Guerilla statt Woodstock

Wenn er dazu eingeteilt ist, den gekidnappten US-Bot­schaf­ter Elbrick zu bewachen, ver­sucht Fernando, in seinem rade­brechenden Englisch über Politik zu diskutieren. Die beiden Män­ner scheinen sich nicht unsympa­thisch zu sein. Währenddessen sitzt die junge Guerillera René in der Küche und blättert verträumt in einer Illustrierten mit Fotos von Woodstock. Kleine Fluch­ten, Momente innerer Wider­sprüch­lichkeit in einer Ausnah­mesitua­tion. Rio de Janeiro im Septem­ber 1969: Die Guerilleros von der MR-8 (“Revolutionäre Be­wegung des 8. Oktober”) hal­ten den US-amerikanischen Bot­schafter Charles Burke El­brick in einer konspirativ ange­mieteten Villa gefangen. Ihre Forderung an die regierende Mi­litärjunta ist die Freilassung von fünfzehn politischen Gefangenen und die Verlesung ihres Mani­fes­tes in Radio und Fernsehen.
Wie schafft man es, über ein so kontroverses Thema wie die historische Entführung eines US-Botschafters durch linke Gueril­leros einen erklärtermaßen “aus­gewogenen” Film zu dre­hen? Und das noch dazu auf der Grundlage eines Bestsellers, der von einem der Entführer selbst geschrieben wurde? Der Brasi­lianer Bruno Barreto, der seit Anfang der Neunziger Jahre in den USA lebt und dort mehrere Filme realisiert hat, ist bisher eher durch opulente Literaturver­filmungen von Jorge Amado wie “Dona Flor und ihre beiden Ehemänner” oder “Gabriela” be­kannt geworden. Zehn Jahre lang bemühte Barreto sich, das 1979 erschiene Buch “O que é isso, companheiro?” von Fernando Gabeira zu einem Filmdrehbuch umzuarbeiten. Gabeira, der den Film auf der Berlinale mitprä­sentierte, gab Barreto dabei freie Hand. So sind bis auf die Figur des Fernando die Charaktere der meisten Guerilleros fiktiv oder vereinigen in sich Merkmale ver­schiedener tatsächlich existie­render Personen.

Hardcore-Kämpfer und Mittelklasse-Kids

Fernando, René und einige der anderen Guerilleros wirken wie Kinder aus behütetem El­ternhaus, die mit leidenschaftli­chem Ernst, aber teilweise ge­fährlichem Dilettantismus versu­chen, sich der militärischen Dis­ziplin und der klandestinen Exis­tenz einer Guerillaorganisation an­zupassen. Ihre Motive, in den Un­tergrund zu gehen, die Schlüs­selfrage, wann für wen der Punkt erreicht ist, wo er oder sie sich für den bewaffneten Wider­stand entscheidet – das alles kommt in dem Film etwas zu kurz, bleibt merkwürdig amorph.
Als sich zu Beginn des Films der junge Journalist Fernando (Pe­dro Cardoso) gemeinsam mit sei­nem Freund Cézar, einem ehe­maligen Theologiestudenten, der Gueril­laorgansiation an­schließt, wird schnell klar, daß bei­de sich nicht gerade für mi­li­tä­rische Operatio­nen eignen. Auch kommen Fer­nando ziem­lich bald Zweifel am Sinn der Bank­überfälle und an­derer punk­tu­eller Aktionen, bei denen unter an­derem Cézar der Polizei in die Hände fällt. Um ihn und andere Ge­fangene frei­zubekommen und die internatio­nale Öffentlichkeit auf­merksam zu machen, schlägt Fer­nando einen gewagten Coup vor: die Entführung des US-ame­ri­kani­schen Botschafters. Die na­tio­nale Guerillaführung stimmt der Aktion zu, entsendet jedoch zwei erfahrene Kader nach Rio, um die Guerillazelle und ihre An­füh­rerin Maria (Fernanda Tor­res) zu unterstützen. Eine pro­blemati­sche Konstellation, denn der Spanien-Veteran To­le­do und Jo­nas, ein Hardcore-Kämp­fer, der “diese Mit­tel­klas­se­kinder einfach haßt”, ver­kör­pern militärische Disziplin und die rückhaltlose Bereitschaft, das Vor­haben mit allen Kon­se­quen­zen durchzufüh­ren. Ent­sprech­end entwickeln sich die vier Ta­ge, in denen sich die Guerilleros mit dem Ent­führten versteckt hal­ten, zu ei­nem Nervenkrieg nach innen und außen. Auch für Ma­ria, die an­fangs äußerst straight und un­nahbar wirkende An­führerin der Guerillazelle, denn auf einmal trifft sie auf Ka­der, die noch härter agieren als sie. Und das in einer Si­tu­ation, wo sie plötzlich mit eigenen Ängsten und Wider­sprüchen konfrontiert ist.
Zwar konzentriert sich der Film im ersten Teil auf die Per­spektive der Guerilleros. Parallel werden jedoch bereits zwei wei­tere Akteure eingeführt: Bot­schafter Charles Elbrick sowie ein Geheimpolizist, der später auf die Entführer angesetzt wer­den wird. Beide zeigt Barreto bewußt in beruflichen und pri­vaten Situationen. So erscheint der Geheimpolizist als typischer Befehlsempfänger, nicht grund­sätzlich unsympathisch, aber be­klemmend in der routinierten Abgebrühtheit, mit der er, nach­dem er politische Gefangene ge­foltert hat, nach Hause geht und sich zu seiner Frau ins Bett legt. Erst als sie Verdacht schöpft und ihn direkt fragt, ob auch er bei seiner Arbeit “diese Kinder fol­tern” würde, zeigen sich bei ihm Risse in der Fassade.

Die private Seite des Politischen

Durchgängig sympathisch wird dagegen der US-Botschaf­ter Charles Burke Elbrick darge­stellt: kein kalter Krieger, son­dern jemand, der in der Lage ist, einfühlsam zu beobachten und zuzuhören. Die politischen Dis­kussionen, die Elbrick und Fer­nando führen, dienen Barreto je­doch primär dazu, die psycholo­gische Dynamik herauszuarbei­ten. Barreto, der sich vehement vom klassischen Polit-Thriller à la Constantin Costa-Gavras (“Missing”) distanziert, geht es um die menschlichen Dramen, die die Situation produziert. “Die Guerilleros sind müde” ist so zu einer subtilen und einfühlsamen Studie zum Täter-Opfer-Verhält­nis in Entführungssituationen geworden. Auch wenn die Ent­führer aus Sicherheitsgründen immer ihr Gesicht vermummen, sitzen sich in der kleinen Kam­mer, wo Elbrick gefangengehal­ten wird, auf einmal nicht mehr abstrakte Positionen, sondern In­dividuen gegenüber.
Positiv ist auf jeden Fall, daß Barreto auf gängige Klischees und Schwarz-Weiß-Malerei ver­zichtet und versucht, sich allen handelnden Personen mit der gleichen Offenheit zu nähern. “Die Guerilleros sind müde” hat Momente von großer psycholo­gischer Dichte und Intensität. Der Film interessiert sich dage­gen kaum für den politischen Hintergrund der Entführung, was auf eine andere Art zur Veren­gung des Blickwinkels führt: Die Militärdiktatur und die Rolle der US-Außenpolitik – also auch die konkreten gesellschaftlichen Funktionen und Verantwortlich­keiten von jemandem wie Elbrick, der als Privatperson recht tolerant und zugänglich wirkt – das alles bleibt schemen­haft und vage. Barreto stellt de­monstrativ nicht die politische Seite des Privaten, sondern die private Seite des Politischen in den Vordergrund. Aber ist es sinnvoll, diese beiden Perspekti­ven gegeneinander auszuspielen?

“O que é isso, compan­heiro?”, Re­gie: Bruno Barreto; Brasilien 1996, 105 Minuten.

“Ich bin sechsmal gestorben – einmal habe ich noch!”

Fernanda Torres, wie war es für Sie als junge Schauspielerin, an einem Filmprojekt teil­zunehmen, das sich mit Ereignissen während der Militärdiktatur beschäftigt?

Fernanda Torres (FT): Es war wunder­bar. Denn es gibt eine Informationslücke zwischen der Gene­ration von Fernando Gabeira und meiner. Ich wuchs in einer Zeit auf, als das Geschäftema­chen und Geldverdienen die oberste Maxime wa­ren. Das ändert sich langsam. Ich denke, die 90er Jahre ge­winnen wieder etwas aus den 60ern zu­rück. Für mich war es daher sehr spannend, mich mit jener Generation auseinanderzusetzen. Ich bin sehr traurig darüber, daß diese Geschichte in der offi­ziellen Darstellung nicht vorkommt. Ich habe die Revolution in Nicaragua gleich zweimal in der Schule durchgenommen, aber nie etwas von Ga­beira und den anderen Revolutionären in meinen Schulbüchern entdeckt.

Was meinen Sie damit, daß Ihre Genera­tion die 60er wiederentdeckt hat?

FT: In den 90er Jahren werden ökologische Fra­gen wichtiger. Oder die Frage der Favelas: Heute bemühen wir uns nicht mehr darum, sie zu beseiti­gen, sondern darum, darin eine eigene Kultur zu entwickeln. Die kollektive Idee des Zusammenle­bens, die über dem individuellen Konsum steht, wird wiedergewonnen. Es ist also kein glücklicher Zufall, daß dieser Film gerade jetzt gedreht wurde. Vielmehr war es an der Zeit, jene Generation wie­derzutreffen.

War es schwierig für Sie, die Rolle der Gue­rillaführerin Maria zu spielen, sich in ihr Be­wußtsein und ihre Ideale einzufühlen?

FT: Das war ganz schwierig. Ich konnte am An­fang gar nicht glauben, wie jemand so reden, wie jemand so hart und militärisch sein könnte. Und ich habe ‘rumgefragt, ob es damals wirklich solche Leute gab. Viele haben mir das bestätigt. Das mit dem kühlen “Hallo, Genosse”, das erschien mir fast unmöglich zu spielen.

Lag das daran, daß es sich um eine Frau han­delte? Oder wäre das auch bei einem männli­chen Charakter so schwer gewesen?

FT: Nein, alle hatten dieselben Schwierigkeiten. Bei den ersten Proben haben wir sehr viel gelacht, wenn wir uns kühl mit “Hallo, Genosse” angeredet haben. Maria spielt diese Rolle eigentlich vom An­fang bis zum Ende. Aber bei den Proben sind wir das ganze noch einmal durchgegangen und haben uns gefragt, an welchem Punkt sie schwach wird. Das passiert in dem Augenblick, als die Leute aus Sâo Paulo ankommen, die noch straighter drauf sind als sie. Das war im Drehbuch nicht so richtig deutlich, wir haben das bei den Filmaufnahmen herausgearbeitet. Danach war ich sehr zufrieden, denn ich hatte einen richtigen Charakter zu spielen. Eine Frau, die anfangs völlig hart ist, dann lang­sam weicher wird und schließlich eine Liebesaf­färe eingeht, in der sie ihren bürgerlichen Namen preisgibt und über ihre Angst vor dem Sterben spricht. Die nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Gab es diese Maria wirklich? Einige Film­charaktere entsprechen ja wirklichen Personen, andere sind erfunden.

FT: So ist es. Die ganze Generation, die an die­ser Revolution teilgenommen hatte, war besorgt darüber, wie sie in dem Film dargestellt werden würde. Vor allem, weil Bruno Barreto nie politisch enga­giert war, waren sie skeptisch, ob es ihm wirklich gelingen würde, sie zu porträtieren. Dabei konnte Bruno Barreto, gerade weil er so weit von ihnen entfernt ist, der ganzen Angelegenheit ge­genüber fair bleiben. Es erwies sich als sehr heikel, die einzelnen Charaktere eindeutig mit bestimmten Personen gleichzusetzen. Jemanden zu spielen, der noch lebt, das ist furchtbar. Die einzige Rolle, die offensichtlich zu erkennen ist, ist die von Fernando Gabeira. Meine Rolle, die der Maria, ist eine Kombination von drei oder vier Frauen. Jede Rolle ist eine Art Puzzle von mehreren Personen, so daß wir niemanden verletzen konnten.

Wie bereiteten Sie sich auf die Rolle vor? Ha­ben sie Interviews mit den Beteiligten geführt?

FT: Ich habe viele, viele Bücher gelesen. Sie zu interviewen war sehr schwierig, denn wegen all ih­rer Ängste wußten sie nicht, ob sie wirklich woll­ten, daß dieser Film gedreht wurde. Bei Gabeira war das anders, er ist so oft gestorben, im Unter­schied zu vielen anderen, er hat in seinem Leben so viele Identitäten angenommen. Er ist kein Wit­wer jener Revolution wie einige andere. Er schrieb das Buch und wurde jemand anderes, stimmt`s, Fernando?
Fernando Gabeira (FG): Ich bin sechs­mal ge­storben, einmal habe ich noch.

Fernando Gabeira, ist es Ihnen nicht schwerge­fallen, die Rechte an der Verfilmung zu verkau­fen und so einen Teil Ihrer eigenen Ge­schichte aus den Händen zu geben?

FG: Ich hatte Vertrauen zu Bruno Barreto und dem Produktionsteam, weil sie von einer ganz wichtigen Grundlage ausgehen: Sie wollen keine Helden, keinen manichäistischen Film mit Guten und Bösen, sondern einen komplexen Film mit menschlichen Wesen.

Leopoldo Serran, der schließlich das Drehbuch schrieb, betont immer wieder, daß er kein Linker sei und die Vorstellungen der “Terroristen” nie geteilt habe. Machte Sie diese Einstellung nicht skeptisch?

FG: Ich kenne die Haltung des Filmteams und respektiere sie. Es war wichtig, jede Form der po­litischen Propaganda dafür oder dagegen zu ver­meiden, und ich wußte, daß sie das tun würden. Sie hatten viel mehr Interesse daran, die Dialoge und die Charaktere zu konstruieren und eine gute, pro­fessionelle Arbeit zu machen. Das war gut so. Man kann politische Filme nicht mehr so drehen wie in den 60er und 70er Jahren. Das würde sehr altmo­disch wirken.

Bedauern Sie das? Oder finden Sie auch, daß heute die Zeit für unterhaltsamere Politfilme ge­kommen ist?

FG: Man muß beides kombinieren, sonst hat man große Schwierigkeiten, zu überleben und sei­nen Platz zu finden. Hätte der Film nicht diesen unterhaltenden Charakter, käme er in Brasilien gar nicht an. Auch auf dem internationalen Markt ist die Qualität von großer Bedeutung. Gestern erst wurde uns die Frage gestellt, ob Bruno Barretos Film nicht zu perfekt sei. Denn von einem brasilia­nischen Film wird eine solche technische Ausge­reiftheit nicht erwartet. Das ist typisch für Leute, die sich in Brasilien nicht auskennen und nicht wissen, daß beispielsweise auch unsere indianische Bevölkerung Reebok-Turnschuhe und Adidas-Ho­sen trägt, Ghettoblaster und CD-Player kauft.

Wie betrachten Sie rückblickend Ihre ei­gene revolutionäre Vergangenheit?

FG: Mein Leben hat sich in diesen Jahren stark geändert, ich habe viele unterschiedliche Dinge gemacht. Als ich aus dem Exil nach Brasilien zu­rückkam, war ich nicht deswegen bekannt, weil ich in den 60er Jahren an Entführungen teilgenommen hatte, sondern weil ich in der Linken neue Fragen aufgeworfen habe über die Frauen-, Umwelt-, Schwulenbewegung und solche Dinge. Heute bin ich Parlamentsabgeordneter der Grünen, und die meisten jungen Leute kennen mich, weil ich mich für die Freigabe von Mariahuana einsetze. Selbst wenn man ältere Leute fragt, was sie mit meinem Namen assoziieren, so sagen sie alle ‘Marihuana’.

Aber Ihre Parlamentskollegen kennen doch si­cherlich Ihre andere Vergangenheit. Sind Sie deswegen schon einmal attackiert oder diffa­miert worden?

FG: Nein. Denn ich habe meine Haltung mit der Rückkehr aus dem Exil klar geändert, wurde fast zum Pazifisten. Ich respektiere in einigen Fällen Leute, die mit der Waffe in der Hand kämpfen, aber ich selber werde nie wieder gewaltsam und bewaffnet agieren.

Würden Sie also, wenn es heute eine Dik­tatur in Brasilien gäbe, nicht mehr zu den Waffen grei­fen?

FG: Mit meinem heutigen Bewußtsein würde ich es nicht mehr tun. Wenn ich aber in die Ver­gangenheit zurückgehe und all die Fehler be­trachte, die ich begangen habe, dann war das mein bester Fehler.

Bruno Barreto, was für Erinnerungen ha­ben Sie persönlich an diese vier Tage im Septem­ber ’69?

Bruno Barreto (BB): Als dies passierte, war ich vierzehn Jahre alt. Ich hatte zwei Freunde, die sich einer bewaff­neten revolutionären Gruppe an­schlossen – sie wa­ren 15 und 16 Jahre. Das hat mich stark beein­druckt. Ich hatte Angst. Es gibt in dem Film eine Szene, wo zwei Freunde sagen, daß sie einander nie mehr wiedersehen würden, sich verabschieden und in die Nacht hinausgehen. Diese Szene beruht auf einer persönlichen Erfah­rung. Als mein Freund sagte, daß er sich der Gruppe anschließen würde, sagte ich: Ich halte das für verrückt. Ich bin nie politisch engagiert gewe­sen. Ich hasse Politik. Diese ganze politische Rhe­torik finde ich extrem langweilig.

Hat man nicht unter einer Diktatur, wie es sie beispielsweise damals in Brasilien gab, oft gar keine andere Möglichkeit, als sich für eine Seite zu entscheiden?

BB: Dem stimme ich zu, das ist ein Problem. Ich hielt dies allerdings nicht für den besten Weg. Ich hasse Gewalt. Es war ein sehr beängstigender Moment, den ich in Brasilien durchlebte. Men­schen wurden gefoltert und getötet.

Wenn Sie Gewalt und Politik hassen, was war dann Ihre persönliche Motivation, diesen Film zu machen?

BB: Ich wollte über das Ende der Ideologie re­den. Deshalb hielt ich auch Berlin für den perfek­ten Ort der Weltpremiere dieses Films. Denn Ber­lin war die Stadt, die die Spaltung der Welt in Links und Rechts symbolisierte. Die Buchvorlage handelt auch sehr viel vom Ende der Ideologie, vom Ende dieses simplifizierten Blicks auf die Welt. Das Ende von Anleitungsbüchern, die Leute benutzen, anstatt sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Der Film feiert das Individuum, die Tat­sache, daß die Schönheit des Lebens darin besteht, daß wir alle unterschiedlich und gleichberechtigt zugleich sind. Fernando Gabeiras Buch wurde 1979 veröffentlicht, war also der Zeit zehn Jahre voraus.

Halten Sie es für altmodisch, politische Filme zu machen?

BB: Es ist altmodisch geworden, politische Filme in der Art zu machen, wie sie gemacht wur­den, mit der Einteilung in Gute und Böse. Meiner ist vielleicht der erste politische Film, der alle Seiten auf die gleiche Art und Weise zeigt und dasselbe Interesse und dieselbe Neugierde für alle darin verwickelten Charaktere hat. Den Folterer eingeschlossen, der meiner Meinung nach der fas­zinierendste Charakter im ganzen Film ist.

Es gibt also keine anderen politischen Filme, auf die Sie sich bei Ihrer Arbeit beziehen könn­ten?

BB: Ich will nicht prätentiös klingen, aber die gibt es nicht. Daher dauerte es auch zehn Jahre, um diesen Film zu realisieren, und ich dachte sogar zwischendurch daran, ihn nicht zu machen, weil ich keinen typischen politischen Thriller machen wollte. Das interessiert mich nicht. Ich halte Costa-Gavras’ Filme für sehr langweilig, da sie sehr sim­plizistisch sind. Ich habe versucht, etwas Komple­xeres zu machen und weder die Kommunisten noch die Amerikaner oder die Militärs als die Schurken darzustellen. Ich wollte die menschliche Seele, die menschlichen Wesen darin untersuchen.

Gab es finanzielle Probleme oder Versuche von Seiten politischer Interessengruppen, die Pro­duktion zu torpedieren?

BB: Wie wir alle wissen, hat Brasilien eine sehr harte Zeit durchlebt, wo während fünf oder sechs Jahren kein Geld zur Verfügung stand, um Filme zu realisieren. Das andere Problem war, daß ich kein Drehbuch bekommen konnte. Ich habe es mit sechs Autoren versucht, drei Amerikanern und drei Brasilianern. Sie alle begannen bei Null, sie be­nutzten nichts von dem, was die anderen Autoren geschrieben hatten. Ich war nicht glücklich damit, war aber selbst auch nicht in der Lage, mit einem eigenen Standpunkt aufzuwarten. Zehn Jahre spä­ter gelang es mir endlich, den ersten Drehbuchau­toren, den ich ursprünglich schon haben wollte, zu überzeugen, es nochmal zu versuchen. Ursprüng­lich lehnte er ab und sagte, dies wäre zu kompli­ziert, weil viele der Charaktere noch am Leben seien, er wolle seine Hände nicht in ein Wespen­nest stecken. Zudem ist Gabeiras Buch sehr schwierig zu adaptieren. Es ist wie ein Monolog, der im Kopf des Charakters stattfindet, eine Re­flektion über das, was passierte. Und die Art von Filmen, die ich gerne mache, sind Charakterstücke, man braucht also Interaktion, Konflikte.

Wie wichtig war es für Sie, die historischen Fakten zu rekonstruieren?

BB: Ich bin kein Dokumentarfilmer, sondern ein fiktionaler Geschichtenerzähler. Ich wollte Elemente der Realität benutzen, um eine Ge­schichte zu erzählen, die dem Publikum einen Ein­blick in das geben würde, was passiert ist. Der Charakter des Folterers beispielsweise ist kom­plette Fiktion, er beruht auf Geschichten, die wir gehört haben. Es ist uns nie gelungen, einen Folte­rer zu interviewen, auch wenn wir es versucht ha­ben. Wir kamen lediglich an Leute heran, die sie kannten. Und wir lasen Bücher darüber.

Die wirtschaftliche Situation des brasilia­nischen Kinos hat sich in den letzten zwei Jahren radikal verbessert. Andererseits setzt ein neues Gesetz die Filmemacher auch unter wirtschaftli­chen Erfolgsdruck.

BB: Erfolg kennt kein Rezept. Ich denke, sie müssen einfach gute Filme machen, sie müssen einfach ihren Hintern hochkriegen und gute Dreh­bücher schreiben. Es gibt genug Geld, aber es gibt nicht genug gute Projekte. So besteht die Gefahr darin, und es ist mittlerweile ein großes Problem, daß es eine Menge schlechte Filme geben wird. Je­der will Filmproduzent sein. Man muß das Publi­kum im Kopf haben und darf nicht nur vom Bauchnabel aus die Geschichten erzählen, nach denen einem selbst zumute ist.

Unter den acht brasilianischen Filmen, die auf der Berlinale im Forum laufen, gibt es zwei wei­tere, “Como nascem os anjos” von Murilo Salles und “Um céu de estrelas” von Tata Amaral, die auch mit Geiselnahmen zu tun haben – auch wenn es in diesen beiden Fällen nicht um politi­sche Motive geht. Halten Sie diese Häufung für Zufall?

BB: Vielleicht haben Brasilianer einen Feti­schismus, was Entführungen angeht, ich weiß nicht (lacht). Brasilien ist sehr wild und verrückt, du weißt nie, was gerade vor sich geht. – Ich habe da­rauf keine Antwort. Es hat einige Entführungen aus wirtschaftlichen Gründen gegeben. Eines der großartigen Resultate dessen, daß wir mit diesem ganzen ideologischen Bullshit aufgehört haben, besteht darin, daß wir die Probleme endlich so se­hen, wie sie sind. Das Problem ist ökonomisch, es ist das Haben und Nichthaben. Und wenn wir nicht den Wohlstand neuverteilen, gibt es soziale Pro­bleme. Sie sagten, in keinem dieser beiden Filme mit Geiselnahme ginge es um Politik. Vielleicht gibt es eine Symmetrie zwischen dem, wie Brasi­lien damals war und warum die Geiselnehmer da­mals kein Lösegeld verlangten, sondern die Frei­lassung von politischen Gefangenen. Und heute werden Leute entführt, um Geld zu erpressen.

Alles erscheint wesentlich zynischer, und das Fernsehen ist immer dabei.

BB: Es gibt sehr viel Gewalt. Das ist natürlich, wenn in einem Land 80 oder 90 Prozent der Leute in objektiver Armut leben.

Glauben Sie, daß Ihr Film in Brasilien po­litische Diskussionen hervorrufen wird?

BB: Ich hoffe das natürlich. Eine Zeitung in Brasilien schrieb bereits, daß ich den US-amerika­nischen Botschafter zu sympathisch dargestellt hätte, daß ich ihn und nicht die Entführer bevor­zugt hätte. Ein konservatives Blatt hier in Berlin schrieb dagegen, es sei unverantwortlich, die Ent­führer so sympathisch darzustellen, wenn man sich anschaut, was derzeit in Peru vor sich geht. Zwei gegensätzliche Meinungen. Das zeigt, daß ich die richtige Balance hatte.

Der zarte Charme des Establishments

Und tatsächlich, das Studio ist fast verwaist, die meisten ehe­maligen Fernsehleute tingeln durch das Land und entwerfen mehr oder weniger phantasie­volle Werbespots für ihre je nach Staat eher smarten oder eher bo­denständigen Kandidaten. So wie sie in Lateinamerika zu den be­sten Sendezeiten über den Bild­schirm flimmern, ziehen die mit bunten Bildern untermalten Slo­gans immer wieder über die Kino­leinwand. Diese Werbeper­si­flagen, die vom Gerede der MacherInnen über ihre ver­meintlich originären Ideen unter­malt sind, werden eigent­lich nur noch von den Originalen über­trof­fen, die in schöner Re­gel­mäßigkeiten im brasiliani­schen TV zu sehen sind.

Im Wirbel der Korruption und Machtintrigen

Aber Bia ist bemüht, die Fahne der journalistischen Ethik und Integrität hochzuhalten, die bei immer mehr KollegInnen zu­nehmend nach dem Wind der fi­nanziellen Möglichkeiten dreht. Doch schon nach den ersten po­litischen Sendungen regt sich Widerspruch. Der favorisierte Kandidat des Establishment vermißt die bisher gewohnte Unterstützung durch den Fern­sehkanal. Sein Drängen wird von Sendung zu Sendung und von Meinungsumfrage zu Meinungs­umfrage heftiger. Bia gerät in ein immer enger werdendes Netz aus Abhängigkeiten, persönlichen Be­zie­hungen, Manipulation und Korruption. Viel schmutzige Wä­sche wird gewaschen im Kampf um die Macht, die süß und verlockend auf bestimmten Posten winkt. Bia fällt es zu­nehmend schwerer, ihren eige­nen Vorstellungen treu zu blei­ben, zumal sie sich von ver­meintlich loyalen KollegInnen im Stich gelassen fühlt.
Die manipulierende Rolle der Medien und allen voran des übermächtigen Fernsehens ist in Brasilien spätestens seit dem Wahlsieg des vorzeitig geschaß­ten Präsidenten Fernando Collor de Melo ein offenens Geheimnis. Ihm gelang der Wahlsieg 1992 nur durch den massiven Endspurt des marktführenden TV-Kanals Globo, der linke Gegenkandidat Lula konnte nur durch gezielte Schläge weit unter die Gürtelli­nie besiegt werden. Die Anspie­lungen in “Doces poderes” auf dieses zentrale medienpolitische Ereignis sind offenkundig. Über­haupt zeichnet sich dieser Film durch seine explizit politische Geschichte aus. Gerade die Tat­sache, daß die dargestellten Po­litikerInnen für das Publikum in Brasilien unzweifelhaft wieder­erkennbar sind und mit real exi­stierenden Figuren identifiziert werden können, macht ihn zu ei­nem kurzweiligen und witzigen Kinoerlebnis. Die Reaktion der KinobesucherInnen in Rio und Sao Paulo machte jedenfalls deutlich, daß explizit politische Filme keineswegs überholt sind.
Schwungvoll hat Lúcia Murat das komplexe Thema der Macht der Medien und die Rolle von Journalisten in unserer Zeit auf­gegriffen. Sie verzichtet dabei auf jede Schwarz-Weiß-Malerei und das klassische Gut-und-Böse-Schema. Alle Charaktere stoßen auf uneindeutige Situa­tionen und durchleben innere Konflikte. “Doces poderes” zeich­net ein getreues Bild der real existierenden Polit-Szene in Brasilien und vor allem in der Landeshauptstadt Brasília. Was spontan an einen Dokumentar­film denken läßt, entpuppt sich als Mischung aus Drama und Komödie, die von Romancen, Intrigen, realen Konflikten und einer gehörigen Portion Humor lebt. Humor mit dem bitteren Geschmack einer Tragikomödie.

“Kleine Rache an Collor”

Wie entstand die Idee, diesen Film zu machen?

Dieser Film ist aufgrund einer sehr persönlichen Erfahrung ent­stan­den. Die Idee ist eigentlich schon aus dem Jahr 1990, als die­ser Film sehr angebracht war. In jener Zeit fanden die ersten Prä­sidentschaftswahlen statt, und zwar zwischen Collor und Lula, wo ein richtig schmutziges Spiel ge­trieben wurde. Und es waren prak­tisch die ersten Wahlen in Bra­silien, die sich in eine Mar­ke­ting-Kampagne verwandelten. Als ich nach Brasilien zurück­kehrte, wa­ren alle meine Freunde in Wahl­kam­pagnen engagiert. Das war für mich ein regelrechter Schock, ei­ne totale Überraschung. Und schon da­mals habe ich diesen Film erlebt und hatte ihn im we­sent­lichen auch schon entworfen und struk­turiert.

In welchen politischen Kam­pag­nen steckten denn die mei­sten Ihrer Freunde?

Als ich zurückkehrte, war die Prä­sidentschaftswahl zwischen Col­lor und Lula schon gelaufen, mei­ne Journalistenfreunde mach­ten Wahlkampf für ver­schiedene Gou­verneurskandida­ten. Ich glau­be, damals war in Brasilien das allgemein vorherr­schende Ge­fühl, daß die Utopien vorbei und jegliche revolutio­nären Per­spek­tiven verloren ge­gangen wa­ren. Hinzu kamen die Wirt­schafts­krise und natürlich auch die Wirklichkeit unter der Prä­si­dent­schaft von Collor. All das brachte die Leute zu der Über­zeu­gung, daß es sich ja doch nicht mehr lohne. Sie fin­gen an, ihre eigenen Grenzen zu über­schrei­ten und Dinge zu tun, für die sie sich früher nie herge­ge­ben hätten.

Dieser Film enthält also si­cher­lich auch viele autobiogra­phi­sche Elemente. Wieviel da­von steckt hinter der Hauptper­son, der Fernsehjournalistin Bia, die zur Programmdirekto­rin aufsteigt?

Es ist immer sehr angenehm, in dem Bereich zu arbeiten, wo man sich auskennt, den man im wahr­sten Sinne des Wortes be­herrscht. Und ich kenne die Dia­loge, die Welt der Schau­spieler, die technischen und pro­fes­sio­nel­len Details beim Fernsehen. Da­durch hatte ich die Situation voll unter Kontrolle. Aber der Film selber ist eine reine Fiktion. Ich erzähle Ihnen das als je­mand, die selber Chefredakteurin bei einer Zei­tung war und aus wirt­schaftli­chen, nicht so sehr aus wirklich politischen Gründen im An­schluß an einen Streik ent­las­sen wurde.

Sie haben an etlichen Stellen des Films eine typische Fernseh­äs­thetik eingesetzt in Form der Video-Clips und vor al­lem der typischen Wahl­kampf­spots von politischen Kan­didaten.

Wir haben eine Mischung zwi­schen dokumentarischen und fik­tiven Anteilen versucht, denn das ist manchmal besser als ein rein fiktiver Film. Für mich war das vor allem in der Endphase aus­gesprochen interessant. Erst woll­ten wir ein Komödie drehen, dann wurde es mehr ein Thriller, dann kommt ein neues Thema hin­zu und man fängt an, mit den ver­schiedenen Stilen zu spielen.

Wie haben das Publikum und die PolitikerInnen in Brasilien auf den Film rea­giert?

In den Universitäten gab es etli­che Diskussions­veranstal­tun­gen da­rü­ber. Die Polit-Szene rea­gier­te eher besorgt auf den Film. Aber es gab auch sehr positives Echo, zum Beispiel bei den Jour­na­listen in Brasília. Im­mer gab es im Anschluß an den Film Dis­kus­sionen. Viele Leute sind von dem Film wirklich be­eindruckt, weil er sehr wahr­heitsgetreu ist. Das darf aber nicht darüber hin­weg­täuschen, daß es im­mer ein schwieriger Film ge­blie­ben ist. Denn viele Men­schen in Brasi­lien wollen sich einfach nicht mehr mit politi­schen Fra­gen auseinandersetzen. Und der Film wendet sich gegen diese Ent­politisierungstendenz.

Kann dieser Film zu Verän­de­run­gen in Brasilien beitra­gen?

Nein, ich glaube nicht, daß er die Kraft dazu hat. Wir haben uns zum Schluß überstürzt, um den Film noch vor den Wahlen her­auszubringen, wir waren be­sorgt über die Reaktion der Me­dien. Der Film wurde zwar recht gut aufgenommen, an den Wah­len hat er aber nichts geändert, die Dinge gehen so weiter wie vor­her. Und das hat sich gerade wie­der in Sao Paulo gezeigt, wo ein Bürgermeisterkandidat auf­ge­baut wurde, der de facto ein Rech­ter war. Er war eine großar­ti­ge Schöpfung der paulistischen Rech­ten und siegte allein dank ei­nes absurden, aufgebauschten Mar­ketings.

Wie teuer war der Film und wie ist er finanziert worden?

Er war sehr preiswert, er ko­ste­te nur 15.000 Dollar, sogar ein biß­chen weniger. Im Unterschied zu vielen anderen Filmen haben wir nicht alles importiert, so daß die Filmarbeit in Brasilien ziem­lich billig war. Und praktisch alle Schauspieler haben für einen sym­bolischen Betrag mitge­macht.

Kann der Film das Geld in Bra­silien wieder einspielen?

Nein. Denn das ist sehr schwie­rig in Brasilien, der Markt ist klein, und die Leute haben grö­ßere Sorgen als den Inhalt die­ses Films. Wir müssen unse­ren Markt erst wieder erobern.

Welchen Marktanteil kann ein derartiger Film überhaupt be­setzen?

Einen sehr kleinen, der sich auf die großen Städte beschränkt, wo es für ein bestimmtes, euro­pä­ischeres Publikum zwei oder drei Kinos gibt, wo solche Filme lau­fen. Er ist in Rio und in Sao Pau­lo jeweils nur in einem Kino ge­laufen. Es wurde zwar lange da­für Werbung gemacht, aber er lief nur in einem einzigen Kino ei­ner alternativen Gruppe, die ei­ne sehr gute Arbeit machen. Für zwei Wochen wurde er in Rio noch in einem anderen Kino ge­zeigt, aber ansonsten ist das ein Prob­lem der Zeit. In den an­deren Städ­ten des Landes läuft er mal für ein oder zwei Tage, und in die abgelegeneren Gebiete kommt er nie. Zumindest nicht in die Kinos, nur als Video. Es wur­de viel über unseren Film ge­spro­chen, und wir glauben, daß er gut als Videoversion ge­eignet ist. Wir haben die Hoff­nung, da­rü­ber an mehr heranzu­kommen, und zwar nicht so sehr an Geld wie an ein größeres Pu­blikum.

Wie schät­zen Sie die Lage des brasiliani­schen Kinos derzeit ein?

Es war niemand anderes als Fer­nando Collor, an dem sich mein Film ja auch ein bißchen rächt, der in seiner vierjährigen Amts­zeit mit dem brasiliani­schen Kino aufgeräumt hat. Denn bis dahin lebten die brasi­lia­nischen FilmemacherInnen von der Finanzierung durch die öf­fentliche Filmgesellschaft Em­bra­film, die alle Produktionen ver­trieb. Erst nach langen Aus­ein­andersetzungen konnten wir an­dere Finanzierungsmöglich­kei­ten auftun. Trotz aller Schwie­rigkeiten haben wir wie­der angefangen, Filme zu ma­chen. Aber wir hängen nach der neuen Gesetzgebung von der Pri­vat­wirtschaft ab. Letzt­lich glaube ich nicht, daß das brasilianische Kino ohne Un­ter­stützung des Staates überleben kann.

Geisel der armen Geburt

Es beginnt in einer der älte­sten Favelas von Rio de Janeiro. Ein deutsches Fernsehteam ist be­müht, die Sorgen und Hoff­nungen der BewohnerInnen von Dona Marta ein­zufangen, deren Hütten am steilen Hang tief zu Fü­ßen des Corcovado-Berges kle­ben. Die dreizehn­jäh­rige Bran­quinha ist nur allzu gerne bereit, Rede und Antwort zu ste­hen, träumt sie doch lange schon von einem Auftritt im Fern­sehen. Die Fragen sind ihr zwar of­fen­kundig zu ab­strakt, aber sie plap­pert munter drauf los.
Nur daß sie immer von ihrem Mann spricht, verwirrt Journali­stIn­nen wie ZuschauerInnen glei­chermaßen. Der macht im Auf­trag eines Mafia-Bosses eine er­beutete M16-Ma­schinenpistole funk­tionsfähig. Niemand traut dem dicklichen Tolpatsch Ma­guila Derartiges zu. Doch den Be­weis von dessen waf­fen­tech­no­lo­gi­schen Fähig­keiten bezahlt der Ober­gangster mit seinem Le­ben. Grund für Maguila, erst einmal un­ter­zutauchen und schließ­lich aus Dona Marta zu fliehen. Die im­provisierte Ent­bführung eines Au­tos, bei der Maguila und seine jugendliche Möchtegern-Ehefrau noch den befreundeten Pennäler Japa mitnehmen, endet in einem Vil­lenviertel der brasilianischen Metropole.
Als die größte Aufregung vorüber ist, verspürt Maguila ein men­schliches Rühren, doch sein ver­ständlicher Wunsch nach Er­leichterung wird vom Chauffeur der angepeilten Villa mißver­stan­den: Er schießt dem von Harndrang Gepeinigten kur­zer­hand ins Bein. Nun über­stürzen sich die Ereignisse. Ob­wohl die drei Eindringlinge von Anfang an beteuert hatten, sie wären kei­ne Kriminellen und wollten auch gar nichts Böses, rutschen sie doch immer tiefer in die Rolle von GeiselnehmerIn­nen hinein. Vorbild für das Han­deln der bei­den Kinder, die nach der Ver­letzung von Maguila auf sich al­lein gestellt sind, ist un­ver­kennbar die Pseudorealität tau­sender Fernsehkrimis, die sie in ihrem kurzen Leben schon ge­se­hen haben. Japa freut sich je­des Mal wie ein Schneekönig, wenn sei­ne “Fernseherfahrungen” ein­tref­fen und er als kleiner Macho Herr der Lage bleibt. Wäh­rend­dessen entdecken die beiden Fa­ve­la-Kinder Branquinha und Japa in dem großbürgerlichen Haus­halt immer neue Dinge, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kann­ten. Plötzlich wird die vir­tual reality ihres eigenen Lebens ganz real und erfahrbar, bei­spiels­weise in Form moderner Sport­schuhe, die auf legalem We­ge für die Armen nicht zu ha­ben sind. Ein gelun­gener Beweis da­für, daß man das Elend der Slums nicht unbedingt zeigen muß, um die ungerechte Ein­kom­mensverteilung in einem Land wie Brasilien eindringlich darzustellen.
Der Hausherr, ein Techniker aus den USA, seine hysterische, kein Wort Portugiesisch spre­chen­de Tochter und die Hausan­ge­stellte werden mit Pistolen in Schach gehalten und gefesselt. Ge­duldig sucht der US-Bürger im­mer wieder nach einer Lösung für die verfahrene Situation, sei­ne oberste Maxime scheint die der Besonnenheit zu sein. Doch die von Zufällen lebende, an Ab­sur­dität kaum zu überbietende Ge­schichte der “geborenen En­gel” nimmt scheinbar unaufhalt­sam ihren Lauf. Bald ist der Ort der versehentlichen Geiselnahme von schwerstbewaffneter Polizei um­zingelt. Es gibt Versuche, die merk­würdige Situation zu been­den. Doch wo Arm und Reich so unvorbereitet und ungefiltert auf­einander treffen, ist keine Kom­munikation möglich.
Das Ende des Films erleben die ZuschauerInnen nicht mehr aus­schließlich aus der Sicht der Ki­nobesucherInnen. Immer nach­drück­licher schiebt sich eine an­dere, für die meisten Men­schen unserer Zeit viel gewohn­tere Wahrnehmung darüber: Ganz im Stile des Reality-TV, das auch in Brasilien längst unge­hemmte Urstände feierte, be­stimmt die mediale Dar­stel­lung des Ereignisses die letz­ten Ein­drücke. Die Fern­seh­kameras sind hautnah dabei, doch sie kön­nen of­fenkundig nicht die ganze Wirk­lichkeit erfassen. Gegen­über dem filmischen Erlebnis ver­blassen die Kommentare der Be­richterstatterInnen zu einem Ein­heitsbrei mit künstlicher Emo­tionaltät.

Ein absurder Film über eine absurde Realität

Murilo Salles ist es mit sei­nem Spielfilm gelungen, die so­zialen Ungleichheiten in Brasi­lien anzuprangern. Die Absurdi­tät der gesellschaftlichen Gegen­sä­tze in Brasilien klarzumachen, ist seine Idee. Er tut dies mit einem absurden Film, nicht mit einem erhobenen Zeigefinger. Es gibt keine klare Trennung zwi­schen Gut und Böse. Es gibt nur ein­deutige VerliererInnen. Die ver­meintlich Bösen, die ja eigent­lich gar keine Bösen sind, son­dern durch eine absurde Verket­tung von Um­stän­den in diese Rol­le geraten, haben ganz sym­pathische, kindliche Zü­ge. Aber eben keine Chance. Aus der Ver­mischung eines ab­sur­den Dra­mas, dessen tra­gi­sches Ende un­aus­weichlich er­scheint, mit der Ästhetik des mo­dernen Re­ality-TV bezieht der Film, “Wie Engel geboren wer­den” seine Dynamik und seine Spannung. Und er hin­ter­fragt nachdrücklich die ge­sell­schaft­lich dominie­rende Rol­le des Mediums Fern­sehen.

“Como nascem os anjos”, Buch und Regie: Murilo Salles; Brasilien, 1996.

“Ich hasse Filme mit einer Botschaft”

Wie entstand die Idee, den Film “Como nascem os anjos” zu drehen?

Sie entstand aus der Not­wen­digkeit, einen neu­en Zugang zur Frage der so­zialen Ungleichhei­ten in Brasilien zu finden. Und zwar einen Zugang, der sich vom alten Soziolo­gismus und der stark neo­realistisch geprägten Strö­mung des frühen ‘Cinema Novo’ abhe­ben und diese Fra­ge auf ihren formalen Kern bringen würde, näm­lich das Absurde. Es ist ein ab­surder Film, der die Ab­sur­dität der sozialen Un­gleich­heit in Bra­silien dis­kutiert.

Am Anfang des Films zeich­nen Sie mit den Ein­stel­lungen in der Favela Dona Marta ein ziem­lich reali­tätsnahes Bild vom Le­ben in den Slums von Rio. Glau­ben Sie, daß Ihr Film ein wahres Bild vom Leben in Brasilien vermit­telt?

Nein. Ich versuche, zum Neo­realismus auf Distanz zu gehen. Ob­gleich die Ein­stellungen die Realität wie­dergeben, sind die Fi­guren von Branquinha, Japa und Maguila drei Re­prä­sentanten jenes unend­lichen sozialen Ge­webes, das wir als FAVELA be­zeich­nen. Der Film tritt in das Leben dieser drei Per­sonen ein, die spezifisch sind und ihre klar umris­senen Eigenarten haben. Sie vertreten aber nicht “ALLE” BewohnerInnen ei­ner FAVELA.

Welche Rolle spielt das deut­sche Fernsehteam in den ersten Szenen des Films?

Das Team des Deutschen Fern­sehens – es könnte auch ir­gend­ein anderes Team aus ir­gendeinem Land der Welt sein – ist in dem Maße präsent, wie ein in­ternationales Interesse an die­ser Art Gemeinschaft und ge­sel­lschaftlicher Or­ga­nisation be­steht, die wir FAVELA nennen und die ihre eigenen, sehr cha­rak­teristischen Figuren her­vor­bringt.

Warum sind die Haupt­opfer Ihrer Ge­schichte US-Amerika­ner beispielsweise Aus­länder? Was wäre der Un­terschied, wenn es Bra­silianerInnen wä­ren?

Es wäre ein ganz anderer Film geworden. Es war ent­scheidend, daß das “besetzte” Haus einem “Grin­go” gehörte – irgend­einem Grin­go, ich habe nur aus dreh­technischen Grün­den einen Ame­rika­ner aus­gesucht -. Denn wenn dort Bra­silianerInnen ge­wohnt hät­ten, hätte die­ser Brasi­laner entweder die Lage besser beherrscht – weil er sich ausge­kannt hätte -, oder er hätte stär­ker zur Aggressivität ten­diert. Das wollte ich ver­meiden, denn ich wollte kei­nen Film über die Ge­walt drehen, die von zwi­schen­menschlichen Bezie­hun­gen aus­geht, sondern ei­nen Film über die Ge­walt, die von der Un­gleich­heit ausgeht. Als “Gringo” kennt sich der Hausherr eben nicht so gut mit dem aus, was passiert, mit den drei zumindest merk­wür­digen Figuren. Er han­delt fei­erlicher, vor­sichtiger, ängstlicher. Das brachte mich da­rauf, die Rolle mit einem Ausländer zu be­setzen.

Wie haben Sie die Kin­der­darsteller für den Film gefun­den?

Wir haben sechs Monate lang intensiv unter jungen Klein­darstellern in den Volkstheater­gruppen und jun­gen Theater­schulen Rio de Janeiros gesucht.

Wie in anderen Filmen auf dem diesjährigen Ber­liner Fe­stival spielt das Fern­sehen in “Como nascem os anjos” eine ent­scheidende Rolle, in eini­gen Szenen erscheint es sogar wich­tiger als das wirk­liche Leben. Wie wür­den Sie die Rolle des Me­diums Fernsehen im heuti­gen Brasilien einschätzen?

Das Fernsehen ist im Fal­le Bra­siliens überaus wich­tig. Ich möchte ohne Über­treibung sa­gen, es ist fast unmöglich, eine Vor­stel­lung von der brasiliani­schen Kultur zu bekom­men, oh­ne zu versuchen, die Bedeu­tung dieses Me­diums in Brasi­lien zu ver­stehen. Wir haben ein stark konzentriertes Fernsehen – ein ein­ziger Kanal vereint sech­zig Prozent der Zu­schauer auf sich. Das Fern­sehen ist sehr mächtig und von hoher kulturel­ler Spreng­kraft. Es wird einer­seits für einen hohen Kolo­ni­sa­tions­grad eines politi­schen Modells ver­antwort­lich gemacht und steht gleichzeitig der Konkur­renz der brasilianischen Kul­tur bejahend ge­gen­über.

Was ist die Botschaft des Films? Und warum haben Sie ein so fatales Ende ge­wählt?

Ich hasse Filme mit einer Bot­schaft. In Wahrheit en­det der Film mit dem rück­wärts ge­schrie­benen Titel “Como nascem os an­jos”, und er hört mit dem bloßen “COMO” (WIE) auf der Leinwand auf. Ich glaube, ich habe versucht, einen antima­ni­chäistischen Film zu machen, der mit der moralischen Achse des Hollywood-Kinos mit sei­nem Gut und Böse bricht. Wie müs­sen über diese Frage hinaus­kom­men, um die Dinge verste­hen zu kön­nen. Und wir müssen über die “Botschaft” hin­wegkommen, denn sie wird im­mer enger sein als die Verständ­nisfähigkeit ei­nes künstlerischen Gan­zen.

Ihr Film ist in Brasilien be­reits gezeigt worden. Wie hat ihn das Publikum in Ihrer Hei­mat aufge­nommen? Und wie ha­ben die KritikerInnen rea­giert?

“Como nascem os anjos” wur­de schon in Rio de Janeiro und in Sâo Paulo gezeigt.
Die “Paulistische Gesell­schaft der Kunstkritiker” wählte ihn zum besten Film des Jahres und die “FilmkritikerInnen-Verei­ni­gung” in Rio de Janeiro zum besten brasilianischen Streifen.

Denken Sie, daß Ihr Film Aus­wirkungen auf die bra­si­li­anische Gesellschaft ha­ben kann?

Ich glaube, dazu wurde er ge­macht. Er hat sie be­reits.

Abschließend noch einige all­gemeine Fragen zum bra­si­li­anischen Film­schaf­fen. Wel­che Rol­le spielt das Kino heut­zutage über­haupt in Brasilien?

Die Bedeutung des bra­sili­anischen Kinos liegt heute darin, neue Themen auf das Ta­bleau zu brin­gen, Raum für die kul­turelle Diskussion über die Fragen in Bra­silien zu schaf­fen und in erster Linie Raum für das Ima­ginäre unserer Kultur zu bieten.

Nach einer vierjährigen Pau­se hat das brasiliani­sche Kino of­fenbar seine Agonie über­wunden. Wel­che Perspekti­ven und Entwick­lungs­mög­lich­kei­ten se­hen Sie für brasi­lianische Filme in der Zu­kunft?

Ich sehe den Ausweg für das brasilianische Kino in der Radi­ka­li­sierung seiner kulturellen Achse. Wir müs­sen aufpassen, denn es besteht die Versuchung von Seiten der intelligenten “Vor­mundschaft” der Film­kritik und der inter­na­tionalen Festivals der Län­der der ersten Welt, sich zu “bemühen”, auf Filme zu sto­ßen, die Brasi­lien und seine Themen als die eines armen Lan­des behandeln. Wir sind keine “armen Schweinchen”, und unser Wunsch, in diesen er­lauch­ten in­ter­nationalen Kreis auf­genom­men zu wer­den, be­deutet nicht ein­fach, das Bild eines ar­men Landes zu verkaufen. Aber für unser Überleben und unser Fort­be­stehen ist die­ser Kreis un­er­läßlich, weil der In­lands­markt nicht die Ko­sten für brasi­lianische Fil­me deckt. Selbst­nach­sich­tige brasilianische Filme wie “Como nascem os anjos” ist ein Beweis für das ge­naue Ge­genteil. Ein Be­weis für das klare Kon­zept unserer exi­stentiellen Ent­wicklung, ohne Schuld­gefühl, ohne Min­der­wer­tig­keitsgefühle, weil wir arm sind. Dafür, sich nicht zu schä­men, Bra­silianer zu sein.

Der heilige Teufel

Was machen die Heiligen in der Kirche wenn nie­mand da ist, der zu ihnen betet? Sie langwei­len sich. Was kann dagegen ge­tan werden? Ein Fernseher wird vor den versammelten Fi­guren auf­gestellt und die Seifenopern ver­treiben die Langeweile. Und wenn ei­ner von Ihnen nicht lieb war? Dann wird das Ge­sicht zur Wand gedreht. Ätsch!
Agustin Quetzal hat ein inni­ges Verhältnis zu den Heiligen. Er kümmert sich um die Kirche im Dorf, denn der Priester kommt von außerhalb. Agustin Quetzal ist das Big Baby, früher we­niger charmant als Dorftrottel be­zeichnet, aber blöd ist er nicht. Er erklärt dem entsetzten Priester die Sache mit dem Fernseher. Der versteht kein Wort, zischt nur: “Red’ spa­nisch!” und die Matt­scheibe zerschellt auf dem stei­nernen Kirchenboden. Hier der Indio mit seiner Mutterspra­che Nahuatl, dort der spanische Nach­fahre, Vertreter der Amts­kirche, der nur spanisch spricht.

Europäischer Filmmarkt

Während Forum, Pan­orama und Wettbewerb der Berlinale die Leute ins Kino locken, findet ne­benan für FachbesucherIn­nen der Europäische Film­markt statt. Der mexikani­sche Film war hier zwei­mal vertreten, darunter San­to Luzbel von Miguel Sa­bido. Sohn einer Maya, lernte Sabido erst mit 13 Jahren Spa­nisch. Schon früh in­teressierte er sich für die indianischen Zeremonien und das rituelle Volksthea­ter. Um das evangeli­kale Theater in den einheimi­schen, indianischen Spra­chen wieder aufleben zu las­sen, grün­dete er 1989 die Na­huatl Theater Company.
Die Aufführung religiöser Stücke hat in Mexiko eine 3000 Jahr alte Tradition. Spani­schen Chro­nisten zu­folge form­ten 18 aus­geklü­gelte Rituale die jährli­chen Zeremonien der Azte­ken. Hun­derte von Tänzern, Schau­spie­lern, Sängern und Cho­reo­gra­phen spielten in der azte­ki­schen Gesell­schaft eine wich­ti­ge Rolle. Es wird geschätzt, daß al­lein im Hochtal von Me­xiko an die 100.000 Men­schen ihr Leben mit diesen Zeremonien zubrach­ten. Mit der Ankunft der Spa­nier kamen sie in Kontakt mit den Mön­chen des Franziska­ner­or­dens. Von den Franziska­nern mis­sio­niert, wandelten sich die Ri­tu­ale in ein evangelikales Thea­ter in der Sprache Na­huatl um.

Die Götter gnädig stimmen

Elf Jahre nach der spani­schen Eroberung der Azteken­metropole Tenoch­titlán, dann um­be­nannt in Mexiko-Stadt, kam dort mit über 800 Schau­spielern, Musikern und Tänzern ein religiöses Stück zur Auffüh­rung, daß das Jüngste Gericht dar­stellte. Diese Art des Theaters über­dauerte noch wei­tere 80 Jah­re bis es allmählich ver­schwand oder sich in ein ritu­elles Volkstheater ver­wandelte.
Vier solcher religiöser Stücke hat die Nahuatl Theater Com­pany bisher rekonstruiert und aufge­führt, Santo Luzbel ist ihr ers­ter Spielfilm, bei dem über­wiegend Nahuatl ge­sprochen wird. Erzählt wird die Ge­schich­te von vier In­dios, die sich ihrem Schutz­patron, dem Heili­gen Mi­cha­el, verpflichten eine öf­fent­li­che Huldigung darzubrin­gen. Ei­ner von ih­nen besitzt das Buch, in dem der Ritus aufge­zeichnet ist und das vom Vater an den Sohn weiter­gegeben wird.
Aber der Sohn war nachlässig und hat sich nicht darum ge­küm­mert. Erst jetzt, nach einer Reihe von Tragödien und Un­glüc­ken soll das eigentlich jähr­lich statt­fin­dende Col­loquium wie­der auf­ge­führt werden. Das ganze Dorf wird in die Vorbe­reitungen mit ein­bezogen, arg­wöhnisch be­trach­tet von Pater Loepoldo San­tos. Der versteht be­kanntlich kein Nahuatl, aber je mehr die Sache in Gang kommt, er­hellt sich auch für ihn der ge­naue Titel des Buches: Das Col­loquium der großen und heiligen Män­ner Mi­chael und Luzifer. Blas­phemie, ruft Pater Santos und verbietet die Auffüh­rung. Daß der Teufel kein Heiliger ist, dem öffentlich gehuldigt werden kann, ist für die Dorfbewohner nicht nachvollziehbar. Während der liberale Amtskollege Vater Julio zu vermitteln versucht, er­klärt, daß der Titel nicht wörtlich aus dem Nahuatl übersetzt wer­den könne, daß für die indiani­schen Dorfbewohner der heilige Michael und Luzifer den glei­chen meta­physichen Status einer Gott­heit einnehmen, und schließ­lich der Begriff der Hölle ein eu­ropäisches Im­portprodukt sei, verhärten sich die Fronten wei­ter. Auf der einen Seite die In­dios, die ihr Versprechen ge­gen­über ihrem Schutzpa­tron nicht brechen können, auf der anderen Seite der störrische Prie­ster. In ihrer Not verschanzen sich die vier indígenas in der Dorf­kirche. Der Bischof wird ein­ge­schaltet, das Militär geru­fen und die Me­di­en bekommen Wind von der Sache. Schnell wird so eine be­set­zte Dorfkirche zu ei­nem kom­plet­ten Indígena­auf­stand auf­ge­bauscht.
Am Ende stehen sich waffen­starrende Mi­litärs und mit Ker­zen bewaffnete Indios vor der Kir­che ge­genüber, der blutige Show­down kann ge­ra­de noch ver­hindert werden.
Dem ungläubigen Kino­be­su­cher ist dieser ganze Kraftauf­wand zwar logisch verständlich und nachvoll­zieh­bar, die Sympa­thie­verteilung fällt schon allein we­gen der teils amüsanten Cha­rak­terzeichnung zu­gunsten der In­dios aus. Auch werden The­men wie Konflikte um Land­be­sitz, korrupte Behörden und welt­liche Machtverteilung am Ran­de berührt, im Zentrum steht je­doch die religiös moti­vierte Aus­ein­andersetzung. Da­bei er­scheint der bürokratische Amts­kir­chenvertreter nicht we­niger ver­bohrt und stur als die auf ih­rer Art der Feier bestehen­den In­dios. Das könnte gewollt sein. Die letzten Bilder des Films zei­gen die Dorfbevölkerung al­lein unter sich am Fuß einer Azte­ken­py­ra­mi­de bei der Zele­brie­rung ihres Colloquiums. Sie ha­ben ihr Dorf ver­lassen und sind zu ihren Wur­zeln zurückge­kehrt. Na, wenn das kein gutes Ende ist.

“Santo Luzbel”, Mexiko, 1996, Re­gie: Miguel Sabido, 96 Minuten.
Die Company bereitet gerade einen zweiten Film in Purépecha, der Sprache in Michoacán vor. Ein drit­ter soll in Maya in Yucatán gedreht werden.

Von Träumen, Maismenschen und Erzen­geln

Öffnet man das Buch, fallen die schö­nen Holzschnitte des Bra­silianers José Francisco Bor­ges als erstes ins Auge. Die Kunst des “Cordel”, eine alte Tra­di­ti­on der Volks­bücher, mach­te ihn als Holzschnitzer und Po­eten berühmt. Von der ersten bis zur letzten Seite begleiten sei­ne Bilder ergänzend und be­rei­chernd die Geschichten und loc­kern das Buch optisch auf. Schon allein das äußere Er­schei­nungsbild verleiht dem/der Le­serIn das Gefühl, etwas Be­son­deres und liebevoll Ge­stal­te­tes in den Händen zu halten.
Mit dem Buch hat Eduardo Ga­le­ano ein Werk geschaffen, das seine kreative und wort­ge­wand­te Ausdruckskraft in schön­ster Form darstellt. Seine Er­fah­rungen und Gedanken einerseits, die überlieferten Mythen der In­di­os an­der­erseits finden in far­ben­reichen und phantasievollen Ge­schichten ihren Raum.
Schon in der ersten Ge­schich­te, in der ein zauberkundiger Mann ir­gendwo zwischen Ama­zo­nasmündung und der Bahia de To­dos os Santos durch sieben Wun­der die Gunst ei­ner “schwierigen Frau” zu erlangen ver­sucht, fängt der märchenhafte und ver­zaubernde Charakter des Schreib­stils den/die Le­serIn: “…Da blies José vom Ufer aufs Meer hinaus. Er blies mit Lun­gen, die nicht seine waren, und befahl: Trockne, Meer! Und das Meer zog sich zurück und gab den über und über mit sil­bri­gen Fischen bedeckten Sand frei…”.
Den Stoff für die Geschichten, die ver­streut auf dem la­tein­ame­rikanischen Kon­tinent ihren Hand­lungsort finden, bilden E­le­mente wie Liebe und Hass, Him­mel und Hölle, die das Leben und den Glauben der Menschen wie keine anderen beeinflussen. Men­schen treten als Tiere, Fa­bel­wesen oder andere Geschöpfe auf, Tiere wiederum werden zu Men­schen. Galeano setzt sich für sei­ne symbolhafte und bildliche Be­schreibung keine Grenzen, und das ist auch gut so, denn das Buch lebt von diesem Zauber, der das Erzählte erst so in­te­res­sant und lesenswert macht: Sei es die Geschichte von den un­sicht­baren Mondmenschen, die die Musik bringen oder die vom Ech­senmännchen, das zum Abend­essen seine Weibchen zu ver­spei­sen pflegt.
Trotz des Schreibstils, bei dem man annimmt, das Buch wäre nicht zeitgemäß, gelingt es Ga­leano, etwas Modernes zu er­schaf­fen. Er versteckt in vielen Ge­schichten gegenwärtige Er­fah­run­gen und Kritik an der Ge­sellschaft oder an vorherr­schenden For­men des christ­lichen Glau­bens sehr geschickt in einem Schlei­er des Unwirk­lichen, eben Mär­chenhaften. Das macht den Reiz an diesem Buch aus. Nur an we­nigen Stellen tritt die Ge­gen­wart schwarz auf weiß auf. In ei­ner Geschichte wird bei­spiels­wei­se der Mantel der Phantasie mit­ten im Geschehen für zwei Ab­sätze abgelegt, und es tauchen Be­griffe auf wie: “…BBC in Lon­don…Dichter von der Ti­mes zum ‘Mann des Jah­res’ ge­kürt … hö­her­es Säugetier des ekto­mor­phen Typs…der bra­si­li­anisch – xan­tho­der­mischen Grup­pe angehörend…”. Der erste Absatz hat den Stil ei­ner Kurznachricht in einer Ta­ges­zeitung, und der zweite ähnelt einer wissenschaftlichen Studie. Die­ser kurze Wandel, fast scham­los in der aufgebauten Mär­chenwelt, kommt so überra­schend und schnell, wie er wie­der verschwindet.
Neben den 33 kurzen Ge­schichten sind es die in wenige Wor­te gefaßten “Fenster”, die dem/der LeserIn Ansich­ten zu Dingen, Wesen oder Be­grif­fen öffnen, denen irgend­wann ein­mal ein Name gegeben wurde. Weisheiten der Indios ge­ben neben den Beschreibun­gen Ga­leanos’ bildhafte Darstel­lungen wieder. Ein Beispiel zur Uto­pie: “‘Sie ist am Horizont’, sagt Fernando Birri. ‘Ich mache zwei Schritte auf sie zu, sie ent­fernt sich zwei Schritte. Ich gehe zehn Schritte, und der Horizont rückt zehn Schritte von mir ab. Und wenn ich noch so weit gehe, ich werde sie nie erreichen. Wozu taugt die Utopie? Dazu taugt sie: damit wir gehen.'”
Für jemanden, der seiner Phan­tasie beim Lesen freien Lauf lassen will, ist dieses Buch wie geschaffen. Ein Genuß für die Sinne und Litera­tur in seiner un­verkrampftesten Form. Ich kann es nur empfehlen.

Eduardo Galeano: “Wandelnde Worte”, Limes-Verlag, Mün­chen 1997, 331 Seiten, 39,80 DM, ISBN 3-8090-2417-1

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

“Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase”

Wenn Pepe Mujica, Ex-Tupamaro und frischgewählter Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio, seinen Arbeitsplatz betritt, fühlt er sich oft “wie ein folkloristischer Blumenstrauß, um gesellschaftliche Offenheit zu demonstrieren”. Denn in Uruguay, das 1985 nach dreizehn Jahren der Militärdiktatur offiziell zur Demokratie zurückkehrte, besetzen nach wie vor viele der für die Diktatur Verantwortlichen die Schlüsselpositionen – im Parlament und anderswo. Gleichzeitig haben es jedoch die Tupamaros als eine der wenigen lateinamerikanischen Guerillas geschafft, sich ins zivile Leben zu integrieren. Pepe Mujica und seine Frau Lucia Topolansky, Eleuterio Fernández Huidobro und Graciela Jorge – die Ex-Tupamaros, die Heidi Specogna und Rainer Hoffmann für ihren Dokumentarfilm interviewten, sind nach wie vor politisch aktiv, haben sich aber ihre privaten Nischen geschaffen. Pepe Mujica macht keinen Hehl daraus, daß ihm die Arbeit im Gewächshaus, wo er und Lucía Blumen züchten, weitaus mehr Freude bereitet als das “Parteisoldatendasein” als Parlamentarier. “Vielleicht wäre es anders, wenn ich jünger wäre”, merkt er in einem der Gespräche an.
“Tupamaros” ist ein informativer und zugleich sehr bewegender Film über die uruguayische Stadtguerilla, die mit ihren spektakulären, massen- und medienwirksamen Aktionen ab Mitte der 60er Jahre für internationales Aufsehen sorgte. Der Film verleugnet nicht seine Sympathien für die Tupamaros, ist aber niemals pamphletarisch, sondern lebendig und facettenreich. Das liegt zum einen an den Interviewten, ihrem weisen und verschmitzten Charme, ihrer Nachdenklichkeit und Wärme, zum anderen an der behutsamen Inszenierung, die neben der Erinnerung an Diktatur, Folter und Gefangenschaft auch dem Alltäglichem und Anekdotischem Raum läßt. Besonders beeindrukkend sind der Humor und die ungebrochene Vitalität, mit der auch über Heikles, Schmerzhaftes und über Angstsituationen gesprochen wird. “Wir fälschten so ziemlich alles”, erzählen Lucía Topolansky und ihre Zwillingsschwester augenzwinkernd – und meinen damit nicht nur Pässe und Führerscheine, sondern auch die plastische Chirurgie, der sich viele Tupamaros im Untergrund unterzogen, um nicht mehr über Fahndungsfotos identifizierbar zu sein – “Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase.”
In ihrem Dokumentarfilm unternehmen die Filmemacher Specogna und Hoffmann den Versuch, Geschichte in erster Linie mit Hilfe von Bildern aus der Gegenwart sichtbar zu machen. So folgen sie Pepe und Lucía, wie sie auf einem klapprigen Moped zum Blumenmarkt düsen, oder heften sich Huidobro und Mujica an die Fersen, wenn diese durch eine durchgestylte neue Shopping Mall in Montevideo spazieren. An derselben Stelle standen vor Jahren die Mauern des Gefängnisses, in dem sie gefoltert wurden. “Kapitalismus ist wunderbar”, meint Huidobro mit Blick auf die glatten Oberflächenreize der Schaufenster – und die Ironie seiner Worte klingt scharf, aber nicht bitter.

“Tupamaros”, Deutschland/ Schweiz Uruguay 1996; Buch und Regie: Heidi Specogna/ Rainer Hoffmann; Farbe, 95 Minuten.

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Ankläger argentinischer Absurditäten

“Er schrieb nicht für die Schriftstellerzirkel, für die Kritiker oder den literarischen Hühnerstall. Er schrieb für die Menschen und handelte nicht mit Populismus”, resümiert der Publizist José Pablo Feinmann über Soriano. Er war der Komplize der LeserInnen und sie vertrauten ihm. In den Contratapas, der Rückseite der von ihm mitgegründeten Tageszeitung Página /12, kommentierte er die Absurdität der tagespolitischen Vorfälle in Argentinien, mit besonderer Vorliebe die lokale Fußballszene oder schrieb über seinen Vater: Ein Don Niemand, wie Soriano erklärte, ein Angestellter bei den städtischen Wasserwerken, den schließlich alle LeserInnen liebten. Nichts war nicht tiefsinnig, jede kleine Begebenheit konnte er in eine Geschichte verwandeln.
Durch Soriano sei das Leben der Antihelden heroisch geworden, formulierte der Drehbuchautor Antonio Skármeta treffend. Soriano brachte das Leben von Marginalisierten der Gesellschaft und den Gescheiterten aufs Papier. Bezeichnenderweise war der Argentinier ein großer Fan von Stan Laurel und Oliver Hardy, dem er wohl seinen Spitznamen El Gordo – Dicker zu verdanken hat. Beide Darsteller von “Dick und Doof” sind als White Trash, als arme verachtete Weiße gestorben. Soriano, der Laurels Geschichten schätzte, weil sie die Gesellschaftsordnung und das Eigentum angriffen, brachte die beiden 1973 in seinem ersten Roman, Triste, solitario y final unter. Diese urkomische und eigenartige Geschichte des Scheiterns war von Anfang an ein Bestseller. “Heute scheint es einer der großartigsten und begrüßenswertesten Momente jener verkrampften Epoche zu sein”, blickt Sorianos Kollege von Página/12, Juan Forn, zurück. Der in der lateinamerikanischen Literatur neuartige Stil dieses Buches begründete das Género menor.
Soriano verstand die argentinische Seele wie kein anderer. Er beherrschte die Umgangssprache der Leute, kannte ihre Sitten und ihren Humor, den Tango und die Politik. Argentinien bedeutete für ihn eine leicht verrückte Heimat, auf die man sich keinen Reim machen kann. Der Journalist Jacobo Timmerman erklärt: “Soriano verstand diese Nation gut, die in vielen Aspekten absurd erscheint, weil er mit dem Absurden umzugehen wußte. Er hatte Symbole, Ausdrücke, Figuren, Gespenster geschaffen, und das war die Weise, in der er uns die Schwierigkeit, in Argentinien zu leben, verständlich machte. Und die Sehnsucht, in Argentinien zu leben.”

Diktatur, Exil, Rückkehr

Soriano wurde am 6. Januar 1943 in Tandil, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires, geboren. In seinem Geburtsort hatte er als Sportreporter bei dem Blatt “El Eco” angefangen und war mit 26 Jahren zum Schreiben nach Buenos Aires gezogen. Primera Plana, die Zeitung, die er zunächst aufsuchte, wurde kurze Zeit später von der Militärregierung Juan Onganías verboten. Bei der linken Zeitung La Opinión wurde er bald darauf zum Starredakteur für gesellschaftliche Angelegenheiten. Für seine Historias de la vida wählte er die Kolumnenform, damit ihm niemand reinreden konnte. 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch, zog Soriano über Brüssel nach Paris. Dort lernte er seine spätere Frau Catherine kennen.

Die Zeit im Exil

Während seines Exils arbeitete er unter anderen für Le Monde, Libération, Le Canard Echaine, Panorama und für Il Manifesto. Soriano war ein “Sozialist ohne Partei”, wie ihn sein Freund Pasquini Durán nannte. Er verteidigte die Freiheit und die Utopie einer glücklichen Gesellschaft, die ihn vor Zynismus bewahrte. Die Menschenrechte sah er als unerläßliches Fundament des Zusammenlebens.
Aus dem Exil heraus klagte er die Verbrechen der Militärregierung in Argentinien an. Sin Censura hieß die Exilzeitung, in der Soriano mit anderen politischen Flüchtlingen wie Carlos Gabetta und dem Schriftsteller Julio Cortázar über die Verbrechen von General Videla aufklärte. Wenn vor argentinischen Botschaften demonstriert wurde, war Soriano dabei, Flugblätter trugen seine Unterschrift.
Sein Einsatz gegen die Grausamkeit der argentinischen Politik spiegelt sich auch in seinen Werken wider. Er war der erste, der diese literarisch darstellte, besonders in No habrá mas penas ni olvido und Cuarteles de Invierno. Ersteres hatte er noch in Argentinien beendet, konnte es jedoch erst 1980 in Madrid veröffentlichen. Darin thematisiert Soriano die politischen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonisten in den 70er Jahren. Der auf diesem Buch beruhende Film von Héctor Olivera erhielt den Silbernen Bären auf der Berlinale.
“Mit Soriano sterben die Träume einer Generation, die auf ein gerechteres und würdigeres Argentinien vertrauten”, schrieb der Schriftsteller Tomas Eloy Martinez.
Soriano trug wesentlich zur Veränderung der argentinischen Presselandschaft in der Demokratie bei. 1984 kehrte er nach Buenos Aires zurück und gründete die inzwischen wieder eingegangene Wochenzeitung El Periodista und später die Tageszeitung Página/12. Schließlich zählte Soriano zu denen, welche die Vereinigung zur Verteidigung des Unabhängigen Journalismus, PERIODISTAS, ins Leben riefen. An dem Tag, an dem Soriano starb, stand seine Unterschrift neben 22 weiteren unter einer Erklärung an die argentinische Regierung. Darin versicherte PERIODISTAS, daß die argentinische Presse den vor kurzem ermordeten Fotografen José Luis Cabezas nicht vergessen wird und dessen Mörder zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Sorianos literarisches Werk

Seit seiner Rückkehr beglückte Soriano seine Fangemeinde mit vier weiteren Romanen. Für A sus plantas rendido un león, die Geschichte über einen argentinischen Konsul, der zur Zeit des Malvinenkriegs in Afrika steckt und in dessen Verlauf die afrikanischen Soldaten Gardel mit dem argentinischen Präsidenten verwechseln, erhielt der Autor eine in Argentinien unübertroffene Vorauszahlung von 120.000 US-Dollar. Es folgten Una sombra ya pronto serás (1990), El ojo de la patria (1992) und La hora sin sombra (1995). Auch brachte er vier Bücher mit gesammelten Zeitungsartikeln heraus.
Ob Buch oder Artikel – Soriano fiktionalisierte die Wirklichkeit, humorvoll und übertrieben, das Imaginäre stand nicht im Gegensatz zur Wahrheit.
In Argentinien wurde Soriano, jedenfalls von offizieller Seite, so gut wie ignoriert. Doch gestraft fühlte er sich wegen ausbleibender Preise nicht: “Es ist besser so. So ein Preis kompromittiert Dich. Du gehst hin, um ihn zu empfangen und mußt wer weiß welcher unerwünschten Gestalt die Hand geben.”

Anerkennung im Ausland

Dafür fand der Argentinier im Ausland umso mehr Anerkennung. Seine Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt. Besonders in Italien und Deutschland ist man von ihnen begeistert. 1993 erhielt der Raymond Chandler Verehrer Soriano die in Europa höchste Anerkennung für Kriminalautoren, den Raymond Chandler Preis. Für seine Artikelsammlung Cuentos de los años felices überreichten ihm die Italiener den Scanno Preis. Auf die Frage, was er mit den gewonnen drei Kilo Gold gemacht habe, erklärte der Geehrte: “Was in solchen Fällen angebracht ist: Ich habe sie auf einer Insel vergraben.” Erfolg und Geld interessierten ihn nicht. Während seines Exils erhielt Soriano lukrative Angebote von vielen großen italienischen Zeitungen, um ihn von Il Manifesto abzuwerben. Erfolglos, er blieb bei der linken Zeitung.
Osvaldo Sorianos Fan-Gemeinde würdigt seine unvergleichliche Art zu erzählen, von den einfachsten Dingen, stundenlang. Ein Mensch, der, wie Stan Laurel, andere zum Lachen bringen konnte, während er anklagte.

“Wann hast du das letzte Mal gepinkelt, Großer Kojote?”

Da schimmert sie durch, die Verbindung zwischen Phantasie und Realismus. Leider gelingen Rudolfo Anaya in seinem Roman “Die Wasser des Río Grande” (das Original erschien 1992 unter dem Titel “Alburquerque”) erst im letzten Teil und viel zu vereinzelt solche schönen Passagen. Die Geschichte ist anfangs allzu durchsichtig. Die LeserInnen wissen zuviel, besonders das, wonach der Protagonist Abrán sucht. Er will seinen Vater finden, bringt dafür alle Mittel und Hebel in Bewegung. Immer ist er auf der Suche nach seiner Identität. Seine Mutter, eine Angloamerikanerin, lernt er erst kurz vor ihrem Tod kennen; wer sein leiblicher Vater ist, verschweigt sie ihm. Er wächst bei Adoptiveltern auf, diese sind mexikanisch-indianischer Herkunft, und wenn er sich selbst im Spiegel betrachtet, erforscht er seine eigene Abstammung. Nach und nach beleuchten neue Facetten die Szenerie, die Spannung steigt, es wird regelrecht dramatisch – bevor die Story, aus welchen Gründen auch immer, im völligen Kitsch endet. Das letzte Kapitel ist schlicht und einfach überflüssig.
Interessant an dem Buch ist zunächst einmal sein Autor. Anaya, Jahrgang 1937, ist emeritierter Professor für Englisch an der Universität von New Mexico. Er lebt in Albuquerque (sic!) – die “richtige” Schreibweise und die Gründe für die falsche erfahren wir im Roman – und hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten geschrieben, von denen allerdings nur zwei auf Deutsch erschienen sind. Neben dem vorliegenden erschien 1984 im Frankfurter Nexus-Verlag “Segne mich, Ultima” (Original 1972: Bless me, Ultima), die Geschichte einer Begegnung zwischen dem siebenjährigen Antonio und der Curandera Ultima. Anaya gilt als “Vater der Chicano-Literatur” in den USA. Dieter Herms stellt ihn in seiner Abhandlung über “Die zeitgenössische Literatur der Chicanos” in eine Reihe mit Rivera und Hinojosa. Er beschreibt Anaya zwar als einen der “Tres Grandes”, bemängelt allerdings anhand der Analyse von “Segne mich, Ultima” dessen folkloristische Sichtweise, die die alte indianische Vorstellung der Einheit von Mensch und Natur als Lösungskonzept für derzeitige Identitätsprobleme überstrapaziere. Diese Kritik läßt sich fast nahtlos auf den neuen Roman von Anaya übertragen. Auch hier wird als Ziel für die Identitätssuche die Rückbesinnung auf traditionelle indianische Werte und Lebensvorstellungen empfohlen.

“Sie knabberte sanft an seinem Ohr…

Um Curanderas, also weise, alte Frauen, die Menschen heilen, Geburtshilfe betreiben, böse Geister vertreiben und wahrsagen können, geht es auch in seinem neuen Roman. Sie stehen letztlich für die klare Priorität des Autors für die Tradition in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus und der Moderne. Darüberhinaus sind in dem Buch interessanterweise alle Frauen durchweg die stärkeren Charaktere, während sämtliche Männer entweder Identitätsprobleme haben oder Immobilienhaie sind – vielleicht auch etwas einfach gestrickt. Der Autor schreibt in Englisch, streut aber eine Vielzahl von mexikanischen Ausdrücken ein, die auch in der deutschen Fassung erhalten wurden. Ein weiteres bedeutsames Stilmittel bilden die Selbstgespräche.
Das große Thema ist, wie schon erwähnt, die Identitätsfindung der Chicanos. Bei der Suche nach seinem Vater gerät Abrán in den Wahlkampf um das Bürgermeisteramt von Alburquerque. Ein weiterer Bewerber für das Amt, Frank Dominic, träumt davon, das Stadtzentrum zu einer Art zweiten Venedig zu machen, indem das Wasser des Río Grande umgeleitet wird. Dieses gigantische Bauvorhaben erinnert stark an den Film “Milagro” oder an die Kishon-Geschichte vom “Blaumilchkanal”; ein zweites Tenochtitlán – das präkolumbianische Mexiko-Stadt – soll entstehen. Sowohl linksliberale Umweltschützer als auch Konservative versuchen, das Projekt zu verhindern. Das Ganze mündet in einen spannenden, furiosen Boxkampf, der über zehn Runden geht, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.

…und kroch in sein Herz”

Dabei hatte alles so harmlos mit einem Billardspiel begonnen. Die Männer lernen sich schon mal kennen, helfen einander aus. Wer weniger besoffen ist, fährt den anderen nach Hause. Überhaupt geht es in dem Buch oftmals um Duelle: beim Billard, Boxen, der Kandidatur ums Bürgermeisteramt – und letztlich auch bei der matanza, dem rituellen Schweineschlachten. Alt gegen jung und natürlich wieder Tradition gegen Moderne. Dabei bleibt Anaya den LeserInnen letztlich den Überlegenheitsbeweis der Tradition gegenüber der Moderne schuldig. “Wir werden sterben, und das alles wird vergehen”, sagt selbst einer der Alten und meint damit das Ende der überlieferten Sitten und Gebräuche. Trotzdem malte Cynthia, die Mutter Abráns, genau diese traditionellen Motive. Sie hielt den Zauber jener Augenblicke in der dörflichen Gemeinschaft fest. Hätte sie das unterlassen, wäre Abrán wohl nie zur inneren Ruhe und die Geschichte nicht zum Abschluß gelangt. In der Wirklichkeit hingegen ist der Prozeß der Identitätsfindung ungleich schwieriger als im Roman dargestellt.
Der Knaur-Verlag – sonst nicht gerade für die Beschäftigung mit mexikanischer bzw. Chicano-Literatur bekannt – reiht diesen Roman in eine “Ethno”-Reihe ein. “Grenzenlos lesen” sollen da die KäuferInnen. Für dieses Buch heißt das, es ist schnell zu lesen, leichte Bettlektüre. Dank des niedrigen Preises verkauft es sich wahrscheinlich nicht schlecht, und für EinsteigerInnen in die Chicano-Literatur halte ich es auch für geeignet. Diejenigen, die einen guten Roman über Identitätsfindung suchen, werden hingegen enttäuscht sein. Daß das dreiundzwanzigste Kapitel, das Letzte, ungenießbar ist, sagte ich schon.

Rudolfo Anaya: “Die Wasser des Río Grande”, Knaur-Verlag, München 1996, 425 Seiten, 14,-DM (ca. 8 Euro), ISBN: 3-426-60501-5.

Der Stolz des kleinen Mannes…

Es handele sich um “die erste Geschichte, die ein Lateinamerikaner geschrieben hat, in der die Guten haushoch gewinnen”, so Luis Sepúlveda. Darauf meint er uns mit aller Euphorie, zu der er fähig ist, im Nachwort zur “Ballade von Johnny Sosa” hinweisen zu müssen. Nun gut, sehe jeder einmal sein Bücherregal durch, ob das stimmt. Es ist ohnehin nebensächlich und ändert am “Balladen”-Text nur insofern etwas, als daß wir ihn mit einer bestimmten Erwartung lesen. Das wäre nicht nötig gewesen, das Buch ist auch so ein gelungenes.
Interessant an der Feststellung von Sepúlveda ist aber, was er als einen haushohen Sieg der Guten bezeichnet. Es ist dies nichts weiter als die Entscheidung eines Mannes, sich nicht länger an die Machthaber zu verkaufen, sondern in würdevoller Freiheit zu leben, auch wenn ihm damit keine Karriere möglich sein wird.
Das ist an Handlung schon fast alles: Johnny Sosa, Jazzsänger in einem uruguayischen Dorfbordell, ein verträumter, liebenswerter Mann, wird von den Militärs bedrängt, die mit der Diktatur ins Dorf kommen. Nicht auf Englisch soll er singen wie der wunderbare, verehrte Lou Brakley im Radio, sondern Spanisch, also Tango, Bolero. Damit er seine unpatriotischen Musikvorlieben aufgibt, versprechen sie ihm – des Lächelns wegen – weiße Zähne nebst Auftritten auf den renommierten Musikfestivals der Badeorte. Ein Star soll er werden, und er soll gute Miene machen zum bösen Spiel.
Aber das Spiel ist böse, und Johnny Sosa kriegt das mit. Nicht nur, daß im Radio statt der Lou Brakley-Sendung nun endlose Marschmusik läuft und er mit seinen Jazzprogrammen nicht mehr auftreten darf. Es werden Bekannte aus dem Dorf verhaftet; warum? Was sollen sie getan haben? Und was stört die neuen Herren der Jazz?
Die Entscheidung, sich trotz des Verbots wieder auf die kleine Bühne im Bordell zu stellen, ist seine Art zu sagen: Ich spiele nicht mehr mit. Die Gitarre muß er daraufhin abliefern. Der Verhaftung entkommt er durch Flucht. Schluß, aus.
Mir hat das Buch gut gefallen. Es ist sympathisch, daß Mario Delgado Aparaín sich tatsächlich auf eine “kleine” Geschichte beschränkt. Die Handlung geht über die Dorfgrenzen nicht hinaus und bleibt bei wenigen Menschen; die Weltpolitik braucht nicht herbeizitiert zu werden, um zu sagen, worum es geht. Der Grundkonflikt zwischen Freiheit und Unterordnung wird an eine scheinbar nebensächliche Frage geknüpft: Kann Musik ein Vehikel für politische Bekenntnisse sein? Und welche Art Musik sollte dann wofür stehen? Der Autor läßt seinen Protagonisten nun ausgerechnet Gringo-Musik lieben, er widersetzt sich jedem Kulturnationalismus und gibt damit selbst die Antwort.
Das schmale Bändchen ist reich an sprachlicher Tiefe, die Beobachtungen sind genau formuliert und wirken so ungekünstelt, so selbstverständlich, daß es leicht fällt, dem Geschehen zu folgen. Nach den hundert Seiten, Johnny Sosa ist seinen Verfolgern gerade so entwischt, hatte ich das sichere Gefühl, daß er am Leben bleiben wird.
Nichts mit Sieg, wie Sepúlveda meinte. Denn die Verlierer, die Militärs, verlieren gegen sich selbst – sie sind den Versuchungen der Macht nicht gewachsen.

Mario Delgado Aparaín, Die Ballade von Johnny Sosa. Übersetzt von Thomas Brovot, Nachwort von Luis Sepúlveda, Luchterhand Literaturverlag, München 1996, 117 Seiten, 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Teuer und total daneben

Kampkötter sympathisiert mit der zapatistischen Erhebung in Chiapas und versucht, einen historischen Bogen zu spannen, der von der Spanischen Eroberung Mexikos über die Mexikanische Revolution bis in die heutige Zeit reicht. Damit stellt er sich eine Aufgabe, die auf 172 Seiten kaum zu bewältigen ist. Doch nicht nur daran scheitert das Vorhaben: Dem Autoren unterlaufen zahlreiche Irrtümer und historische Fehldeutungen, wobei diese erheblichen Schwächen durch stilistische Mängel und unglückliche Formulierungen zum literarischen Ärgernis werden.
Das Dilemma beginnt schon im Vorwort, in dem Kampkötter die Beweggründe für die Erstellung seiner Arbeit nennt. Angetreten sei er, um “den Kampf der Zapatistas in México zu unterstützen” und den Zugang zur historischen Person Zapata zu erleichtern. Daher habe er sich “herausgenommen, dieses Buch zu schreiben, ein bißchen vom Süden zu träumen”. Welchen Anlaß das von Guerilla-Krieg, Aufstandsbekämpfung, Repression und täglichen Menschenrechtsverletzungen geprägte Mexiko zum Träumen bietet, verschweigt der Autor allerdings.
Mit der “Entdeckung der Neuen Welt” beginnt die Reise durch die Jahrhunderte und Kampkötter erleidet sogleich Schiffbruch: “Vollbracht hat sie ein Idealist, der selbstlose und edle Christoph Columbus, keine Gefahren fürchtend, die Augen fest auf Indien gerichtet. Dabei weiß wirklich jedes Kind, daß im Westen, jenseits des großen Teiches, eben nicht Indien, sondern Amerika liegt”. Oh je, da sträuben sich einem die Haare. Doch die “Analyse” wird mit der Beschreibung der Conquista, die der Autor als “Beginn des Imperialismus” outet, noch besser: “Solange das so ist, beißen halt die Menschen (zum Beispiel in México) ins Gras, seit Generationen geht das schon so. Nur manchmal kommt es ihnen hoch, und sie versuchen, der Fratze wenigstens einen Zahn auszuschlagen”.
Doch sind es nicht derartige verquaste Formulierungen allein, die auf eine profunde Ahnungslosigkeit des Verfassers schließen lassen. Aus Azteken werden “Atzteken”, die Herrschaft des Diktators Porfirio Díaz wird mal als “porfiristianisches Regime”, mal als “porfirianische Ära” bezeichnet und die staatliche mexikanische Erdölgesellschaft Pemex wird in “Pimex” umgetauft. Allerdings muß hier vor allem dem Lektorat der Vorwurf schlampiger Arbeit gemacht werden.
Aber auch mit historischen Fakten nimmt es Markus Kampkötter nicht so genau: “1883 wurden die Gesetze von Baldíos verabschiedet, in denen die Erschließung und Kultivierung von unbebautem Land geregelt wurden”. Diese Aussage ist schlicht und ergreifend falsch. Richtig ist, daß die Gesetze über die tierras baldías erlassen wurden, denn tierras baldías bedeutet übersetzt nichts anderes als brachliegendes Land. Die spanische Sprache erweist sich auch später als häufiges Hindernis für den Autoren.
Bei dem Versuch, die Verbindung zwischen Mexikanischer Revolution und Zapatistischem Aufstand 1994 herzustellen, begibt sich Markus Kampkötter schließlich vollends aufs Glatteis. Die von Präsident Carlos Salinas de Gortari 1992 vorgenommene Änderung des Artikels 27 der Mexikanischen Verfassung war nämlich nicht, wie der Autor resümiert, “einer der Gründe für die Entstehung des Neozapatismo”. Die Streichung des Artikels 27, führte vielmehr zum Beschluß der Gemeinschaften, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Die politische Organisierung unter dem Namen Emiliano Zapatas hatte, ebenso wie die Aufstellung von Selbstverteidigungsmilizen, schon Jahre vorher eingesetzt.
Schöne Fotos können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Buch jegliche Tiefe vermissen läßt und der Preis von 29,80 DM für 172 Seiten in keinster Weise gerechtfertigt ist.

Markus Kampkötter: Emiliano Zapata, Unrast-Verlag, 29,80 DM (ca. 15 Euro).

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