Blutige Zusammenstöße in Goldminen

Am 17. Dezember hatten, Bergarbeiter und Bauern die Miin Amayapampa und Capasirca in der PrBustillos, Departement Potosi, besetzt. Bergarbeiter und Bauern be-gründeten die Besetzung der Minen mit der Befü, der neue Eigentümer Vista Gold, eine kanadische Bergbaugesellschaft, werde für das geschürfte Gold -sind 11 kg monatlich geplant -die festgelegten Abgaben Departement Potosi zahlen. Dabei sind die Abgaben für Erze, ins-besondere für Gold, im Vergleich zu anderen Bodenschätzen wie Öl und Gas ohnehin schon sehr niedrig. Die Revidierung der viel zu geringen Abgabesätze könnte Gegenstand des neuen Bergbaugesetzes sein, das schon seit Monaten auf seine Verabschiedung durch den Senat wartet und nun im endlich diskutiert werden soll.
Die schweren Zusammenstösse , als zwei Tage nach Beginn der Besetzung Spezialeinheiten der Polizei, unter-stützt durch Truppen der Armee. besetzten Goldlagerstätten äum. Bei der Verder Besetzer sollen Polizei und Armee “aus nächster Nähe in die
Menge gefeuert haben, ohne auf Frauen, Kinder und AlRückzu nehmen”, so ein Augen-zeuge. Nachdem die Armee über Nacht Gebiet besetzt hatte, weiteten sich die Auseinandersetzungen am äcTag auf die nahegelegene Stadt Llallagua mit 20 000 aus. Von Seiten der Armee und Polizei wurden Gummigeschosse, großkalibrige Waffen, Maschinengewehre und Gasgranaten eingesetzt. Die mineros und carnpesinos wehrten sich mit Dynamitstangen und Gewehren, die zum Teil noch aus den Zeiten der Revolution (1952) und des Chaco-Krieges (1932-35) stammten. aber auch mit moderneren Schußwaffen. Während der vier Tage andauernden Unruhen waren etwa 2.000 Polizei-und Armeekräfte im , die Gein das verlegt worden waren. wenn sich die Regierung nicht veranlaßt , Ausnahmezustand über die Minzuerhängen, so die vollständige Militarisierung gesamten Gebietes von Norte dennoch zu einem faktischen Ausnahmezustand geführt: Versammlungen wurden verboten,
die Bewohner konnten ihre Dörund Siedlungen nicht verlassen, Journalisten wurde der Zu-tritt zu den Minengebieten untersagt-
Erst am Abend des 22. Dezember, nach vier Tagen immer wieder aufflammender Schiessereien, konnte der Konflikt bei-gelegt werden. Die traurige Bilanz: neun Tote unter den auf-ständischen Minenarbeitern und Bauern und mindestens 50 Verletzte auf beiden Seiten. Das zehnte Opfer war der Chef der Spezialgruppe für Sicherheit bei der Polizei. Womöglich sind den Schießereien aber noch mehr Menschen zum Opfer gefallen. Ein Rechtsanwalt des Gewerk-schaftsdachverbands COB will Beweise dafür haben, daß die Regierung den Tod von mindestens sechs Soldaten geheimhält
Besitzer und Besetzer
Die mineros und campesinos hatten die Goldminen besetzt, um “den Staatsbesitz und die nicht-erneuerbaren Ressourcen als nationales Eigentum zu verteidigen”, wie es der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes der bolivianischen Bergarbeiter FSTMB, Jaime Solares, ausdrückte. Die kanadische Vista Gold hatte bereits mehrere Versuche unternommen, mit der Ausbeutung zu beginnen, war aber immer wieder auf den erbitterten Widerstand der Bergarbeiterkooperativen gestoßen (siehe auch Kasten).
Die Besetzer der Goldminen forderten die Zahlung von Abgaben für das geschürfte Gold an das Departement und soziale Leistungen durch den ausländischen Konzessionär. Der vorherige Eigentümer hatte -so klagen die Bergarbeiter -nicht die gesetzlich festgelegten Abgaben entrichtet. Außerdem forderten die Besetzer, daß der Ex-Eigentümer für die von ihm verursachten Umweltschäden zur Verantwortung gezogen wird.
Regierung unter
Rechtfertigungsdruck
“Die Armee ält diese Gegend sauber, und basta!” war der zynische Kommentar des Verteidigungsministers Kreidler zu den tragischen Vorfällen in Norte de Potosi. Die Regierung hatte -wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Minenbesetzer unter starken Druck geraten -schon bald die “wahren” Schuldigen des Konflikts ausgemacht: Die Gebrüder Mansilla (Mario alias “Comandante” oder “General” und sein Bruder Gerardo) seien die Nutznießer des illegalen Goldabbaus, der bisher in den Minen von Amayapampa und Capasirca stattfand, erklärte Informationsminister Mauricio Balcázar. Mit den Gewinnen aus der “heimlichen” Schürfung hätten sie Waffen und Munition gekauft und die Mineros zur Verteidigung der Minen angestiftet. Einige dieser Waffen, darunter ein Scharfschützen-Gewehr neuester Technologie samt Zielfernrohr, seien wahrend der ämpfe beschlagnahmt worden.
Doch damit nicht genug: Eine speziell für militärOperaausgebildete subversive
Gruppe soll maßgeblich an den Auseinandersetzungen um die Minen beteiligt gewesen sein. Als ein Indiz für diese Behauptung wurde die Art und Weise gewertet, wie der Kommandeur der Polizei-Spezialeinheiten zu Tode kam: Das gerichtsmedizinische Gutachten der Leiche er-gab, daß der Todesschuß zwischen die Augenbrauen des Opfers nur aus einem “militärisch organisierten Hinterhalt” und von Heckenschützen mit speziellen Präzisionswaffen abgegeben worden sein kann, erklärt der Staatssekretär für innere Ordnung und Polizei, Marco Tufino. Als ebenfalls “subversiv“ so Verteidigungsminister Kreidler -wurde die katholische Radiostation “Pio XII” in Siglo XX eingestuft, die die ersten Nachrichten über die heftigen Zusarnmenstöße hatte. Konkrete Beweise für al Behauptungen konnten Regiund Polizei- und ührung bisher nicht vorlegen. Präsident Sánchez de Lozada ließ sich in seiner Neujahrsansprache sogar zu der Andeutung hinreisen, die Minen seien durch Terrorgruppen besetzt worden.
Der Regierungsversion. wo-nach terroristische Gruppen den Konflikt in Amayapampa und Capasirca provoziert hätten, widersprach der Präsident der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer, Juan Del Granado der Koalitionspartei MBL (Bewegung Freies Bolivien), energisch. Unter seiner Leitung war kurz nach dem Ausbruch der Unruhen eine Parlamentskommission in die Minen- gebiete gefahren, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. “Ich glaube, es hat keinen Sinn, über Aktivitäten mit terroristischem oder subversivem Charakter zu spekulieren”, er-klärte der Abgeordnete. Während der Zusammenstöße seien keinerlei Hinweise auf eine subversive Gruppe in den Reihen der mineros und campesinos zu beobachten gewesen. Daß die mi-neros in dieser Region über Schußwaffen verfügen, sei nicht weiter verwunderlich, nachdem es in der Vergangenheit mehrere Massaker in den Minen von Sig- 10 XX, Uncía und Llallagua ge-geben habe, sagte Del Granado. Er sprach von einem erneuten “Massaker” an den Mineros.
Die Ständige Versammlung für Menschenrechte in Bolivien gibt denn auch der Regierung die alleinige Schuld für die Toten und Verletzten des “Weihnachtsmassakers”, wie es inzwischen von Politikern der Opposition bezeichnet wird. Die Schuldigen für die traurigen Ereignisse dürften nicht unbestraft bleiben, fordert der Präsident der Organisation, Waldo Abarracin.
Das Friedensabkornmen
In der von der Regierung, COB und FMSTB unterzeichneten Vereinbarung zur friedlichen Lösung des Konflikts vernichteten sich die mineros zur Übergabe aller in ihrer Hand befindlichen Waffen und zum Verzicht auf jegliche gewalttätige Aktivität. Die Regierung, vertreten durch Innenminister Anaya und Verteidigungsminister Kreidler, verpflichtete sich ihrerseits. das Arbeitsministerium und das Staatliche Bergamt in die Verhandlungen zwischen Bergarbeitergewerkschaft und den Besitzern der Capasirca-Mine einzubeziehen sowie geltendes Recht durchzusetzen, wo-nach den Departements Abgaben für die abgebauten Bodenschätze zustehen. Die Armeeführung ordnete den allmählichen Abzug ihrer Truppen aus den kontrollierten Gebieten an. Die Mine in Capasirca blieb jedoch weiterhin unter Polizeiaufsicht.
Justiz und Parlament sollen, so sieht es der letzte Punkt des Friedensabkommens vor, Untersuchungen zur Aufklärung der Vorfälle einleiten. Die Regierung kündigte daraufhin die Bildung einer Untersuchungskommission an, bestehend aus Polizei und Sicherheitskräften. “Die Polizei kann doch nicht gegen sich selbst ermitteln”, kritisierte der Abgeordnete Jorge Medinacelli der Oppositionspartei MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) diese Entscheidung und forderte, statt dessen eine unabhängige Kommission aus Vertretern mehrerer Parteien und Organisationen einzusetzen.
Genauere Erkenntnisse über die Vorfälle in den Goldminen sollte ein Bericht der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer geben. Dieser wurde am 10. Januar 97 dem Parlament vorgelegt und sollte in eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Anaya, Verteidigungsminister Kreidler, Wirtschaftsminister Villalobos und Informationsminister Balcázar über die tragischen Vorfälle in Norte de Potosi münden. Zu dieser Anfrage im Parlament kam es jedoch noch nicht, da jedesmal zu wenige Parlamentarier anwesend waren. Diese parlamentarischen Bemühungen wurden al-lerdings überschattet von den Er-eignissen am Cerro Rico in der Stadt Potosi, wo seit dem 10. Januar etwa 5.000 Minenarbeiter den Berg besetzt halten und einige privatisierte Minengebiete von der Regierung zurückfordem.
Nach ein paar Tagen Verhandlungen sieht es so aus, als ob sich eine Lösung des Konfliktes anbahnt, und diesmal ist es Innenminister Sanchez Berzaín. der die Fäden zieht. Es wird jetzt nicht mehr von einem Konflikt zwischen Minenarbeitern und der Regierung gesprochen, sondern es handele sich um Interessenskämpfe zwischen den Minen-Kooperativen, gegründet von entlassenen Arbeitern der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL, und den Eigentümern der Mine Pilaviri.
Aber der richtige “Schlag” der Regierung kam am 16. Januar, als der Innenminister eine “Konspiration” gegen Staat und Regierung verkündete. Dieses “gewerkschaftlich-politische Komplott”, wie er es nannte, werde von mehreren politischen Parteien der extremen Linken gesteuert und verfüge über “operative Einheiten”, die sich aus terroristischen Gruppen formierten, auch aus der peruanischen MRTA. Den Beweis dafür sollen Dokumente liefern, die der Staatsanwaltschaft von La Paz in einer Pressekonferenz am
21. Januar vorgelegt wurden. Darunter befindet sich eine Liste von 36 Personen, die unter anderem des bewaffneten Aufstandes beschuldigt werden. Die ersten Festnahmen von Gewerkschaftlern sind aus La Paz zu vernehmen.
Bolivien kommt unweigerlich in eine sehr gespannte und unruhige Phase, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen im Juni 1997, sondern
auch weil nach 12 Jahren Demokratie weite Teile der Bevölkerung, und dazu gehören insbesondere die Minenarbeiter, immer mehr in die Armut gedräng wurden. Diese Gebiete brauchen den Bergbau, aber mit fairen Verträgen und Investitionen. Auch wenn sich die Minenarbeiter vom Staat alleingelassen fühlen, führen bewaffnete Aufstände für die mineros und ihre Familien sicher zu keiner befriedigen-den Lösung. Es gibt andererseits keinerlei Rechtfertigung für das übertrieben harte Vorgehen von Polizei und Militär, bei dem auch unschuldige Familienmitglieder erschossen wurden. Will die Regierung ihre Glaubwürdigkeit bewahren, muß sie auf eine rasche und vollständige Aufklä­rung der Vorfälle, vor allem von Seiten der Sicherheitskräfte, drängen.

aus: BOLIVIA-sago Informationsblatt Nr. 115

“Ich wollte lieber sterben”

“Fünf Kilometer von San Agustin entfernt, nahe der Sied­lung Conchuda, mußte ich vom Wa­gen steigen. Sie quetschten mei­ne Hoden und banden mir feuch­te Tücher vor die Nase und den Mund. Auf die Tücher drückten sie feuchten Lehm – ich konnte nicht atmen. Das ist das un­menschlichste, grausamste und furchtbarste Leiden. Man möch­te lieber sterben als in die­ser Welt voller Schmutz und Grau­samkeit zu leben.
Sie fragten mich eine Un­men­ge, aber ich weiß nichts von dem, was sie wissen wollten. Nahe San Martin holten sie mich vom Wagen und began­nen mich wie­der zu foltern. Sie mach­ten einen elektrischen Ap­pa­rat an mei­nen Hoden und dem Bauch­nabel fest. Nach etwa ei­ner Stun­de ließen sie mich aus­ru­hen. Sie nah­men sich die ande­ren vor.
Dann setzten sie mich wieder die­sem schrecklichen Schmerz aus, wieder etwa eine Stunde lang. Dann sagten sie, daß sie mich ins Meer schmeißen und mich weiter foltern werden, wenn wir erst in Huatulco an­kommen.
Pedro, Santiago, Maxi Pache­co Ambrosio und ich wurden in ein kleines Flugzeug geladen und nach Huatulco gebracht. Dabei waren meine Hände gefesselt. Am Flughafen wurden wir psy­chisch gefoltert und ins Ge­fäng­nis Ixcotel ge­bracht, ein paar Stun­den später in die Polizei­wa­che. Am nächsten Tag wurden wir um fünf Uhr morgens ver­hört, psychisch ge­foltert und mit einem kleinen Flugzeug ins Ge­fäng­nis Oriente geflogen. Ich war mit Hand­schellen gefesselt und mußte die ganze Zeit vor vier Polizisten niederknien. Sie droh­ten mir, mich aus dem Flug­zeug zu wer­fen. In Mexiko-Stadt sagten sie, daß ich in ein Ge­fäng­nis mit 2000 Kriminellen kom­me, die mich vergewaltigen, töten und schlagen würden. Nichts was sie sagten stimmte. Im Gegenteil. Die Gefangenen be­handelten mich gut.”
Mexiko, 12. November 1996

Rot – Schwarze Perspektiven

Als in der Nacht des 15. No­vembers die Stimmenauszählung des zweiten Durchgangs der Kommunalwahlen zu Ende ging, wuchs die Enttäuschung bei der PT (Arbeiterpartei). In elf Städ­ten war sie in die Stichwahl ge­langt, aber in neun verlor sie. Die große Ausnahme war die Ama­zonasmetropole Belém im Nor­den des Landes. Neben Porto Alegre im extremen Süden – wo die PT schon im er­sten Durch­gang gewann – ist Belém die ein­zige Landeshaupt­stadt, die von der PT regiert wird. Ein weiteres markantes Er­gebnis war die Wahl des ersten schwarzen Bür­germeisters in der größten Stadt des Landes, Sâo Paulo. Celso Pitta hat sich als Kandidat des regierenden Bür­germeisters Ma­luf, einem Rechtsaußen der bra­si­lianischen Politik, durchge­setzt und damit alle Hoffungen zer­stört, daß die PT mit ihrer Kan­di­da­tin Luiza Erundina wie­der ins Rat­haus von Sâo Paulo einzieht.
Eine genauere Analyse des Wahlergebnisses bringt einige Überraschungen an den Tag. Die PT ist in den hundert größten Städten des Landes die meistge­wählte Partei, konnte aber nur in 19 Städten die Wahlen gewin­nen. Das heißt, das gute Ab­schneiden der PT als Partei setzt sich aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts, in dem die Direktwahl der Bürgermeister im Mittelpunkt steht, nicht in Ämter um. Hinzu kommt, daß durch das System der Stichwahl in allen größeren Städten des Landes (mit über 100.000 WählerInnen) Bündnisse gegen die PT im zweiten Durchgang mehr Chan­cen haben. Anders gesagt: die PT ist eine erstaunlich erfolgreiche linke Partei, die, was nicht über­raschen sollte, die öffentliche Meinung polarisiert.

Imageprobleme der PT

Die Konsequenzen aus dieser Analyse sind innerhalb der PT umstritten. In Sâo Paulo hatte die PT-Kandidatin und ehemalige Bürgermeisterin Luiza Erundina versucht, durch eine Kampagne mit dem Slogan “Die PT, die Ja sagt” den hohen Grad der Ableh­nung (40 Prozent der Wäh­lerinnen erklärten, auf keinen Fall für Erundina zu stimmen) zu senken. Erundina und ihr Team waren der Meinung, daß die PT ihre positiven Vorschläge in den Mittelpunkt stellen und von dem Image der Oppositionspartei wegkommen sollte. Diese De­batte zielte tatsächlich ins Herz der Identität der PT, die doch ge­rade gewachsen ist als eine Par­tei des Protestes und der Oppo­sition gegen die herrschenden Mißstände in Brasilien, die unter anderem durch das derzeitige Modell des Neoliberalismus auftreten.
Natürlich spricht nichts dage­gen, die konkreten Vorschläge für Veränderungen in den Mit­telpunkt der Kampagne zu stel­len, mit abstrakten Diskursen gegen den Neoliberalismus ist auch in Brasilien kein Blumen­topf mehr zu gewinnen. Aber die Alternative kann wohl nicht sein, den Schaum vor dem Mund durch einen Wahlkampf mit rosaroter Zuckerwatte zu erset­zen. Die Erfolglosigkeit spricht gegen Erundina. Marco Aurélio Garcia, Parteisekretär für inter­nationale Fragen, sieht zwei Hauptgründe für die Niederlage der PT in Sâo Paulo: “Wir haben es nicht verstanden, eine starke Opposition gegen Maluf aufzu­bauen. Unsere Niederlage be­gann vor drei Jahren, als es uns nicht gelang, diese Opposition zu machen.” Der zweite Grund liegt für Garcia in der Schwäche der sozialen Bewegungen. “Die Krise hat die sozialen Bewegun­gen zersetzt und das hatte großen Einfluß in Sâo Paulo.”

Wenn zwei sich streiten…

Das Ergebnis von Sâo Paulo ist jedenfalls ein Rückschlag für die innerparteilichen Kräfte, die die PT in eine Partei der “Mitte” (auch andere Denominierungen wie “moderne linke Partei” wer­den gehandelt) transformieren wollen. Aber es gibt noch wei­tere Gründe für das enttäu­schende Abschneiden der PT in einigen Städten. Die schmerz­lichste Niederlage mußte die PT wohl in Santos einstecken. Dort ist die PT seit acht Jahren an der Regierung – mit beachtlichem Erfolg und großer Zustimmung. Aber die Auswahl der Kandida­tin (zwei Frauen standen sich gegenüber) für die Wahl ’96 führte zu einer schweren inner­parteilichen Zerreißprobe. Der ehemaligen Bürgermeisterin Tel­ma da Souza, die sich schließlich gegen die Kandidatin des aktuell am­tierenden Bürger­meisters durch­setzte, gelang es nicht, die innerparteilichen Dif­ferenzen zu überwinden und scheiterte am Wahltag. Santos zeigt auch, daß bei den mit har­ten Bandagen aus­getragenen Konflikten der ver­schiedenen Tendenzen inner­halb der PT am Ende alle verlieren. Telma ge­hört eher dem “rech­ten” Par­teiflügel an. Ihr Ar­gument, daß sie als “gemäßig­te” für die WählerInnen ak­zep­tab­ler sei, stellte sich schließlich genauso als Trugschluß heraus wie die Kampagne des “Ja” in Sâo Paulo.
Die beiden Erfolgsstorys der PT – Porto Alegre und Belém – legen Schlüsse nahe, die aus dem simplifizierenden rechts-links oder radikal-gemäßigt Schema herausführen. In Porto Alegre wird die PT nun zum dritten Mal den Bürgermeister stellen. Die Aus­wahl der Kandidaten verlief ge­ordnet und versuchte ein in­ner­parteiliches Gleichgewicht her­zustellen. Der jetzt gewählte Bürgermeister Raul Pont gehört, anders als sein Vorgänger, dem linken Parteiflügel an, der trotz­kistischen Grup­pe “Demo­kra­ti­scher So­zialismus”. Aber er wur­de nicht gewählt aufgrund eines per­sonalisierten Wahlkampfes, son­dern aufgrund einer acht­jäh­rigen kompetenten Politik, die mit dem Konzept des “par­ti­zi­pa­ti­ven Haushaltes” ein Exempel al­ternativer Kommu­nalpolitik ge­schaffen hat.
Auch der neue Bürgermeister von Belém, Edmilson Rodriguez, gehört dem linken Parteiflügel an. Er profitierte wesentlich von dem Verschleiß der traditionel­len Eliten, die sich dazu noch untereinan­der einen Schmutz­wahlkampf lieferten. Eine ge­spaltene Rechte war in vielen Fällen ein wichtiges Mo­ment für den Aufstieg der Lin­ken. Edmil­son gelang es ge­schickt, sich demgegenüber als unverbrauch­ter und nicht kor­rupter Politiker darzustellen. Hinzu kam, daß die “militantes”, die Aktivisten der PT und der sozialen Bewegun­gen, sich mit dem Aufstieg des Kandidaten – der seine Kampa­gne mit hoff­nungslosen fünf Prozent in den Umfragen begann – mobilisieren ließen und einen intensiven Wahlkampf in den Armenvierteln Beléms or­gansierten. Schließlich setzte sich Edmilson mit 58 Prozent (!) der Stimmen gegen den Geld­wahlkampf des Bürgermeister­kandidaten durch. Am 15. No­vember war Belém in ein Meer roter Fahnen verwandelt. Hier zeigte sich, wo die traditionelle Stärke der PT liegt: als Partei des “Basta” gegen die Mißwirtschaft und Korruption der Eliten, als Hoffnungsträger für radikale Änderungen.

Sâo Paulo – Schwarzer Bür­germeister aus der Retorte

Mit der Wahl Celso Pittas re­giert zum ersten Mal in der Ge­schichte Brasiliens ein Schwar­zer die größte Stadt Brasiliens. Aber seine Wahl, die in der in­ternationalen Presse mit Auf­merksamkeit registriert wurde, symbolisiert weniger die zuneh­mende Akzeptanz der Schwarzen in einer rassistischen Gesell­schaft, als den Erfolg des bishe­rigen Bügermeisters Maluf, der Pitta als seinen Kandidaten aus­gewählt hatte. Pitta war ein öf­fentlich unbekannter Geschäfts­mann (Angestellter in der Firma eines Bruders von Maluf) als er überraschenderweise nach Aus­fall anderer Kandidaten (wegen Korruptionsvorwürfen) von Ma­luf 1992 zum Finanzsekretär der Stadt ernannt wurde. Unauf­fällig blieb Pitta auch in diesem Amt. Symptomatisch ist nun, wie er zum Kandidaten gekürt wurde. Maluf ließ von jedem möglichen Kandidaten Videos erstellen und ließ diese anschlie­ßend von US-ame­rkanischen Marketing-Ex­per­ten auswerten. Das Ergebnis war die Empfeh­lung zugunsten von Pitta. Freundlich, smart, immer gut angezogen, kontra­stiert seine Er­scheinung mit dem hemdsärme­ligen Populismus des häßlichen Maluf. Pitta wurde lanciert wie ein Konsumprodukt. “Ein Joghurt”, kommentierte die Konkurrenz. Aber seinen Wahl­erfolg verdankt er ausschließlich Maluf. Der Wahlkampf war von einer einzigen Botschaft domi­niert: Das ist der Mann, der die Bauarbeiten von Maluf fortführt.

Hyäne im Schafspelz

Das eigentliche Ergebnis der Wahlen ist also die Stärkung Malufs, der schon der letzte (und damals unterlegene) Kandidat der Militärdiktatur für das Prä­si­dentschaftsamt war. Als Rechts­außen der brasilianischen Politik wurde er mit Haider oder le Pen ver­glichen. In Lateiname­rika mag der Erfolg von Alemán in Nicaragua eine gewisse Pa­rallele sein. Maluf ist mit der Wahl sei­nes Nachfolgers zum un­um­strittenen rechten Gegenpol zu Präsident Fernando Henrique aufgestiegen. Abzuwarten bleibt aber, ob sein Einfluß weit über Sâo Paulo hinausgeht. Maluf hat auch wenig Spielraum für eine systematische Opposition gegen die Regierung, weil Bürgermei­ster und Gouverneure seiner Partei aufgrund hoher Schulden auf Abkommen mit der Zentral­regierung angewiesen sind. Sei­nen Erfolg in Sâo Paulo verdankt Maluf vorwiegend einer ge­schickten Mischung von moder­nem Marketing und traditionell­ster Politik. “Obras”, Bauarbei­ten durchziehen die Stadt und hinterlassen überall die sichtba­ren Monumente seiner Amtszeit. Mit dem Projekt “Neues Singa­pur” verspricht Maluf, die Fave­las durch Billighochhäuser zu er­setzen. Auch wenn die Opposi­tion den marginalen Effekt die­ses Projektes aufzeigen konnte, gelang es Maluf doch, auf natio­naler Ebene ein – wenn auch po­lemisches – Zeichen für seine Sozialpolitik zu setzen. Anson­sten profiliert sich Maluf mit dem traditionellen Diskurs rech­ter Politik: law an order und na­tionalistische Töne mit Angrif­fen auf das ausländische Kapital. Mit Anspielung auf sein moder­ni­sier­tes Marketing wurde er als “Hy­äne im Schafspelz” bezeich­net.
Zurück zu Pitta. Bleibt nicht doch ein symbolischer Rest? Schwer zu sagen. Orginalton Luiza Erundina, die sich anson­sten mit polemischen Tönen sehr zurückhielt: “Celso Pitta sagt, er habe eine schwarze Haut. Aber er hat den Kopf und das Verhal­ten eines weißen Schweinehun­des (um branco safado)”.

KASTEN

Abgeordneter – ein Job, der sich lohnt.

Das Ansehen von PolitikerInnen mag in Brasilien das aller­schlech­teste sein, in Wahl­kampfzeiten fehlt es dennoch nicht an Kan­didatInnen. Die Erklärung ist einfach. Die Mühen des Wahl­kampfes werden oft mit fürstlichen Gehäl­tern belohnt. Bei­spiel Belém, eine Stadt mit etwas über einer Million EinwohnerInnen. Dort verdient ein Abgeordneter im Kommunalparlament 3513,- Reais, schlappe 5000,- DM. Mit diesem Hunger­gehalt sind die Herren und Damen aber nicht mehr zufrieden und ha­ben sich für 1997 schon eine Ge­haltserhöhung be­willigt: knapp 4500,- Reais sind es dann, mehr als 6700,- DM. Aber das ist bei weitem nicht alles. Jede(r) Abgeord­nete hat ein Recht auf fünf (!) persönliche Mitar­beiterInnen mit einem Gehalt von jeweils etwa 1700,- Reais oder 2500,- DM.
Belém liegt mit seinen Gehältern vielleicht im guten Mittelfeld. Einige kleinere Munizipien, beson­ders solche, die aufgrund von Groß­projekten erhöhte Steuereinnahmen haben, zahlen weit hö­here Gehälter, oder besser ge­sagt, die Abgeord­neten bewilligen sich diese Gelder. In Belém hat sich eine Bürgerinitia­tive for­miert, die solch eine Absahn­mentalität nicht mehr hinnehmen will. (tof)

Menschenrechte ja – aber nicht für Schwule

Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und gal­ten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kom­mandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmän­ner stoßen die beiden bis zur na­hen Bahnlinie, dann krachen Pi­stolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ih­rem Blut, stellen erschüttert Ker­zen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Bra­silien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Ho­mosexuellen her. Seit 1980 wur­den über 1300 Schwule ermor­det, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr un­vollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letz­ten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorur­teile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens ver­schweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Se­kretär für Menschenrechte der Bra­silianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordost­brasilianischen Küstenmetropole Sal­vador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, ver­folgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Ma­chismus”, die Täter gingen ge­wöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter er­mittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Ge­richt und wurden dann fast im­mer freigesprochen.

Archiv über Homosexualität

Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinameri­kanischen Archiv über Homose­xualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenver­einigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besu­cher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höf­lich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexu­elle teilnehmen. Vor dem Ab­stieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präserva­tive, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe beson­ders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführ­ten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vor­sicht – suche Deine amantes bes­ser aus”, steht groß auf Schauta­feln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermor­den!” Die Warnung ist nicht un­begründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salva­dor sauber – töte jeden Tag einen Homo!”

Erscheinungsebene – Wirklichkeit

Brasiliens Schwulenszene prä­sentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeit­schriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen wei­ter, scheint sogar stark zuzuneh­men. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Über­le­benshandbuch” publi­ziert, das zahl­reiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasi­lia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen be­kannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.

Umfragen und Machismus

Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsenta­tive Umfragen: So würden 36 Pro­zent der BrasilianerInnen ei­nem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kol­legen bewußt fernhalten, 56 Pro­zent würden zumindest ihr Ver­halten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, ak­zeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Ho­mosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne er­zwingen müßten.

Politisches Asyl für Schwule

Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Teno­rio, Luiz Mott trat in dem Asyl­verfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Me­dien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylsta­tus, wollen aber anonym blei­ben, aus Angst, daß Familienan­ge­hö­ri­ge in Brasilien Repressa­lien er­lei­den könnten. Eine un­bekannte Zahl brasilianischer Homo­sexu­el­ler lebt illegal in den USA. Mög­licherweise werden jetzt wei­tere einen Asylantrag stellen.

KASTEN

Staatstrauer für Ex-Diktator

Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im Sep­tember 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso gela­den worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Gei­sel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Or­lando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die kei­nes­wegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, fol­tern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeit­zeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Dik­taturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Groß­teil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit be­gangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amts­vorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Castro contra Aznar

Die Regierung Aznar vom konservati­ven Partido Popular (PP) tut sich schwer mit der Ausübung der traditionellen Vorreiter­rolle Spa-niens in der Beziehung Kuba – eu­ropäische Außenpolitik. An den seit 1993 ent­standenen joint-venture-Un­ternehmen auf kuba-nischem Bo­den, vorwie-gend in der Tou­ristenbranche, ist mehr-heitlich spanisches Kapital be­teiligt. Die BewohnerInnen der ibe­rischen Halb­insel machen auch einen Großteil der Urlau-berInnen auf dem Antillen-Ei-land aus, das ehedem von ihnen “entdeckt” wurde. Die Regierung Aznar fühlt sich jedoch sichtlich der etwas weiter nördlich gelten­denden Argumentationsweise verpflichtet und unter­breitete in diesem Sinne dem politischen Au­ßenminister­kommitee der EU eine Textvorlage, in der zu einer gemeinsam zu verabschie­denden härteren Vorgehensweise gegen­über Kuba aufgefordert wurde. Knackpunkte die­ses Textes wa­ren die bereits bei vorange­gangenen Gelegenheiten aufs Tapet gebrach­ten Forderungen nach Demokratisierung, Re­spektierung der Menschenrechte und wirt­schaftlicher Öffnung, und – als Novum – die Aufforde­rung, die Türen der jeweiligen Bot­schaften der 15 Mitglieds­staaten sollten “jederzeit der (kubanischen) Opposition” of­fenstehen.
Letzteres brachte auf kubani­scher Seite das Faß zum Über­laufen und führte dazu, daß Ca­stro am 26. Novem­ber 1996 dem neu designierten Botschaf­ter der spanischen Re­gierung, José Co­derch, das Diplomatenplazet ent­zog. Eine Vorgehensweise, die einerseits als Über­reaktion, als ein Zei­chen wachsender Nervo­sität Castros gedeutet wird, ande­rerseits aber auch als improvisa­to­rische Geste eines alten Gueri­llero-Hasen: Angriff und Ver­tei­digung zu­gleich.

Remis oder schachmatt?

Die Interpretation der EU-Vorlage von ku­banischer Seite fiel denkbar leicht, paßt doch alles ins vorgestrickte Schema: Es han­dele sich um eine “Blaupause” der Empfeh­lungen des Sonderbeauftragten der US-Re­gierung, Stuart Eizenstadt, was sonst ? In einer ersten Erklä­rung, die dem noch amtie­renden spanischen Botschafter Edualdo Mira­peix, den Coderch Mitte Dezember hätte ablö­sen sollen, überbracht wurde, heißt es unmißverständ­lich, die spanische Regie­rung habe sich “in die Speerspitze der nordamerikani­schen Interessen im Rahmen der EU” verwandelt. Um den aktu­ellen bila­teralen Zu­stand der beiden Länder ins rechte Licht zu rücken, bezeich­nete Castro Aznar als “Pferdchen”, das mit der Karibik­insel wohl eine Schach­partie führen wolle.
Die Begründung Havannas für den Ent­zug des Diplomatenpas­ses für Coderch grün­det auf drei Argumenten: Die Einmischung in in­nere Angelegenheiten Ku­bas, die “grobe Will­kür”, eine derartige Eskalation der Span­nungen herbeizuführen, und die Verletzung der Normen der Wiener Konvention über diplo­matische Be­ziehungen – so ein Kommuniqué des ku­banischen Außenministeriums.
Provokationen spanischer Diplomatie
Coderch selbst, der zum be­treffenden Zeitpunkt ja noch gar nicht Amtsinhaber war, ist hier eher als “Zugpferdchen” in ei­nem ohnehin schwelenden Kon­flikt zu sehen. Dennoch wurde seine Erklärung in einem ABC-Inter­view, “jede Botschaft habe zwei Türen”, von Kuba als Pro­vokation wie auch Drohung auf­gefaßt, erin­nerte sie doch an die sogenannte “Botschaftskrise” vom Juli 1990, als sich zahlrei­che kubanische Dissidenten in die spanische Botschaft in Ha­vanna flüchteten. In ähnlicher Weise ist die Gründung der “His­pano-Kubanischen Stiftung” in Madrid durch den Hardliner Mas Canosa und PP-Politiker noch nicht verwunden, die Kuba als Akt der offenen Feind­se­lig­keit und als Komplizenschaft der spa­nischen Regierung mit der “an­ti­revolutionären Mafia” be­zeich­nete.
Coderch provozierte zudem mit einer Anspielung auf das histori­sche Datum 1898. Damals “verlor” Spanien Kuba im Krieg an die USA, was mittlerweile als koloniale “Un­abhängigkeit” ge­feiert wird. Coderch äußerte den frommen Wunsch, das 100-jäh­rige Ju­biläum in zwei Jah­ren möge in einem de­mokratischen Kuba gefeiert wer­den. Natürlich Wasser für die rhetorische Mühle Castros: Da­mals wie heute sei man an den Yankee-Im­perialismus ausgelie­fert wor­den.
Das kubanische Außenminis­terium von Ro­berto Robaina legte indes Wert darauf, das Pro­blem als ein bilaterales darzu­stellen, und lud alle europäischen Bot­schafterInnen ausschließlich des spanischen zu einer Erklä­rung. In dieser betonte Vizemini­sterin Isabel Allende, die derzei­tige Eskalation sei für beide betei­ligten Länder kontrapro­duktiv und nutze allein der “antikubanischen Mafia in Miami”. Es wurde Dialogbereit­schaft signali­siert und die indi­rekte Zusage gemacht, man werde einem neu vorgeschla­genen Bot­schafter nicht die An­erkennung verwei­gern – dies habe man schließlich bisher nie getan. An Aznar erging dennoch die Auffor­derung, unter dem Vorzeichen der Nicht-Einmi­schung noch ein­mal alles zu überdenken. Insgesamt eine ku­banische Haltung, die Rücken­deckung ausgerechnet von den spanischen Investoren auf Kuba erfährt. Besonders die Hotel­ branche zeigt sich indig­niert: ei­ner von 450 spani­schen Unter­nehmern, der an einer interna­tionalen Handelsmesse in Ha­vanna teilnahm, sprach von einer “unglaublichen Fehlein­schätzung eines Marktes”, den die spani­schen Unternehmer schließlich geöffnet hät­ten, hier­bei Hürden für andere in­vestitions­willige Staaten aus dem Weg räumend. In der Tat sitzen potentielle In­vestoren, al­len vo­ran Mexiko, in den Startlöchern, sollten sich die ku­banisch-spanischen Beziehun­gen nach­hal­tig verschlechtern.

Stürmische Liebe

Die jetzige ist nicht die erste Bezie­hungskrise in besagtem bi­lateralen Verhältnis. Es gab be­reits seit Castros ersten Regie­rungsjahren teilweise heftige Auseinander­setzungen mit Spa­niens damaligem Franco-Re­gi­me, zu dem Castro jedoch nie Ge­genposi­tion bezog – bis heute nicht. Im Gegenteil: auf die spa­nische EU-Vorlage vom 16. No­vember folgte drei Tage später der Aus­spruch Castros, Franco habe mehr Würde be­sessen als Aznar, da er dem amerikani­schen Druck widerstanden habe.
Das Franco-Regime seines Zeichens stand Anfang der 60er Jahre der neuen kubani­schen Führung mit einer Mischung aus Vor­sicht und Hoffnung ge­genüber. Bald entstand eine ern­stere Krise, ausgelöst durch einen Fernsehauftritt in Kuba, bei dem sich der spanische Bot­schafter Lojendio und Castro ge­genseitig mit Verbalinjurien be­schuldigten, eine Diktatur auf­rechtzuerhal­ten. Das diplo­ma­tische Niveau wurde darauf­hin auf Handelsbeziehun­gen he­run­ter­ge­schraubt. Zu einem Eklat kam es dann, als Castro die auf der Insel tä­tigen etwa 700 spani­schen Pries­ter vor die Al­ternative stellte, entweder Zuk­kerrohr zu schneiden, oder nach Hause zu fahren – die Wahl fiel dann doch eher zu­gunsten der Heimat aus. Dieser Faux Pas Ca­stros ist wohl mittlerweile durch seine Papst­au­dienz im November ausge­merzt.
Trotz der Eklats stellte sich das Franco-Regime jedoch nie auf die Seite der USA und ihrer Strategie des Wirtschaftsembar­gos. 1973 wur­den die vollen di­plomatischen Beziehungen wie­derhergestellt, und als Franco 1975 starb, ord­nete Fidel Castro eine dreitägige Volkstrauer an.
Francos demokratisch ge­wählter konser­vativer Nachfol­ger Suarez war dann auch der er­ste westli­che Staatschef, der 1978 Kuba be­suchte. Mit dem sozialisti­schen Präsidenten Gon­zález ge­stalteten sich die Beziehungen später ohnehin un­komplizierter – seit 1993 setzten schließlich die spanischen Di­rekt­investi­tio­nen in Form von joint-ven­tures in großem Um­fang ein.

Spielsüchtige Duz-Freunde

Mit Aznar jedoch herrscht ein anderes Klima – aller Duzerei und der Geste des Kra­wattentauschs auf dem ibero­amerikanischen Gipfel im No­vember in Chile zum Trotz. Hier redete Aznar Tacheles: “Ich habe nichts ge­gen Kuba, aber ich habe alles gegen Dein Regime”, sagte er zu Ca­stro, und tags drauf: “Wenn Castro eine Schachfigur bewegt, wird auch Spanien eine bewegen”.
Während Castro am 2. De­zember mit Pomp und der nach zehn Jahren ersten Militärparade den 40. Jahrestag der Ab­fahrt des Revolu­tionsschiffs Granma be­ging, verabschiedete die EU zeitgleich die strittige Resolu­tion. Dies jedoch in einer stark abge­mil­derten Form, die nicht wesentlich von der bisherigen Kuba-Position der Gemeinschaft ab­weicht.
Die EU-Linie in der Kuba-Politik un­terschied sich seit jeher von der US-ameri­kanischen da­hingehend, daß Funktionalismus und Empfehlungen vorherrschen – “sanfter” Druck ohne Anschuldi­gungen. So wird auch in der jetzt ver­abschiedeten Re­solution die Forde­rung nach Demokratisie­rung, Öffnung und der Einhal­tung der Menschen­rechte ledig­lich positiv akzentu­iert, und ohne Terminangabe – “in dem Maße, wie Refor­men auf Kuba voran­schreiten” – eine über huma­nitäre Hilfe hinausge­hende wirt­schaftliche Hilfe in Aussicht ge­stellt. Von den ur­sprünglichen spanischen Forde­rungen, die – so die Kritik vor al­lem von schwedischer, belgi­scher und französischer Seite – fast sklavisch an der US-amerikani­schen Rhetorik orien­tiert waren, ist in dem Dokument nicht mehr die Rede. Anzu­mer­ken ist auch, daß die “gemein­sa­me Position” nicht vom Mini­ster­rat, sondern vom Ausschuß für Wirtschaft und Finanzen ver­ab­schiedet wurde, im Vor­der­grund standen also eher wirt­schaft­liche als politische Inter­essen.
Spa­nien machte schließlich auch nicht von seinem Recht Ge­brauch, den Entwurf noch einmal zu disku­tieren. Hierin ist wohl eine Re­aktion auf die scharfe Kritik aus den eige­nen Reihen zu sehen. Denn nicht nur die spani­schen Unterneh­mer, die auf Kuba inve­stieren, zeigten ihr Be­fremden, auch PP-Mitbegründer Manuel Fraga, der Gouverneur von Gali­zien, machte sich für eine ver­söhnliche und de-es­kalie­rende Kuba-Politik stark. Er beklagte, Aznar befände sich auf einem “emotionalen Irrweg”.

Demokratisierung – auf wessen Rücken?

Gerade mit der galizischen Provinz ver­binden viele Kubaner “familiäre Bande”, nicht nur die Castros. Dies ist jedoch nicht der alleinige Grund für Fragas Di­stanz zu Aznars Politik. Fraga, der von 1962 bis 1969 Minister unter Franco war, gehört zu der Generation, die den spanischen Übergang zur Demokratie aktiv und nicht wie die Altersgenossen Az­nars als passive Zuschauer mitbekommen ha­ben, von daher ist die Sichtweise eine an­dere und differenziertere.
Die spani­sche Zeitung El País kommen­tierte die Überreaktion Aznars ge­genüber dem Castro-Regime als eine Art Kompen­sation für die eigenen “weißen Sei­ten” in der politischen Bio­gra­phie, was De­mokratisie­rungs­pro­zesse angeht. Eine He­ran­ge­hensweise, für die letztendlich die um Demokratie bemühten Ku­ba­nerInnen die Ze­che zu zah­len hätten. Gerade das Bei­spiel Spa­niens habe gezeigt, wie die Demon­tage eines dikta­torischen Systems vonstatten ge­hen könne: Ohne eine Invasion von außen, einen bewaffneten Aufstand oder einen Bür­ger­krieg, vielmehr durch ausge­handelte Überein­künf­te zwischen reformistischen Kräf­ten des alten autoritären Re­gimes und der de­mo­kratischen Op­po­sition. Unter Aus­schluß der mi­litanten Flügel beider Gru­p­pie­rungen sei damals die Basis für einen politi­schen Konsens ge­legt worden, der trag­fähig war, die Konflikte ge­mäß den Regeln ei­nes Rechts­staates aufzulösen.

Wie gehabt: David gegen Goliath

Die Reaktion Castros auf Az­nars Affront war in ge­wisser Weise vor­aus­seh­bar. Bereits die Tat­sa­che, daß es ganze zwei Mo­nate dau­erte, bis Coderch das be­an­trag­te Diplomaten-Pla­zet über­haupt bekam, zeug­te von ei­ner ge­stör­ten politischen Be­zie­hung. Ein ge­fähr­li­cher Schachzug war dann der Entzug der di­plo­mati­schen Aner­ken­nung al­le­mal, da er Spa­nien durchaus in Kon­fron­ta­tion mit der EU hätte brin­gen kön­nen, die kein Inter­esse hat, von ih­rer nicht US-ame­ri­ka­nischen Po­si­tion ab­zu­rücken. Nun aber bleibt die Krise zwi­schen Spa­nien und Ku­ba vorerst auf bi­late­ra­ler Ebene.
Außenminister Jor­ge Matutes deutete be­reits unmittelbar nach dem Entzug des Pla­zets für sei­nen Unter­ge­benen an, man wer­de moderat vorge­hen, sich Zeit lassen. Bis auf weiteres wird sich die Auf­ent­haltsdauer des am­tierenden Bot­schaf­ters Mira­peix verlängern, Co­derch kann sich um seine Di­plomatenschule in Madrid küm­mern. Matutes freut sich, daß die EU endlich zu ei­ner einstimmi­gen Außenpo­litik ge­genüber Ku­ba gefunden hat, während sein Amts­kol­le­ge Ro­baina betont, ei­nen neu ge­fun­denen Bot­schaf­ter-Kan­dida­ten werde Kuba wohl anerkennen.
Für Cas­tro ist diese Schach­partie letztendlich alles andere als er­folglos, macht es sich doch im­mer wieder gut in der Rolle des David, für den ohnehin durch das Helms-Burton- Ge­setz mit der Verschär­fung des US-Em­bargos eine gro­ße Sympathie­wel­le in Latein­amerika losge­tre­ten wur­de. Dies zeigte sich erst kürz­lich auf dem chile­nischen Gip­fel. Auch in­nerhalb der spa­ni­schen Gesell­schaft überwiegt nach Umfragen neueren Datums die Solida­rität mit Kuba gegen­über einem Verständnis für Az­nars Hardli­ner-Politik.
Die anti­castristische Haltung ist sicher nicht der beste Weg, eine Demokrati­sie­rung in Kuba zu beschleuni­gen. At­tacken von au­ßen erwec­ken Na­tionalismus und bieten sich an, in autori­tärem Sinne ausge­schlachtet zu wer­den. Tou­ristische und sonstige wirt­schaftliche Pro­jekte sind wesent­lich besser geeignet, eine Öff­nung nach außen zu erzielen, was zwischen­zeit­lich bis hin zur Papstau­dienz von Castro ge­führt hat. Was auch immer man davon halten mag, so hat auch das Recht auf Religi­onsausübung zu­min­dest irgendetwas mit Freiheit zu tun.

Schmutziger Krieg gegen imaginäre Feinde

Der Protest der Hinterbliebe­nen und ihr Verlangen nach Aufklärung, hat jetzt brennende Aktualität durch zwei Publika­tionen erlangt, die erst­mals die syste­matische Praxis der Folter und des Ver­schwindenlassens durch staatliche Organe des Lan­des aufzeigen. Als Folge dieser Sensibilisie­rung der Öffentlich­keit sehen sich nun auch staatli­che Stellen dazu genö­tigt, Unter­suchungen zu den Vorwürfen einzuleiten. Die 1995 erschie­nene Doku­mentation von M. Neira, herausgege­ben von der öku­me­nischen Menschenrechts­kom­mission Ecuadors, berichtet exempla­risch von rund 20 Ein­zelfällen von Personen, für deren Verschwinden in den achziger- und frühen neunziger Jahren mit hoher Wahrschein­lichkeit Funk­tionsträger der Po­lizei und des Mili­tärs verantwortlich sind. Bei der über­wiegenden Zahl der Tat­be­stände liegt kein politischer Hin­tergrund vor. In den wenig­sten Fällen wurde eine Untersu­chung von staatli­cher Seite über­haupt je eingeleitet und in nur zwei Fällen kam es zu einer Ver­urteilung der beteiligten Tä­ter aus den Reihen der “Sicher­heits­kräfte”. Meist konn­ten nicht ein­mal die Leichen der Ver­schwun­de­nen aufgefunden werden. Ge­ra­de durch den ex­emplarischen Cha­rakter der unterschied­lichen Einzelfälle wird ein Bild der vor­herr­schen­den Ge­walt und Will­kür ge­zeichnet.

Foltermord in der Aus­bildung

Auf erschreckende Weise be­stätigt und ergänzt findet sich dieses Bild durch den im August 1996 unter dem Titel El Tes­tigo erschienenen persönlichen Be­richt des Ex-Polizisten Hugo España Torres, in dem die Sys­te­matik staatlicher Terrorprakti­ken deutlich wird. Wie der Sprecher der nichtstaatlichen Versamm­lung für Menschen­rechte (APDH), Alexis Ponce, im Vor­wort bemerkt, läßt sich aus die­sen Aufzeichnungen nur allzu deutlich able­sen, daß wäh­rend der Repressions­phase der späten 80er Jahre die An­wendung von Folter und Mord geradezu als professio­nelle, ausgefeilte Tech­nik von Elitesicher­heitskräften be­trachtet und staat­licherseits ange­ordnet wurde. Vor diesem Hintergund kann sich die Regie­rung kaum mehr un­ter Hinweis auf ver­meintlich indi­viduelles Fehlver­halten in Ein­zelfällen aus der Verantwortung zie­hen. Viel­mehr wird klar, daß es sich um po­li­tisch zu verant­wortende Staats­verbrechen handelt.
Im ersten Teil berichtet España über die Inhalte und Ziele seiner Aus­bildung bei der Po­lizei und seine Tä­tigkeit in ge­hei­men Spezialeinheiten zur Auf­standsbekämpfung. Bereits die Schil­derung der durch stän­dige physische Gewalt gegen die Rekruten gekenn­zeichneten Lehr­zeit verweist auf ein System entwürdi­gender Praktiken und insti­tutionalisierten Machtmiß­brauchs. Aufgezeigt wird die schon gewohnheits­mäßige Ak­zep­tanz der tief verwurzelten Korruption auf allen Ebenen der Diensthierarchie, ebenso wie die ab­solute Verpflichtung zur strikten Ein­haltung von Befehls­ketten im Sinne eines Korpsgei­stes, der zu vielfältigen unge­setzlichen Handlun­gen geradezu auf­ruft.
Nach Aussagen Españas lag die nachfolgende Aus­bildung zum Einsatz in geheimen Poli­zei­einheiten, die er selbst als To­desschwadronen be­zeichnet, in Verant­wortung offizieller Ex­perten aus den USA und Israel. Auf der Grundlage einer ständi­gen ideologi­schen Indoktrinie­rung beinhaltete die Schulung neben Grausamkeiten gegen Tie­re vor allem das Erlernen grau­samster Folter­techniken und de­ren Übungsanwendung an ein­fachen Häftlingen. Als Ab­schluß­prüfung wurde der ak­kurat aus­geführte Folter­mord an einem Ge­fangenen verlangt.

Kopfgelder von höchster Regierungsebene

Die Beschreibungen der Ein­sätze der erlernten Methoden zur “Aufstandsbekämpfung” in der Pro­vinzhauptstadt Cu­enca gegen die kaum einflußreichen Gueril­lagruppen AVC und MPL lassen das Ausmaß der von staatlicher Seite begangenen Grau­samkeiten nur erahnen. Einsatzbe­fehle zum Mord an ganzen Familien ver­meintlicher Subver­siver, gezielte nächtliche Mordein­sätze gegen Ver­dächtige, die der Öffentlich­keit dann als im Kampf gefal­lene Guerilleros präsentiert wurden, und die dauerhaft genutzten ge­heimen Folterlager er­scheinen in der Darstellung nur noch als Routinevorkomm­nisse in der tägli­chen Dienst­pflichterfüllung in der SIC 10, einer “Anti­sub­ver­sionseinheit” der Polizei. Die wohl brisanteste und das Ver­trau­en in die staatlichen Organe am stärksten erschüt­ternde Ent­hüllung liegt in der Aussage Españas, die geheimen Poli­zei­schwa­dronen seien wäh­rend der Prä­sidentschaft Febres Corderos (1984-88) direkt dem Innenmi­nisterium unter­stellt ge­wesen. Von diesem hätten die Spe­zi­al­agen­ten auch ein geson­dertes Kopf­geld für jeden ermor­deten “Sub­versiven” er­halten.
1987 ließ sich España zur Krimi­nalpolizei nach Quito ver­setzen und wurde Anfang 1988 in der Dienststelle zufällig Zeuge der Folter und des Mordes an den min­derjährigen Restrepo-Brü­dern.
Dem folgte die Be­seitigung der Lei­chen und die offi­zielle Vertuschung möglicher Spuren und Beweise. Die Tatsa­che, daß das “Vergehen” der bei­den Ju­gendlichen scheinbar in einer Spritztour im Auto ihres Vaters be­standen hatte oder darin, einen ver­dächtigen Eindruck auf die Polizisten gemacht zu haben, verdeutlicht, wie sehr die Bru­talität der verrohten Sicherheits­organe sich verselbständigt hatte und quasi Amok gegen die Be­völkerung lief. Da die Familie der Ver­schwundenen recht ein­flußreich ist und so der Fall ein er­hebliches öffentli­ches Interesse her­vorrief, brachte sich España auch noch anderthalb Jahre spä­ter mit einigen unvorsich­tigen Bemerkungen über seine Kennt­nisse des tatsäch­lichen Hergangs selbst in Lebens­gefahr. 1991 machte er schließlich eine um­fas­sende Aussage vor der inter­na­tionalen Untersuchungskom­mis­sion zu diesem Fall.

Schlampige Aufarbeitung im Restrepo-Fall

Der zweite Teil seines Buches be­schäftigt sich aus­schließlich mit den Maßnahmen der Unter­su­chungskommission zum Re­stre­po-Fall, mit der mühsa­men Ermittlung und Auf­klärung trotz aller institutionellen Ver­schlei­er­ungsbemühungen und trotz der Mordversuche an España als ein­zi­gem direkten Zeugen.
Im Zuge der Spu­rensuche wurde die Existenz von Massen­grä­bern auf­gedeckt. Weitere Nach­forschungen zu den Ver­brechenshintergründen und Op­fern fanden jedoch offenbar nicht statt.
So bleibt die Auf­arbeitung dieser Übergriffe in vielen Aspekten unbefrie­digend: nach Mög­lichkeit verschlei­ert, daß es sich um Staatsverbrechen han­delt, was durch Vernichtung von Beweis­mitteln und das Beseiti­gen von Zeugen, sowie durch dienstin­terne Re­pression erreicht wird. Auffällig ist vor allem, daß der Schwerpunkt der Unter­su­chun­gen sehr einseitig auf unpo­litische Menschenrechts­ver­let­zungen gelegt wird, wohin­gegen die staatlichen Verbre­chen im Na­men der inneren Sicherheit kaum beleuchtet werden. Doch der Boden für die minde­stens ebenso bru­tale politische Repres­sion wird gleichzeitig weiter­hin vor­bereitet, indem indigene Or­ganisationen, die Land- und Minder­heitenrechte ein­fordern, als kommu­nistisch inspirierte Um­stürzler diffa­miert werden.

Betätigungsfeld für den “Weltpolizisten” USA

Trotz der deutli­chen Konzen­tration auf den offensicht­lich un­politischen Fall der Restrepo-Brüder enthält die schriftliche Zeu­gen­aussage des Ex-Po­lizisten España ei­nige Brisanz. Denn dieser zufolge ver­sammelte der Kom­mandant der Polizei­einheit wenige Tage nach dem Vorfall sämtliche Dienstha­benden, die durch Beteiligung oder Anwe­senheit während des Foltermor­des Kenntnis vom Schick­sal der Opfer hat­ten, um alle zur abso­luten Ver­schwiegenheit über die Vorkommnisse zu verpflichten.
Zudem läßt die von España erwähnte An­wesenheit zweier Agen­ten der US-Drogenbehörde DEA an diesem Treffen vermu­ten, daß zu­mindest in den 80er Jahren eine über die zuvor dar­gestellte Kontinuität der spe­zi­ellen Folter­ausbildung durch US-Personal hin­ausgehende, dau­er­hafte Zusammenar­beit in der sy­ste­matischen Anwendung staats­ter­roristischer Methoden gegen die Bevölkerung ge­geben war, die sich keineswegs auf die sogenannte “Auf­stands­be­kämp­fung” be­schränkte. Nur allzu deutlich wird hier die Men­schen­ver­ach­tung der Sicherheitsdok­trin der USA: in offiziellen US-Ein­heiten wurde ganz offenbar auf keine Mittel und Methoden verzichtet, um schnelle Erfolge in der vor allem in den 80er Jahren weitge­hend aus innen­po­li­tischen Moti­ven dramatisierten Be­kämpfung des Dro­genhandels und lin­ker Gruppierungen in La­tein­amerika prä­sentieren zu können. So er­scheint es geradezu als Hohn, daß seit einigen Jahren offizielle Vertreter von US-Behörden Ein­heiten der Polizei und der Streit­kräfte der la­tein­amerikanischen Länder Un­ter­richt in Sachen Menschen­rechte ge­ben.
Obwohl die in spe­ziellen Fol­ter­tech­niken ausgebildeten Son­dereinheiten der Polizei Ecua­dors 1991 auf Veranlas­sung des da­ma­ligen Präsidenten Borja aufgelöst und die Verantwortli­chen und Mittäter im Restrepo-Fall durch die Strafjustiz verur­teilt wurden, bleibt es fraglich, ob in den Behörden und Regie­rungs­kreisen inzwi­schen tat­säch­lich ein ernsthaftes Auf­klärungs­bedürfnis besteht. Über Rück­trit­te oder Amtsenthebun­gen in den ver­schiedenen militä­rischen Ein­richtungen, wo eben­falls Fol­ter­zentren existierten, ist jedenfalls nichts bekannt gewor­den.

Aufklärung unerwünscht

Die Einrichtung einer weite­ren, in­ternationalen Untersu­chungs­kommissionen zur Auf­klä­rung des Verschwindens von Ein­zelpersonen, de­ren Angehö­rige we­niger gesellschaft­lichen Einfluß gel­tend machen konnten als die Restrepo-Familie, wurde von Präsident Borja zwar ange­kündigt, aber nie realisiert. Die den Demonstra­tionen der Mad­res de la Plaza de Mayo in Ar­gen­ti­nien ähn­lichen Versamm­lungen von Angehörigen der Ver­schwundenen mittwochs auf dem Platz vor dem Präsi­den­ten­pa­last in Quito wurde von Borjas Nach­folger im Amt, Du­rán Ballén, 1993 untersagt, das Ver­samm­lungsverbot mit Poli­zei­ge­walt zeitweise auch durch­gesetzt. Hier offenbart sich die Absicht, staatliche Institutionen und auch hochrangige Personen innerhalb des Staatsapparates zu schützen, die den Terror anord­neten und unter Hinweis auf die “innere Si­cher­heit” rechtfertig­ten. Nach wie vor scheint diese dem Recht der Bevölkerung überge­ordnet, Re­chen­schaft über die staatli­chen Verbrechen gegen die Men­schen- und Bürgerrechte zu er­hal­ten. Ecuador wird wei­terhin als for­male Demokratie betrach­tet, in deren Rahmen der Staat das Gewaltmonopol als Vertreter der öffentlichen Inter­essen und des Ge­meinwohls für sich bean­sprucht.
Lange Zeit hatte es so ausge­sehen, als könnten sich die Be­fürworter eines Schlußstriches durchsetzen, die die Verbrechen möglichst unter den Teppich ge­kehrt lassen und damit ein Sy­stem schützen wollen, in dem die will­kürliche Gewaltanwendung ge­gen die Bevölkerung als not­wendig er­achtet wurde. Schüt­zenhilfe er­hielten diese Kräfte durch die eher ab­wiegelnde Haltung der Präsidenten Borja und Durán Ballén. Angesichts dessen ist es zu­mindest ein hoff­nungsvolles Zeichen, daß infolge der Aussagen Hugo Españas die Regie­rung sich nun zu konkreten Maßnahmen veranlaßt sah, um dem Eindruck ent­gegenzutreten, sie bagatellisiere die Verbrechen und decke die Schuldi­gen. Zu er­höh­tem Handlungsdruck hat sicher­lich auch ein Anfang Sep­tember im Privatsender Ecuavisa ausge­strahlter Fernseh­beitrag unter dem Titel “Nunca más” beigetragen. Hier­nach könnten zwei weitere Massengrä­ber aus­findig ge­macht werden, deren Lage España in jüngsten Aussa­gen bezeichnet hat. Wenn auch Febres Cordero, der frü­here Staatspräsi­dent, die Anschuldi­gungen Españas als Hirngespin­ste abtut und für viele die Glaubwürdigkeit des Ex-Polizi­sten auf­grund seiner Vergangen­heit und eventueller Ungereimt­heiten seiner Aussagen insbe­sondere zur eigenen Person in Zweifel steht, heben andererseits Kom­mentatoren in der ecuato­rianischen Presse hervor, daß die Detailkenntnis in Españas Aus­sagen für dessen Glaubwürdig­keit spricht. Vor dem Hinter­grund einer durch den erwähnten Fernsehbeitrag hellhörig gewor­denen Öffentli­chkeit sind im Septem­ber zwei mit der Aufar­bei­tung der Menschenrechtsver­letzungen be­faßte Kommissionen ins Leben gerufen wor­den. Wäh­rend eine Mehrparteien­kom­mis­sion des Kon­gresses den Vor­würfen Españas nachgeht, soll eine durch Ministerbe­schluß und mit Un­terstützung des Präsi­den­ten Abdalá Bucaram einge­rich­te­te “Kommission für Wahr­heit und Gerechtigkeit” in­nerhalb der näch­sten 12 Monate alle nicht geklärten Fälle grober Men­schen­rechtsverletzungen der letz­ten 17 Jahre – das heißt, seit das Land for­mal demokratisch re­giert wird – un­tersuchen. Po­sitiv hervorzuheben ist, daß die­ses Organ prinzipiell mit der Be­fugnis ausge­stattet ist, Fälle an die Strafjustiz zu übertragen. Es wird interessant sein, weiter zu verfolgen, mit wel­chem Nach­druck diese Untersuchun­gen durch­geführt werden und ob sie tatsächlich jemals strafrechtliche Kon­sequenzen zeitigen. Skepsis in dieser Hinsicht ist ange­bracht, wenn man sich vor Augen hält, wie die Arbeit der Untersu­chungskommission zum Fall der Restrepo-Brüder ganz strikt auf den vermeintli­chen Einzelfall be­grenzt wurde und alle Versu­che zur Offenlegung der Struk­turen, aufgrund derer dieser sich hatte ereignen kön­nen, im Sande ver­liefen. Das Drängen auf lüc­kenlose Klä­rung der Vor­fälle und Offenlegung der Ver­ant­wortlichkeiten ohne Scho­nung der obersten Befehls­geber ist eine zen­trale Forderung von amnesty interna­tional. Wie von der Ecuador-Koordina­tion der Organisa­tion mitgeteilt wurde, ist einer Delegation des BMZ, die Ecuador im No­vember be­reist hatte, die Aufgabe mit auf den Weg gegeben worden, diese An­liegen bei ihren Treffen mit Vertretern der ecuatorianischen Regierung anzu­sprechen.

Gemeinsame Realitäten

Nahezu sieben Jahre ist es her, daß Vanete Almeida aus Pernambuco die Idee zu diesem Treffen hatte, als sie während des 5. lateinamerikanischen Fe­ministinnentreffens feststellte, daß unter 3000 Teilneh­merinnen lediglich sieben Landfrauen wa­ren.
Sie ist eine der Hauptorgani­satorinnen des Treffens und seit 20 Jahren in der Landfrauenbe­wegung im brasilianischen Nord­osten tätig. 1993 begannen die eigentlichen Vorbe­reitungen mit Tref­fen von Basisgrup­pen, Ko­ope­rativen und Gewerk­schaften auf regionaler bzw. na­tionaler Ebene. Hier wurden die The­men­schwer­punkte des 1° ENLAC dis­ku­tiert und an die in­ter­na­ti­o­na­le Ko­ordination, die sich eben­falls 1993 das erste Mal in Forta­leza und ein zweites Mal 1995 am Rande der Weltfrauen­kon­fe­renz in Peking traf, weiter­ge­ge­ben.
“Die meisten Landarbeiterin­nen leben sehr isoliert, ohne Te­lefon, und es mußten viele, viele Ki­lometer zu Fuß zurückgelegt wer­den, um an die Frauen heran­zu­kommen.”

Begriffsbestimmung

Auf der Suche nach einer ge­mein­samen Diskussionsgrund­lage stellte sich in Kleingruppen und den anschließenden Ple­nen heraus, daß unterschiedlichste Be­reiche und Beschäftigungs­ver­hält­nisse berück­sichtigt wer­den müs­sen. So zum Beispiel unter­schei­det sich die älltägliche Ar­beit einer boliviani­schen Mi­nen­ar­beiterin ganz erheblich von dem, was man allgemein unter Land­frauen­arbeit verstehen wür­de. Die Defini­tion, die für alle Frau­en gleicherma­ßen paßte, war fol­gende: Sie lebt auf dem Land, er­nährt sich und ihre Fa­milie, ihre Arbeit wird oft nicht als Extraarbeitskraft erwähnt und sie lei­det fast immer unter der Dop­pel­belastung Landar­beit­/Haus­ar­beit. Bei Kreditver­gabe­pro­gram­men werden Land­frauen so gut wie nie berück­sichtigt, da sie als Fa­milienvor­stände nicht aner­kannt werden. Auch der Land­erwerb ist in vielen Ländern den Män­nern vorbe­halten, ge­nau­so wie der Verkauf von Pro­duk­ten.
Das Schicksal des Ehren­gastes Dona Elisabeth Alpina Teixeira, die nach der Ermor­dung ihres Mannes 17 Jahre un­ter falschem Namen lebte, ist leider keine Seltenheit. Während des Erfah­rungsaustausches zum The­ma “Gewalt gegen Land­frau­en” berichteten erschüttern­der­wei­se viele Frauen über sehr ähn­liche Er­fahrungen mit physi­scher, psychischer, sexueller und öko­no­mischer Gewalt in­nerhalb der Familie, bei der Arbeit, in Or­ganisationen und durch die Re­gierung. Vergewaltigungen von Ehefrauen und Töchtern mit an­schließenden Mord­drohungen, falls die Opfer es wagen sollten sich zu wehren, sind keine Sel­ten­heit.
Die Landarbeite­rinnen über­leg­ten sich Strategien, wie sie ihre Situation und die ihrer Kin­der verbessern können. Wichtige As­pekte waren die Erziehung der Kin­der im Hin­blick auf Gleich­be­rechtigung und die Stärkung der Landarbeiterinnenorganisa­tio­nen.

Verarmung und Globalisierung

Auch ökologische Themen spielten eine wichtige Rolle wäh­rend des Treffens. Vor einem imaginären Tribunal klagten die Cocaleiras (Kokapflanzerinnen) aus Kolumbien ihre Regierung an, die Herbizide im Kampf ge­gen den Drogen­handel versprüht und dabei die Ver­giftung von Arbei­terinnen und deren Kindern in Kauf nimmt. Für viele Land­arbeiterinnen ist der Anbau von Koka die einzige Chance zu überleben, denn der ehemals be­triebene Kaffee­anbau bringt kei­nen Gewinn mehr.
Im Laufe der Dis­kussion wurde ein Zusammenhang zwi­schen zunehmender Verarmung im rura­len Sektor und Globali­sierung der Wirtschaft bzw. neo­liberaler Politik hergestellt, da die Staaten ihre Aus­gaben für Bildung, Gesundheit und techni­scher Unter­stützung mit fort­schrei­tender Glo­balisierung re­duzieren, wovon Frauen beson­ders betroffen sind. He­lena Selma (Universidade Fede­ral do Ceará) for­derte eine differen­zierte Agrarpolitik im Sinne von “positiver Diskrimi­nierung” von Min­derheiten wie z.B. Kleiner­zeugerInnen, um überhaupt eine Kon­kurrenzfähigkeit gewährlei­sten zu können.
Zwischen Diskussi­onsrunden und Ple­nen hatten die Veran­stalterinnen bewußt Raum für kulturelle Veran­staltungen gelas­sen, der den Frauen die Mög­lichkeit gab, ihre eigene kul­turelle Identität mit Musik, Kunsthandwerk und typischer Kleidung in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu stellen. Hier wurde die Hetero­genität, die sich vorher in den Diskussionsbeiträ­gen gezeigt hatte, noch einmal sichtbar.
Trotz einiger organisatori­scher Mängel bedeutet das 1° Encontro Latino-Americano e do Ca­ribe da Mulher Tra­balhadora Rural einen wichtigen Schritt für die Landarbeiterinnenbewegung in Lateiname­rika und der Kari­bik. Für die meisten Landarbeite­rinnen und vor allem für die, die noch nie die Möglichkeit hatten ihre Region, geschweige denn ihr Land zu verlassen, war die wichtigste Erfahrung, zu wis­sen, daß es sehr viele Frauen mit den gleichen Problemen, Ängsten und Hoff­nungen gibt, die für diesselbe Sache kämpfen.

KASTEN

Ehrengast Dona Elisabeth Altina Teixeira

Dona Elisabeth Altina Teixeira, eine heute 71jährige Bäuerin aus Paraíba, wurde 1984 be­rühmt, als der Dokumentarfilm “Cabra Marcado pra Morrer” (“Die zum Sterben verurteilte Ziege”) den goldenen Tukan auf dem Filmfestival in Rio gewann. Der Film erzählt die Geschichte ihres Le­bens und der Ermordung ihres Ehemannes Joâo Pedro Teixeira.
Der Regisseur Eduardo Coutinho hatte Dona Elisabeth bei einem Protestmarsch sieben Tage nach dem Mord angesprochen, um mit ihr einen Film zu drehen, in dem sie sich selber darstellen sollte.
Einen Monat nach Drehbeginn gab es den Mi­litärputsch. Das Filmaterial, von dem sich ein großer Teil schon in Rio befand, wurde beschlag­nahmt und die Leute unter dem Verdacht der Gründung einer Guerilla verhaftet. 1981, also 17 Jahre später, drehten sie den Film zuende.
Dona Elisabeth, die die erste Tochter eines Großgrundbesitzers war, heiratete 1942 den Land­arbeiter Joâo Pedro Teixeira, was ihr ihr Vater nie verziehen hat. Ihr Mann gründete in den 50-er Jah­ren in Sapé die Landarbeitervereinigung Associa­çâo dos Trabalhadores Rurais, die, obwohl sie zu damaliger Zeit nicht als Gewerkschaft registriert werden konnte, nach kurzer Zeit rund 1700 Mit­glieder hatte. 1962 wurde Joâo Pedro Teixeira in einem Hinterhalt ermordet.
Wenn Dona Elisabeth sich gefügt hätte, hätte sie mit der Unterstützung ihrer Familie rechnen kön­nen, aber sie entschied sich, den Kampf ihres Ehemannes fortzuführen. Sie wurde kurz nach dem Militärputsch für vier Monate ins Gefängniss ge­sperrt und flüchtete nach ihrer Freilassung mit ih­rem jüngsten Sohn nach Rio Grande do Norte, wo sie 17 Jahre unter dem falschen Namen Marta Ma­ria da Costa lebte. Ihre anderen neun Kinder mußte sie zurücklassen und sah sie erst nach der Amne­stie Anfang der 80er Jahre wieder.
In den folgenden Jahren setzte sie sich uner­schrocken für die Landlosen ein und wurde 1988 Zeugin wie einer ihrer Söhne, der zusammen mit 30 Landarbeitern die Landarbeitervereinigung As­sociaçâo de Pequenos Produtores Rurais gegrün­det hatte, ermordet wurde. Ihr Mut und ihre Uner­schrockenheit brachten ihr sogar eine Einladung von Fidel Castro ein, der nach dem Tod ihres Mannes ein Beileidstelegramm schickte und einem ihrer Söhne ein Jurastudium in Kuba ermöglichte.
“Wenn ich heute so viele companheiras aus so verschiedenen Ländern hier sehe, dann weiß ich, daß sich all das Leiden gelohnt hat”, sagte Dona Elisabeth auf dem 1° Encontro Latino-Americano e do Caribe da Mulher Trabalhadora Rural.

Wände ohne Ende

“Die Wandmalerei ist die höch­ste, folgerichtigste, reinste und stärkste Form der Malerei; (…) sie ist auch die uneigennüt­zigste, weil sie nicht zum Gegen­stand persönlichen Nutzens ver­wan­delt, noch zum Vorrecht ei­ni­ger weniger versteckt werden kann. Sie ist für das Volk. Sie ist für ALLE.” So beschrieb einst der mexi­kanische Wandmaler Jo­sé Clemente Orozco (1883-1949) die Vorzüge dieses Gen­res. In der Hauptstadt Mexikos ver­gab die Regierung nach der Re­volution (1910-1917) viele Auf­träge zur Ausgestaltung öf­fent­licher Gebäude. Die drei wich­tigsten Wandmaler dieser Zeit sind auch bei uns bekannt: Orozco, Diego Rivera (1886-1957) und David Alfaro Siquei­ros (1896-1974). Ihre Wandge­mäl­de beschrieben dabei nicht nur die präkolumbische Vergan­gen­heit, sondern vermittelten auch die seinerzeit aktuellen Re­gie­rungsprogramme. So wurden In­dustrialisierung, Alphabetisie­rung und die Verstaatlichung aus­ländischer Erdölgesellschaf­ten zu vorrangigen Themen. Die Wand­malerei wandte sich dabei als Bilderbuch an die Armen, die häu­fig Analphabeten wa­ren. Un­ter­drückung und Aus­beu­tung wur­den an den Häuserwän­den an­geprangert und eine so­zia­li­sti­sche Utopie aufge­zeigt. In Los Angeles, ebenso wie Mexiko-Stadt Partnerstadt Ber­lins, gibt es wohl derzeit die meis­ten Wandgemälde der USA. Auch hier begann die Begeiste­rung für die Wand­malerei schon früh in diesem Jahrhundert. In den 30er Jahren, zur Zeit des New Deal, unterstützte die Re­gie­rung Roosevelt die Wandma­ler­ei durch Künstlerförderungs­pro­gramme. Die Idee kam aus Me­xi­ko, und folgerichtig be­ka­men mexikanische Maler die er­sten Auf­träge.
Seit den Zeiten der Bürger­rechts- und Studentenbewegung ist vor allem die Geschichtsauf­ar­beitung aus der Sicht von un­ten Thema der Wandbilder. Da­bei wird die Community häufig in Planung und Aus­führung der Wand­gemälde miteinbezogen. In der aktuellen Wandmalerei spie­len die aus Mexiko einge­wan­der­ten Chicanos, die die mul­ti­kul­tu­rel­le Stadt besonders prä­gen, eine wichtige Rolle. So sind Ras­sis­mus, Arbeitslosigkeit, Dro­gen, Ge­walt und die eigene Iden­ti­täts­fin­dung Themen vieler Wand­ge­mäl­de in Los Angeles.
In Berlin schließlich gibt es die längste Freiluftleinwand der Stadt seit einiger Zeit nicht mehr. Die Mauer war fast 30 Jah­re das gesellschaftliche und äs­thetische Stim­mungsbarometer West­ber­lins. Doch auch die an­de­ren, meist mit öffentlichen Mit­teln ge­förderten, mehrere hun­dert Häu­serwandbilder kön­nen sich se­hen lassen. Mitte der 70er Jah­re begann in Westberlin die Aus­ge­staltung der Wände, vor­nehm­lich aller­dings domi­niert vom Ge­danken der Stadt­ver­schö­ne­rung. Auch in Ostber­lin spielten die Außenwandbilder eine Rolle, zumal sie als staatli­che Auf­trags­kunst in besonde­rem Maße als Er­ziehungsmittel ge­nutzt wur­den. Später mit der Haus­be­set­ze­rIn­nen­bewegung wur­den im West­teil verstärkt ge­sell­schafts­po­litische Themen auf­gegrif­fen. In den 90er Jahren ent­standen so­wohl im Ost- als auch im West­teil weitere Wand­bil­der, da­run­ter eines, bei dem Künstler aus L.A. mit Ber­li­ner Ju­gendli­chen zusammenar­bei­te­ten.
All dies kann man in dem Buch “Mural Art” nachlesen oder besser, sich auf über 150 far­bigen Abbildungen an­schau­en. Es ist vermutlich der erste Ver­such, die Wandmalerei dieser drei Partnerstädte zu ver­glei­chen. Diese vortreffliche Idee hat­te Heinz J. Kuzdas. Das Buch über­zeugt insbesondere durch den Text von Michael Nung­es­ser, ei­nem ausgewiese­nen Ex­per­ten für Wand­malerei. Der Text ist drei­sprachig abge­druckt, eben­so wie die Bildtitel fast aller Wand­ge­mälde. Die Grußworte der Bürgermeister von Berllin und Los Angeles hätte sich der Verlag allerdings sparen können.

Heinz J. Kuzdas: “Mural Art”. ISBN: 3-929139-59-6, Schwarzkopf & Schwarz­kopf

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

Brecht plus Artaud

Herr Pérez, Sie sind Chilene und haben “Quartett” von Heiner Müller in Santiago de Chile inszeniert. Wie sind Sie auf Heiner Müller gekommen?

Ich habe Heiner Müller in Deutschland kennen­gelernt, und auch seine Texte, die mir ungeheuer interessant und auch beunruhigend erschienen. Und gleichzeitig auch unheimlich komplex.

Warum haben Sie dann aus der Vielzahl von Müllers Stücken gerade “Quartett” ausgewählt?

Ich hatte vorher keinerlei Zugang zu Müllers Texten, da sie in deutscher Sprache erschienen. Der erste Text, der sich mir schließlich erschlossen hat, war “Quartett”. So kam mir die Idee, eine Ver­sion hiervon in Chile zu inszenieren, denn soweit mir bekannt war, war bisher von Müller nichts in Chile aufgeführt worden. Dabei ist Müller einer der Großen, wenn nicht der Große dieses Jahrhun­derts, nicht nur im Hinblick auf die Dramaturgie in Deutschland, sondern weltweit. “Quartett” reizte mich auch, weil der Text nicht ganz so fragmenta­risch ist. Deshalb schien er mir ideal, um mit dem Autor hier in Chile zu beginnen. Weil Heiner Müller eben komplex ist – und wunderbar.

Komplex, fragmentarisch… ist es schwierig, einen solchen Autor in Chile einzuführen?

Ich glaube nicht. Ich denke, daß die Schwierig­keit eher im Ideentheater als solchen liegt, nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika. Es geht darum, den Leuten eine andere Sprache nahe­zubringen, die Fähigkeit, neue, ungewohnte Ideen zu denken. Und diese Funktion erfüllt “Quartett” für mich. Ich weiß nicht, ob es einfach oder schwierig ist, glaube aber, es war wichtig, hier einen Weg zu öffnen, und wenn er einmal offen ist, in dieser Richtung weiterzugehen.

Sie bezeichnen Heiner Müller als einen der Großen des Jahrhunderts. Warum?

Ich weiß, daß ich ein wenig übertreibe – nun gut, ich bin Lateinamerikaner. Ich denke, er ist ei­ner, dem es gelingt, zu vereinigen. Und das ist für mich das wichtigste am Ende eines Jahrhunderts, das von sehr großen Schrecken geprägt ist. Ein Jahrhundert, in dem Menschen brutal ihre Herr­schaft über andere Menschen ausüben. Ein Jahr­hundert, in dem einem Menschen brutal durch die Hand eines anderen Menschen das Leben genommen wird. Und am Ende eines solchen Jahr­hunderts ist es Müller meiner Meinung nach ge­lungen, die beiden wichtigsten Strömungen des Theaters zu vereinen. Das sind Brecht und Artaud – Verstand und Leidenschaft. Und in diesem Sinne ist es ihm gelungen, über das Bisherige hinauszu­gehen.

Das Werk Heiner Müllers ist demnach also kein sehr deutsches Werk, das nur in Deutsch­land verstanden wird?

Heiner Müllers Ursprung ist ein Land, das mei­ner Meinung nach die realgewordenen Ängste die­ses Jahrhunderts in Europa konzentriert. Dort wur­den die Greueltaten des Jahrhunderts verübt, un­glaublich Schreckliches, das natürlich genausogut auch an einem anderen Ort stattfinden könnte. Ich meine damit, die Menschheit sucht sich einen Ort, an dem diese Schreckensängste Wirklichkeit wer­den, und dies geschah eben in Deutschland. Jen­seits von der konkreten politischen Lage dort. Und das macht diesen Schrecken wieder universal.

Sie waren eine Zeitlang in Deutschland. Macht es das für Sie einfacher, das Werk von Heiner Müller zu verstehen? Aufgrund der Tatsache, daß Sie Deutschland, das deutsche Theater kennen?

Mehr als die Kenntnis des Theaters ist es die Kenntnis der Straßen. Das Kennenlernen einer Stadt wie Berlin – mit wie auch ohne Mauer. In die S-Bahn einsteigen und “auf der anderen Seite” wieder aussteigen. Friedrichstraße – das ist eine andere Welt, das ist “der Osten”. Da liegt dieser Schrecken aus den Werken Heiner Müllers spürbar in der Luft.

Nochmal zu “Quartett”. Heiner Müller hat die Szene in einen Bunker nach dem Dritten Welt­krieg verlegt, aber das klingt in Ihrer Inszenie­rung nur ganz sacht an.

Der Krieg hier tritt nicht so unmittelbar in Er­scheinung wie der europäische Krieg – ein Krieg im eigenen Haus. Heiner Müller sagte selbst, daß sein Werk absolut von dem Ort abhängt, an dem es inszeniert wird. Also vom sozialen, kulturellen und politischen Kontext, in dem das Werk gespielt wird. Aus meiner Sicht, als Chilene, denke ich, daß der von mir gewählte Ort der Handlung der rich­tige ist, um das Stück in dieser Kultur aufzuführen. Alles andere wäre europäisch: Mitten im Schutt und Valmont mit einem Hakenkreuz. Aber das ist nicht hier, das ist nicht Chile.

Zu Ihrer Inszenierung gibt es die Kritik, sie re­duziere das Werk auf eine Liebesbeziehung. Was sagen Sie dazu?

Neben dem gerade genannten politischen Ele­ment gibt es noch ein zweites, mit dem ich diese Idee des verliebten Paares grundsätzlich aufbre­chen wollte: Die Besetzung. Alfredo Castro und Delfina Guzman sind zwei große chilenische Schauspieler aus zwei unterschiedlichen Genera­tionen (ich gehöre bereits der nächsten an), die meiner Auffassung nach die wichtigsten in der Ge­schichte dieses Landes sind. Mittels der zwei kämpferischen Persönlichkeiten, die diese beiden Schauspieler verkörpern, prallen zwei Strömungen aufeinander, die sich in Chile anscheinend nicht versöhnen ließen. Und hier ist der politische Kommentar. Wer sind diese beiden, die sich da einander stellen, die sich nicht verstecken, die sich gegenübertreten mit ihrer unterschiedlichen Art, Theater zu spielen? Das ist eine Reflexion über das Theater innerhalb des Theaters.

Die beiden Schauspieler waren zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne?

Richtig. Und niemand hätte erwartet, diese bei­den jemals zusammen in einem Stück zu sehen, denn sie vertreten zwei entgegengesetzte Strömun­gen.

Sie sind selbst auch Darsteller in La Misión (“Der Auftrag”), einem anderen Stück von Hei­ner Müller, das hier in Santiago mit dem deut­schen Regisseur Alexander Stillmark inszeniert wurde. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser chilenisch-deutschen Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht groß an Unterschiede zwischen deutschem und chilenischem Theater. Ich glaube, es gibt Regisseure und Schauspieler. Es war für mich die Arbeit mit einem neuen Regisseur. Dabei ging es besonders um die Beziehung, die der Schauspieler zum Text hat, nicht der Schauspieler zur Person.

In La Misión spielen sie den Mann im Aufzug. Diese Überpünktlichkeit, dieses Duckmäuseri­sche mutet “typisch deutsch” an. Ist es Ihnen schwergefallen, diesen Büroangestellten zu spie­len?

Mehr noch als in Personen versetzt man sich in Situationen. Und diese Situation lebt von der Iro­nie, die ich auch gemeinsam mit Alexander ent­deckt habe. Der Kommentar zu unserem Theater in Chile ist immer, daß wir zuviel weinen. Das stimmt, wir weinen viel, ihr in Deutschland weint weniger. Ihr seid dem Schrecken näher als dem Schmerz. Wir sind dem Schmerz näher. Wir hatten hier in Chile unseren eigenen Krieg, einen bewuß­ten Krieg mit viel Idealismus. Aber in Deutschland nicht. Dort fielen die Bomben in die Häuser, und Du mußtest fliehen, um nicht zu verbrennen. Es gab kein Zurück, das war das Schreckliche. Die Beziehung zu Schmerz und Schrecken ist also eine unterschiedliche. Diese Erkenntnis hat mir sehr für die Szene im Aufzug geholfen. Ich habe gelernt, daß man einen Text auch über die Ironie erreichen kann und nicht unbedingt durch Schmerz.

Und die Idee, diese Szene in deutsch zu spielen und einen Übersetzer daneben zu setzen? Diesen Ausländer, der so absurde Gedankengänge über­setzen muß?

Die Ironie verdoppelt sich. Zusätzlich verstärkt sie sich noch, wenn ich, mit dunkler Hautfarbe, ab­solut ein Lateinamerikaner, sage: Ich, Europäer. Ich blicke ein bißchen von oben herab auf Peru, aber gleichzeitig bin ich Peru. Da wird vieles ver­dreht. Die Idee ist, die Dinge auf den Kopf zu stellen: Durch eine Tür eintreten und durch eine andere wieder zurückzukehren. Meiner Meinung nach ist dies die Basis für das, was Ironie im Theater sein könnte: Sich durch Humor vom Text distanzieren, damit sich der Text verständlich ma­chen kann.

José Donoso ist tot

Der chilenische Schriftsteller José Donoso starb am 7. Dezember in Santiago.
Donoso, Jahrgang 1924, trat vor allem durch seine Romane hervor. Bereits Coronación (Krönung, 1957) wurde begeistert aufgenommen. Es folgten El lugar sin límites (Ort ohne Grenzen, 1967), El obsceno pájaro de la noche (Der obszöne Vogel der Nacht, 1970), Casa de campo (Das Landhaus, 1978) und Deseperanza (Die To­teninsel, 1986) – Bücher, die ihm den Ruf als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas si­cherten.
Insbesondere Casa de campo und Desesperanza sind Bücher mit deutlichen Anklängen an Chile und seine jüngste Geschichte, und dennoch kann man Donoso wohl als Weltbürger par excellence bezeichnen. So schrieb der Anglist seine ersten Er­zählungen auf Englisch und veröffentlichte sie 1950 als Stipendiat in Princeton. Später lebte er in Argentinien, Me­xiko, den USA und schließlich lange in Spanien, bis er 1981 nach Chile zu­rück­kehrte. Das Werk Donosos ist in viele, auch außer­europäische Spra­chen übersetzt. Für die kom­men­den Jahre ist mit einigen weiteren, bis jetzt noch nicht auf Deutsch erschienenen Büchern zu rech­nen, so mit Donde van a morir los elefantes (Wo die Elefanten ster­ben, 1995) und den Memoiren Conjeturas sobre la memoria de mi tribu (Ver­mutungen über das Ge­dächtnis meines Stammes, 1996). In El Mocho, das in den nächsten Monaten auf Spanisch erscheinen soll, geht es um “Verschwundene” während der Pi­nochet-Diktatur.
Für das Februar-Heft der LN ist ein ausführli­cher Beitrag über José Donoso vorgesehen.

Samuel Ruíz als Comic-Figur

Die Schwestern Amalia und Be­gonia wachsen im Italien der sech­ziger Jahre auf. Sie bewegen sich in marxistischen Studenten­zir­keln und sind der Ansicht, et­was für das Wohl der Mensch­heit tun zu müssen. Aus der pa­tri­archalen Welt der Eltern bre­chen sie auf, suchen nach gang­ba­ren Wegen sich zu engagieren. Sie werden – so Amalia bei der FAO und Begonia als Leiterin ei­nes kolumbianischen Kinder­buch­verlags – Teil jenes ent­wick­lungs­politischen Etablisse­ments, das ja in den letzten Jah­ren tat­säch­lich ein beträchtliches Ter­rain in der Politik gewonnen hat. Mal leben sie ganz dicht bei­sam­men, mal weit voneinander ent­fernt, aber in Kontakt bleiben sie immer. Dafür sorgt vor allem die Grundkonstellation dieser Ge­schwi­ster­beziehung: Während der at­traktiven Amalia alles zu­fällt und ihr die Männer nur so nach­lau­fen, bleibt Begonia stets zwei­te Wahl. Nach langwierigem Hin und Her mit endlosen Job-, Orts- und Männerwechseln blei­ben sich die Frauen schließlich selbst übrig und stellen fest, daß es sich so, gemeinsam, vielleicht von Anfang an am besten gelebt hätte.
Diese Geschichte taugt durch­aus für einen Roman. Es könnte da­rin von einer Schnellebigkeit zu lesen sein, in der wir infor­ma­tions­überfluteten Neuzeit­men­schen uns wiederzu­erkennen ver­möch­ten. Worauf auch immer so ein Buch hinaus­wollte, ob auf eine Parodie des internationalen Po­litiktheaters, ob auf den Be­schluß, sich per Ausstieg von dem ganzen Rum­mel fern­zu­hal­ten, ob auf das Lob der Lang­sam­keit oder darauf, uns slap­stick­artig vorzuführen, was für Ko­bolze unser Gehirn bei der täg­lichen Zeitungslektüre schießt – es ist vieles möglich. Es könnte da­rauf hinauslaufen, die Welt so gut­zuheißen, wie sie ist, oder ei­nen gewagten Denkvor­stoß zu ma­chen, bei dem einem die Luft weg­bleibt, weil da noch keiner drauf gekommen ist – ei­nerlei.

Wildern in der Vergangenheit

Francesca Gargallo, selbst ge­bür­tige Italienerin und als junge Frau nach Mexiko gekommen, be­gnügt sich damit, durch die Hin­terlassenschaften der letzten Jah­re zu wildern. Dabei wird al­les mögliche erwähnt, die brasi­li­ani­sche Militärdiktatur genauso wie der kolumbianische Bürger­krieg, die sandinistische Revolu­tion in Nicaragua und das Ende der Sowjetunion. Dom Helder Ca­mara und Leonardo Boff ste­hen neben Lula und Samuel Ruíz. Amalia und Begonia ma­chen jede Menge “Erfahrungen”, sie meditieren in einem Apen­nin­kloster, lieben diesen und je­nen, brausen durch die Welt, ver­ir­ren sich im Amazonasur­wald. Die Liste läßt sich fast be­liebig fort­setzen. Aber das war es auch schon. Die Geschichte wird noch ein wenig in die Zukunft ge­spon­nen, ohne daß sich da­durch ir­gend­etwas ändern würde. Die Per­spek­tive ist die von Begonia, die ih­rer Nich­te, also Amalias Tochter, alles erzählt. Aber dann ist sei­ten­lang diese Du-Be­zie­hung gar nicht wichtig, Begonia er­zählt mun­ter im Ich, und es hat ge­le­gent­lich den Anschein, als hät­te sich die Autorin daran er­in­nert, daß sie ja in der Du-Form schrei­ben wollte, und fügt statt “Ama­lia” “Deine Mutter” ein… Es wird nicht klar, wozu die Per­spek­tive eigentlich dienen soll.
Darin liegt die hauptsächliche Schwäche des Buches: Nichts be­deu­tet etwas. Alle Szenen, Fi­gu­ren, Ereignisse, die so rasch ab­laufen, wie wenn man ein Vi­deo schnell durchspulen läßt, sind einfach so da und im näch­sten Moment wieder weg. Jede Mei­nung, die geäußert wird, kann auf der nächsten Seite ver­ges­sen sein, von ihrem Gegenteil ver­drängt, entwertet. Die Ge­schich­te ist eigentlich ein Comic; es fehlt jeder Schatten, es fehlen Nu­ancen, Verflechtungen und Wir­kungen.
Nun deckt sich ja diese kurz­le­bige Bedeutungslosigkeit nur all­zu genau mit dem, was uns all­täglich umgibt (nehmen wir nur das Fernsehprogramm). Und es wäre packend zu lesen, was diese unsere Wahrnehmung für Fol­gen hat, es wäre brisant zu er­fah­ren, was in einem Menschen vor sich geht, der sich heute im Ur­wald etwas über die spirituelle Kraft des Mondes sagen läßt und mor­gen im Flugzeug große Ent­fer­nungen überwindet. Aber das ist für Gargallo alles kein Pro­blem.
Francesca Gargallo setzt ein­fach noch eins obendrauf, sie spielt das Spiel mit und merkt nicht, was für eines es ist. Ein Satz als Beispiel, der zugegebe­ner­maßen aus dem Kontext ge­ris­sen, aber doch typisch ist: “Als sein Flugzeug abhob, at­mete ich erleichtert auf.” So ein­fach ist das: Das Flugzeug hebt ab, schlenz, sie atmet auf, hach. Alles klar, Problem gelöst. Fünf­zehn Zeilen später schläft sie mit dem nächsten Mann.
Die Hast, mit der das Buch durch seine Geschichte stolpert, wird nie thematisiert. Aber es hat auch nicht den Anschein, als handle es sich um eine Parodie, um ein Dokument eines verpaß­ten Lebens, das uns auf dessen Ver­luste aufmerksam machen soll. Nein, die Eiligkeit, eine Bo­den­losigkeit im eigentlichen Wort­sinne, ist verinnerlicht, als Le­bensform akzeptiert, für nor­mal befunden. Die Comic-Figu­ren sind das Leben, und auf Schat­tierungen kann verzichtet werden.
Leider bleibt es nicht bei dem schauer­lichen Mangel an Refle­xion, denn auch sprachlich ist der Roman stellenweise unge­nieß­bar. Zwar ist die Unbedarft­heit, mit der die Personen durchs Le­ben geistern, in manchen Sze­nen gut getroffen, aber dazwi­schen stehen Formulierungen, bei denen sich einem das Nak­ken­haar aufrichtet. Ein Beispiel: “Mich für Roberto anzuziehen, mich von ihm ausziehen zu las­sen, eine bestimmte Bettwäsche auf unser Bett aufzuziehen, ge­mein­same Pläne zur Wohnungs­ver­schönerung, zu kochen und den Tisch für ihn mit Tischdecke und Blumen zu decken – das wa­ren Ausdrucksformen eines ritu­el­len Verhaltens, das ich in der zwei­fachen Absicht zelebrierte, ihm eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, daß er mir ge­fiel.” Die “gemeinsamen Pläne zur Wohnungsverschönerung” pas­sen weder grammatikalisch noch (in ihrem Bürodeutsch) sti­li­stisch in den Kontext. Hat ein “ri­tuelles Verhalten” “Aus­drucks­formen”, oder ist nicht ein Ri­tual selbst schon Ausdruck? Wei­ter: “die Wunde des Zu­rück­ge­wiesenseins”, “…die Per­so­ni­fi­zie­rung meiner eigenen Ab­leh­nung des Norma­len” – geht’s nicht ein bißchen ele­ganter?
Den Vogel schießt Gargallo mit folgendem Satz ab: “Mir ge­gen­über tat Amalia so, als seien die körperliche Verfassung ihres Man­nes, die Unmengen Tablet­ten, die er schluckte, und die Für­sorge, mit der sie selbst ihn um­gab, nicht so unübersehbar, daß ihre Angestrengung [sic], so zu tun, als habe sich in unserem Le­ben nichts verändert, sinnlos wur­de.” Dafür würde selbst ein Phi­losophiestudent in seiner Pro­se­minararbeit vom Professor ein “A” wie “schlechter Ausdruck” an den Rand gekritzelt bekom­men.
Daß der Eichborn Verlag Fran­cesca Gargallo im Klap­pen­text zur “neuen Generation er­folg­reicher feministischer Au­to­rin­nen Mexikos” rechnet, macht stut­zig – was ist an diesem Buch fe­ministisch? Daß die Er­zählerin ihre sexuellen Lüste und Fru­strie­rungen nicht draußenläßt, son­dern einbezieht? Daß am Schluß angedeutet wird, daß die drei Frauen zusammenziehen? Oder soll das heißen, daß von Frau­en geschriebene Literatur immer gleich feministisch ist? Wozu dann das Etikett? Zur Stei­ge­rung der Verkaufsrate, weil “fe­ministisch” gut klingt?
Schließlich wird noch be­haup­tet, diese Generation, zu der die Au­torin des Erstlings nun ge­hö­ren soll, wäre auch die von Ele­na Po­niatowska. Einmal ab­gesehen da­von, daß Poniatowska mit ih­ren ersten großen testimo­nios schon vor fast drei­ßig Jahren her­aus­kam (Hasta no verte, Je­sús mío, 1969/ La noche de Tla­te­lol­co, 1971), liegen zwi­schen ihr und Gargallo Welten von sprach­li­cher Qualität und in­halt­licher Tie­fe. Elena Po­nia­tow­ska als Zug­pferd vor ein schlech­tes Buch zu spannen, sollte ein Grund mehr sein, das Buch nicht zu kaufen.

Francesca Gargallo, Schwestern, Eich­born Verlag, Frankfurt/Main 1996, 166 S.

Ein Kongreß über Gedichte?

Wie Mitglieder eines Ge­heimbundes reisten LyrikerInnen und AkademikerInnen aus Ar­gen­tinien, Chile, Mexiko, Frank­reich, Deutschland und US-amer­ikanischen Universitä­ten nach Eugene, einer grünen Klein­stadt an der Pazifikküste. Vom 24. bis 26. Oktober vollzog sich eine poetische Inbesitz­nahme der Stadt unter dem Dach des Romanischen Instituts der University of Oregon. Sie ging im Stillen und nicht ohne Hin­dernisse vor sich, denn Flug­zeuge verspäteten sich, verirrten sich oder kamen einfach nicht an ihrem Ziel an. Schließlich reg­nete es erbarmungslos.
Schon unterwegs in den Flug­zeugen ver­suchten sich die Teil­nehmer ge­genseitig zu erkennen – sei es an einer träumerischen Ausstrah­lung, an Brillen, Bärten, sei es an der Bescheidenheit der einen, der Bedeutsamkeit der an­deren, an Kleidung, spanisch­sprachigen Büchern, Witzen oder Kompli­menten. So waren unter den Pas­sagieren die Poeten von den Po­litikern zu unterscheiden, von Managern, Schmugglern, Stu­denten, chicanos, Touristen. Nicht immer fand man sich, aber zuweilen. Die Erschöpfung nach endlosen Reisen, die Zeit­um­stel­lungen, das Wiedersehen nach vie­len Jahren, Schreie, in­nige Um­armungen, Lachen: Die la­tein­amerikanischen Diktaturen ha­ben die Menschen über den gan­zen Globus zerstreut. Als sich die Stürme der Gefühle ge­legt hatten, ging es an die Arbeit.
“The Powers of Poetry in Spa­nish, Latin American and La­ti­no/a Cultures”, so der Name des Kongresses, brachte nicht nur la­tein­amerikanische, sondern auch spa­nische Dichter und Lite­ra­tur­wis­senschaftler zusammen.

Übereinstimmungen und Kontraste im Blick

Die übli­che Aufspaltung nach Ge­ne­ra­tionen oder Ländern und die Aus­richtung auf spezielle Autoren spielte keine Rolle. Es handelte sich darum, “die Über­ein­stimmungen und Kontraste in den Blick zu bekommen, die in der zeitgenössischen Lyrik aus Spanien, Lateinamerika und – so­fern spanischsprachig – den USA be­stehen”, so Juan A. Epple, ei­ner der Organisatoren. Die über zweihundert Einsen­dun­gen, die im Vorfeld des Kon­gres­ses ge­zählt wurden, bewie­sen nach­drücklich, daß an der Be­schäf­tigung mit Lyrik reges In­teresse be­steht. Mangels Platz und Zeit konnte davon nur die Hälfte in den Kongreßverlauf integriert wer­den. So beschäf­tig­ten sich sechs parallele Ar­beitsgruppen mit den Papieren, in jeder Gruppe lasen Dichter aus ihren Werken. So gingen drei Tage dahin… Unter den angebo­tenen Themen: Der Dichter und die kollektive Seele, Weibliche Iden­tität, Homosexuelle Liebe, Technische Probleme bei Lesun­gen und Übersetzungen, Das Ver­hältnis von Poesie und Mu­sik, Poetische Gerechtigkeit, Kör­per und Text, Aids, Leroy Quintana und die chicano-Poe­sie, Die Avantgarde in Chile, Das imaginäre Wir… Es gab Re­fe­rate über Werke zahlreicher Lyriker, darunter García Lorca, Pablo Neruda, Patricio Manns, César Vallejo, Astrid Fugellie, Ga­briela Mistral.
Besonders an dem Treffen war, daß Literaturwissenschaftle­rIn­nen mit LyrikerInnen zusam­menkamen und miteinander spra­chen. Das geschieht selten. Zu den Besonderheiten zählte aber auch die Anwesenheit von drei TeilnehmerInnen, die spezi­ell eingeladen wurden und län­gere Lesungen hielten: Patricio Manns, ein in Frankreich leben­der chilenischer Komponist und Schriftsteller, sang seine Ge­schichten, durch die die Gruppe In­ti Illimani berühmt geworden war, und stellte sein “Memorial de Bonampak” vor, in dem es um das Leiden der Maya-Völker geht und der Zapatistenaufstand ein­bezogen ist… María Negroni, Ar­gentinierin, zerbrechlich, klein, fast ein Nichts, las ihre voll­tönenden Verse: “…en esto de existir/ conviene quedarse en lo oscuro…// …esa mujer/ con un balcón en la mano…// …un día me dirás que no existes/ y tu ausencia será toda mía…” (…was das Dasein anbelangt/ empfiehlt es sich, im Dunkeln zu blei­ben…// ..diese Frau/ mit einem Balkon in der Hand…// …eines Tages wirst du mir sagen, daß du nicht existierst/ und deine Abwe­senheit wird ganz mein sein…). Das Dreiergespann vervollstän­dig­te Juan Gelman, in Mexiko le­bender Argentinier, der seine Gedichte mit der Schlichtheit ei­nes Weisen las, der viele Wege gegangen ist und etwas verstan­den hat. Seine Stimme eines al­ten Kindes schlug den Takt zum launischen Regen, der gnadenlos gegen die Fenster peitschte.

Wohnhafte Schlangen und andere Viecher

Außerhalb der Universität, dem Regen näher, bot ein impro­vi­sierter Tisch die wertvollsten Schätze dieser Tagung dar: die Bücher, verfaßt von den Anwe­senden, den Fehlenden, den To­ten. Vom erst kürzlich verstor­benen Jorge Teillier die posthu­men Gedichte “Hotel Nube” (Ho­tel Wolke), von den nicht Gekommenen: Sybil Brintrup, “Va­ca Mía” (Du meine Kuh) und “Ella y las ovejas” (Sie und die Schafe), und Omar Laras “Ser­pientes habitantes y otros bi­chos” (Wohnhafte Schlangen und andere Viecher).
Der jüngste Dichter, Jesús Se­púlveda, ein chilenischer Student in Eugene, provozierte mit sei­nem frischen Humor: “…las pruebas son contundentes:/ Dios es una negra…” (…die Beweise sind stichhaltig:/ Gott ist eine Schwarze…). An seiner Seite ein Poet in Schlips und Kragen, An­drés Morales: “El hombre que come palomas/ no conoce el Pa­raíso” (Der Mensch, der Tauben ißt,/ kennt nicht das Paradies). Carlos Trujillo präsentierte Tex­te, die auf Chiloé, seiner chi­lenischen Heimatinsel im Süden der Welt geschrieben wurden. Jorge Madrazo glänzte mit sei­nen starken sinnlichen Bildern aus Argentinien. Mauri­cio Ostria schließlich stellte seine Schü­lerInnen aus Concep­ción, Chile, vor.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Eine der wichtigsten Sitzun­gen war der Vorstellung des Bu­ches “POESIdA” (span. si­da= Aids) gewidmet, einem kol­lek­tiven Werk unter Feder­führung von Carlos Rodrí­guez-Matar. Von Aids zu spre­chen, ist eine Sache, aber daß lateiname­ri­ka­ni­sche Männer Ge­dichte über Lie­be und Tod mit Blick auf die Krankheit schrei­ben, dürfte ein Schock für die übrigen Männer gewesen sein, eine Wunde im ma­chistischen Weltbild und schon daher von Wert.
Und es gab deutlich sichtbar ei­ne weibliche Poesie: Von der bereits erwähnten, überzeu­gen-den María Negroni zur liebe­vol­len, vitalen, verschmitzten Lyrik von Lilianet Brintrup: “Estoy en la tierra de América la del Norte/ que me avasalla per­fectamente/ en su odio por lo que represento” (Ich bin in Amerika, dem nördlichen/ das mich her­vor­ragend begleitet/ in seinem Haß auf das, was ich verkör­pere). Alejandra Basualto, stark, ero­tisch, herablassend, zärtlich: “podría morir/ de inviernos como éste/ si no supiera/ que existes” (ich könnte sterben/ an Wintern wie diesem,/ wenn ich nicht wüßte,/ daß es dich gibt). Astrid Fugellie stellte eine konfessio­nelle Lyrik vor, mit mythischer und biblischer Sprache, in deut­licher Parteinahme für die aus­gelöschten indigenen Völker: “Cier­to día me dormí y desperté intuyendo/ ser vida y muerte al mismo tiempo” (Eines gewissen Tages schlief ich ein und wollte beim Aufwachen/ Leben und Tod zur gleichen Zeit sein).

Lyrik ist Wirklichkeit

Und wozu so viel Lyrik? Wem nützt sie etwas in diesen Zeiten? Es geht darum, “sich nicht darauf einzulassen, diese Welt gefällig zu beschreiben”, so Juan Epple, sondern sich ihr zu verweigern, dissident zu sein und sich eine eigene Sprache zu er­finden.
Auf dem Rückflug wird über Bord­funk bekanntgegeben, daß Clin­ton als Präsident wiederge­wählt wurde. Die Reaktionen der Pas­sagiere waren gespalten – in Applaus und Schweigen. In die­sem Moment kommt mir das Bild von jenem Mann in den Sinn, den ich auf dem Highway bei Washington D.C. sah, ein Schild in der Hand: “I will work for food”. Und ich sage mir, auch das ist Poesie, die nackte Wirk­lichkeit.
Übersetzung:Valentin Schönherr

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

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