzählen, von den einfachsten Dingen, stundenlang. Ein Mensch, der, wie Stan Laurel, andere zum Lachen bringen konnte, während er anklagte.

“Wann hast du das letzte Mal gepinkelt, Großer Kojote?”

Da schimmert sie durch, die Verbindung zwischen Phantasie und Realismus. Leider gelingen Rudolfo Anaya in seinem Roman “Die Wasser des Río Grande” (das Original erschien 1992 unter dem Titel “Alburquerque”) erst im letzten Teil und viel zu vereinzelt solche schönen Passagen. Die Geschichte ist anfangs allzu durchsichtig. Die LeserInnen wissen zuviel, besonders das, wonach der Protagonist Abrán sucht. Er will seinen Vater finden, bringt dafür alle Mittel und Hebel in Bewegung. Immer ist er auf der Suche nach seiner Identität. Seine Mutter, eine Angloamerikanerin, lernt er erst kurz vor ihrem Tod kennen; wer sein leiblicher Vater ist, verschweigt sie ihm. Er wächst bei Adoptiveltern auf, diese sind mexikanisch-indianischer Herkunft, und wenn er sich selbst im Spiegel betrachtet, erforscht er seine eigene Abstammung. Nach und nach beleuchten neue Facetten die Szenerie, die Spannung steigt, es wird regelrecht dramatisch – bevor die Story, aus welchen Gründen auch immer, im völligen Kitsch endet. Das letzte Kapitel ist schlicht und einfach überflüssig.
Interessant an dem Buch ist zunächst einmal sein Autor. Anaya, Jahrgang 1937, ist emeritierter Professor für Englisch an der Universität von New Mexico. Er lebt in Albuquerque (sic!) – die “richtige” Schreibweise und die Gründe für die falsche erfahren wir im Roman – und hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten geschrieben, von denen allerdings nur zwei auf Deutsch erschienen sind. Neben dem vorliegenden erschien 1984 im Frankfurter Nexus-Verlag “Segne mich, Ultima” (Original 1972: Bless me, Ultima), die Geschichte einer Begegnung zwischen dem siebenjährigen Antonio und der Curandera Ultima. Anaya gilt als “Vater der Chicano-Literatur” in den USA. Dieter Herms stellt ihn in seiner Abhandlung über “Die zeitgenössische Literatur der Chicanos” in eine Reihe mit Rivera und Hinojosa. Er beschreibt Anaya zwar als einen der “Tres Grandes”, bemängelt allerdings anhand der Analyse von “Segne mich, Ultima” dessen folkloristische Sichtweise, die die alte indianische Vorstellung der Einheit von Mensch und Natur als Lösungskonzept für derzeitige Identitätsprobleme überstrapaziere. Diese Kritik läßt sich fast nahtlos auf den neuen Roman von Anaya übertragen. Auch hier wird als Ziel für die Identitätssuche die Rückbesinnung auf traditionelle indianische Werte und Lebensvorstellungen empfohlen.

“Sie knabberte sanft an seinem Ohr…

Um Curanderas, also weise, alte Frauen, die Menschen heilen, Geburtshilfe betreiben, böse Geister vertreiben und wahrsagen können, geht es auch in seinem neuen Roman. Sie stehen letztlich für die klare Priorität des Autors für die Tradition in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus und der Moderne. Darüberhinaus sind in dem Buch interessanterweise alle Frauen durchweg die stärkeren Charaktere, während sämtliche Männer entweder Identitätsprobleme haben oder Immobilienhaie sind – vielleicht auch etwas einfach gestrickt. Der Autor schreibt in Englisch, streut aber eine Vielzahl von mexikanischen Ausdrücken ein, die auch in der deutschen Fassung erhalten wurden. Ein weiteres bedeutsames Stilmittel bilden die Selbstgespräche.
Das große Thema ist, wie schon erwähnt, die Identitätsfindung der Chicanos. Bei der Suche nach seinem Vater gerät Abrán in den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt von Alburquerque. Ein weiterer Bewerber für das Amt, Frank Dominic, träumt davon, das Stadtzentrum zu einer Art zweiten Venedig zu machen, indem das Wasser des Río Grande umgeleitet wird. Dieses gigantische Bauvorhaben erinnert stark an den Film “Milagro” oder an die Kishon-Geschichte vom “Blaumilchkanal”; ein zweites Tenochtitlán – das präkolumbianische Mexiko-Stadt – soll entstehen. Sowohl linksliberale Umweltschützer als auch Konservative versuchen, das Projekt zu verhindern. Das Ganze mündet in einen spannenden, furiosen Boxkampf, der über zehn Runden geht, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

…und kroch in sein Herz”

Dabei hatte alles so harmlos mit einem Billardspiel begonnen. Die Männer lernen sich schon mal kennen, helfen einander aus. Wer weniger besoffen ist, fährt den anderen nach Hause. Überhaupt geht es in dem Buch oftmals um Duelle: beim Billard, Boxen, der Kandidatur ums Bürgermeisteramt – und letztlich auch bei der matanza, dem rituellen Schweineschlachten. Alt gegen jung und natürlich wieder Tradition gegen Moderne. Dabei bleibt Anaya den LeserInnen letztlich den Überlegenheitsbeweis der Tradition gegenüber der Moderne schuldig. “Wir werden sterben, und das alles wird vergehen”, sagt selbst einer der Alten und meint damit das Ende der überlieferten Sitten und Gebräuche. Trotzdem malte Cynthia, die Mutter Abráns, genau diese traditionellen Motive. Sie hielt den Zauber jener Augenblicke in der dörflichen Gemeinschaft fest. Hätte sie das unterlassen, wäre Abrán wohl nie zur inneren Ruhe und die Geschichte nicht zum Abschluß gelangt. In der Wirklichkeit hingegen ist der Prozeß der Identitätsfindung ungleich schwieriger als im Roman dargestellt.
Der Knaur-Verlag – sonst nicht gerade für die Beschäftigung mit mexikanischer bzw. Chicano-Literatur bekannt – reiht diesen Roman in eine “Ethno”-Reihe ein. “Grenzenlos lesen” sollen da die KäuferInnen. Für dieses Buch heißt das, es ist schnell zu lesen, leichte Bettlektüre. Dank des niedrigen Preises verkauft es sich wahrscheinlich nicht schlecht, und für EinsteigerInnen in die Chicano-Literatur halte ich es auch für geeignet. Diejenigen, die einen guten Roman über Identitätsfindung suchen, werden hingegen enttäuscht sein. Daß das dreiundzwanzigste Kapitel, das Letzte, ungenießbar ist, sagte ich schon.

Rudolfo Anaya: “Die Wasser des Río Grande”, Knaur-Verlag, München 1996, 425 Seiten, 14,-DM (ca. 8 Euro), ISBN: 3-426-60501-5.

Der Stolz des kleinen Mannes…

Es handele sich um “die erste Geschichte, die ein Lateinamerikaner geschrieben hat, in der die Guten haushoch gewinnen”, so Luis Sepúlveda. Darauf meint er uns mit aller Euphorie, zu der er fähig ist, im Nachwort zur “Ballade von Johnny Sosa” hinweisen zu müssen. Nun gut, sehe jeder einmal sein Bücherregal durch, ob das stimmt. Es ist ohnehin nebensächlich und ändert am “Balladen”-Text nur insofern etwas, als daß wir ihn mit einer bestimmten Erwartung lesen. Das wäre nicht nötig gewesen, das Buch ist auch so ein gelungenes.
Interessant an der Feststellung von Sepúlveda ist aber, was er als einen haushohen Sieg der Guten bezeichnet. Es ist dies nichts weiter als die Entscheidung eines Mannes, sich nicht länger an die Machthaber zu verkaufen, sondern in würdevoller Freiheit zu leben, auch wenn ihm damit keine Karriere möglich sein wird.
Das ist an Handlung schon fast alles: Johnny Sosa, Jazzsänger in einem uruguayischen Dorfbordell, ein verträumter, liebenswerter Mann, wird von den Militärs bedrängt, die mit der Diktatur ins Dorf kommen. Nicht auf Englisch soll er singen wie der wunderbare, verehrte Lou Brakley im Radio, sondern Spanisch, also Tango, Bolero. Damit er seine unpatriotischen Musikvorlieben aufgibt, versprechen sie ihm – des Lächelns wegen – weiße Zähne nebst Auftritten auf den renommierten Musikfestivals der Badeorte. Ein Star soll er werden, und er soll gute Miene machen zum bösen Spiel.
Aber das Spiel ist böse, und Johnny Sosa kriegt das mit. Nicht nur, daß im Radio statt der Lou Brakley-Sendung nun endlose Marschmusik läuft und er mit seinen Jazzprogrammen nicht mehr auftreten darf. Es werden Bekannte aus dem Dorf verhaftet; warum? Was sollen sie getan haben? Und was stört die neuen Herren der Jazz?
Die Entscheidung, sich trotz des Verbots wieder auf die kleine Bühne im Bordell zu stellen, ist seine Art zu sagen: Ich spiele nicht mehr mit. Die Gitarre muß er daraufhin abliefern. Der Verhaftung entkommt er durch Flucht. Schluß, aus.
Mir hat das Buch gut gefallen. Es ist sympathisch, daß Mario Delgado Aparaín sich tatsächlich auf eine “kleine” Geschichte beschränkt. Die Handlung geht über die Dorfgrenzen nicht hinaus und bleibt bei wenigen Menschen; die Weltpolitik braucht nicht herbeizitiert zu werden, um zu sagen, worum es geht. Der Grundkonflikt zwischen Freiheit und Unterordnung wird an eine scheinbar nebensächliche Frage geknüpft: Kann Musik ein Vehikel für politische Bekenntnisse sein? Und welche Art Musik sollte dann wofür stehen? Der Autor läßt seinen Protagonisten nun ausgerechnet Gringo-Musik lieben, er widersetzt sich jedem Kulturnationalismus und gibt damit selbst die Antwort.
Das schmale Bändchen ist reich an sprachlicher Tiefe, die Beobachtungen sind genau formuliert und wirken so ungekünstelt, so selbstverständlich, daß es leicht fällt, dem Geschehen zu folgen. Nach den hundert Seiten, Johnny Sosa ist seinen Verfolgern gerade so entwischt, hatte ich das sichere Gefühl, daß er am Leben bleiben wird.
Nichts mit Sieg, wie Sepúlveda meinte. Denn die Verlierer, die Militärs, verlieren gegen sich selbst – sie sind den Versuchungen der Macht nicht gewachsen.

Mario Delgado Aparaín, Die Ballade von Johnny Sosa. Übersetzt von Thomas Brovot, Nachwort von Luis Sepúlveda, Luchterhand Literaturverlag, München 1996, 117 Seiten, 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Teuer und total daneben

Kampkötter sympathisiert mit der zapatistischen Erhebung in Chiapas und versucht, einen historischen Bogen zu spannen, der von der Spanischen Eroberung Mexikos über die Mexikanische Revolution bis in die heutige Zeit reicht. Damit stellt er sich eine Aufgabe, die auf 172 Seiten kaum zu bewältigen ist. Doch nicht nur daran scheitert das Vorhaben: Dem Autoren unterlaufen zahlreiche Irrtümer und historische Fehldeutungen, wobei diese erheblichen Schwächen durch stilistische Mängel und unglückliche Formulierungen zum literarischen Ärgernis werden.
Das Dilemma beginnt schon im Vorwort, in dem Kampkötter die Beweggründe für die Erstellung seiner Arbeit nennt. Angetreten sei er, um “den Kampf der Zapatistas in México zu unterstützen” und den Zugang zur historischen Person Zapata zu erleichtern. Daher habe er sich “herausgenommen, dieses Buch zu schreiben, ein bißchen vom Süden zu träumen”. Welchen Anlaß das von Guerilla-Krieg, Aufstandsbekämpfung, Repression und täglichen Menschenrechtsverletzungen geprägte Mexiko zum Träumen bietet, verschweigt der Autor allerdings.
Mit der “Entdeckung der Neuen Welt” beginnt die Reise durch die Jahrhunderte und Kampkötter erleidet sogleich Schiffbruch: “Vollbracht hat sie ein Idealist, der selbstlose und edle Christoph Columbus, keine Gefahren fürchtend, die Augen fest auf Indien gerichtet. Dabei weiß wirklich jedes Kind, daß im Westen, jenseits des großen Teiches, eben nicht Indien, sondern Amerika liegt”. Oh je, da sträuben sich einem die Haare. Doch die “Analyse” wird mit der Beschreibung der Conquista, die der Autor als “Beginn des Imperialismus” outet, noch besser: “Solange das so ist, beißen halt die Menschen (zum Beispiel in México) ins Gras, seit Generationen geht das schon so. Nur manchmal kommt es ihnen hoch, und sie versuchen, der Fratze wenigstens einen Zahn auszuschlagen”.
Doch sind es nicht derartige verquaste Formulierungen allein, die auf eine profunde Ahnungslosigkeit des Verfassers schließen lassen. Aus Azteken werden “Atzteken”, die Herrschaft des Diktators Porfirio Díaz wird mal als “porfiristianisches Regime”, mal als “porfirianische Ära” bezeichnet und die staatliche mexikanische Erdölgesellschaft Pemex wird in “Pimex” umgetauft. Allerdings muß hier vor allem dem Lektorat der Vorwurf schlampiger Arbeit gemacht werden.
Aber auch mit historischen Fakten nimmt es Markus Kampkötter nicht so genau: “1883 wurden die Gesetze von Baldíos verabschiedet, in denen die Erschließung und Kultivierung von unbebautem Land geregelt wurden”. Diese Aussage ist schlicht und ergreifend falsch. Richtig ist, daß die Gesetze über die tierras baldías erlassen wurden, denn tierras baldías bedeutet übersetzt nichts anderes als brachliegendes Land. Die spanische Sprache erweist sich auch später als häufiges Hindernis für den Autoren.
Bei dem Versuch, die Verbindung zwischen Mexikanischer Revolution und Zapatistischem Aufstand 1994 herzustellen, begibt sich Markus Kampkötter schließlich vollends aufs Glatteis. Die von Präsident Carlos Salinas de Gortari 1992 vorgenommene Änderung des Artikels 27 der Mexikanischen Verfassung war nämlich nicht, wie der Autor resümiert, “einer der Gründe für die Entstehung des Neozapatismo”. Die Streichung des Artikels 27, führte vielmehr zum Beschluß der Gemeinschaften, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Die politische Organisierung unter dem Namen Emiliano Zapatas hatte, ebenso wie die Aufstellung von Selbstverteidigungsmilizen, schon Jahre vorher eingesetzt.
Schöne Fotos können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Buch jegliche Tiefe vermissen läßt und der Preis von 29,80 DM für 172 Seiten in keinster Weise gerechtfertigt ist.

Markus Kampkötter: Emiliano Zapata, Unrast-Verlag, 29,80 DM (ca. 15 Euro).

México, México – Ra Ra Ra !!!

Siege gegen den Fußballzwerg St. Vincent waren von mexikanischer Seite her fest eingeplant worden. Zuletzt hatte es 1992 unter dem damaligen argentinischen Trainer Menotti einen 11:0 Kantersieg gegeben. Dementsprechend wurde in den mexikanischen Medien im Vorfeld auch nur über die Höhe des Sieges diskutiert. Doch statt eines Torefestivals gab es beim Hinspiel auf der Insel ein mageres 3:0. Schlecht gespielt, aber dennoch gewonnen. Daß Großmäuligkeit nicht vor Strafe schützt, mußte die mexikanische Elf in ihrem zweiten Hinrundenspiel in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras, erfahren: Mit einer 2:1 Niederlage wurden Torwart Jorge Campos & Co. nach Hause geschickt. Zwar konnte Mexiko seine Chancen durch einen hart erkämpften 2:1 Sieg über Jamaica im heimischen Azteken-Stadion wahren, der Glanz früherer Jahre war jedoch verflogen.

Bora unter Druck

Trainer Bora Milutinovic, dem bei der WM 1994 als US-Coach so mancher Überraschungscoup geglückt war, geriet immer mehr in die Schußlinie der Kritik. Diese nahm nach einer indiskutablen Leistung seiner Mannschaft im folgenden Heimspiel gegen St. Vincent zu. Zwar konnte durch einen 5:1 Sieg die Tabellenspitze der Gruppe 3 zurückerlangt werden, da sich gleichzeitig Honduras und Jamaica 0:0 getrennt hatten, die “Bora Raus”-Chöre waren jedoch nicht zu überhören.
Während des gesamten Spiels wurden die Aktionen der Mexikaner vom eigenen Publikum mit einem gellenden Pfeifkonzert begleitet. Unvorstellbare Szenen spielten sich ab. 35.000 maßlos enttäuschte ZuschauerInnen feuerten nicht ihr Nationalteam an, sondern die tapfer aufspielenden Kicker aus St. Vincent. So wurde der Ehrentreffer des Außenseiters durch Velox zwei Minuten vor Schluß enthusiastisch gefeiert und auch am nächsten Tag in der Presse als beste Aktion der Begegnung gewürdigt. Kendall Velox hatte eine Hackenvorlage von Alwyn Durham durch einen Direktschuß aus 20 Metern in den Winkel verwertet und die gute Leistung seines Teams gekrönt.
Das Rückspiel gegen Honduras am 6. November 1996 wurde für Mexiko und vor allem Bora Milutinovic zum Schicksalsspiel. Der Angstgegner mußte geschlagen werden. Schon mehrere Stunden vor Spielbeginn belagerten Tausende das Azteken-Stadion. Nach und nach füllte sich die riesige Betonschüssel. Die emsigen Bierverkäufer hatten Schwerstarbeit zu verrichten, um die 110.000 durstigen Kehlen mit Corona zu versorgen. Als das Spiel dann endlich um 18 Uhr angepfiffen wurde, glich die Fußball-Arena einem Hexenkessel. Trauben von Luftballons und unbeschreibliche Mengen an Konfetti regneten von den oberen Rängen herunter. Knallkörper, Tröten und der immer wieder aufbrandende Anfeuerungsruf “México, México – Ra Ra Ra” sorgten für eine Lärmkulisse, in der die Sprechchöre der wenigen angereisten Honduraner untergingen.
Schon in der ersten Halbzeit machte das mexikanische Team alles klar. Spielerisch und kämpferisch überlegen begann von der ersten Minute an ein einziger Sturmlauf auf das Tor der von der Kulisse eingeschüchtert wirkenden Gäste. Nach mehreren Pfostenschüssen war es dann soweit: In der 32. Minute erzielte Benjamin Galindo nach Vorarbeit von García Aspe das vielumjubelte 1:0. Der Bann war gebrochen. Nur drei Minuten später folgte das 2:0 durch Carlos Hermosillo. Als auch noch kurz vor der Halbzeit Zague nach einem schönen Anspiel Hermosillos zum 3:0 einschieben konnte, war die Entscheidung gefallen. Die zahlreichen “Bora Raus”-Transparente waren nun verschwunden. Allerdings tauchten sie gegen Ende der Partie wieder auf. Denn das mexikanische Team ließ in der zweiten Hälfte jeglichen Offensivgeist vermissen und beschränkte sich darauf, den Vorsprung über die Zeit zu schaukeln. Anstatt das Publikum für die letzten miserablen Spiele durch einen höheren Sieg zu entschädigen, wurden Ballhalten und Langeweile geprobt. Dadurch kam Honduras immer stärker ins Spiel und konnte durch einen Elfmeter in der 67. Minute auf 1:3 verkürzen. Zu mehr reichte es nicht. Damit hatte sich Mexiko als erste Mannschaft der Gruppe 3 vorzeitig qualifiziert.

Ian did the right thing

Der letzte Spieltag hatte dementsprechend für Mexiko wenig Bedeutung. Da ein Sieg von Honduras gegen St. Vincent von niemandem bezweifelt wurde, mußte Jamaica gegen Mexiko gewinnen oder unentschieden spielen, um ebenfalls die Endrunde zu erreichen. Allerdings sorgten Gerüchte, daß Mexiko ein Ausscheiden von Honduras einem eigenen Gruppensieg vorziehen würde, schon im Vorfeld der Begegnung für Furore. Wie auch immer: Jamaica schlug Mexiko am 17. November durch ein Tor von Ian Goodison sieben Minuten vor Schluß mit 1:0 und kletterte an die Tabellenspitze. Mexikos Angstgegner Honduras schied trotz eines 11:3 (!) Heimsieges über St. Vincent aus. Angesichts der historischen Chance, sich erstmals für die WM zu qualifizieren, wird in Jamaica nun eifrigst diskutiert, ob in England spielende jamaicanischstämmige Profis kurzfristig in die Mannschaft integriert werden sollen. Die Mehrheit ist dagegen, weil sie darin eine Abwertung der auf Jamaica spielenden Akteure sieht. So wird wohl weiterhin auf den Teamspirit von Ian und Co. gesetzt, die schon mit dem bisher Erreichten jamaicanische Fußball-Geschichte schrieben.

“Evita” – Zwanghaftes Gefühlskino

Das Spektakel beginnt im Treibhaus der Mythen und Illusionen. Buenos Aires 1952: In einem Kino ergötzt sich das Publikum an einem Melodram. Plötzlich wird die Vorstellung abgebrochen. Wütendes Raunen im Saal. Dann gibt jemand bekannt, daß Eva Perón gestorben ist. Stille, dann fassungsloses Schluchzen, orchestriert von pompöser, gellender Musik.
“Evita”, Alan Parkers Verfilmung des Musicals von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, läßt vom ersten Augenblick keinen Zweifel am Leitmotiv: Nicht klimpern, sondern klotzen. Madonna als Evita, Jonathan Pryce als Juan Perón – und last but not least Antonio Banderas als omnipräsenter kritischer Kommentator des Geschehens – eine Mischung aus jugendlichem Che Guevara und argentinischem Jedermann. Als Kellner, Dienstbote oder Journalist begleitet er die Stationen des kometenhaften Aufstiegs Evitas von der kleinen Schauspielerin zur Presidenta Argentiniens.
Ches Auftritte sorgen für wohltuende ironische Kontrapunkte in einem Spektakel, das ansonsten zu sehr bemüht ist, großes Gefühlskino darzustellen. Besonders der aufdringlich schwülstige und stilistisch diffuse Soundtrack, der musikalisch wenig mit Argentinien zu tun hat, sorgt zuweilen für unfreiwillige Komik – beispielsweise in der Szene, wo Evita und Perón sich das erste Mal begegnen. Wehmut kommt auf bei dem Gedanken, was beispielsweise Astor Piazzolla, der die phantastischen Soundtracks zu “Sur” und “Tangos – El exilio de Gardel” von Fernando E. Solanas komponierte, aus dem “Evita”-Stoff hätte machen können.
Das Dekors, die Massenszenen – das Argentinien dieser Zeit scheint bei Alan Parkers Monumentalepos äußerlich sehr detailliert rekonstruiert zu sein, wirkt jedoch trotzdem wie eine austauschbare Kulisse des Welttheaters in geschmackvollen Beige-Brauntönen. Evitas soziales und politisches Engagement, ihre Auseinandersetzungen mit den Militärs und gesellschaftlichen Eliten als brillant montierter, unterhaltsamer Clip, der die Zuschauer allerdings ziemlich im Unklaren läßt, ob es sich beim Peronismus um eine Art soziale Revolution oder Protofaschismus handelte. Gerade da, wo es interessant wird, wo Raum für Widersprüche und Zwischentöne sein könnte, kommt wenig Erhellendes.
Dagegen ist die Besetzung der Hauptrollen mit Madonna und Banderas aller Vorschußhäme zum Trotz ein gelungener Coup. Die Rolle der ehrgeizigen und gefallsüchtigen, gleichzeitig aber auch großzügigen und verletzlichen Eva Perón wird von Madonna so hingebungsvoll verkörpert, daß sie ihr wie auf den Leib geschnitten wirkt. Beispielsweise, wenn die Operetten-Evita sich vor dem Spiegel auf ihren letzten öffentlichen Auftritt vorbereitet und singt: “You must love me.”

“Evita”, USA/ Großbritannien 1996; Farbe, 135 Minuten; Regie: Alan Parker

Das Schweigen Netos

Eines der Lieblingsexperimente des elfjährigen Neto ist, seinen Kopf so lange unter Wasser zu halten, wie er es aushalten kann. Auch ansonsten wirkt der pummelige, asthmakranke Junge recht introvertiert und verdruckst. Wenn er nicht gerade Telenovelas oder Fußballübertragungen im Radio hört, vertreibt er sich die Zeit damit, seine Eltern im Schlafzimmer zu belauschen oder die junge indianische Muchacha Nidia, für die er schwärmt, bei dem zu beobachten, was sie mit ihrem Geliebten in der Wäschekammer anstellt. Kaum jemand hält es für nötig, Neto und seinen kleinen Bruder Mario über etwas aufzuklären. Auch nicht darüber, was die immer bedrohlicher klingenden Nachrichten im Radio angeht. Da ist vom drohenden Sturz des Präsidenten Arbenz Guzmán die Rede. Der einzige, der von Zeit zu Zeit etwas frischen Wind in sein gutbürgerliches Elternhaus bringt, ist Onkel Ernesto, der “verlorene Sohn” der Familie. Im Gegensatz zu Netos Eltern, einem engstirnig-autoritären Juristen und einer sanften, introvertierten Mittelschichtsdame, ist er ein Globetrotter und Freigeist, kennt Zauberstücke und weiß, wie man einen Heißluftballon steigen läßt. Aber auch Ernesto kehrt eines Tages sterbenskrank nach Hause zurück – für seinen Neffen ein trauriges, aber auch aufschlußreiches Erlebnis.

Ende der Apathie?

“El Silencio de Neto” von Luis Argueta, stolz als erster guatemaltekischer Film, der international in die Kinos kommt, annonciert, nähert sich den Ereignissen um den Sturz des demokratisch gewählten linken Präsidenten Jacobo Arbenz Guzmán im Jahre 1954 aus einer bewußt naiven und kindlichen Perspektive. Der familiäre Mikrokosmos fungiert als Spiegel gesellschaftlicher Zustände. Da sind die beiden antagonistischen Brüder Eduardo und Ernesto, deren lebenslange Rivalität sich unter anderem in dem Streit um Netos Erziehung ausdrückt. “Gib’ den Kindern Luft zum Atmen”, fordert Ernesto. Sein Bruder versieht anfangs brav, aber ohne inneres Engagement seinen Dienst in der Regierungsadministration von Arbenz Guzmán. Auch als die von der CIA inszenierte Invasion ins Haus steht, halten Netos Eltern an ihrer apathischen Haltung fest.
Nach Jahren des erzwungenen Schweigens in Guatemala ist es endlich möglich, einen Film zu drehen, der eben diese Zustände thematisiert. “Das Schweigen Netos” ist solide inszeniert, politisch engagiert und trotzdem zu keinem Zeitpunkt platt pamphletisch. Auf der psychologischen Ebene finden sich allerdings etliche Klischees und überdeutliche Metaphern, was der inneren Spannung nicht gerade zugute kommt. So ist die Entwicklung der Figuren an vielen Stellen vorhersehbar. Natürlich gelingt es Neto letztendlich dank einiger Erlebnisse und Onkel Ernestos moralischem Beistand, ein Stück weit aus der von Eltern und System verordneten Unmündigkeit auszubrechen. “Sag’ nie, du kannst nicht”, lautet dann die Botschaft, die der Sterbende ihm mit auf den Weg gibt.

“El Silencio de Neto”; Regie: Luis Argueta; Guatemala 1994; Farbe, 106 Minuten.

Kleine Berlinale-Vorschau

Mit zehn Beiträgen ist der lateinamerikanische Film auf den 47. Internationalen Berliner Filmfestspielen vom 13. bis 24. Februar 1997 deutlich besser vertreten als im Jahr zuvor. Am Wettbewerb selbst wird kein Film aus Lateinamerika teilnehmen, sie werden im Forum und im Panorama gezeigt. Der kleine Wermutstropfen: Die Filme kommen aus nur zwei südamerikanischen Ländern. Acht Filme aus Brasilien und zwei aus Argentinien.
Darüberhinaus dokumentiert ein in deutsch-schweizerischer Gemeinschaftsproduktion entstandener Film die Geschichte der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros. Die beiden Filmemacher Rainer Hoffmann und Heidi Specogna, die unter anderem durch ihren Film “Tanja La Guerrillera” bekannt geworden ist, lassen vier Gründungsmitglieder der Tupamaros in sehr persönlichen Gesprächen ihren Weg vom bewaffneten Kampf im Untergrund der 60er und 70er Jahre über die Niederschlagung ihrer Revolution bis hin zu ihrer heutigen Einbindung in das parlamentarische System nachzeichnen. Hauptprotagonist des Films ist Pepe Mujica, der während der Militärdiktatur Uruguays 13 Jahre in völliger Isolierung inhaftiert war und heute Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio ist.
Da bis zum Redaktionsschluß der LN keine genauen Termine für die einzelnen Filme vorlagen, können wir unsere interessierten LeserInnen nur auf das Erscheinen des Berlinaleprogrammheftes vertrösten.

Graciela Concha Pineda

Wir haben Dich im Exil kennengelernt, als Aktive des MIR. Es war nicht schwierig, uns in den ersten Jahren in die Haare zu geraten in dieser seltsamen Atmosphäre des Exils, die geprägt war von sektiererischen, parteiorientierten Erwägungen der chilenischen Exilberufspolitiker und denjenigen, die vom revolutionären Aufschwung in Chile zu Beginn der 70er Jahre mitgerissen worden waren.
Du gehörtest weder zu den einen noch zu den anderen. Mit dem Lauf der Jahre entdeckten wir, daß wir -jenseits des Wirbelns um uns herum-, sei es des revolutionären Wortschwalls einiger oder des schlichten Opportunismus anderer, Grundhaltungen teilten, die sich nicht an den Grenzen der Parteimitgliedschaft festmachten – auch Grundsätze der revolutionären Moral, auf die wir unmöglich verzichten konnten und wollten.
Das geschah gerade in den Anfängen einer Entwicklung, an deren Ende so viele aus der früheren chilenischen Linken von ehemaligen “Revolutionären” zu feierlichen Ministern, ausgewogenen Abgeordneten und ansonsten vor allem zu dienstbaren Verwaltern des herrschenden neoliberalen Modells geworden sind. Deine Erfahrungen und Deine Studien im Exil trugen dazu bei, Dein Augenmerk auf den Einfluß der herrschenden Ideologie bis in die Kreise der internationalen, internationalistischen Linken zu richten. Der Eurozentrismus, manchmal hart an der Grenze zu rassistischen Haltungen, der Machismus, besonders unter den Lateinamerikanern, empörten Dich und ließen Dich mit Verzweiflung über die realen Perspektiven nachdenken, eine neue Welt aufbauen zu können.
Als Du von der Krankheit erfuhrst, die Dir jetzt das Leben genommen hat, war Deine Haltung, mit der Du ihr entgegengetreten bist, bewundernswert für uns. Kein Jammern, keine Schwäche. Du zeigtest nur den Schmerz, “zu sehen, daß die Welt sich nicht verändert”, und angesichts dessen konntest Du nicht aufgeben, verankert in Deiner Überzeugung, die Dir nie abhanden kam.
Das war für Dich aber kein Hindernis dafür, eine zutiefst selbstkritische Sichtweise dessen, was die Linke war und ist, zu entwickeln und die Notwendigkeit einer authentischen Erneuerung zu sehen, worunter Du allerdings etwas sehr anderes als die Anpassung an die Ideologie und Interessen der herrschenden Klassen verstanden hast, im Gegensatz zu vielen heute in Chile.
Für diejenigen, die wir noch den Traum vom Aufbau einer neuen, freien, gleichen und solidarischen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus hegen, ist Dein früher Tod ein Verlust, der schmerzt. Wir hatten die Hoffnung, mit Dir zusammen die ersten Kämpfe für das Wiederaufleben unserer Kräfte zu führen, auch wenn es mehr als wahrscheinlich ist, daß wir nicht die Freude haben werden, am Erfolg dieser -im wahrsten Sinne des Wortes- Kraftanstrengung teilhaben zu können.
Heute fühlen wir uns einsamer, auch wenn uns die Erinnerung an Dein konsequentes Leben und Deine Leidenschaft für die Veränderung Kraft gibt. Deswegen halten wir es für angebracht, aus diesen Zeilen einen Akt der Bestätigung gemeinsam gefundener Überzeugungen und gemeinsam geübter Kritiken zu machen.
Deine Kinder können mit wirklichem Stolz auf Deine Rolle in unserer gemeinsamen Vergangenheit, die nun schon Geschichte geworden ist, blicken.
Vielleicht stört es manche, die nicht nur die Reihen der vormaligen chilenischen Linken verlassen haben, sondern auch ihre politischen und ethischen Grundpositionen, aber das hindert uns nicht, in diesem Augenblick großen Schmerzes Dir zu sagen:
Graciela, ¡hasta la victoria siempre!

Berlin, Dezember 1996
FDCL und Deine Berliner Freundinnen und Freunde

Newsletter abonnieren