Wände ohne Ende

“Die Wandmalerei ist die höch­ste, folgerichtigste, reinste und stärkste Form der Malerei; (…) sie ist auch die uneigennüt­zigste, weil sie nicht zum Gegen­stand persönlichen Nutzens ver­wan­delt, noch zum Vorrecht ei­ni­ger weniger versteckt werden kann. Sie ist für das Volk. Sie ist für ALLE.” So beschrieb einst der mexi­kanische Wandmaler Jo­sé Clemente Orozco (1883-1949) die Vorzüge dieses Gen­res. In der Hauptstadt Mexikos ver­gab die Regierung nach der Re­volution (1910-1917) viele Auf­träge zur Ausgestaltung öf­fent­licher Gebäude. Die drei wich­tigsten Wandmaler dieser Zeit sind auch bei uns bekannt: Orozco, Diego Rivera (1886-1957) und David Alfaro Siquei­ros (1896-1974). Ihre Wandge­mäl­de beschrieben dabei nicht nur die präkolumbische Vergan­gen­heit, sondern vermittelten auch die seinerzeit aktuellen Re­gie­rungsprogramme. So wurden In­dustrialisierung, Alphabetisie­rung und die Verstaatlichung aus­ländischer Erdölgesellschaf­ten zu vorrangigen Themen. Die Wand­malerei wandte sich dabei als Bilderbuch an die Armen, die häu­fig Analphabeten wa­ren. Un­ter­drückung und Aus­beu­tung wur­den an den Häuserwän­den an­geprangert und eine so­zia­li­sti­sche Utopie aufge­zeigt. In Los Angeles, ebenso wie Mexiko-Stadt Partnerstadt Ber­lins, gibt es wohl derzeit die meis­ten Wandgemälde der USA. Auch hier begann die Begeiste­rung für die Wand­malerei schon früh in diesem Jahrhundert. In den 30er Jahren, zur Zeit des New Deal, unterstützte die Re­gie­rung Roosevelt die Wandma­ler­ei durch Künstlerförderungs­pro­gramme. Die Idee kam aus Me­xi­ko, und folgerichtig be­ka­men mexikanische Maler die er­sten Auf­träge.
Seit den Zeiten der Bürger­rechts- und Studentenbewegung ist vor allem die Geschichtsauf­ar­beitung aus der Sicht von un­ten Thema der Wandbilder. Da­bei wird die Community häufig in Planung und Aus­führung der Wand­gemälde miteinbezogen. In der aktuellen Wandmalerei spie­len die aus Mexiko einge­wan­der­ten Chicanos, die die mul­ti­kul­tu­rel­le Stadt besonders prä­gen, eine wichtige Rolle. So sind Ras­sis­mus, Arbeitslosigkeit, Dro­gen, Ge­walt und die eigene Iden­ti­täts­fin­dung Themen vieler Wand­ge­mäl­de in Los Angeles.
In Berlin schließlich gibt es die längste Freiluftleinwand der Stadt seit einiger Zeit nicht mehr. Die Mauer war fast 30 Jah­re das gesellschaftliche und äs­thetische Stim­mungsbarometer West­ber­lins. Doch auch die an­de­ren, meist mit öffentlichen Mit­teln ge­förderten, mehrere hun­dert Häu­serwandbilder kön­nen sich se­hen lassen. Mitte der 70er Jah­re begann in Westberlin die Aus­ge­staltung der Wände, vor­nehm­lich aller­dings domi­niert vom Ge­danken der Stadt­ver­schö­ne­rung. Auch in Ostber­lin spielten die Außenwandbilder eine Rolle, zumal sie als staatli­che Auf­trags­kunst in besonde­rem Maße als Er­ziehungsmittel ge­nutzt wur­den. Später mit der Haus­be­set­ze­rIn­nen­bewegung wur­den im West­teil verstärkt ge­sell­schafts­po­litische Themen auf­gegrif­fen. In den 90er Jahren ent­standen so­wohl im Ost- als auch im West­teil weitere Wand­bil­der, da­run­ter eines, bei dem Künstler aus L.A. mit Ber­li­ner Ju­gendli­chen zusammenar­bei­te­ten.
All dies kann man in dem Buch “Mural Art” nachlesen oder besser, sich auf über 150 far­bigen Abbildungen an­schau­en. Es ist vermutlich der erste Ver­such, die Wandmalerei dieser drei Partnerstädte zu ver­glei­chen. Diese vortreffliche Idee hat­te Heinz J. Kuzdas. Das Buch über­zeugt insbesondere durch den Text von Michael Nung­es­ser, ei­nem ausgewiese­nen Ex­per­ten für Wand­malerei. Der Text ist drei­sprachig abge­druckt, eben­so wie die Bildtitel fast aller Wand­ge­mälde. Die Grußworte der Bürgermeister von Berllin und Los Angeles hätte sich der Verlag allerdings sparen können.

Heinz J. Kuzdas: “Mural Art”. ISBN: 3-929139-59-6, Schwarzkopf & Schwarz­kopf

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

Brecht plus Artaud

Herr Pérez, Sie sind Chilene und haben “Quartett” von Heiner Müller in Santiago de Chile inszeniert. Wie sind Sie auf Heiner Müller gekommen?

Ich habe Heiner Müller in Deutschland kennen­gelernt, und auch seine Texte, die mir ungeheuer interessant und auch beunruhigend erschienen. Und gleichzeitig auch unheimlich komplex.

Warum haben Sie dann aus der Vielzahl von Müllers Stücken gerade “Quartett” ausgewählt?

Ich hatte vorher keinerlei Zugang zu Müllers Texten, da sie in deutscher Sprache erschienen. Der erste Text, der sich mir schließlich erschlossen hat, war “Quartett”. So kam mir die Idee, eine Ver­sion hiervon in Chile zu inszenieren, denn soweit mir bekannt war, war bisher von Müller nichts in Chile aufgeführt worden. Dabei ist Müller einer der Großen, wenn nicht der Große dieses Jahrhun­derts, nicht nur im Hinblick auf die Dramaturgie in Deutschland, sondern weltweit. “Quartett” reizte mich auch, weil der Text nicht ganz so fragmenta­risch ist. Deshalb schien er mir ideal, um mit dem Autor hier in Chile zu beginnen. Weil Heiner Müller eben komplex ist – und wunderbar.

Komplex, fragmentarisch… ist es schwierig, einen solchen Autor in Chile einzuführen?

Ich glaube nicht. Ich denke, daß die Schwierig­keit eher im Ideentheater als solchen liegt, nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika. Es geht darum, den Leuten eine andere Sprache nahe­zubringen, die Fähigkeit, neue, ungewohnte Ideen zu denken. Und diese Funktion erfüllt “Quartett” für mich. Ich weiß nicht, ob es einfach oder schwierig ist, glaube aber, es war wichtig, hier einen Weg zu öffnen, und wenn er einmal offen ist, in dieser Richtung weiterzugehen.

Sie bezeichnen Heiner Müller als einen der Großen des Jahrhunderts. Warum?

Ich weiß, daß ich ein wenig übertreibe – nun gut, ich bin Lateinamerikaner. Ich denke, er ist ei­ner, dem es gelingt, zu vereinigen. Und das ist für mich das wichtigste am Ende eines Jahrhunderts, das von sehr großen Schrecken geprägt ist. Ein Jahrhundert, in dem Menschen brutal ihre Herr­schaft über andere Menschen ausüben. Ein Jahr­hundert, in dem einem Menschen brutal durch die Hand eines anderen Menschen das Leben genommen wird. Und am Ende eines solchen Jahr­hunderts ist es Müller meiner Meinung nach ge­lungen, die beiden wichtigsten Strömungen des Theaters zu vereinen. Das sind Brecht und Artaud – Verstand und Leidenschaft. Und in diesem Sinne ist es ihm gelungen, über das Bisherige hinauszu­gehen.

Das Werk Heiner Müllers ist demnach also kein sehr deutsches Werk, das nur in Deutsch­land verstanden wird?

Heiner Müllers Ursprung ist ein Land, das mei­ner Meinung nach die realgewordenen Ängste die­ses Jahrhunderts in Europa konzentriert. Dort wur­den die Greueltaten des Jahrhunderts verübt, un­glaublich Schreckliches, das natürlich genausogut auch an einem anderen Ort stattfinden könnte. Ich meine damit, die Menschheit sucht sich einen Ort, an dem diese Schreckensängste Wirklichkeit wer­den, und dies geschah eben in Deutschland. Jen­seits von der konkreten politischen Lage dort. Und das macht diesen Schrecken wieder universal.

Sie waren eine Zeitlang in Deutschland. Macht es das für Sie einfacher, das Werk von Heiner Müller zu verstehen? Aufgrund der Tatsache, daß Sie Deutschland, das deutsche Theater kennen?

Mehr als die Kenntnis des Theaters ist es die Kenntnis der Straßen. Das Kennenlernen einer Stadt wie Berlin – mit wie auch ohne Mauer. In die S-Bahn einsteigen und “auf der anderen Seite” wieder aussteigen. Friedrichstraße – das ist eine andere Welt, das ist “der Osten”. Da liegt dieser Schrecken aus den Werken Heiner Müllers spürbar in der Luft.

Nochmal zu “Quartett”. Heiner Müller hat die Szene in einen Bunker nach dem Dritten Welt­krieg verlegt, aber das klingt in Ihrer Inszenie­rung nur ganz sacht an.

Der Krieg hier tritt nicht so unmittelbar in Er­scheinung wie der europäische Krieg – ein Krieg im eigenen Haus. Heiner Müller sagte selbst, daß sein Werk absolut von dem Ort abhängt, an dem es inszeniert wird. Also vom sozialen, kulturellen und politischen Kontext, in dem das Werk gespielt wird. Aus meiner Sicht, als Chilene, denke ich, daß der von mir gewählte Ort der Handlung der rich­tige ist, um das Stück in dieser Kultur aufzuführen. Alles andere wäre europäisch: Mitten im Schutt und Valmont mit einem Hakenkreuz. Aber das ist nicht hier, das ist nicht Chile.

Zu Ihrer Inszenierung gibt es die Kritik, sie re­duziere das Werk auf eine Liebesbeziehung. Was sagen Sie dazu?

Neben dem gerade genannten politischen Ele­ment gibt es noch ein zweites, mit dem ich diese Idee des verliebten Paares grundsätzlich aufbre­chen wollte: Die Besetzung. Alfredo Castro und Delfina Guzman sind zwei große chilenische Schauspieler aus zwei unterschiedlichen Genera­tionen (ich gehöre bereits der nächsten an), die meiner Auffassung nach die wichtigsten in der Ge­schichte dieses Landes sind. Mittels der zwei kämpferischen Persönlichkeiten, die diese beiden Schauspieler verkörpern, prallen zwei Strömungen aufeinander, die sich in Chile anscheinend nicht versöhnen ließen. Und hier ist der politische Kommentar. Wer sind diese beiden, die sich da einander stellen, die sich nicht verstecken, die sich gegenübertreten mit ihrer unterschiedlichen Art, Theater zu spielen? Das ist eine Reflexion über das Theater innerhalb des Theaters.

Die beiden Schauspieler waren zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne?

Richtig. Und niemand hätte erwartet, diese bei­den jemals zusammen in einem Stück zu sehen, denn sie vertreten zwei entgegengesetzte Strömun­gen.

Sie sind selbst auch Darsteller in La Misión (“Der Auftrag”), einem anderen Stück von Hei­ner Müller, das hier in Santiago mit dem deut­schen Regisseur Alexander Stillmark inszeniert wurde. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser chilenisch-deutschen Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht groß an Unterschiede zwischen deutschem und chilenischem Theater. Ich glaube, es gibt Regisseure und Schauspieler. Es war für mich die Arbeit mit einem neuen Regisseur. Dabei ging es besonders um die Beziehung, die der Schauspieler zum Text hat, nicht der Schauspieler zur Person.

In La Misión spielen sie den Mann im Aufzug. Diese Überpünktlichkeit, dieses Duckmäuseri­sche mutet “typisch deutsch” an. Ist es Ihnen schwergefallen, diesen Büroangestellten zu spie­len?

Mehr noch als in Personen versetzt man sich in Situationen. Und diese Situation lebt von der Iro­nie, die ich auch gemeinsam mit Alexander ent­deckt habe. Der Kommentar zu unserem Theater in Chile ist immer, daß wir zuviel weinen. Das stimmt, wir weinen viel, ihr in Deutschland weint weniger. Ihr seid dem Schrecken näher als dem Schmerz. Wir sind dem Schmerz näher. Wir hatten hier in Chile unseren eigenen Krieg, einen bewuß­ten Krieg mit viel Idealismus. Aber in Deutschland nicht. Dort fielen die Bomben in die Häuser, und Du mußtest fliehen, um nicht zu verbrennen. Es gab kein Zurück, das war das Schreckliche. Die Beziehung zu Schmerz und Schrecken ist also eine unterschiedliche. Diese Erkenntnis hat mir sehr für die Szene im Aufzug geholfen. Ich habe gelernt, daß man einen Text auch über die Ironie erreichen kann und nicht unbedingt durch Schmerz.

Und die Idee, diese Szene in deutsch zu spielen und einen Übersetzer daneben zu setzen? Diesen Ausländer, der so absurde Gedankengänge über­setzen muß?

Die Ironie verdoppelt sich. Zusätzlich verstärkt sie sich noch, wenn ich, mit dunkler Hautfarbe, ab­solut ein Lateinamerikaner, sage: Ich, Europäer. Ich blicke ein bißchen von oben herab auf Peru, aber gleichzeitig bin ich Peru. Da wird vieles ver­dreht. Die Idee ist, die Dinge auf den Kopf zu stellen: Durch eine Tür eintreten und durch eine andere wieder zurückzukehren. Meiner Meinung nach ist dies die Basis für das, was Ironie im Theater sein könnte: Sich durch Humor vom Text distanzieren, damit sich der Text verständlich ma­chen kann.

José Donoso ist tot

Der chilenische Schriftsteller José Donoso starb am 7. Dezember in Santiago.
Donoso, Jahrgang 1924, trat vor allem durch seine Romane hervor. Bereits Coronación (Krönung, 1957) wurde begeistert aufgenommen. Es folgten El lugar sin límites (Ort ohne Grenzen, 1967), El obsceno pájaro de la noche (Der obszöne Vogel der Nacht, 1970), Casa de campo (Das Landhaus, 1978) und Deseperanza (Die To­teninsel, 1986) – Bücher, die ihm den Ruf als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas si­cherten.
Insbesondere Casa de campo und Desesperanza sind Bücher mit deutlichen Anklängen an Chile und seine jüngste Geschichte, und dennoch kann man Donoso wohl als Weltbürger par excellence bezeichnen. So schrieb der Anglist seine ersten Er­zählungen auf Englisch und veröffentlichte sie 1950 als Stipendiat in Princeton. Später lebte er in Argentinien, Me­xiko, den USA und schließlich lange in Spanien, bis er 1981 nach Chile zu­rück­kehrte. Das Werk Donosos ist in viele, auch außer­europäische Spra­chen übersetzt. Für die kom­men­den Jahre ist mit einigen weiteren, bis jetzt noch nicht auf Deutsch erschienenen Büchern zu rech­nen, so mit Donde van a morir los elefantes (Wo die Elefanten ster­ben, 1995) und den Memoiren Conjeturas sobre la memoria de mi tribu (Ver­mutungen über das Ge­dächtnis meines Stammes, 1996). In El Mocho, das in den nächsten Monaten auf Spanisch erscheinen soll, geht es um “Verschwundene” während der Pi­nochet-Diktatur.
Für das Februar-Heft der LN ist ein ausführli­cher Beitrag über José Donoso vorgesehen.

Samuel Ruíz als Comic-Figur

Die Schwestern Amalia und Be­gonia wachsen im Italien der sech­ziger Jahre auf. Sie bewegen sich in marxistischen Studenten­zir­keln und sind der Ansicht, et­was für das Wohl der Mensch­heit tun zu müssen. Aus der pa­tri­archalen Welt der Eltern bre­chen sie auf, suchen nach gang­ba­ren Wegen sich zu engagieren. Sie werden – so Amalia bei der FAO und Begonia als Leiterin ei­nes kolumbianischen Kinder­buch­verlags – Teil jenes ent­wick­lungs­politischen Etablisse­ments, das ja in den letzten Jah­ren tat­säch­lich ein beträchtliches Ter­rain in der Politik gewonnen hat. Mal leben sie ganz dicht bei­sam­men, mal weit voneinander ent­fernt, aber in Kontakt bleiben sie immer. Dafür sorgt vor allem die Grundkonstellation dieser Ge­schwi­ster­beziehung: Während der at­traktiven Amalia alles zu­fällt und ihr die Männer nur so nach­lau­fen, bleibt Begonia stets zwei­te Wahl. Nach langwierigem Hin und Her mit endlosen Job-, Orts- und Männerwechseln blei­ben sich die Frauen schließlich selbst übrig und stellen fest, daß es sich so, gemeinsam, vielleicht von Anfang an am besten gelebt hätte.
Diese Geschichte taugt durch­aus für einen Roman. Es könnte da­rin von einer Schnellebigkeit zu lesen sein, in der wir infor­ma­tions­überfluteten Neuzeit­men­schen uns wiederzu­erkennen ver­möch­ten. Worauf auch immer so ein Buch hinaus­wollte, ob auf eine Parodie des internationalen Po­litiktheaters, ob auf den Be­schluß, sich per Ausstieg von dem ganzen Rum­mel fern­zu­hal­ten, ob auf das Lob der Lang­sam­keit oder darauf, uns slap­stick­artig vorzuführen, was für Ko­bolze unser Gehirn bei der täg­lichen Zeitungslektüre schießt – es ist vieles möglich. Es könnte da­rauf hinauslaufen, die Welt so gut­zuheißen, wie sie ist, oder ei­nen gewagten Denkvor­stoß zu ma­chen, bei dem einem die Luft weg­bleibt, weil da noch keiner drauf gekommen ist – ei­nerlei.

Wildern in der Vergangenheit

Francesca Gargallo, selbst ge­bür­tige Italienerin und als junge Frau nach Mexiko gekommen, be­gnügt sich damit, durch die Hin­terlassenschaften der letzten Jah­re zu wildern. Dabei wird al­les mögliche erwähnt, die brasi­li­ani­sche Militärdiktatur genauso wie der kolumbianische Bürger­krieg, die sandinistische Revolu­tion in Nicaragua und das Ende der Sowjetunion. Dom Helder Ca­mara und Leonardo Boff ste­hen neben Lula und Samuel Ruíz. Amalia und Begonia ma­chen jede Menge “Erfahrungen”, sie meditieren in einem Apen­nin­kloster, lieben diesen und je­nen, brausen durch die Welt, ver­ir­ren sich im Amazonasur­wald. Die Liste läßt sich fast be­liebig fort­setzen. Aber das war es auch schon. Die Geschichte wird noch ein wenig in die Zukunft ge­spon­nen, ohne daß sich da­durch ir­gend­etwas ändern würde. Die Per­spek­tive ist die von Begonia, die ih­rer Nich­te, also Amalias Tochter, alles erzählt. Aber dann ist sei­ten­lang diese Du-Be­zie­hung gar nicht wichtig, Begonia er­zählt mun­ter im Ich, und es hat ge­le­gent­lich den Anschein, als hät­te sich die Autorin daran er­in­nert, daß sie ja in der Du-Form schrei­ben wollte, und fügt statt “Ama­lia” “Deine Mutter” ein… Es wird nicht klar, wozu die Per­spek­tive eigentlich dienen soll.
Darin liegt die hauptsächliche Schwäche des Buches: Nichts be­deu­tet etwas. Alle Szenen, Fi­gu­ren, Ereignisse, die so rasch ab­laufen, wie wenn man ein Vi­deo schnell durchspulen läßt, sind einfach so da und im näch­sten Moment wieder weg. Jede Mei­nung, die geäußert wird, kann auf der nächsten Seite ver­ges­sen sein, von ihrem Gegenteil ver­drängt, entwertet. Die Ge­schich­te ist eigentlich ein Comic; es fehlt jeder Schatten, es fehlen Nu­ancen, Verflechtungen und Wir­kungen.
Nun deckt sich ja diese kurz­le­bige Bedeutungslosigkeit nur all­zu genau mit dem, was uns all­täglich umgibt (nehmen wir nur das Fernsehprogramm). Und es wäre packend zu lesen, was diese unsere Wahrnehmung für Fol­gen hat, es wäre brisant zu er­fah­ren, was in einem Menschen vor sich geht, der sich heute im Ur­wald etwas über die spirituelle Kraft des Mondes sagen läßt und mor­gen im Flugzeug große Ent­fer­nungen überwindet. Aber das ist für Gargallo alles kein Pro­blem.
Francesca Gargallo setzt ein­fach noch eins obendrauf, sie spielt das Spiel mit und merkt nicht, was für eines es ist. Ein Satz als Beispiel, der zugegebe­ner­maßen aus dem Kontext ge­ris­sen, aber doch typisch ist: “Als sein Flugzeug abhob, at­mete ich erleichtert auf.” So ein­fach ist das: Das Flugzeug hebt ab, schlenz, sie atmet auf, hach. Alles klar, Problem gelöst. Fünf­zehn Zeilen später schläft sie mit dem nächsten Mann.
Die Hast, mit der das Buch durch seine Geschichte stolpert, wird nie thematisiert. Aber es hat auch nicht den Anschein, als handle es sich um eine Parodie, um ein Dokument eines verpaß­ten Lebens, das uns auf dessen Ver­luste aufmerksam machen soll. Nein, die Eiligkeit, eine Bo­den­losigkeit im eigentlichen Wort­sinne, ist verinnerlicht, als Le­bensform akzeptiert, für nor­mal befunden. Die Comic-Figu­ren sind das Leben, und auf Schat­tierungen kann verzichtet werden.
Leider bleibt es nicht bei dem schauer­lichen Mangel an Refle­xion, denn auch sprachlich ist der Roman stellenweise unge­nieß­bar. Zwar ist die Unbedarft­heit, mit der die Personen durchs Le­ben geistern, in manchen Sze­nen gut getroffen, aber dazwi­schen stehen Formulierungen, bei denen sich einem das Nak­ken­haar aufrichtet. Ein Beispiel: “Mich für Roberto anzuziehen, mich von ihm ausziehen zu las­sen, eine bestimmte Bettwäsche auf unser Bett aufzuziehen, ge­mein­same Pläne zur Wohnungs­ver­schönerung, zu kochen und den Tisch für ihn mit Tischdecke und Blumen zu decken – das wa­ren Ausdrucksformen eines ritu­el­len Verhaltens, das ich in der zwei­fachen Absicht zelebrierte, ihm eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, daß er mir ge­fiel.” Die “gemeinsamen Pläne zur Wohnungsverschönerung” pas­sen weder grammatikalisch noch (in ihrem Bürodeutsch) sti­li­stisch in den Kontext. Hat ein “ri­tuelles Verhalten” “Aus­drucks­formen”, oder ist nicht ein Ri­tual selbst schon Ausdruck? Wei­ter: “die Wunde des Zu­rück­ge­wiesenseins”, “…die Per­so­ni­fi­zie­rung meiner eigenen Ab­leh­nung des Norma­len” – geht’s nicht ein bißchen ele­ganter?
Den Vogel schießt Gargallo mit folgendem Satz ab: “Mir ge­gen­über tat Amalia so, als seien die körperliche Verfassung ihres Man­nes, die Unmengen Tablet­ten, die er schluckte, und die Für­sorge, mit der sie selbst ihn um­gab, nicht so unübersehbar, daß ihre Angestrengung [sic], so zu tun, als habe sich in unserem Le­ben nichts verändert, sinnlos wur­de.” Dafür würde selbst ein Phi­losophiestudent in seiner Pro­se­minararbeit vom Professor ein “A” wie “schlechter Ausdruck” an den Rand gekritzelt bekom­men.
Daß der Eichborn Verlag Fran­cesca Gargallo im Klap­pen­text zur “neuen Generation er­folg­reicher feministischer Au­to­rin­nen Mexikos” rechnet, macht stut­zig – was ist an diesem Buch fe­ministisch? Daß die Er­zählerin ihre sexuellen Lüste und Fru­strie­rungen nicht draußenläßt, son­dern einbezieht? Daß am Schluß angedeutet wird, daß die drei Frauen zusammenziehen? Oder soll das heißen, daß von Frau­en geschriebene Literatur immer gleich feministisch ist? Wozu dann das Etikett? Zur Stei­ge­rung der Verkaufsrate, weil “fe­ministisch” gut klingt?
Schließlich wird noch be­haup­tet, diese Generation, zu der die Au­torin des Erstlings nun ge­hö­ren soll, wäre auch die von Ele­na Po­niatowska. Einmal ab­gesehen da­von, daß Poniatowska mit ih­ren ersten großen testimo­nios schon vor fast drei­ßig Jahren her­aus­kam (Hasta no verte, Je­sús mío, 1969/ La noche de Tla­te­lol­co, 1971), liegen zwi­schen ihr und Gargallo Welten von sprach­li­cher Qualität und in­halt­licher Tie­fe. Elena Po­nia­tow­ska als Zug­pferd vor ein schlech­tes Buch zu spannen, sollte ein Grund mehr sein, das Buch nicht zu kaufen.

Francesca Gargallo, Schwestern, Eich­born Verlag, Frankfurt/Main 1996, 166 S.

Ein Kongreß über Gedichte?

Wie Mitglieder eines Ge­heimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Ar­gen­tinien, Chile, Mexiko, Frank­reich, Deutschland und US-amer­ikanischen Universitä­ten nach Eugene, einer grünen Klein­stadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitz­nahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hin­dernisse vor sich, denn Flug­zeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich reg­nete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flug­zeugen ver­suchten sich die Teil­nehmer ge­genseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrah­lung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der an­deren, an Kleidung, spanisch­sprachigen Büchern, Witzen oder Kompli­menten. So waren unter den Pas­sagieren die Poeten von den Po­litikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Stu­denten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeit­um­stel­lungen, das Wiedersehen nach vie­len Jahren, Schreie, in­nige Um­armungen, Lachen: Die la­tein­amerikanischen Diktaturen ha­ben die Menschen über den gan­zen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle ge­legt hatten, ging es an die Arbeit.
“The Powers of Poetry in Spa­nish, Latin American and La­ti­no/a Cultures”, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur la­tein­amerikanische, sondern auch spa­nische Dichter und Lite­ra­tur­wis­senschaftler zusammen.

Übereinstimmungen und Kontraste im Blick

Die übli­che Aufspaltung nach Ge­ne­ra­tionen oder Ländern und die Aus­richtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, “die Über­ein­stimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – so­fern spanischsprachig – den USA be­stehen”, so Juan A. Epple, ei­ner der Organisatoren. Die über zweihundert Einsen­dun­gen, die im Vorfeld des Kon­gres­ses ge­zählt wurden, bewie­sen nach­drücklich, daß an der Be­schäf­tigung mit Lyrik reges In­teresse be­steht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert wer­den. So beschäf­tig­ten sich sechs parallele Ar­beitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebo­tenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Iden­tität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesun­gen und Übersetzungen, Das Ver­hältnis von Poesie und Mu­sik, Poetische Gerechtigkeit, Kör­per und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poe­sie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Re­fe­rate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Ga­briela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß Literaturwissenschaftle­rIn­nen mit LyrikerInnen zusam­menkamen und miteinander spra­chen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die spezi­ell eingeladen wurden und län­gere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich leben­der chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Ge­schichten, durch die die Gruppe In­ti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein “Memorial de Bonampak” vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand ein­bezogen ist… María Negroni, Ar­gentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre voll­tönenden Verse: “…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…” (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu blei­ben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwe­senheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollstän­dig­te Juan Gelman, in Mexiko le­bender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit ei­nes Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstan­den hat. Seine Stimme eines al­ten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.

Wohnhafte Schlangen und andere Viecher

Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein impro­vi­sierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwe­senden, den Fehlenden, den To­ten. Vom erst kürzlich verstor­benen Jorge Teillier die posthu­men Gedichte “Hotel Nube” (Ho­tel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, “Va­ca Mía” (Du meine Kuh) und “Ella y las ovejas” (Sie und die Schafe), und Omar Laras “Ser­pientes habitantes y otros bi­chos” (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Se­púlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit sei­nem frischen Humor: “…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…” (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, An­drés Morales: “El hombre que come palomas/ no conoce el Pa­raíso” (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Tex­te, die auf Chiloé, seiner chi­lenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit sei­nen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauri­cio Ostria schließlich stellte seine Schü­lerInnen aus Concep­ción, Chile, vor.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Eine der wichtigsten Sitzun­gen war der Vorstellung des Bu­ches “POESIdA” (span. si­da= Aids) gewidmet, einem kol­lek­tiven Werk unter Feder­führung von Carlos Rodrí­guez-Matar. Von Aids zu spre­chen, ist eine Sache, aber daß lateiname­ri­ka­ni­sche Männer Ge­dichte über Lie­be und Tod mit Blick auf die Krankheit schrei­ben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im ma­chistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar ei­ne weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeu­gen-den María Negroni zur liebe­vol­len, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: “Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla per­fectamente/ en su odio por lo que represento” (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich her­vor­ragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkör­pere). Alejandra Basualto, stark, ero­tisch, herablassend, zärtlich: “podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes” (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessio­nelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deut­licher Parteinahme für die aus­gelöschten indigenen Völker: “Cier­to día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo” (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).

Lyrik ist Wirklichkeit

Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, “sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben”, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu er­finden.
Auf dem Rückflug wird über Bord­funk bekanntgegeben, daß Clin­ton als Präsident wiederge­wählt wurde. Die Reaktionen der Pas­sagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In die­sem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: “I will work for food”. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirk­lichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Marienverehrung und Witwenkult

Greise Señoras durch­schreiten weiß­beschirmt ver­fallene Anwe­sen, “Bräute Christi” huschen durch Klöster, Marienpro­zes­sio­nen schaukeln durch dörfliche Gas­sen. Violeta Cha­morro thront ganz in Weiß im offenen Wagen, der fast zum “Mamamobil” wird, und winkt den Mas­sen zu. Weiß ge­gen Rot, die Oberschichts­dame Cha­morro gegen den san­di­ni­sti­schen Ex-Guerillero Or­te­ga, die Illusion der Un­be­fleckt­heit und statua­rischen Un­schuld ge­gen die Blutspritzer auf den Hem­den derjenigen, die für eine an­dere Zukunft gekämpft haben. Die aus Nicaragua stam­mende Re­gisseurin Ana Coyne Alon­so nä­hert sich ihrem post­revolutio­nä­ren Hei­matland über Chiff­ren und Symbole. White Dresses, ihre neueste Pro­duktion, verbin­det Doku­men­tar­auf­nah­men, Ar­chiv­material und Insze­niertes zu ex­pe­rimentellen Essays. Ver­knüpft wird dieses Bilder­patch­work durch einen Textfa­den, der eine Mi­schung aus Re­flektion und Meditation ist: “Mythen ent­ste­hen aus dem Schlaf­zyklus ei­nes Volkes” heißt es in White Dres­ses. Der Kult um Maria, um die “perfekte Frau”, vor einem hal­ben Jahrtau­send von den Con­qui­stadoren nach Amerika ge­bracht, entfaltet auch heute noch sei­ne Wirkung. White Dresses, den die in den USA auf­ge­wach­se­ne Coyne Alon­so wie fast alle ihre anderen Filme auf englisch kom­mentiert, hat zwar nicht viel Neu­es zum katholi­schen Frau­en­bild zu sa­gen, tut dies aber auf eine für einen politisch en­ga­gier­ten Film ungewöhnliche Wei­se: Ihre in schwarz-weiß ge­drehten As­so­ziati­ons­ketten haben eine vi­su­el­le Dichte, karge Poe­sie.
Ihren Videos merkt man an, daß hier eine Person am Werk ist, die die Reali­tät durch das Auge be­greift. Von 1986 bis 1992 arbeitete Ana Coyne Alon­so als Fotografin in Nica­ra­gua und als Presse­foto­gra­fin in Mos­kau. 1992 begann sie in der Ra­dio-, Film- und Fernsehabtei­lung von Uni­cef zu arbei­ten. Während ihres Film­studiums an der Uni­ver­si­tät von San Diego, Kalifor­nien, begann sie, ex­pe­rimentell an­ge­hauchte Doku­men­tar­filme über ihr Ge­burts­land Nica­ragua zu drehen. An­fang Dezember war eine Werk­schau ihrer Videos in ver­schie­de­nen deutschen Städten zu sehen.
La Caminata von 1994 zeigt eine ähnliche visuelle Kraft wie White Dresses, weist aber ei­nige Platt­hei­ten in der Drama­turgie auf: Während der Off-Text re­frain­förmig die Geschichte ei­ner Frau wiederholt, die auf der Su­che nach ihrem ver­schwun­de­nen Mann jahre­lang denselben Weg be­schreitet, durchschreiten eine alte und eine junge Frau in lan­gen Gewändern eine un­wirt­li­che Land­schaft. Ih­nen nähert sich bi­bel­schwenkend ein Prie­ster, der mit seinen hysteri­schen Zuckun­gen wie eine Mischung aus Me­phi­sto und harmlos-ner­vi­ger Übel­krähe wirkt. Die Ko­lo­ni­sie­rung der Frauen­seelen als hi­sto­ri­sches Gleichnis, dra­ma­tur­gisch streckenweise überinsze­niert. Beim Dokumentarvi­deo When God doesn`t hear (1992), das eine Frau erzählen läßt, de­ren Toch­ter 1987 bei einem Contra-Über­fall ums Le­ben kam, sind die Bilder dagegen streng und schlicht, werfen einen me­lan­cho­li­schen Blick auf das länd­li­che Ni­caragua, auf das Le­ben von Frau­en, deren Le­bens­rhyth­mus un­geachtet der gesell­schaft­li­chen Um­wäl­zungen nach wie vor durch Dinge wie Kühe­mel­ken und Kirch­gang struktu­riert ist.
Ganz anders dagegen Street­girls (1993), eine Auf­tragsarbeit für Unicef über Ju­gendliche, die auf den Straßen von Managua le­ben. Sie hausen in ver­fallenen Ge­bäuden, gehen anschaffen und schei­nen teil­weise schon mit dem Leben fer­tig zu sein. Für Mäd­chen wie Carmen ist die ein­zi­ge Zuflucht aus der Misere der Kleb­stoff. Als ihr Vater sie auf­stö­bert und mit ins Ausland neh­men will, bricht sie in Schluch­zen aus. Sie sieht die Reisepässe in seiner Hand und scheint keine Kraft zu ha­ben, um zuzu­greifen. Eine ab­grundtief traurige und an­rüh­rende Szene. Da es sich um einen Unicef-Film handelt, spielt na­türlich auch die Hoff­nung eine Rolle: Frauen werden interviewt, die mit Hilfe von Re­ha­bi­li­ta­tions­maßnahmen den Ab­sprung aus der Misere ge­schafft haben.
Von einem Sprung auf die an­dere Seite, der min­destens ge­nau­so schwer zu schaffen ist, han­delt Ana Coyne Alonsos kür­ze­stes und witzigstes Video Border Stretch (1995). Die Grenz­anlagen zwischen Mittel­ame­rika und den USA, ein Mann, eine Frau. Sie können zu­sam­men nicht kommen, aber we­nig­stens ein Kaugummi paßt durch die Maschen des Tortilla­vorhangs.

Friede, Freude, Strukturanpassung

Am Anfang stand der Friedensprozeß von Esquipulas in den 80er Jahren. Dort wurden die Grundlagen gelegt für den Integrationsprozeß in Mittelamerika, der, so die Hoffnung der Beteiligten, den kleinen mittelamerikanischen Ländern ein Stückchen vom Wohlstandskuchen verschaffen sollte. Dann kamen die WirtschaftsberaterInnen aus dem In- und Ausland: Zuerst müssen die mittelamerikanischen Volkswirtschaften ihre traditionelle landwirtschaftliche Exportproduktion steigern, so ihre Ratschläge. Danach soll mit den erwirtschafteten Devisenerlösen die Exportdiversifizierung und die Modernisierung der Agrarproduktion vorangetrieben werden. Landreformen sowie die Befriedigung sozialer Bedürnisse werden ebenfalls anvisiert. Dennoch wird allein der Rückgang der Exporterlöse seit Anfang der siebziger Jahre als Erklärung für den Ausbruch der bewaffneten Konflikte in den siebziger und achtziger Jahren angesehen – die ungleichen Bodenbesitzverhältnisse bleiben außen vor.
Entsprechend dieser Strategie wurden die Strukturanpassungsprogramme in Zentralamerika konzipiert und umgesetzt. Die Erfahrungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Länder Lateinamerikas. Das Besondere in Mittelamerika liegt vielleicht darin, daß die neoliberalen Reformen parallel zu den Friedensprozessen stattfinden. In allen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gab, wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen durchgeführt: In Nicaragua, El Salvador und zum Teil auch in Guatemala konnten sich die Regierungen und die bewaffnete Opposition über die Modalitäten für die Beilegung der Konflikte einigen. Die Friedensabkommen sind nichts anderes als die gegenseitige Verpflichtung, die bestehenden Gegensätze allein auf der politischen Ebene zu lösen.
Die neoliberalen Reformen werden aufgrund der politischen Instabilität von sozialen Ausgleichsmaßnahmen begleitet. So wurden in sämtlichen Ländern Zentralmerikas mit Hilfe internationaler Geldgeber die sogenannten Fondos de Inversion Social errichtet, Sonderfonds, die die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassung abfedern sollten. Da solche Instrumente nur für einen begrenzten Zeitraum und nur für die schwächsten sozialen Gruppen gedacht sind, ist es für die Regierungen außerdem notwendig, den Ausgleich mit den anderen Interessensgruppen der Gesellschaft zu suchen. In Guatemala und El Salvador wurde mit dem Foro de Concertación Social und der Asamblea de la Sociedad Civil Dialogforen geschaffen. Beteiligt sind daran drei Gruppen: Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften beziehungsweise Bauernorganisationen. In Honduras und Costa Rica gewannen die politischen Parteien die letzten Wahlen, die die Strukturanpassungsmaßnahmen kritisierten. Allerdings haben sie kaum Spielraum ihre programmatischen Alternativen umzusetzen. Die neoliberale Variante in Nicaragua erhält mit dem Wahlerfolg der Liberalen Allianz unter Arnoldo Alemán die politische Legitimation, makroökonomische und politische Reformen zugunsten der mächtigen Wirschaftselite durchzuführen.

Traditionelle Abhängigkeiten

Die Volkswirtschaften der fünf zentralamerikanischen Länder (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua) sind von vier traditonellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffee, Baumwolle und Zucker. Der Anteil dieser Produkte an den Gesamtexporten liegt weiterhin durchschnittlich bei über fünfzig Prozent. Und dies, obwohl seit Anfang der achtziger Jahre starke Anstrengungen unternommen wurden, die Exportpalette um sogenannte nicht-traditionelle Güter (zum Beispiel Krabben, Schnittblumen, Kardamom) anzureichern.
Die Investitionen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors sind im Zeitraum 1978-1995 mit Ausnahme Costa Ricas zurückgegangen. Der Rückgang der öffentlichen Investitionen läßt sich unschwer als Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme ausmachen. Demgegenüber kann der Rückgang der Privatinvestionen trotz verbesserter Investitionsförderung nur durch das fehlende Vertrauen des Privatkapitals in die politische Stabilität der Region begründet werden. Für das Auslandskapital hatten die mittelamerikanischen Länder schon in der Vergangenheit eine im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise liberale Investitionspolitik. Dabei bestand zwischen den Ländern im Grunde schon immer ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Auslandsinvestitionen. So sind heute noch nationale Unterschiede bei der Behandlung des Auslandskapitals festzustellen: Guatemala ist beispielsweise das einzige Land, das eine gleiche Behandlung für inländisches und ausländisches Kapital gesetzlich verankert hat. In El Salvador und Honduras sind Auslandsinvestitionen bei Kleinunternehmen verboten. Costa Rica, El Salvador und Honduras fördern die Auslandsinvestitionen, indem sie sie durch ihre Wechselkurspolitik begünstigen. Gleichzeitig wird in El Salvador und Honduras aber die einheimische Kleinindustrie geschützt. Aufgrund der schärfer werdenden Standortkonkurrenz ist für die nahe Zukunft bei allen Ländern mit einer weiteren Liberalisierung der Investitionspolitik zu rechnen. Damit werden die einheimischen KleinproduzentInnen verstärkt der übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt.

Instabilität durch Liberalisierung

Mit dem Abbau von Zöllen und anderen Schutzinstrumenten sind die Volkswirtschaften Mittelamerikas anfälliger gegenüber der Weltmarktkonkurrenz geworden. Für kleinere Volkswirtschaften wie die mittelamerikanischen, spielt der Schutzzoll auf ausländische Importe eine wichtige Rolle für die einheimische Industrie, denn die einheimische Produktion könnte sonst nicht mit den Preisen der Importgüter konkurrieren. Die Öffnung Zentralamerikas gegenüber dem Weltmarkt findet in einer Zeit statt, in der auf internationaler Ebene zahlreiche Gewichtsverschiebungen und Schwankungen zu verzeichnen sind. Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern verläuft ungleichmäßig. Trotz dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor zwei Jahren, ist bei vielen Produkten aus der Region ein verstärkter Protektionismus seitens der Industrieländer zu konstatieren. Zudem sind die Preise für die vier traditionellen Exportgüter weiterhin instabil. Die Tendenzen zur Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke gehen oft mit handelsumlenkenden statt mit handelsschaffenden Effekten einher. Kein Wunder also, daß in Zeiten höherer internationaler Schwankung die kleinen Volkswirtschaften Mittelamerikas mit einer ständigen makroökonomischen Instabilität konfrontiert sind.

Die Auslandsverschuldung

Die Gesamtschulden der fünf zentralamerikanischen Länder sind von 17,5 Milliarden US-Dollar 1985 auf knapp 24,5 Milliarden US-Dollar 1994 gestiegen. Aussagekräftiger ist indes der Anteil der Exporterlöse, die für den Schuldendienst aufgewandt werden müssen. Für die Region lag er 1994 bei 31,5 Prozent. Bei den einzelnen Ländern fällt er höchst unterschiedlich aus: Während Guatemala (11 Prozent), El Salvador (14,5 Prozent) und Costa Rica (14,6 Prozent) eine erhebliche Entspannung ihrer Schuldendienstsituation im Vergleich zum Jahr 1985 erzielten, liegen Honduras (34,9 Prozent) und Nicaragua (38,2 Prozent) weit über der von der Weltbank als akzeptabel eingestuften Obergrenze von 20-25 Prozent.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede ist die Belastung der Auslandsverschuldung für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich groß. Die Länder Zentralamerikas haben eine Auslandsverschuldung, die im Verhältnis zu ihrem Wirtschaftspotential um einiges höher ist, als die der anderen lateinamerikanischen Länder. Ein besonderes Problem stellt heute der auffällig hohe Anteil an multilateralen Schulden dar. Dieser ist insbesondere für El Salvador (57,2 Prozent), Honduras (46,7 Prozent) und Costa Rica (33,6 Prozent) sehr hoch. Ein hoher Anteil an multilateraler Auslandsverschuldung wirkt sich auf die Kreditwürdigkeit gegenüber anderen Gläubigern negativ aus und schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Umschuldungsverhandlungen.
Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten mußten die Regierungen schon Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen und die berühmt-berüchtigten letter of intents (Absichtserklärungen) unterzeichnen. Mit jenen verpflichteten sie sich, Anpassungsmaßnahmen durchzuführen, um die finanzielle Unterstützung für den Zahlungsbilanzausgleich zu erhalten. Die durchgeführten Maßnahmen (Liberalisierung der Wechselkurse, restriktive Geldpolitik, Senkung der Staatsausgaben undsoweiter) stehen aber zumindest kurzfristig im Widerspruch zu den wachstumspolitischen Zielen, die sich die Regierungen gesetzt haben. Die Schuldenverhandlungen mit dem IWF haben bislang kaum Handlungsspielraum für die erwünschte Wachstumsstrategie gelassen. Besser sieht es nur in El Salvador und Costa Rica aus. El Salvador profitierte von im Zusammenhang mit dem Krieg gewährten finanziellen Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und von den Geldüberweisungen der in den USA arbeitenden salvadorianischen BürgerInnen. Costa Rica konnte seine Exporterlöse bei traditionellen und nicht-traditionellen Gütern steigern. Ansonsten haben die Schuldenverhandlungen keine Entlastung der Verschuldungssituation erbracht. Sowohl Honduras als auch Nicaragua stehen heute auf der Weltbank-Liste der vierzig ärmsten Länder mit einer nicht zu bewältigenden Verschuldungssituation.

Die regionale Wirtschaftsintegration

Der gemeinsame zentralamerikanische Markt (MCCA) ist mit seinen 35 Jahren das älteste Integrationsprojekt in Lateinamerika und der Karibik. Seitdem vor etwa dreißig Jahren die ersten Zollvereinbarungen getroffen wurden, kommt die mittelamerikanische Integration nur im Schneckentempo voran. Die guten Absichten können nicht geleugnet werden. Davon zeugen der achtzehnte Präsidentengipfel, das Treffen mit der mexikanischen Regierung, das Treffen der Wirtschaftsminister und der Beauftragten für die regionale Integration und zahlreiche andere Zusammenkünfte von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Doch das Hindernis, das die reale sozio-ökonomische Lage dieser Länder darstellt, kann nicht ignoriert werden. Die zentralamerikanische Region durchlebt seit 1978 eine wirtschaftliche Krise, die sich in einem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Die sporadisch auftretenden Exporterfolge waren nur ein kleiner Kontrapunkt in dieser Entwicklung.
Neben den vielen Absichtserklärungen wurden auch Maßnahmen für eine Liberalisierung des Handels getroffen: Die zentralamerikanische Zollunion hat den gemeinsamen Außenzoll auf maximal zwanzig Prozent gesenkt, eine weitere Absenkung auf fünfzehn Prozent ist geplant. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Warenverkehr innerhalb der Zollunion frei. So hat sich das Volumen des Außenhandels von 1988 bis 1993 auf 1,13 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Doch Zollfreiheit hat nur eine begrenzte Wirkung, wenn es keine Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen gibt, um die Güter zu transportieren. In diesen Zusammenhang fällt auch das Urteil von Michael Porter, Professor an der Harvard University. Das Fazit seiner Studie über die Wirtschaftsintegration, die er den Präsidenten Mittelamerikas Mitte des Jahres vorlegte, ist ernüchternd: Kein einziges mittelamerikanisches Land verfügt über ein System, das den Frachttransporterfordernissen des Weltmarktes entspricht – ein ernstzunehmendes Hindernis für die Wirtschaftsintegration Mittelamerikas.
Dieses Defizit ist den Regierungen bewußt. Bei ihren Treffen wurden Gemeinschaftsprojekte in den Bereichen Stromerzeugung, Telekommunikation, Eisenbahn- und Straßenbau verabredet, die mit voller Kraft vorangetrieben werden sollen. Doch das Kardinalproblem bleibt bestehen: Woher soll das Geld kommen? Allein für ein Projekt zur Elektrifizierung der ganzen Region müßten 400 Millionen Dollar herbeigeschafft werden. Nicht einmal die Hälfte davon können die Regierungen über weiche Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Eigenmittel sind bei der herrschenden Finanzlage nicht vorhanden. Die Folgen für die anvisierte Integration wiegen schwer: Dem Vernehmen nach haben in Guatemala eine Reihe von Betrieben der Maquilaindustrie, der Werke US-amerikanischer Firmen, in denen lediglich Vorgefertigtes für den US-Markt zusammengesetzt wird, wegen Stromknappheit eine Verlagerung nach Mexiko beschlossen. So können sie einerseits auf eine effizientere Energieversorgung zurückgreifen und andererseits die Vorteile des NAFTA-Marktes ausnutzen.

Die Verhandlungen mit NAFTA

Obwohl der regionale Handel in den letzten fünf Jahren stark angestiegen ist, bleibt der US-Markt für Zentralamerikas Außenhandel von herausragender Bedeutung. Dementsprechend wird eine schnelle Anbindung an das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) angestrebt. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. So kann dem Acht-Punkte-Anforderungskatalog, der 1991 von der US-Handelsbeauftragten Carla Hills als Grundlage für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mittelamerika vorgelegt wurde, nicht ohne grundlegende Zugeständnisse entsprochen werden. Insbesondere Fragen des Marktzugangs, Investitionsregelungen, Umweltnormen, Streitschlichtung und Eigentumsrechte bedürfen einer Klärung.
Für die Nicht-Mitgliedsländer hat das NAFTA nicht zu unterschätzende Folgen. Im Falle Zentralamerikas kommt der größte Nachteil dadurch zustande, daß der seit 1983 gegenüber Mexiko durch die Initiative des Karibischen Beckens (CBI) erlangte Vorteil wegfällt. Dadurch wurde unter anderem den Ländern des MCCA, aber eben nicht Mexiko, der präferentielle Zugang zum US-Markt für diverse Produkte gewährt. Mexiko hat nun im Konkurrenzkampf mit Zentralamerika um Handel und Investitionen mit den USA seine Position wesentlich verbessert. Die Mindestlöhne in Mexikos Fabriken sind normalerweise niedriger als die in den beiden wettbewerbsfähigsten Ländern Mittelamerikas Guatemala und Costa Rica. Gleiches trifft auf die Transportkosten zu. Zudem sind die Investitionsbestimmungen in Mexiko viel liberaler und trotz zunehmendem Widerstand der mexikanischen Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Politik werden die anderen zentralamerikanischen Länder immer noch als politsch instabiler eingestuft.
Insbesondere zwei Kategorien von Exportgütern sind vom NAFTA besonders betroffen und geraten gegen mexikanische Konkurrenzprodukte in Nachteil: erstens jene Exportgüter, die nicht auf der Präferenzliste der CBI stehen (zum Beispiel Textilien und Kleidung) und zweitens jene Exportgüter, die aufgrund der CBI-Präferenzen eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit auf dem US-Markt erreicht hatten. Durch das NAFTA werden auch andere Vorteile aufgehoben. Für bestimmte nicht-traditionelle Exportgüter wie Honigmelonen, die aus den CBI-Ländern zollfrei in die USA eingeführt werden, fallen die Zollschranken auch für die anderen Länder schrittweise. Da Mexiko bei fast allen Exportgütern in offener Konkurrenz zu Zentralamerika steht, kommt es durch NAFTA automatisch zu einer Verschlechterung der Handelsposition der MCCA-Länder auf dem US-Markt.
Bislang haben die Verhandlungen als MCCA-Block mit dem NAFTA zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Auch die getrennten Verhandlungen mit Mexiko oder mit Kanada haben außer 20 Millionen Entwicklungshilfe nicht die Flanken des NAFTA geöffnet. Daraufhin wurde parallel zu dem Integrationsprozeß von einzelnen Ländern (Costa Rica) oder Ländergruppen versucht, bilaterale Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern von NAFTA zu erreichen. So besteht seit 1995 ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen Costa Rica und Mexiko.

Gescheiterte Strategie

Die Diversifizierung der Exporte hat trotz starker Exportsubventionen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Der Tourismus wuchs außer in Costa Rica und Guatemala nur mäßig. Auch für die nächste Zukunft bleibt Zentralamerika von seinen traditionellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffe, Zucker und mit abnehmender Bedeutung Baumwolle. Mit Ausnahme Costa Ricas liegen die Exportanteile dieser Güter in den restlichen Ländern bei über 50 Prozent der Gesamtexporte. Baumwolle erlitt seit Anfang der achtziger Jahre einen dramatischen Produktionsrückgang von jährlich 13 Prozent. Vor allem Nicaragua sah sich dadurch mit erheblichen Einkommensverlusten konfrontiert.
Gerade das Angebot dieser Exportprodukte reagiert aber relativ unelastisch auf Preisentwicklungen, das heißt produziert wird relativ unabhängig von den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Ein nennenswertes Potential zur Exportexpansion ist so auch bei Preissteigerungen nicht vorhanden. Folglich sind von diesen Branchen keine signifikanten Entwicklungsimpulse zu erwarten. Aber gerade eine auf diesen Produkten basierende Exportexpansionsstrategie steht im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme, die erfolglos in allen Länder Mittelamerikas seit Mitte der achtziger Jahre durchgeführt werden.
Die Friedensprozesse werden in einer Zeit abgeschlossen, in der die Ausgaben des Staates für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse stark gekürzt werden. In vielen Fällen könnte der soziale Friede gerade eben mit Hilfe von sozialen Abfederungsprogrammen gerettet werden. Die Folgen des NAFTA überfordern die Volkswirtschaften Mittelamerikas, die nun weniger Vorteile auf dem US-Markt genießen, während gleichzeitig die Verschärfung der Schuldensituation engere Handlungspielräume für den Binnenmarkt setzt. Es gibt aber kaum Grund zur Annahme, daß mit dem bisher gebildeten gesellschaftlichen Konsens die Herausforderungen bewältigt werden können, die durch die Verengung des Handlungsspielraums des Staates, die neoliberale Transformation und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten entstanden sind. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum ist eine kontinuierliche politische Stabilität notwendig, diese ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

Moderne Sklaverei für billige Kleider

Anders als in Mexiko wird in den Maquilas Zentralamerikas zu mehr als 80 Prozent für die Bekleidungsbranche produziert. Angesiedelt sind die Maquila-Unternehmen in den sogenannten Zonas Francas, den Freien Produktionszonen. Diese Industrieparks werden eingerichtet, um ausländische Investoren ins Land zu locken. Zollfreiheit, Steuerbegünstigungen und Billiglöhne halten dort die Fertigungskosten niedrig. Der Betreiber einer Maquila konkurriert gegen eine Heerschar von Mitanbietern. Die transnationalen Handelsriesen sind die eigentlichen Gewinner.
Von Außen sehen die Freien Produktionszonen aus wie Kasernen – mit bewaffneten Wächtern und Gittern an den Eingängen, die nur zur Mittagspause und am Feierabend geöffnet werden. Dann sieht man ein Heer von ArbeiterInnen das Produktionsgelände verlassen. Kaufen können sich die ArbeiterInnen die von ihnen angefertigten Produkte jedoch nicht. Denn produziert wird für den Weltmarkt, mehrheitlich für die USA. Unter Markenzeichen wie GAP, Eddie Bauer, Levi Strauss, Calvin Klein oder Wrangler erobern diese dann – made in USA – die Welt.
Führend in diesem Zusammenhang ist Honduras mit einem Exportvolumen auf den US-amerikanischen Markt in Höhe von 918 Millionen US-Dollar im Jahr 1995, gefolgt von Costa Rica mit 756 Millionen US-Dollar, Guatemala mit 682 Millionen US-Dollar und El Salvador mit 582 Millionen US-Dollar. Das Schlußlicht mit nur 73 Millionen US-Dollar bildet Nicaragua, das bislang nur über eine einzige Freie Produktionszone, Las Mercedes, verfügt – eine weitere wird gerade eingerichtet. Die Wachstumsdynamik ist dennoch enorm: Seit 1990 siedelten sich in Las Mercedes 18 Firmen an, die derzeit 10.000 ArbeiterInnen beschäftigen. Tendenz für gesamt Zentralamerika: steigend.
Allein in El Salvador gibt es nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits über 200 Maquila-Betriebe mit mehr als 60.000 Beschäftigten. Kaum war der unternehmerfreundliche Präsident Calderón Sol 1994 an der Macht, da hatte er für sein Land eine Vision: “Ganz El Salvador eine einzige Freie Produktionszone.” Rechtlich hat er dafür inzwischen die Voraussetzungen geschaffen. Abbau bürokratischer Hemmnisse und Förderung von Auslandsinvestitionen lautet seine vielbeschworene Formel. Die Spezialisierung auf niedrige Arbeitslöhne als komparativer Kostenvorteil im internationalen Handel ist Bestandteil dieser neoliberal geprägten, auf außenwirtschaftliche Öffnung und Deregulierung gerichteten Wirtschaftsreformen, die derzeit in den meisten zentralamerikanischen Ländern betrieben werden.
Sind es für US-Firmen vor allem die billigen Arbeitskräfte, die sie zur Verlagerung von Teilfertigungsprozessen nach Zentralamerika bringen, so ist es für asiatische Unternehmen der bessere Zugang zum US-amerikanischen Markt von Zentralamerika aus. Die asiatischen Textilgiganten haben die Heerscharen billiger Arbeitskräfte in der Region unter sich aufgeteilt: Japan investiert in Mexiko und Costa Rica, Taiwan in Honduras und Nicaragua, Südkorea in Guatemala und El Salvador.
“Die Länder in der Region haben wenig davon”, meint Eduardo Melendes, Wirtschaftsprofessor an der Nationaluniversität in San Salvador. “Sie schaffen zwar Arbeitsplätze, aber nur zu den Bedingungen der Maquila-Industrie.” Denn dem jeweiligen Land bringen die Freien Produktionszonen wenig Geld in die Staatskasse – keine Steuern, keine Zolleinnahmen, lediglich die geringen Löhne und die Mieten für die Fabrikanlagen bringen Devisen ein. Dieser Devisenbetrag ist jedoch eher unbedeutend. Für die Freien Produktionszonen in Costa Rica beispielsweise wurden diese Einnahmen 1993 auf 43 Millionen US-Dollar geschätzt, was 1,6 Prozent der Gesamteinnahmen des Landes aus Waren- und Dienstleistungsexporten entspricht. Auch der Transfer von Wissen und Technologie ist gering, da in den zentralamerikanischen Weltmarktfabriken fast ausschließlich einfache Tätigkeiten von angelerntem Personal ausgeführt werden. Nachfrageimpulse für die nationale heimische Industrie gehen von den Weltmarktfabriken gleichfalls nicht aus, da sie überwiegend vorgefertigte Teile aus dem Ausland beziehen. Selbst weit mehr als ein Drittel der Verpakkungskartons werden von den Unternehmen in Honduras und Costa Rica importiert.

Oasen der schweigenden Ausbeutung

Menschenrechtsverletzungen und Mißachtungen des Arbeitsrechts stehen in den Maquiladora-Fabriken Zentralamerikas auf der Tagesordnung.
Zu 80 bis 90 Prozent sind es Frauen, die in den Maquilas für ein Monatsgehalt zwischen 100 und 180 DM arbeiten. Bevorzugt werden junge Frauen im Alter von 18 bis 28 Jahren eingestellt, die leistungsstark und kräftig genug sind, um die hohen Arbeitsbelastungen auszuhalten.
Kollektive, das heißt für alle ArbeiterInnen einheitlich geltende Arbeitsverträge werden in den Maquilas nicht abgeschlossen. Auf Probe werden häufig mehr Frauen, als später überhaupt übernommen werden können, unbezahlt beschäftigt. Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall gibt es nicht, statt dessen droht die Entlassung – auch im Falle von Schwangerschaft.
Arbeitsschutz ist hier nur ein Fremdwort. Staub, Hitze und unzureichende Frischluftzufuhr verursachen bei einem Großteil der TextilarbeiterInnen Atmungsstörungen und Lungenerkrankungen. Migräne, Muskelschmerzen und Menstruationsausfall sind körperliche Reaktionen auf psychischen und physischen Druck. Die Rate der Fehlgeburten unter Arbeiterinnen in den Maquiladoras liegt über dem nationalen Durchschnitt.
Zehn bis zwölf Stunden täglich sitzen die Frauen auf Holzbänken ohne Lehnen, zu Hunderten in Zweierreihen angeordnet, an den Nähmaschinen, ohne aufstehen zu dürfen. Der Produktionsprozeß ist in kleinste Operationen zerlegt. Der bereits zugeschnittene Stoff wird nur noch nach Modell des zu fertigenden Produktes zusammengenäht. Jede Arbeiterin führt daher tagtäglich die gleiche Operation durch: näht Hemdkragen an oder die Ärmel zusammen – bis am Ende der Reihe das fertige Produkt herauskommt. Gearbeitet wird im Akkord unter Tempokontrolle und ständiger Überwachung durch die WerkmeisterInnen. Am Arbeitsplatz darf nicht gesprochen und nicht gegessen werden. Für einen Gang zur Toilette bedarf es einer Erlaubnis – und die wird nur zweimal am Tag erteilt. Davon abweichendes Verhalten wird bestraft – oft sogar mit Prügel, wie eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) belegt. Zur Disziplinierung müssen ArbeiterInnen in einigen Maquilas in El Salvador einen unbezahlten Arbeitstag lang mit dem Gesicht zur Wand stehen oder werden in sogenannten piezas frías (Kühlräumen) eingesperrt.
Kollektiv gegen derart sklavische Arbeitsbedingungen vorzugehen, ist nur sehr schwer möglich. Denn in allen zentralamerikanischen Staaten arbeiten die Arbeitsministerien, die eigentlich die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung überwachen müßten, eng mit den Unternehmen zusammen. Namen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen werden an die Maquila-BesitzerInnen weitergeleitet. Nach Schätzungen der ILO sind in den letzten drei Jahren in El Salvador mehr als tausend ArbeiterInnen wegen gewerkschaftlicher Organisierung auf die Straße gesetzt worden.
Fragt man nach dem Interesse der zentralamerikanischen Regierungen, die Gründung von Gewerkschaften in den zonas francas zu unterbinden, so lassen sich zwei Gründe nennen: Korruption und Angst vor Standortverlagerung der Maquila-Unternehmen. Es ist nachgewiesen, daß Angestellte des Arbeitsministeriums häufig bestochen werden – sei es durch direkte Bestechungsgelder oder dadurch, daß sie in den Konzernen als Unternehmensberater oder sogar als Personalchefs eingestellt werden. Die Regierungen ihrerseits befürchten, daß die Unternehmen bei einem hohen Organisationsgrad der Maquila-ArbeiterInnen abziehen und sich in den Industrieparks der Länder niederlassen, in denen Arbeitsrechtsbestimmungen widerstandslos mißachtet werden können oder die Löhne der Arbeitskräfte noch niedriger sind. So ist im Moment zu beobachten, daß in Nicaragua der Maquila-Sektor deshalb anwächst, weil Unternehmen aus Costa Rica wegen des höheren Lohnniveaus ihre Produktion nach Nicaragua verlagern.
Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Daten, zum Beispiel die Auslandsverschuldung, belegen die Abhängigkeit der zentralamerikanischen Länder von den Staaten des Nordens. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des IWF fordern den zentralamerikanischen Staaten enorme Haushaltseinsparungen ab. Kaum ein Land verfügt über bedeutende Bodenschätze oder verarbeitende Industrien, die Devisen in die Staatskasse bringen könnten. Zudem liegen die Arbeitslosenquoten in den zentralamerikanischen Staaten über 40 Prozent. In dieser prekären Situation ist es erklärbar, daß diese Länder nach kurzfristigen Lösungen Ausschau halten. Eine Entwicklungsperspektive ist damit freilich nicht verbunden.

KASTEN:
Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung

Am 1. August diesen Jahres stirbt in San Salvador die Textilarbeiterin Lourdes Rodríguez an ihrem Arbeitsplatz. Trotz starker Kopfschmerzen wurde ihr untersagt, einen Arzt aufzusuchen. Sieben Jahre lang arbeitete Lourdes bei Doall Enterprises. Sieben Jahre lang zog man ihr den Krankenversicherungsbeitrag vom Lohn ab und leitete keinen einzigen Pfennig weiter.
Gleiches geschah mit María Paula Rodriguez, 23 Jahre alt. Sie starb am 5. Oktober 1995 – ebenfalls an ihrem Arbeitsplatz. Auch ihr wurde der Gang zum Arzt verboten. Statt dessen verabreichte man ihr ein Medikament. Kurze Zeit später war sie tot. Maria Paula Rodriguez arbeitete bei Han Chang Textiles, einem Maquiladora-Betrieb in der Freien Produktionszone San Marcos in San Salvador.
Ebenfalls am 5. Oktober 1995 werden in der Fabrik Encasa y Esmodica in San Salvador 120 ArbeiterInnen mit der Begründung, KommunistInnen und Verbündete der Guerilla zu sein, entlassen. Die Fabrik, ein Maquiladora-Unternehmen, ist im Besitz der ARENA-Abgeordneten Milena de Escalón, der Schwester des Präsidenten El Salvadors Calderón Sol. Der wirkliche Grund für die Entlassung: Die ArbeiterInnen hatten dagegen protestiert, daß das Unternehmen über ein Jahr lang von ihnen eingezogene Sozialversicherungsabgaben nicht weiterleitete.
Am 28. Februar 1995 wird die Textilarbeiterin Deborah Guzmán aus dem Maquila-Betrieb L&L-Modas wegen des gewerkschaftlichen Engagements ihres Partners Felíx Gonzales in Guatemala entführt. Nach ihrer Freilassung erhält sie fortlaufend Morddrohungen. Im Sommer 1996 treten Deborah und Felix offiziell aus der guatemaltekischen ArbeiterInnengewerkschaft UNSITRAGUA aus. Sie wissen sich gegen den anhaltenden Terror nicht mehr zu wehren und zu schützen.
Flor de María Salguero, damals noch aktiv in der Gewerkschaft FESTRAS, wird im Mai 1995 in Guatemala-Stadt auf dem Weg zur Arbeit von ihr unbekannten Männern aus dem Bus gezerrt. Sie schleppen sie in ein Haus, wo sie geschlagen und vergewaltigt wird. Flor de Maria ist ebenfalls im Maquiladora-Bereich aktiv. Durch ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen in US-amerikanischen Maquila-Fabriken kam es 1994 im US-Kongreß zu einer Anhörung.

Guanacos und jaguares

Selbst Kommunalwahlen versetzen Chile in eine Art Ausnahmezustand: Wenn sich das Volk in Sachen Demokratie übt, werden Selbstverständlichkeiten des neoliberalen Alltags außer Kraft gesetzt. Supermärkte und Läden, die gewöhnlich an 365 Tagen im Jahr bis in den späten Abend hinein zum Kaufrausch einladen, bleiben diesmal geschlossen; bereits am Abend zuvor werden Gesetze aktiviert, die von einem tiefen Mißtrauen in die Einhaltung der ersten Bürgerpflicht sprechen: Einer im Volksmund ley seca genannten Regelung zufolge wird jeglicher Alkoholausschank und -verkauf streng geahndet, Versammlungen von mehr als fünf Personen sind unzulässig. Der den feierlustigen ChilenInnen heilige Samstag-abend fällt der “staatsbürgerlichen Verantwortlichkeit” zum Opfer.

Wahlkampf nach allen Regeln des Marktes

Auch im Jahre 6 nach der Machtübergabe an eine wieder demokratisch gewählte Regierung ist ein Urnengang auf nationaler Ebene noch keine Routinehandlung für die beinahe neun Millionen stimmberechtigten ChilenInnen. Und dennoch ordnete sich der Aktionismus des demokratischen Machtkampfes den weitgehend verinnerlichten Marktgesetzen unter. Uneingeweihten BetrachterInnen mochten die schier allgegenwärtige KandidatInnenwerbung auf allen Mauern und Straßen und die lautstarken Autokarawanen als Ausdruck eines überbordenden politischen Idealismus erscheinen, zu dem Chile nach zwei Jahrzehnten der Apathie zurückgefunden hat. Tatsächlich ist es lediglich eine Frage der Parteikassen und der persönlichen Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der KandidatInnen, ob für Stimmung gesorgt wird.

Die heimlichen Kandidaten: Foxley und Lagos

Im Vorfeld des 27. Oktobers mangelte es an Stimmung nicht. Schließlich hatten sich Regierung und Opposition tatkräftig darum bemüht, die Ergebnisse der in den 341 Gemeinden des Landes abgehaltenen Wahlen zu einem politischen Stimmungsbarometer von überregionaler Tragweite aufzuwerten: Politische Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich auf Gemeindeebene in einem weiterhin stark zentralistischen Chile kaum. In der Tat markierte das Datum die Halbzeit der aktuellen Regierungsperiode und den Auftakt zu den 1997 anstehenden Parlamentswahlen, bei denen über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und eines Teils der Senatorenämter entschieden wird.
Mit besonderer Nervosität – oder Zuversicht – erwarteten die Führungsriegen zweier am Regierungsbündnis Concertación beteiligten Parteien den Wahlabend: Innerhalb der nächsten Monate steht die Bestätigung des Vorsitzenden der Christdemokraten (PDC), Alejandro Foxley und seines Amtskollegen Jorge Schaulsohn von der sozialdemokratischen Sammelpartei Partido por la Democracia (PPD) auf der Tagesordnung. Foxley, der sich mit seiner wenig populistischen Amtsführung des Finanzministeriums in der ersten Regierung der Concertación kaum Anhänger in der chilenischen Bevölkerung geschaffen hat, gilt in der PDC immer noch als sicherer Kandidat der Koalition bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Daß ihm der PPD-Sozialist Ricardo Lagos, zur Zeit Minister für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, den Sessel in der Moneda abspenstig machen möchte, ist ein offenes Geheimnis. Auf seiner Haben-Seite kann Lagos, dessen Partei nicht einmal an die Hälfte christdemokratischer Wahlergebnisse herankommt, eine enorme Popularität verbuchen. Noch bewahrt er sich bei vielen ChilenInnen das Image des Mannes, der es 1988 als einer der ersten wagte, Pinochet öffentlich und live im Fernsehen anzuklagen.

Christdemokratische Schlappe

Die politische Landkarte, die sich am Abend des 27. Oktobers geformt hat, mißfällt der PDC am meisten. Entgegen allen Erwartungen steht sie als die Verliererin inmitten einer erfolgreichen Concertación da: Von den beinahe drei Prozentpunkten, die die Regierungsallianz im Vergleich zu den letzten Kommunalwahlen 1992 zulegen konnte (von 53,3 auf 56,02 Prozent), fiel nicht der geringste Teil auf die Partei von Präsident Eduardo Frei ab – im Gegenteil. Um annähernd drei Prozente schrumpfte sie zugunsten ihrer tendenziell sozialdemokratischen Bündnispartner zusammen. Sozialisten (PS), PPD und Radikale konnten jeweils zwischen 3 und 1,5 Prozent wachsen. Spektakulär erscheint diese Gewichtsverschiebung vor allem im Hinblick auf die Rolle, die nun der kürzlich aus der Wiedervereinigung von Partido Radical und Socialdemocracia hervorgegangenen PRSD zukommen wird. Als Zünglein an der Waage kann die älteste Partei Chiles, die im vergangenen Jahrhundert als bürgerlich-liberale und laizistische Bewegung entstanden war und nach ihrer Spaltung 1971 zumindest teilweise an der sozialistischen Regierung Allendes teilhatte, sich nach Belieben auf die “linke” oder “rechte” Seite der Concertación schlagen. Ob sie zusammen mit dem Block PS/PPD die Christdemokraten zur Minderheit macht oder den entgegengesetzten Weg wählt, hängt im weiteren von der innerkoalitionären Diplomatie ab.

UDI im Aufwind

Strahlende Gesichter auch bei der Rechten: Sie hat zwar um ein Haar das “historische Drittel” von 33 Prozent verfehlt, befindet sich jedoch weiterhin im Aufwind. Profitieren konnten die beiden untereinander in stetem Clinch liegenden Parteien – die seit Jahr und Tag pinochettreue Unión Democrática Independiente (UDI) und die gemäßigtere Renovación Nacional (RN) unter ihrem jungcharismatischen líder Andrés Allamand – vom Absturz des Errazurismo, der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung von Großunternehmer und Allround-Talent Francisco-Javier Errázuriz. Die Quittung für deren Uneinigkeit bei der Kandidatenauslese und die programmatische Leere jenseits der Person ihres Caudillos war ein Einbruch von über 5 Prozent der Stimmen.
Auch die Rechte hat spätestens seit dem 27. Oktober einen handfesten Führungsstreit. Ungeachtet der Tatsache, daß RN mit gut 18 Prozent das rechte Lager eindeutig dominiert und ihre Position als landesweit zweitstärkste Partei ausgebaut hat, setzte der Erdrutschsieg des UDI-Kandidaten Joaquín Lavín im Stadtteil der Hauptstadt Las Condes, Wohnort der oberen Zehntausend, neue Akzente. Die Amtsführung des Chicago-Boy, der es sich nicht nehmen ließ, zu wichtigen Fragen der Gemeindepolitik plebiszitäre Abstimmungen durchzuführen, wurde jenseits aller Parteiloyalitäten mit einem Ergebnis von knapp 80 Prozent belohnt. Der Bürgermeister von Las Condes als künftiger Präsident? Las Condes ist nicht Chile, lautet die Devise bei RN, der kein spektakulärer Einzelsieg gelang.
An Erfolgen wie dem Lavíns läßt sich freilich auch die fehlende Aussagekraft landesweit kumulierter Stimmenanteile für einzelne Parteien ablesen. Die ChilenInnen haben in den meisten Gemeinden mehr Wert auf eine glaubwürdige Administration und auf herausragende Persönlichkeiten, denn auf Parteiprogrammatik und Ideologie gelegt. In der Ersten Region, in der die PDC mehrere Parlamentarier stellt, kam sie angesichts populärer sozialistischer Bürgermeister nicht einmal auf 8 Prozent; ihr Kandidat für Santiago-Centro, Jaime Ravinet, steht mit über 45 Prozent Zustimmug auf der Liste der besten Ergebnisse im Land, obwohl sein Wahlkreis 1993 keinen einzigen christdemokratischen Abgeordneten oder Senator in den Kongreß von Valparaíso entsenden konnte.
Schlechte Karten hatte bei den Kommunalwahlen die linke Opposition, die dank der “binominalen Mehrheitswahl” auf nationaler Ebene auch eine außerparlamentarische ist. Zwar fielen die Kommunisten (PC) nicht unter die Schmerzgrenze von fünf Prozent, in ganz Chile sind sie jedoch nicht einmal mit einer Handvoll ihrer Politiker in den Gemeinderäten vertreten. Dabei hatten einige KandidatInnen der PC beachtliche Erfolge erzielt. Die Unterrepräsentierung ist auch in diesem Fall dem komplizierten System der Sitzverteilung geschuldet, das qua subpacto vielen Verlierern im Schlepptau erfolgreicher Bündnispartner den Weg in die concejos municipales eröffnete.
Keinen Profit konnte die PC aus dem zunehmend aufgeheizten sozialen Klima im Land ziehen. Seit mehreren Monaten meldet sich die Arbeitnehmergruppe, die eine reale Möglichkeit zu breitem gewerkschaftlichen Zusammenschluß – und zum Streik – besitzt, zu Wort: der öffentliche Dienst. Ist es der einst durch die Militärs zerschlagenen und in der Demokratie nur mühsam wiedererweckten Gewerkschaftszentrale CUT durch die höchst unternehmerfreundliche Arbeitsgesetzgebung kaum möglich, betriebsübergreifende Arbeitsniederlegungen zu organisieren, so protestieren Lehrer, Verwaltungsangestellte und Krankenschwestern mit wachsendem Unmut gegen miserable Löhne und inhumane Wochenarbeitszeiten. Anfang Oktober waren die LehrerInnen an der Reihe, die unter der Führung des Kommunisten Jorge Pavez auf die Straße gingen. Trotz anhaltenden Beteuerungen, das Haushaltsgleichgewicht vertrage keine Gehaltsangleichungen, und trotz der Auswechslung des Erziehungsministers (neben vier anderen Kollegen in politisch strapaziösen Ministerien) erreichte die Lehrerschaft teilweise ihre Ziele. Keine einschneidenden Verbesserungen, wenig Aussicht auf eine Verringerung der bis zu 70 Wochenstunden, aber immerhin merkliche Erhöhungen ihrer Bezüge.

Der öffentliche Dienst geht auf die Straße

Nach diesem relativen Erfolg ließen sich die Gemeindeangestellten nicht zweimal bitten und traten in den Ausstand, mit der zusätzlichen Drohung, die Durchführung der Wahlen zu boykottieren. Aus den staatlichen Krankenhäusern, die für die Versorgung des nicht vom privatisierten Gesundheitssektor abgesicherten Teils der Bevölkerung zuständig sind, drangen ähnliche Botschaften, mit dem Hinweis auf die katastrophale Ausstattung und den drohenden Bankrott.
Daß sich die zunehmende soziale Mobilisierung nicht stärker in den Wahlergebnissen niederschlug, hat auch mit dem instrumentellen, eher unpolitischen Charakter der erhobenen Forderungen zu tun. Nicht lange auf sich warten ließen auch kritische Stimmen, die gerade im Arbeitskampf der – meist noch zu Pinochets Zeiten eingestellten – Gemeindeangestellten einen von reaktionären Kräften angestoßenen Versuch der Destabilisierung von Freis Regierung erkennen wollen. Wie dem auch sei, die chilenische Demokratie bedient sich gerne einmal althergebrachter Rezepte zur Befriedung: Als die Streikenden zusammen mit der CUT am 23. Oktober zu einer nicht genehmigten Demonstration in unittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes aufriefen, wurden die in letzter Zeit seltener in Erscheinung getretenen Wasserwerfer und Tränengaskanonen von Spezialeinheiten der Polizei ohne weitere Rücksichtnahme eingesetzt. Das erneute Auftauchen der im Volksmund guanacos genannten Wasserwerfer stellte für die Kolumnisten der Zeitschrift Hoy eine Rückkehr zur landesüblichen Fauna dar: Seit geraumer Zeit bedenken selbstbewußte chilenische Politiker ihr prosperierendes Land mit dem Ehrentitel jaguar – eine Art südamerikanische Variante der ostasiatischen “Tiger”.
Das repressive Erbe der Diktatur kam auch zwei Tage nach dem Wahltag zum Vorschein, als Gladys Marín, die Generalsekretärin der PC auf offener Straße von einem Sonderkommando der Kriminalpolizei verhaftet wurde. Grundlage dafür war eine Verleumdungsklage des Heeres, nachdem die Politikerin am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, in einer Rede vor dem zentralen Denkmal für die unter dem Militärregime Verschwundenen Pinochet mit deutlichen Worten zur Rechenschaft gezogen hatte. Freilich wurde die Klage etwas kleinlaut zurückgezogen, als die Vorsitzenden aller Regierungsparteien geschlossen Solidarität mit der sonst eher ungeliebten Kollegin bewiesen und ihr noch am selben Tag eine Visite in der Untersuchungshaft abstatteten.

Politikverdrossenheit jenseits der Anden

Spätestens bei den Kongreßwahlen im kommenden Jahr wird sich klären, wieviel Engagement die eigentlichen Parteien mit ihrer Programmatik bei der Bevölkerung auslösen können, und ob die große Masse der Zukurzgekommenen weiterhin die Administration der concertacionistas belohnt. Ein deutliches Zeichen ihres Desinteresses an einer von Technokraten gestalteten Politik ohne nennenswerte Alternative haben die beinahe zwei Millionen Wahlberechtigten gesetzt, die sich auf unterschiedliche Art und Weise enthielten. Über eine Million – vor allem NeuwählerInnen – verzichteten auf den Eintrag in die Wahlregister, knapp 500.000 Wahlpflichtige ließen sich unter Hinweis auf Krankheit oder zu große geographische Entfernung von ihrem Wahlort freistellen. Etwa ebensoviele sahen zwar keine Möglichkeit, ihrer Verpflichtung nicht nachzukommen – Wahlverweigerung wird mit empfindlichen Geldstrafen sanktioniert -, brachten aber ihren Verdruß zum Ausdruck, indem sie ungültige Stimmzettel abgaben.

Kindesmißbraucg in der “Kolonie der Würde”

Eine Frau hatte Schäfer im Juni 1996 beschuldigt, ihren Sohn sexuell mißbraucht zu haben. Ob es zu einer Verhaftung und einem späteren Prozeß kommen wird, bleibt abzuwarten. Im Laufe der mittlerweile 35-jährigen Geschichte der Sekte auf chilenischem Boden hat es ihr Führer Paul Schäfer immer wieder geschafft, Verhaftungen und Nachprüfungen zu entgehen. Schon 1961, noch in Deutschland, war Paul Schäfer wegen Kindesmißbrauchs angezeigt worden. Die Staatsanwaltschaft in Bonn kam damals nicht mehr dazu, die Ermittlungen erfolgreich zu Ende zu führen. Bevor weitere Kinder gehört und Schäfer verhaftet werden konnte, hatte er sich bereits nach Chile abgesetzt. Seine Anhänger folgten ihm später. Dort tauchte er erst einmal auf dem großen Landgut der Sekte unter. Offiziell war er wieder aus Chile ausgereist. Die Sektenmitglieder erklärten, er sei tot. Erst nachdem die Delikte verjährt waren, leugnete die Sekte nicht mehr die Existenz ihres Führers, der bis heute darauf bedacht war, nie eine offizielle Funktion in der Sekte wahrzunehmen. An den Vorwürfen der chilenischen Mutter wird es keinen Zweifel geben. Ehemalige Sektenmitglieder bestätigen, daß sich Schäfer auch in Chile an Jungen vergangen hat. Zwei “Springer”, wie sie in der Sektensprache genannt wurden, mußten ihn ständig begleiten.
Noch immer leben in der Colonia Dignidad, nahe der Provinzstadt Parral in Südchile, 250 deutsche Staatsangehörige und 50 Chilenen. Ende 1995 waren schon einmal Haftbefehle gegen zwei führende Mitglieder der Sekte, Herman Schmidt und Kurt Schnellenkamp, wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ergangen.

Die Colonia Dignidad als Folterlager der DINA

Diese Haftbefehle waren offensichtlich die Folge des Abschlußberichtes des “Untersuchungsausschusses zur Auflösung der Rechtspersönlichkeit der Colonia Dignidad” des chilenischen Abgeordnetenhauses vom 15. November 1995. Die Verhafteten kamen gegen Zahlung einer Kaution frei. Die Kommission unter Leitung des sozialistischen Abgeordneten Jaime Naranjo hatte zahlreiche Verstöße gegen chilenische Gesetze festgestellt, auch wegen nicht gezahlter Steuern. Zur Unterdrückung der Rechte der Gruppenmitglieder hatte die Kommission festgestellt: “Es scheint weiterhin starke Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit der Einwohner der früheren Kolonie und im Briefgeheimnis zu bestehen.
Zu der Tatsache, daß die Colonia Dignidad nach dem Pinochet-Putsch im Jahre 1973 als Folterlager der DINA diente, sagte der Kommissionsbericht nichts. Darum bemüht sich eine Gruppe von etwa 80 ChilenInnen, die damals von der Geheimpolizei verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt und dort gefoltert worden waren.
Derweil lebt die Colonia Dignidad weiter. Zwar hatten die Berufungen gegen die Auflösung der “Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” durch das Justizministerium vom 31.1.1991 keinen Erfolg, die Sekte hatte jedoch schon vorher sämtliche Vermögensgegenstände und Grundstücke auf andere Gesellschaften, die im Eigentum von Sektenmitgliedern standen, übertragen, so daß das Auflösungsdekret praktisch ins Leere lief.
(Die LN haben über die Colonia Dignidad seit Jahren immer wieder berichtet, zuletzt in den LN 227, im Dezember 1989 gab es ein Sonderheft und im Januar 1988, Nr. 166, ein Schwerpunktheft zur Colonia Dignidad)

EZLN: Keine Verhandlungen mit Regierung

LN: Nach langer Unterbrechung kam eine Delegation der EZLN wieder zu Gesprächen nach San Cristóbal, allerdings nur mit den Vermittlerorganisationen und nicht mit der Regierung, wie eigentlich geplant. Gibt es Fortschritte?

David: Die Friedensgespräche wurden unterbrochen, weil es keine Anzeichen für echten Friedenswillen der Regierung gibt. Wir haben fünf Mindestforderungen zur Wiederaufnahme der Gespräche genannt. Diese sind bisher noch nicht erfüllt worden. Aber es hat kleine Fortschritte gegeben. Zumindest ein Punkt, die Einrichtung der Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen (COSEVE), ist am 7.11.96 erfolgt. Aber alle anderen Punkte stehen noch aus. Und von Seiten der chiapanekischen Regierung hat es massive Provokationen gegeben. Indígenas werden vertrieben, entführt und ermordet. So wurde vor drei Tagen eine friedliche Demonstration von Campesinos im Landkreis Venustiano Carranza gewaltsam von Polizei und Militär aufgelöst. Anstatt mit den Campesinos über ihre Forderungen nach Anhebung der Maispreise zu verhandeln, wurden drei Campesinos durch staatliche Truppen erschossen und weitere fünf schwer verletzt. Unter solchen Bedingungen kann es keinen Friedensdialog geben, weil die Regierung von Chiapas keinen Frieden will.

LN: Welcher Form kann die Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen COSEVE Druck auf die Regierung ausüben?

Zepedeo: Zunächst geht es um das im Februar geschlossene Abkommen über die Rechte und Kultur der indigenen Völker, dem für uns wichtigsten Punkt. Bisher ist es durch die Regierung nicht umgesetzt worden. Die COSEVE wird prüfen, inwieweit den Worten Taten folgen. Die COSEVE wird die Nichteinhaltung des Abkommens offensichtlich machen und mit der Zivilgesellschaft Druck ausüben.

LN: Wie bewertet Ihr die Morde in Venustiano Carranza und den Überfall auf CONPAZ, sowie die Repression gegenüber internationalen BeobachterInnen?

David: Das sind Versuche der Regierung von Chiapas, den Friedensprozeß zu stoppen. Die Regierung ist sehr verärgert über die Gruppen, die sich für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde einsetzen. Die Präsenz von internationalen BeobachterInnen ist für die Regierung negativ, da sie ZeugInnen dessen sind, was wirklich in Chiapas passiert. Die Attacken sind Teil des Planes, die wirklichen Zustände zu verschleiern und den Friedensprozeß zu sabotieren. Besonders im Norden von Chiapas herrscht ein Klima des Terrors. Campesino-Organisationen und Mitglieder der PRD werden eingeschüchtert und bedroht. Verantwortlich dafür sind direkt der Gouverneur von Chiapas Ruiz Fero und der Innenminister Eraclio Zepeda und die gesamte Bande der PRI. Die Auflösung der Weißen Garden ist ebenfalls eine unserer Mindestforderungen. Ohne sie wird es keinen Friedensdialog geben. Das haben wir erklärt und dabei bleibt es.

Lateinamerika – ein kultureller Hybrid

Der Begriff Hybridisierung ist zentral in deinen beiden letzten Büchern (“Consumidores y ciudadanos” und “Culturas híbridas”, Anm.d.Red.). Du benutzt ihn, um die Veränderungen seit den 70er Jahren in Lateinamerika zu beschreiben. Andererseits scheinst du damit einen neuen Begriff prägen zu wollen im Gegensatz zu anderen, deren Erklärungskraft nicht ausreicht. Was genau meinst du, wenn du von Hybridisierung sprichst?

Ich verwende den Begriff der Hybridisierung um die Vielfalt und das
Potential neuer Kombinationen zu beschreiben. Heutzutage verknüpft sich das Religiöse mit dem Politischen, das Künstlerische mit dem Kommunikativen und um diese Form erklären zu können, ist ein umfassender Begriff notwendig. Schon seit langem haben Menschen in Literatur, Kunst und Kultur über den hybriden Charakter Lateinamerikas nachgedacht und geschrieben, ohne allerdings den Begriff Hybridisierung zu verwenden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Grossteil der Untersuchungen über mestizaje und sincretismo spielen auf das Phänomen der Hybridisierung an. Ich wollte mich aber gegen diese früheren Arbeiten abgrenzen. Einerseits weil eine Vielzahl von ihnen nur eine einzelne, bestimmte Art von Hybridisierung analysiert. Zum Beispiel ist mit mestizaje immer die Hybridisierung von Menschen”rassen” gemeint. Oder Leute, die über Synkretismus schreiben, meinen nur religiöse Hybridisierung. Ich glaube aber, daß das Besondere seit der Mitte dieses Jahrhunderts ist, daß sich die unterschiedlichen Arten von Hybridisierung vermischen und kulturell miteinander verknüpfen. Es ist nicht mehr so, daß sich nur eine Religion mit der anderen vermischt. Stattdessen gibt es heute immer weniger orthodoxe Formen von Religionen. Dasselbe gilt für ethnische oder soziale Gruppen. Es gibt heute keine “Reinformen” mehr. Stattdessen verknüpfen sich alle diese Formen miteinander.

Welche Verbindungen gibt es zwischen deiner früheren Arbeit “Culturas híbridas” und deinem neuen Buch “Consumidores y ciudadanos”? Was sind die Hauptthemen deiner neuen Arbeit?

In Consumidores y ciudadanos greife ich einige Fragestellungen aus Culturas híbridas wieder auf und betrachte sie in einem anderen Licht. In den fünf Jahren nach dem Erscheinen von Culturas híbridas haben sich die nationalen und internationalen Bedingungen verändert, unter denen Prozesse der Hybridisierung stattfinden. Um nur einige solcher Bedingungen zu nennen: Ich meine den Freihandelsvertrag NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada, Mercosur in Südamerika oder einzelne Verträge zwischen Lateinamerika und Europa oder den USA. Auch die Migrationsbewegungen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Ich meine, daß Multikulturalismus Hybride erzeugt, und ich glaube, daß Hybridisierungsprozesse zwischen Menschen wichtiger geworden sind als die, die in der Welt des Kapitals und in den Massenmedien vonstatten gehen.
Schließlich haben sich elektronische Kommunikationsnetze ausgebreitet, die den Austausch von Botschaften erleichtern. Diese elektronische Kommunikation wirkt multiplizierend, intensivierend und bis zu einem bestimmten Grad auch demokratisierend. Als E-mail oder Internet ermöglicht sie Prozesse der Horizontalisierung von Kommunikation. Das heißt, Menschen sind nicht nur entweder SenderInnen oder EmpfängerInnen von Nachrichten, sondern können beides sein, vor allem beides gleichzeitig. E-Mail und Internet erweitern aber vor allem auch die Möglichkeiten internationaler Kommunikation. Dadurch können neue Kommunikationskreise zwischen NGOs oder alternativen Gruppen aufgebaut werden, allerdings natürlich auch zwischen den “großen” transnationalen Kräften. All das hat die Bedingungen verändert, unter denen Hybridisierung heute stattfindet.

Wie zeigen sich denn diese Veränderungen im Alltag und wie verändern sie konkret die politische Kultur in Lateinamerika?

Die größeren internationalen Kommunikationskreise breiten sich auch innerhalb der Bevölkerung eines einzelnen Landes immer weiter aus, obwohl bisher nur eine Minderheit der Bevölkerung Zugang zu den neuesten Technologien hat. So werden Formen der Aufnahme und Verarbeitung von Nachrichten und der Aneignung und Verknüpfung von Informationen und Gütern komplexer und vielfältiger, und Hybridisierung nimmt immer komplexere Formen an. In jeder mittelgroßen Stadt ist das Repertoire an Gütern und Nachrichten, die den lokalen Raum überschreiten, vielfältiger als noch vor zwanzig Jahren. Die Möglichkeiten, wie Menschen Nachrichten auswählen und verknüpfen haben sich deshalb vervielfältigt. Alle neuen Forschungen zeigen, daß Menschen Nachrichten nicht passiv empfangen, sondern kontinuierlich und individuell verändern.

Du sagst, daß Lateinamerika gegenwärtig aus “BürgerInnen des 18. Jahrhunderts und KonsumentInnen des 20. Jahrhunderts” besteht. Welche Möglichkeiten intellektueller und praktischer Einflußnahme gibt es heute in Zivilgesellschaften ?

In den letzten Jahren sind traditionelle Formen politischer Represäntation, wie Parteien, Gewerkschaften, StudentInnenorganisationen zerfallen. Öffentlichkeit hat sich von ihren konventionellen Orten weg und hin zur massenmedialen Sphäre verlagert. Die Definition, wer BürgerIn ist und wie Beteiligung aussehen kann, muß sich in diesem massenmedialen Bereich bewegen, wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung haben will. Fragen der Repräsentation und der Zugehörigkeit werden heute großenteils in der Sphäre des Konsums, der Aneignung von Gütern und in der Interaktion mit Massenmedien beantwortet und nicht mehr im Verhältnis zu Parteien oder den “klassischen” Institutionen politischer Repräsentation. Internationale ökonomische und politische Zusammenschlüssen zwingen uns, auch Öffentlichkeit international zu denken. Die Definitionen, wer BürgerIn ist und was ihre/seine Rechte und Einflußmöglichkeiten sind, muß also auch die traditionellen Grenzen des Nationalstaats überschreiten.

Läßt sich Politik denn überhaupt außerhalb von Konsum denken?

Ja, ich glaube, Politik existiert außerhalb von Konsumkreisläufen oder erschöpft sich jedenfalls nicht in ihnen. Dennoch findet heute ein Großteil dessen, was wir früher politische Bewußtseinsbildung oder das Schaffen eines kritischen Bewußtseins der Welt genannt haben, in einer Auseinandersetzung mit dem Lebensalltag des Konsums statt, mit Fragen der Lebensqualität, oder der Aneignung von Gütern. Diskussionen drehen sich nicht mehr so sehr um große historische Sprünge oder um die Veränderung ganzer Gesellschaftsmodelle.

Solange ein Großteil der Bevölkerung Lateinamerikas nicht mal Zugang zu minimalem Konsum hat, glaubst du nicht, daß du das Verhältnis von Konsum und Politik und die Rolle von Massenmedien überbetonst? Sind nicht andere soziale Netze und Beziehungen entscheidend, wie zum Beispiel klientelistische Beziehungen in der Politik oder Netzwerke kollektiven Handelns, die überhaupt erst den Zugang zu Mitteln, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ermöglichen?

Vielleicht ist es hier notwendig, klarzustellen, daß ich in der ersten Hälfte von Consumidores y Ciudadanos vor allem urbane Veränderungsprozeße beschreibe und die Auswirkungen, die die Veränderungen in den großen lateinamerikanischen Städten auf politische Beteiligung haben. Ich betrachte aber diese großen Städte in gewisser Weise auch als massenmediale Systeme, die nicht nur auf ihrem eigenen Territorium vernetzt sind, sondern auch international. Deshalb spreche ich von “Globalen Städten”. Ich will aber nicht andere Netzwerke von Zusammengehörigkeit vergessen, wie zum Beispiel Nachbarschaftsgruppen oder Jugendgruppen. Außerhalb oder neben massenmedialen Netzwerken bleiben diese Gruppen oder andere Formen der Zusammenschlüsse natürlich wichtig, aber beide interagieren auch miteinander.

In deinem Buch forderst du eine neue Art von Intellektuellen, die radikal die Grenzen ihrer Disziplinen überschreiten sollen. Was für ein Profil müssen Intellektuelle haben, die über aktuelle kulturelle Veränderungen nachdenken?

Ich glaube nicht, daß man von einem einzelnen Typ Intellektuellen sprechen kann. Genausowenig wie es ein einzelnes Motiv für politische Bewegungen gibt oder ein einzelnes Gesellschaftsmodell, das im Moment wünschenswert und praktikabel wäre. Ich würde deshalb im Plural sprechen, von den unterschiedlichen Profilen. Ich glaube auch, daß es weiterhin Intellektuelle geben kann, die sich nur einer Disziplin zurechnen und diese dann – teilweise sehr gut – ausüben. Sie sind dann gute SoziologInnen oder AnthropologInnen oder SpezialistInnen in Kommunikation oder Literaturgeschichte. Ich weiß auch, daß es viele institutionelle und vor allem ökonomische Anreize gibt, die dazu führen, daß Leute ihrer Disziplin treu bleiben. Mir aber erscheint es attraktiver, verschiedene Disziplinen zu durchqueren und nach unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Vorgang zu suchen. Daraus will ich aber kein Dogma machen. Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre kann man sehen, daß die Kulturstudien, die mit dem starken Impetus angefangen haben, Grenzen von Disziplinen zu überschreiten, später dann auch keine allzu großen theoretischen Entwürfe mehr geliefert haben. Jedenfalls haben sie nicht die Existenz der Einzeldisziplinen überflüßig gemacht.

Du selber hast dich zum hybriden Intellektuellen entwikkelt, insofern du viel mehr als früher die US-amerikanischen kulturwissenschaftlichen Debatten in deine Gedanken integrierst…

Wie der Großteil der Menschen vom Rio de la Plata bin ich mit einem ständigen Blick nach Europa großgeworden, vor allem nach Frankreich. Da bin ich dann auch hingegangen, intellektuell und physisch, habe vor allem über Sartre und Merleau-Ponty gearbeitet und später dann mit und über Bourdieu. Der ist für mich auch der attraktivste und systematischste Soziologe überhaupt geblieben. Ich glaube, daß diese Art von umfassenden Intellektuellen wie Sartre, Bourdieu oder auch Habermas theoretische Entwürfe geschaffen haben, die es so nicht mehr gibt. Stattdessen treten heute einzelne Figuren aus unterschiedlichen Ländern hervor. Viele von ihnen leben in den USA. Manche von ihnen arbeiten als Outsider der US-Gesellschaft, wie zum Beispiel die chicanos. Leute wie Renato Rosaldo sagen mir deshalb eine Menge und ich glaube, daß Kulturwissenschaften in den USA deshalb weitaus interessanter sind als sonstwo.

Übersetzung: Silke Steinhilber

KASTEN:
Néstor García Canclini machte seinen Doktor in Philosophie in Paris. Er lebte bis 1976 in Argentinien und zog dann nach Mexiko. Zur Zeit leitet er das Programm “Stadtkultur” an der Universidad Autónoma Metropolitana leitet. 1981 erhielt sein Buch Las culturas populares en el capitalismo den Literaturpreis Casa de las Americas, und 1992 erhielt das Buch Culturas híbridas (Hybride Kulturen) den iberoamerikanischen Buchpreis der Latin American Studies Association als bestes Buch über Lateinamerika der Jahre 1990-1992.

Wie ein Liberaler zum Rassisten wird

Vier Protagonisten beherrschen die Story. Hier Delaney und Kyra Mossbacher, ein Mittelschichtsehepaar, wohnhaft in einer schicken Neubausiedlung in der Nähe von Santa Monica. Dort Cándido Rincon und América, illegale Einwanderer aus Mexiko. Letztere campieren in einer Schlucht in unmittelbarer Nähe der Siedlung. Zwei Welten treffen aufeinander, zunächst in Form eines Unfalls. Delaney, mal wieder auf Recherche für seine monatliche Kolumne in einer Naturfreunde-Zeitschrift, streift Cándido mit dem Auto. Fortan stoßen die beiden Klassen und “Rassen” – zwar in großen Abständen, aber regelmäßig – aufeinander. Boyle schlüpft dazu in schöner Gleichmäßigkeit abwechselnd für ein Kapitel in die Perspektive des einen beziehungsweise des anderen Paars. Da das Buch aus drei Teilen mit jeweils acht Kapiteln besteht, ist das Erzählschema nicht gerade kunstvoll. Auch die Sprache ist teilweise quälend detailgenau. Ob das die Spannung steigert oder zum Weiterblättern anregt, sei dahingestellt.
Die eigentliche Hauptperson ist Delaney, der mit wachsendem Unmut die zunehmende Bedrohung seiner vormals intakten Umwelt wahrnimmt. Zu Beginn denkt er noch fortschrittlich: “Einwanderer sind die Lebenskraft dieses Landes – wir sind eine Nation von Einwanderern, und keiner von uns würde heute hier stehen, wenn’s nicht so wäre!” Später läßt das Ehepaar Mossbacher einen drei Meter hohen Gartenzaun um ihr Grundstück ziehen, natürlich von Einwanderern, unter ihnen Cándido. Die Eigentümergemeinschaft der Siedlung beschließt die Errichtung einer Schutzmauer mit einer bewachten Zufahrt. Delaney – es lebe die Freiheit – besorgt sich eine Waffe.
Seine Frau Kyra, eine Gesundheitsfanatikerin par exellance, als Maklerin tätig, war schon länger den Migranten feindlich gesonnen: “Jemand mußte etwas gegen diese Typen unternehmen – sie waren überall, sie vermehrten sich wie die Karnickel, und für das Geschäft bedeuteten sie den Tod.” Er, ohnehin unter ihrem Pantoffel stehend, formuliert zunächst in einer seiner Kolumnen: “Die Coyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren sich, um die Nischen zu füllen, siedeln sich dort an, wo das Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und nicht aufzuhalten.” Er meint damit hier in der Tat noch die Tiere, die trotz des Zauns inzwischen beide Hunde der Familie gerissen haben. Aber wenig später formt sich sein Weltbild in bezug auf Einwanderer entsprechend dieser Skizze aus dem Tierreich.
Der Autor als Provokateur?
Es ist die Frage, ob das Bild der zweigeteilt strukturierten Welt zur Beschreibung der Situation heute noch taugt. Ein Vorteil dieser einfachen, manchmal stark überzeichneten Darstellung ist ihre Provokation. Das Buch wurde von Konservativen und Liberalen in den USA attackiert. Von links kam die Kritik, Boyle hätte weder das Recht noch die Fähigkeit aus der Perspektive eines Mexikaners zu schreiben. Von rechts kamen Schmähbriefe, er sei zu nachsichtig mit den Einwanderern. Der Autor freut sich über die Kritik von beiden Seiten. In mehreren Interviews gab er zu verstehen, genau das gewollt zu haben, herauszufinden, inwieweit das liberale Ethos aus John Steinbeck’s Tagen heute wirklich noch funktioniert. Er will einen demokratischen und sozialen Grundkonsens in den USA verteidigen, sich aber nicht im Namen der Political Correctness bei der Wahl der Methode dabei einschränken lassen.
Im Rahmen der Globalisierung wird die Migration wohl eher noch zunehmen. Boyle weiß auch keine Patentlösung dazu. Er pocht gleichwohl auf die nationale Souveränität, einschließlich Personalausweis und Meldegesetz. Ob Kontrollen und ein Grenzzaun die Einwanderer von ihrem Marsch nach Norden abhalten, darf allerdings bezweifelt werden. Umfragen zeigen, daß selbst Chicanos, die schon länger in den Staaten leben, dafür sind, niemanden mehr hereinzulassen. Es gibt eine breite Antiimmigrationsstimmung in den USA und die wird eher noch stärker. Die Liberalen, die sich heute noch über prügelnde Grenzpolizisten aufregen, denken ganz anders, wenn sie persönlich mit der Einwanderungsproblematik konfrontiert werden. Wer das nicht glaubt, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

T. C. Boyle: “América”. Carl Hanser Verlag 1996, 384 Seiten, 45,-DM
(TB, Dtv 2006, 8,95 Euro).

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