Das Ende eines Sonderweges

Tatsächlich kamen zentrale Sektoren der costarikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren durch externe Schocks und hausgemachte Probleme unter Druck. Von besonderer Bedeutung war dabei der Verfall der Kaffeepreise zu Beginn der neunziger Jahre, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Internationalen Kaffeeabkommens. Dem Kaffeanbau kommt aufgrund der langen Anbautradition und seiner breiten sozio-ökonomischen Basis eine entscheidende Rolle in der costarikanischen Gesellschaft zu. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde die Kaffeproduktion kontinuierlich ausgebaut, es entstanden viele ganzjährige und saisonale Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensquellen. Der Preisverfall bei gleichzeitigem Anstieg der Produktionskosten brachte viele kleinbäuerlicher Erzeuger in eine existentielle Krise. Zeitgleich reduzierte die EU durch ihre Quotenpolitik die Ausfuhrmöglichkeiten für costarikanische Bananen, was nicht nur die im Land agierenden transnationalen Konzerne sondern in besonderem Maße die nationalen Erzeuger in Schwierigkeiten brachte. Kaum sind die offenen Krisenerscheinungen in diesen wichtigen Segmenten des Agrarexports halbwegs überwunden, zeigen sich in jüngster Zeit Krankheitsymptome in Industrie und Handel in Form gehäufter Firmenpleiten und der Schliessung von Produktionsstätten internationaler Firmen. Auch der internationale Tourismus als neuer Hoffnungsträger beginnt, den CostarikanerInnen Kopfzerbrechen zu bereiten: Nach mehreren Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten bei den Touristenzahlen gibt es 1995/96 Stagnation in wichtigen Marktsegmenten.
Zu diesen eher extern verursachten Krisenerscheinungen kommen Probleme hinzu, die vor allem durch interne politische Entscheidungen selbst zu verantworten sind. So verfolgt die amtierende Regierung Figueres derzeit eine Austeritätspolitik mit dem Ziel, die über viele Jahre angehäufte interne Staatsverschuldung abzubauen. Rückgang staatlicher Ausgaben und Reduzierung der öffentlichen Beschäftigung sowie hohe Konsumsteuern (bei nicht-essentiellen Gütern und Diensten liegen diese derzeit bei 25 Prozent) wirken notwendigerweise als Konjunkturbremse. Zudem liegen auch im privatwirtschaftlichen Bereich die Lohnzuwächse unterhalb der Inflation. Die hohen Kreditzinsen (derzeit bei 24 Prozent) verhindern private Investitionen, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnten.

Wandel des costarikanischen Entwicklungsmodells?

Steht angesichts der skizzierten ökonomischen Probleme und ihrer unverkennbaren sozialen Folgen das costarikanische Modell eines sozialverträglischen Entwicklungsprozesses vor dem Ende, wie viele CostarikanerInnen befürchten, oder handelt es sich lediglich um vorübergehende Spannungen im notwendigen Umbauprozeß von Wirtschaft und Gesellschaft?
Beide Fragen greifen zu kurz. Einerseits kann kaum Zweifel daran bestehen, daß Costa Rica nach wie vor günstige Vorraussetzungen für einen nachhaltigen und breitenwirksamen Entwicklungsprozeß aufweist. Ein im regionalen Vergleich sehr hoher Grad an Grundbildung, ein starkes Segment von Familienbetrieben in der Landwirtschaft und eine breite Basis von einheimischen und zugewanderten Unternehmern sind einige Faktoren, die für eine hohe Innovations- und Transformationsfähigkeit der costarikansichen Gesellschaft sprechen. Andererseits gehen die erkennbaren und teilweise beschriebenen Krisensymptome über eine schlichte Konjunkturflaute deutlich hinaus. Die derzeitige Krise in Costa Rica kann man auch als Ausdruck einer unvollständigen und inkonsistenten Weltmarktöffnung begreifen. Sie kann nur nur über eine aktive, strukturschaffende Politik und nicht über ein Warten auf das “Wiederanspringen des Konjunkturmotors” überwunden werden.
Costa Rica hat in den 80er Jahren früher als die Nachbarländer auf ein neues, weltmarktoffenes Entwicklungsmodell gesetzt. Damit war das Land über viele Jahre weitgehend erfolgreich. Vor allem das rasche Wirtschaftswachstum “nicht-traditioneller Agrarexporte” wie Blumen, exotische Früchte führte dazu, daß Costa Rica häufig mit dem “lateinamerikanischen Tiger” Chile verglichen wurde. Für die mittelfristige Entwicklungsperspektive besonders wichtig ist dabei, daß eine große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben sowie Genossenschaften und Produzentenvereinigungen Träger dieses Exportbooms waren. Allerdings bleiben die Beschäftigungswirkungen der neuen Exportsegmente und das Einbeziehen der kleinbäuerlicher Betriebe unzureichend.

Nachhaltige Weltmarktöffnung

Um die Weltmarktöffnung nachhaltig weiterzuführen und die sozioökonomischen Breiteneffekte zu erhöhen, ist einiges notwendig: Die Unternehmen müssen in die Lage versetzt werden, die Palette an Exportprodukten ständig auszuweiten und dabei auch in anspruchsvollere Märkte vorzudringen. Zunehmend verarbeitete Rohstoffe und Industrieprodukte müssen ausgeführt werden, das bringt ein höheres Maß an Wertschöpfung und Beschäftigng mit sich. Kleine und mittlere Betriebe in die Exportwirtschaft müssen einbezogen werden und ihre Position gegenüber Exportfirmen rechtlich abgesichert werden.
Diese stärkere Weltmarktöffnung hat bislang nur in geringem Maße stattgefunden. In den 80er Jahren reichten die politischen Entscheidungen auf der Makroebene in Verbindung mit guten Ausgangsbedingungen auf der Mikroebene – eine breite unternehmerische Basis, qualifizierte Arbeitsplätze – aus, um ein exportorientiertes Wachstum anzuregen. Demgegenüber liegen die Herausforderungen heute im Aufbau eines angemessenen, institutionellen Umfeldes für eine nachhaltige und sozialverträgliche Weltmarktintegration, was einen Umbau öffentlicher Institutionen und der Hochschulen voraussetzt, aber auch private Akteure (unternehmensbezogene Dienste) einbeziehen muß.
Diesen schwierigen Herausforderungen stellt sich die costarikanische Politik derzeit kaum. Staatlicherseits wird auf die Probleme einzelner Wirtschaftssektoren mit kurzfristigen “Feuerwehrmaßnahmen” regiert, die meist in sich wenig schlüssig wirken. So wurde für einzelne Gütergruppen kurzfristig wieder ein hoher Zollschutz eingeführt, obwohl dieser mittelfristig mit dem GATT/WTO, dessen Mitglied Costa Rica seit einigen Jahren ist, nicht vereinbar ist. Auch zukunftsträchtige Entscheidungen, zum Beispiel im Umweltbereich, sind kaum mit begleitenden Maßnahmen verknüpft und verlieren so an Wirksamkeit.
Insgesamt ist für die Bevölkerung nicht erkennbar, daß die Regierung ein mittelfristig angelegtes politisches Projekt verfolgt, welches die derzeitigen materiellen Opfer rechtfertigen und zu einer Neubelebung des costarikanischen Entwicklungsweges führen könnte. Dies trägt zweifellos dazu bei, daß Zukuftsängste und Verunsicherung in weit stärkerem Maße auftreten, als es durch die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren gerechtfertigt erscheint.

Literaturhinweis:
Andreas Stamm: Strukturanpassung im Costarikanischen Agrarsektor: Neue Perspektiven für die Entwicklung ländlicher Räume? Lit-Verlag Münster

Singapur als Vorbild

Der Dienstleistungsstandort Panama ist gekennzeichnet durch: den Kanal, die Freihandelszone in Colón (ein Umschlagplatz für Waren, die nach ganz Lateinamerika reexportiert werden), das internationale Bankzentrum (mit dem zusätzlich zu Menschen und Waren Kapital in und über Panama bewegt wird) sowie die Ölpipeline vom Atlantik zum Pazifik, Briefkastenfirmen und Billigflaggen.
Heute versuchen die führenden Kräfte des Landes, an der im Zuge der Globalisierung zunehmenden Bewegung von Waren und Kapital teilzuhaben und verstärkt von ihr zu profitieren. Sie glauben, daß der Welthandel weiter expandieren wird, vor allem als Folge des Exportwachstums asiatischer Länder wie China und Indien. Das dürfte den Transport durch den Kanal erhöhen. Panama würde davon auch als Warenumschlagplatz profitieren. Dem Bankenzentrum soll die Intensivierung der Kapitalströme zugute kommen. Zusätzlich wird eine Strategie propagiert, die den Nutzen speziell des Kanals und der Kanalzone für das Land verstärken soll, indem ihr Enklavencharakter begrenzt wird.
Der Kontext ist in der Tat historisch: Wie in den Torrijos-Carter-Verträgen vorgesehen, wird der Kanal und die sich auf beiden Seiten anschließende etwa acht Kilometer breite Kanalzone, die ebenfalls Hoheitsgebiet der USA ist, am 31. Dezember 1999 um 12 Uhr mittags von Panama übernommen. Gleichzeitig soll vertragsgemäß die Übergabe der US-Militärbasen in der Kanalzone abgeschlossen sein.

Der Kanal geht in die Hände Panamas über

Gegenwärtig bringt der Kanal Panama jährlich etwa 100 Millionen US-Dollar in Form der der Royalties ein, die an die Kanalkommission gezahlt werden müssen. Außerdem kommen noch die Löhne für die etwa 8000 panamaischen Beschäftigten hinzu. Im Mai und August dieses Jahres fanden unter Schirmherrschaft der UNO zwei nationale Konferenzen mit RepräsentantInnen von Regierung, Parteien und der Zivilgesellschaft statt – Titel: “Panamá 2000” -, auf denen die Übernahme des Kanals als nationale Aufgabe definiert und die Erfordernisse bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung diskutiert wurden. Damit sollte ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, unter anderem, um den Kanal aus den politischen und sozialen Konflikten herauszuhalten.
Für 1997 ist eine hochrangige internationale Konferenz über die zukünftige Nutzung des Kanals geplant. Mit ihr will die panamaische Regierung auch möglichen Befürchtungen über eine ineffiziente Verwaltung nach dem Jahre 1999 entgegentreten; diese waren aufgrund des heruntergekommenen Zustandes vieler bereits von Panama übernommener Gebäude entstanden.
Zwischenzeitlich soll der Transit durch den Kanal mittels der gegenwärtig stattfindenden Erweiterung der schmalsten Stelle, Gaillard Cut oder Corte de Culebra genannt, beschleunigt werden. Da Schiffe, deren Ausmaße die für eine Kanaldurchquerung mögliche Maximalgröße überschreiten, zahlenmäßig im Seeverkehr immer mehr zunehmen, wird jetzt der Bau einer größeren, dritten Schleusenstufe befürwortet. Als Baubeginn werden die Jahre 2000, 2005 oder 2010 gehandelt.
Außerdem werden andere Transitwege ausgebaut, so eine neue Autobahn zwischen Panama-Stadt und Colón und die aus dem 19. Jahrhundert stammende transisthmische Bahnlinie, die reaktiviert werden soll. Schließlich sollen bestehende Häfen modernisiert und neue für Containerfrachtschiffe gebaut werden.

Was wird aus den US-Militärbasen?

Nach einer Studie panamaischer Wirtschaftswissenschaftler bringen die noch bestehenden US-Militärbasen Panama jährlich etwa 180 Mio. US-Dollar ein – vor allem über den Ankauf von Waren und Dienstleistungen (154 Millionen US Dollar) und die Lohn- und Gehaltszahlungen an die etwa 3500 panamaischen Zivilbeschäftigten (25 Millionen US Dollar). Aus diesem Grunde werden in Panama die Stimmen immer lauter, die einen Verbleib der Basen befürworten. Nach einigen Umfragen ist es sogar die Mehrheit.
Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch in den USA Stimmen, die sich gegen einen vollständigen Rückzug wenden. Auf Initiative des Senators Helms forderte der Senat die Regierung auf, den Torrijos-Carter-Verträge neu zu verhandeln. Zur Begründung wird die strategische Bedeutung der Basen bei der Kontrolle des Drogenhandels genannt. Um zunächst eine einheitliche Position der verschiedenen US-Behörden zu formulieren und damit in spätere Verhandlungen zu gehen, wurde eine Arbeitsgruppe gebildet. Ihr Vorsitzender ist John Negroponte, der als US-Botschafter in Honduras während der Reagan-Administration eine wichtige Rolle bei der Organisation des Contra-Krieges gegen Nicaragua spielte. Später, als Botschafter auf den Philippinen, war er an den Verhandlungen um die Schließung der dortigen US-Basen beteiligt.
Der offizielle panamaische Standpunkt ist, daß der Torrijos-Carter-Vertrag erfüllt werden müsse. Allerdings wäre es denkbar, daß einige Basen unter neuen Konditionen erhalten bleiben. Dazu zählt vor allem die Zahlung von Miete für ihre Nutzung, welche die US-Regierung allerdings ablehnt. Außerdem hat Präsident Pérez Balladares den Ländern der Rio-Gruppe vorgeschlagen, nach der Übergabe der Luftwaffenbasis Fort Howard dort ein multinationales Anti-Drogenzentrum einzurichten. Bereits seit 1992 entfaltet das US-Militär dort Anti-Drogenaktivitäten, zum Beispiel kontrollieren AWACS-Flugzeuge den Flugverkehr in der Region.
Verbindungsoffiziere aus Kolumbien, Peru und Venezuela sorgen dafür, daß die Anti-Drogenpolitik schon heute international bestückt ist. Die Fortführung des Anti-Drogenzentrums wäre ein Erfolg der umstrittenen US-Strategie, den lateinamerikanischen Militärs die Drogenbekämpfung als neue zentrale Aufgabe schmackhaft zu machen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der ehemalige Befehlshaber des Südkommandos in Panama, Barry McCaffrey, jetzt oberster Drogenbekämpfer unter der Regierung Clinton. Noch sträuben sich allerdings viele lateinamerikanische Militärs gegen diese neue Funktion.
Die wirtschaftlichen Motive machen die panamaische Regierung verhandlungsbereit. Informelle Gespräche sollen bereits stattgefunden haben. Mit der Ernennung eines Unterhändlers auf panamaischer Seite ist in nächster Zeit zu rechnen. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, daß zwei bis drei Basen mit Kommunikations- und Überwachungsfunktionen erhalten bleiben.
Der Wert des vom US-Militär zu übergebenden Bodens samt Liegenschaften wird auf 4,6 Millarden US-Dollar geschätzt, eine angemessene Nutzung vorausgesetzt. Um die Verwertung der ehemaligen Kanalzone zu organisieren, wurde die Autoridad de la Región Interoceánica (ARI) gegründet, an deren Spitze der panamaische Ex-Präsident Nicolás Ardito Barletta steht. Ihre Strategie stützt sich zunächst auf Verbesserung der Transitwege und stärkere Verflechtung der panamaischen Wirtschaft mit der internationalen Schiffahrt, zum Beispiel durch den Verkauf von Treibstoff und Lebensmitteln sowie Reparaturleistungen. Außerdem sind drei weitere Pfeiler vorgesehen.

Pläne für ein Singapur am Kanal

Pfeiler eins: In freien Produktionszonen an den Kanalausgängen sollen maquila-Betriebe angesiedelt werden, deren Standortvorteil die verkehrsgünstige Lage ist. In der ehemaligen Militärbasis Fort Davis wurde – mit taiwanesischen Geldern – bereits mit dem Bau eines Industrieparks begonnen.
Pfeiler zwei: Die “feineren” Gegenden der Militärbasen, wie Viertel der Offiziersfamilien, sollen einem “gehobenen” Tourismus dienen, etwa als Anlaufpunkt für Kreuzfahrten. Es wird auch an “Öko-Tourismus” in den Nationalparks gedacht, die zur Stabilisierung des Wasserhaushalts um den Kanal liegen.
Pfeiler drei: Nach dem Vorbild des seit langem in Panama ansässigen Smithsonian-Instituts sollen Forschungseinrichtungen und eine internationale Universität Tropenforschung betreiben. Unternehmen sollen sich in Panama mit der Erfassung des genetischen Reichtums der Region beschäftigen.
Als Vorbild für die angestrebte wachstumsintensive Integration gilt der Stadtstaat Singapur. Ganz im Zuge der globalen Tendenzen wird in der Privatwirtschaft der treibende Akteur gesehen. Nachdem die “Post-Invasions-Regierung” Endara mit ihren Liberalisierungs- und Privatisierungsplänen nicht sehr weit kam, ist es ironischerweise die vom General Torrijos gegründete PRD unter dem Präsidenten Ernesto Pérez Balladares, die die gleiche Strategie offensichtlich erfolgreicher verfolgt. Die Hauptkandidaten für die Privatisierung sind die Häfen und die staatlichen Telekommunikations- und Strommonopole.
Mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation und einem, wenn auch graduellen, Zollabbau sollen auch die Landwirtschaft und die Industrie verstärkt in den Weltmarkt eingebunden werden. Sie sollen sich auf den Export orientieren, am besten in Verbindung mit ausländischem Kapital. Beide Sektoren erwirtschaften einschließlich der Bauwirtschaft lediglich etwa ein Viertel des Bruttosozialprodukts, stellen jedoch knapp 40 Prozent der Arbeitsplätze.
Die Globalisierung und der Vormarsch der Dienstleistungen in der Weltwirtschaft bieten der Wirtschaft Panamas neue Chancen. Mit dem Ausbau und der Diversifizierung der Transitfunktion wird Panama wohl auch gegenüber möglichen Konkurrenten (zumindest in Mexiko, Honduras, Nicaragua und Costa Rica wird hin und wieder vom Bau transisthmischer Bahn- oder Straßenverbindungen gesprochen, die einen Teil der über Panama laufenden Transporte abschöpfen sollen) seine Position behaupten können. Eine stärkere Verflechtung mit den Transitaktivitäten würde die nationale Wertschöpfung steigern.
Die aktuelle Strategie zur Wahrnehmung dieser Chancen trifft allerdings auch auf Unwägbarkeiten. So stagnierten in den letzten Jahren trotz wachsenden Verkehrs die Investitionen zur Instandhaltung des Kanals. Dies könnte bedeuten, daß die Investitionen, die nach der Übergabe des Kanals fällig sind, deutlich höher sein müssen als erwartet. Außerdem erhöht der Ausbau des Kanals seinen Wasserbedarf drastisch. Schon bei den alten Schleusen “kostet” eine Kanaldurchquerung etwa 200 Millionen Liter Süßwasser. Der Kanals ist jetzt schon sehr sensibel gegenüber Klimaschwankungen, die kaum allein durch die Wiederaufforstungsprojekte und die Verhinderung der Abholzung in seiner unmittelbaren Umgebung kontrolliert werden können.
Andere bereits bestehende Pfeiler des Dienstleistungszentrums Panama, wie die Freihandelszone in Colón und das internationale Bankenzentrum, sind von den Globalisierungstendenzen eher negativ betroffen. Das Gewicht der Freihandelszone, in der etwa 13.000 Menschen arbeiten, wird wohl trotz expandierenden regionalen Handels eher abnehmen. Gründe sind die generellen Liberalisierung des Aussenhandels, die Verbilligung des Transportes, die Umstellung von Firmenstrategien (“just-in-time”) und die wachsenden Konkurrenz durch ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern. Auch das Bankenzentrum unterliegt verschärfter Konkurrenz und hat – von der Krise 1988/89 schwer getroffen – bis 1995 nicht wieder das Aktivitätsniveau von Mitte der achtziger Jahre erreicht.
Wichtiger ist jedoch die Frage, welches die sozialen Folgen des “Modells Singapur” sind. Panama liegt in der Ungleichheit der Einkommensverteilung in Lateinamerika mit an der Spitze, was zum Teil am Nebeneinander von lukrativen, aber wenig arbeitsintensiven Tätigkeiten und solchen mit niedriger Produktivität und niedrigem Arbeitseinkommen liegt. Die offizielle Strategie hat kein Rezept für die Teile Panamas, die in der den Kanal umschließenden Zentralregion (Provinzen Panamá und Colón) liegen. Das Original-Singapur hatte auch keines, hatte es allerdings auch nicht nötig. In Panama leben jedoch etwa 40 Prozent der Bevölkerung in diesen Regionen.
Aber auch für die Bevölkerung der Zentralregion sind die Aussichten nicht uneingeschränkt rosig. Die Zollsenkungen dürften zumindest kurzfristig Produktionsrückgänge und Arbeitsplatzverluste in der Industrie bewirken. Es bleibt abzuwarten, ob die maquila-Industrie die versprochenen Arbeitsplätze schafft. Bei dem in regionalem Vergleich relativ hohen Lohnniveau müßte die Konkurrenzfähigkeit über die Qualifizierung der Beschäftigten und eine effiziente Infrastruktur gesucht werden.
Bislang ist jedenfalls ein Großteil der Bevölkerung auch der Región Metropolitana von den Segnungen der Dienstleistungswirtschaft ausgeschlossen, was sich in einer Arbeitslosenrate von rund 16 Prozent und einem großen informellen Sektor ausdrückt. So ist es kaum verwunderlich, daß es in der Hafenstadt Colón am Atlantikausgang des Kanals wie schon häufiger in den Jahren zuvor im Juli 1996 erneut zu massiven Protesten gegen die herrschende Arbeitslosigkeit kam.
Während es bei den Auseinandersetzungen in Colón darum geht, an den globalen Integrationsprozessen teilzuhaben – und sei es über einen Arbeitsplatz -, entwickelt sich ein anderer sozialer Konflikt zwischen lokalen und globalen Interessen. Im seinem Mittelpunkt stehen die wieder ausgegrabenen Pläne zur Ausbeutung der Kupfervorkommen des Cerro Colorado im Westen des Landes. Er gilt als eine der größten Kupferreserven der Welt und liegt in einem Gebiet, das die Ngobe-Buglé (oder Guaymies), das größte indianische Volk Panamas, für ihre teilautonome Region (Comarca) beanspruchen. Mit einem Marsch nach Panama-Stadt demonstrierten sie Ende Oktober ihren Widerstand gegen das Projekt.
Neben der Schwächung der nationalen Integration – sowohl sozial als auch geographisch – steht durch das “Modell Singapur” auch die Zukunft der regionalen Integration in Frage. Seit Anfang der neunziger Jahre nimmt Panama an den zentralamerikanischen Gipfeltreffen teil, 1996 beteiligte sich Pérez Balladeres auch am Gipfel der Länder des Andenpakts. Wie die verstärkte Kooperation mit den lateinamerikanischen Nachbarn mit der globalen Orientierung des “Modells Singapur” vereint werden soll, bleibt allerdings noch ein Geheimnis.

Friede, Freude, Strukturanpassung

Am Anfang stand der Friedensprozeß von Esquipulas in den 80er Jahren. Dort wurden die Grundlagen gelegt für den Integrationsprozeß in Mittelamerika, der, so die Hoffnung der Beteiligten, den kleinen mittelamerikanischen Ländern ein Stückchen vom Wohlstandskuchen verschaffen sollte. Dann kamen die WirtschaftsberaterInnen aus dem In- und Ausland: Zuerst müssen die mittelamerikanischen Volkswirtschaften ihre traditionelle landwirtschaftliche Exportproduktion steigern, so ihre Ratschläge. Danach soll mit den erwirtschafteten Devisenerlösen die Exportdiversifizierung und die Modernisierung der Agrarproduktion vorangetrieben werden. Landreformen sowie die Befriedigung sozialer Bedürnisse werden ebenfalls anvisiert. Dennoch wird allein der Rückgang der Exporterlöse seit Anfang der siebziger Jahre als Erklärung für den Ausbruch der bewaffneten Konflikte in den siebziger und achtziger Jahren angesehen – die ungleichen Bodenbesitzverhältnisse bleiben außen vor.
Entsprechend dieser Strategie wurden die Strukturanpassungsprogramme in Zentralamerika konzipiert und umgesetzt. Die Erfahrungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Länder Lateinamerikas. Das Besondere in Mittelamerika liegt vielleicht darin, daß die neoliberalen Reformen parallel zu den Friedensprozessen stattfinden. In allen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gab, wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen durchgeführt: In Nicaragua, El Salvador und zum Teil auch in Guatemala konnten sich die Regierungen und die bewaffnete Opposition über die Modalitäten für die Beilegung der Konflikte einigen. Die Friedensabkommen sind nichts anderes als die gegenseitige Verpflichtung, die bestehenden Gegensätze allein auf der politischen Ebene zu lösen.
Die neoliberalen Reformen werden aufgrund der politischen Instabilität von sozialen Ausgleichsmaßnahmen begleitet. So wurden in sämtlichen Ländern Zentralmerikas mit Hilfe internationaler Geldgeber die sogenannten Fondos de Inversion Social errichtet, Sonderfonds, die die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassung abfedern sollten. Da solche Instrumente nur für einen begrenzten Zeitraum und nur für die schwächsten sozialen Gruppen gedacht sind, ist es für die Regierungen außerdem notwendig, den Ausgleich mit den anderen Interessensgruppen der Gesellschaft zu suchen. In Guatemala und El Salvador wurde mit dem Foro de Concertación Social und der Asamblea de la Sociedad Civil Dialogforen geschaffen. Beteiligt sind daran drei Gruppen: Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften beziehungsweise Bauernorganisationen. In Honduras und Costa Rica gewannen die politischen Parteien die letzten Wahlen, die die Strukturanpassungsmaßnahmen kritisierten. Allerdings haben sie kaum Spielraum ihre programmatischen Alternativen umzusetzen. Die neoliberale Variante in Nicaragua erhält mit dem Wahlerfolg der Liberalen Allianz unter Arnoldo Alemán die politische Legitimation, makroökonomische und politische Reformen zugunsten der mächtigen Wirschaftselite durchzuführen.

Traditionelle Abhängigkeiten

Die Volkswirtschaften der fünf zentralamerikanischen Länder (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua) sind von vier traditonellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffee, Baumwolle und Zucker. Der Anteil dieser Produkte an den Gesamtexporten liegt weiterhin durchschnittlich bei über fünfzig Prozent. Und dies, obwohl seit Anfang der achtziger Jahre starke Anstrengungen unternommen wurden, die Exportpalette um sogenannte nicht-traditionelle Güter (zum Beispiel Krabben, Schnittblumen, Kardamom) anzureichern.
Die Investitionen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors sind im Zeitraum 1978-1995 mit Ausnahme Costa Ricas zurückgegangen. Der Rückgang der öffentlichen Investitionen läßt sich unschwer als Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme ausmachen. Demgegenüber kann der Rückgang der Privatinvestionen trotz verbesserter Investitionsförderung nur durch das fehlende Vertrauen des Privatkapitals in die politische Stabilität der Region begründet werden. Für das Auslandskapital hatten die mittelamerikanischen Länder schon in der Vergangenheit eine im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise liberale Investitionspolitik. Dabei bestand zwischen den Ländern im Grunde schon immer ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Auslandsinvestitionen. So sind heute noch nationale Unterschiede bei der Behandlung des Auslandskapitals festzustellen: Guatemala ist beispielsweise das einzige Land, das eine gleiche Behandlung für inländisches und ausländisches Kapital gesetzlich verankert hat. In El Salvador und Honduras sind Auslandsinvestitionen bei Kleinunternehmen verboten. Costa Rica, El Salvador und Honduras fördern die Auslandsinvestitionen, indem sie sie durch ihre Wechselkurspolitik begünstigen. Gleichzeitig wird in El Salvador und Honduras aber die einheimische Kleinindustrie geschützt. Aufgrund der schärfer werdenden Standortkonkurrenz ist für die nahe Zukunft bei allen Ländern mit einer weiteren Liberalisierung der Investitionspolitik zu rechnen. Damit werden die einheimischen KleinproduzentInnen verstärkt der übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt.

Instabilität durch Liberalisierung

Mit dem Abbau von Zöllen und anderen Schutzinstrumenten sind die Volkswirtschaften Mittelamerikas anfälliger gegenüber der Weltmarktkonkurrenz geworden. Für kleinere Volkswirtschaften wie die mittelamerikanischen, spielt der Schutzzoll auf ausländische Importe eine wichtige Rolle für die einheimische Industrie, denn die einheimische Produktion könnte sonst nicht mit den Preisen der Importgüter konkurrieren. Die Öffnung Zentralamerikas gegenüber dem Weltmarkt findet in einer Zeit statt, in der auf internationaler Ebene zahlreiche Gewichtsverschiebungen und Schwankungen zu verzeichnen sind. Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern verläuft ungleichmäßig. Trotz dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor zwei Jahren, ist bei vielen Produkten aus der Region ein verstärkter Protektionismus seitens der Industrieländer zu konstatieren. Zudem sind die Preise für die vier traditionellen Exportgüter weiterhin instabil. Die Tendenzen zur Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke gehen oft mit handelsumlenkenden statt mit handelsschaffenden Effekten einher. Kein Wunder also, daß in Zeiten höherer internationaler Schwankung die kleinen Volkswirtschaften Mittelamerikas mit einer ständigen makroökonomischen Instabilität konfrontiert sind.

Die Auslandsverschuldung

Die Gesamtschulden der fünf zentralamerikanischen Länder sind von 17,5 Milliarden US-Dollar 1985 auf knapp 24,5 Milliarden US-Dollar 1994 gestiegen. Aussagekräftiger ist indes der Anteil der Exporterlöse, die für den Schuldendienst aufgewandt werden müssen. Für die Region lag er 1994 bei 31,5 Prozent. Bei den einzelnen Ländern fällt er höchst unterschiedlich aus: Während Guatemala (11 Prozent), El Salvador (14,5 Prozent) und Costa Rica (14,6 Prozent) eine erhebliche Entspannung ihrer Schuldendienstsituation im Vergleich zum Jahr 1985 erzielten, liegen Honduras (34,9 Prozent) und Nicaragua (38,2 Prozent) weit über der von der Weltbank als akzeptabel eingestuften Obergrenze von 20-25 Prozent.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede ist die Belastung der Auslandsverschuldung für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich groß. Die Länder Zentralamerikas haben eine Auslandsverschuldung, die im Verhältnis zu ihrem Wirtschaftspotential um einiges höher ist, als die der anderen lateinamerikanischen Länder. Ein besonderes Problem stellt heute der auffällig hohe Anteil an multilateralen Schulden dar. Dieser ist insbesondere für El Salvador (57,2 Prozent), Honduras (46,7 Prozent) und Costa Rica (33,6 Prozent) sehr hoch. Ein hoher Anteil an multilateraler Auslandsverschuldung wirkt sich auf die Kreditwürdigkeit gegenüber anderen Gläubigern negativ aus und schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Umschuldungsverhandlungen.
Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten mußten die Regierungen schon Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen und die berühmt-berüchtigten letter of intents (Absichtserklärungen) unterzeichnen. Mit jenen verpflichteten sie sich, Anpassungsmaßnahmen durchzuführen, um die finanzielle Unterstützung für den Zahlungsbilanzausgleich zu erhalten. Die durchgeführten Maßnahmen (Liberalisierung der Wechselkurse, restriktive Geldpolitik, Senkung der Staatsausgaben undsoweiter) stehen aber zumindest kurzfristig im Widerspruch zu den wachstumspolitischen Zielen, die sich die Regierungen gesetzt haben. Die Schuldenverhandlungen mit dem IWF haben bislang kaum Handlungsspielraum für die erwünschte Wachstumsstrategie gelassen. Besser sieht es nur in El Salvador und Costa Rica aus. El Salvador profitierte von im Zusammenhang mit dem Krieg gewährten finanziellen Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und von den Geldüberweisungen der in den USA arbeitenden salvadorianischen BürgerInnen. Costa Rica konnte seine Exporterlöse bei traditionellen und nicht-traditionellen Gütern steigern. Ansonsten haben die Schuldenverhandlungen keine Entlastung der Verschuldungssituation erbracht. Sowohl Honduras als auch Nicaragua stehen heute auf der Weltbank-Liste der vierzig ärmsten Länder mit einer nicht zu bewältigenden Verschuldungssituation.

Die regionale Wirtschaftsintegration

Der gemeinsame zentralamerikanische Markt (MCCA) ist mit seinen 35 Jahren das älteste Integrationsprojekt in Lateinamerika und der Karibik. Seitdem vor etwa dreißig Jahren die ersten Zollvereinbarungen getroffen wurden, kommt die mittelamerikanische Integration nur im Schneckentempo voran. Die guten Absichten können nicht geleugnet werden. Davon zeugen der achtzehnte Präsidentengipfel, das Treffen mit der mexikanischen Regierung, das Treffen der Wirtschaftsminister und der Beauftragten für die regionale Integration und zahlreiche andere Zusammenkünfte von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Doch das Hindernis, das die reale sozio-ökonomische Lage dieser Länder darstellt, kann nicht ignoriert werden. Die zentralamerikanische Region durchlebt seit 1978 eine wirtschaftliche Krise, die sich in einem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Die sporadisch auftretenden Exporterfolge waren nur ein kleiner Kontrapunkt in dieser Entwicklung.
Neben den vielen Absichtserklärungen wurden auch Maßnahmen für eine Liberalisierung des Handels getroffen: Die zentralamerikanische Zollunion hat den gemeinsamen Außenzoll auf maximal zwanzig Prozent gesenkt, eine weitere Absenkung auf fünfzehn Prozent ist geplant. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Warenverkehr innerhalb der Zollunion frei. So hat sich das Volumen des Außenhandels von 1988 bis 1993 auf 1,13 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Doch Zollfreiheit hat nur eine begrenzte Wirkung, wenn es keine Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen gibt, um die Güter zu transportieren. In diesen Zusammenhang fällt auch das Urteil von Michael Porter, Professor an der Harvard University. Das Fazit seiner Studie über die Wirtschaftsintegration, die er den Präsidenten Mittelamerikas Mitte des Jahres vorlegte, ist ernüchternd: Kein einziges mittelamerikanisches Land verfügt über ein System, das den Frachttransporterfordernissen des Weltmarktes entspricht – ein ernstzunehmendes Hindernis für die Wirtschaftsintegration Mittelamerikas.
Dieses Defizit ist den Regierungen bewußt. Bei ihren Treffen wurden Gemeinschaftsprojekte in den Bereichen Stromerzeugung, Telekommunikation, Eisenbahn- und Straßenbau verabredet, die mit voller Kraft vorangetrieben werden sollen. Doch das Kardinalproblem bleibt bestehen: Woher soll das Geld kommen? Allein für ein Projekt zur Elektrifizierung der ganzen Region müßten 400 Millionen Dollar herbeigeschafft werden. Nicht einmal die Hälfte davon können die Regierungen über weiche Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Eigenmittel sind bei der herrschenden Finanzlage nicht vorhanden. Die Folgen für die anvisierte Integration wiegen schwer: Dem Vernehmen nach haben in Guatemala eine Reihe von Betrieben der Maquilaindustrie, der Werke US-amerikanischer Firmen, in denen lediglich Vorgefertigtes für den US-Markt zusammengesetzt wird, wegen Stromknappheit eine Verlagerung nach Mexiko beschlossen. So können sie einerseits auf eine effizientere Energieversorgung zurückgreifen und andererseits die Vorteile des NAFTA-Marktes ausnutzen.

Die Verhandlungen mit NAFTA

Obwohl der regionale Handel in den letzten fünf Jahren stark angestiegen ist, bleibt der US-Markt für Zentralamerikas Außenhandel von herausragender Bedeutung. Dementsprechend wird eine schnelle Anbindung an das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) angestrebt. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. So kann dem Acht-Punkte-Anforderungskatalog, der 1991 von der US-Handelsbeauftragten Carla Hills als Grundlage für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mittelamerika vorgelegt wurde, nicht ohne grundlegende Zugeständnisse entsprochen werden. Insbesondere Fragen des Marktzugangs, Investitionsregelungen, Umweltnormen, Streitschlichtung und Eigentumsrechte bedürfen einer Klärung.
Für die Nicht-Mitgliedsländer hat das NAFTA nicht zu unterschätzende Folgen. Im Falle Zentralamerikas kommt der größte Nachteil dadurch zustande, daß der seit 1983 gegenüber Mexiko durch die Initiative des Karibischen Beckens (CBI) erlangte Vorteil wegfällt. Dadurch wurde unter anderem den Ländern des MCCA, aber eben nicht Mexiko, der präferentielle Zugang zum US-Markt für diverse Produkte gewährt. Mexiko hat nun im Konkurrenzkampf mit Zentralamerika um Handel und Investitionen mit den USA seine Position wesentlich verbessert. Die Mindestlöhne in Mexikos Fabriken sind normalerweise niedriger als die in den beiden wettbewerbsfähigsten Ländern Mittelamerikas Guatemala und Costa Rica. Gleiches trifft auf die Transportkosten zu. Zudem sind die Investitionsbestimmungen in Mexiko viel liberaler und trotz zunehmendem Widerstand der mexikanischen Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Politik werden die anderen zentralamerikanischen Länder immer noch als politsch instabiler eingestuft.
Insbesondere zwei Kategorien von Exportgütern sind vom NAFTA besonders betroffen und geraten gegen mexikanische Konkurrenzprodukte in Nachteil: erstens jene Exportgüter, die nicht auf der Präferenzliste der CBI stehen (zum Beispiel Textilien und Kleidung) und zweitens jene Exportgüter, die aufgrund der CBI-Präferenzen eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit auf dem US-Markt erreicht hatten. Durch das NAFTA werden auch andere Vorteile aufgehoben. Für bestimmte nicht-traditionelle Exportgüter wie Honigmelonen, die aus den CBI-Ländern zollfrei in die USA eingeführt werden, fallen die Zollschranken auch für die anderen Länder schrittweise. Da Mexiko bei fast allen Exportgütern in offener Konkurrenz zu Zentralamerika steht, kommt es durch NAFTA automatisch zu einer Verschlechterung der Handelsposition der MCCA-Länder auf dem US-Markt.
Bislang haben die Verhandlungen als MCCA-Block mit dem NAFTA zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Auch die getrennten Verhandlungen mit Mexiko oder mit Kanada haben außer 20 Millionen Entwicklungshilfe nicht die Flanken des NAFTA geöffnet. Daraufhin wurde parallel zu dem Integrationsprozeß von einzelnen Ländern (Costa Rica) oder Ländergruppen versucht, bilaterale Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern von NAFTA zu erreichen. So besteht seit 1995 ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen Costa Rica und Mexiko.

Gescheiterte Strategie

Die Diversifizierung der Exporte hat trotz starker Exportsubventionen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Der Tourismus wuchs außer in Costa Rica und Guatemala nur mäßig. Auch für die nächste Zukunft bleibt Zentralamerika von seinen traditionellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffe, Zucker und mit abnehmender Bedeutung Baumwolle. Mit Ausnahme Costa Ricas liegen die Exportanteile dieser Güter in den restlichen Ländern bei über 50 Prozent der Gesamtexporte. Baumwolle erlitt seit Anfang der achtziger Jahre einen dramatischen Produktionsrückgang von jährlich 13 Prozent. Vor allem Nicaragua sah sich dadurch mit erheblichen Einkommensverlusten konfrontiert.
Gerade das Angebot dieser Exportprodukte reagiert aber relativ unelastisch auf Preisentwicklungen, das heißt produziert wird relativ unabhängig von den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Ein nennenswertes Potential zur Exportexpansion ist so auch bei Preissteigerungen nicht vorhanden. Folglich sind von diesen Branchen keine signifikanten Entwicklungsimpulse zu erwarten. Aber gerade eine auf diesen Produkten basierende Exportexpansionsstrategie steht im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme, die erfolglos in allen Länder Mittelamerikas seit Mitte der achtziger Jahre durchgeführt werden.
Die Friedensprozesse werden in einer Zeit abgeschlossen, in der die Ausgaben des Staates für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse stark gekürzt werden. In vielen Fällen könnte der soziale Friede gerade eben mit Hilfe von sozialen Abfederungsprogrammen gerettet werden. Die Folgen des NAFTA überfordern die Volkswirtschaften Mittelamerikas, die nun weniger Vorteile auf dem US-Markt genießen, während gleichzeitig die Verschärfung der Schuldensituation engere Handlungspielräume für den Binnenmarkt setzt. Es gibt aber kaum Grund zur Annahme, daß mit dem bisher gebildeten gesellschaftlichen Konsens die Herausforderungen bewältigt werden können, die durch die Verengung des Handlungsspielraums des Staates, die neoliberale Transformation und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten entstanden sind. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum ist eine kontinuierliche politische Stabilität notwendig, diese ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

Moderne Sklaverei für billige Kleider

Anders als in Mexiko wird in den Maquilas Zentralamerikas zu mehr als 80 Prozent für die Bekleidungsbranche produziert. Angesiedelt sind die Maquila-Unternehmen in den sogenannten Zonas Francas, den Freien Produktionszonen. Diese Industrieparks werden eingerichtet, um ausländische Investoren ins Land zu locken. Zollfreiheit, Steuerbegünstigungen und Billiglöhne halten dort die Fertigungskosten niedrig. Der Betreiber einer Maquila konkurriert gegen eine Heerschar von Mitanbietern. Die transnationalen Handelsriesen sind die eigentlichen Gewinner.
Von Außen sehen die Freien Produktionszonen aus wie Kasernen – mit bewaffneten Wächtern und Gittern an den Eingängen, die nur zur Mittagspause und am Feierabend geöffnet werden. Dann sieht man ein Heer von ArbeiterInnen das Produktionsgelände verlassen. Kaufen können sich die ArbeiterInnen die von ihnen angefertigten Produkte jedoch nicht. Denn produziert wird für den Weltmarkt, mehrheitlich für die USA. Unter Markenzeichen wie GAP, Eddie Bauer, Levi Strauss, Calvin Klein oder Wrangler erobern diese dann – made in USA – die Welt.
Führend in diesem Zusammenhang ist Honduras mit einem Exportvolumen auf den US-amerikanischen Markt in Höhe von 918 Millionen US-Dollar im Jahr 1995, gefolgt von Costa Rica mit 756 Millionen US-Dollar, Guatemala mit 682 Millionen US-Dollar und El Salvador mit 582 Millionen US-Dollar. Das Schlußlicht mit nur 73 Millionen US-Dollar bildet Nicaragua, das bislang nur über eine einzige Freie Produktionszone, Las Mercedes, verfügt – eine weitere wird gerade eingerichtet. Die Wachstumsdynamik ist dennoch enorm: Seit 1990 siedelten sich in Las Mercedes 18 Firmen an, die derzeit 10.000 ArbeiterInnen beschäftigen. Tendenz für gesamt Zentralamerika: steigend.
Allein in El Salvador gibt es nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits über 200 Maquila-Betriebe mit mehr als 60.000 Beschäftigten. Kaum war der unternehmerfreundliche Präsident Calderón Sol 1994 an der Macht, da hatte er für sein Land eine Vision: “Ganz El Salvador eine einzige Freie Produktionszone.” Rechtlich hat er dafür inzwischen die Voraussetzungen geschaffen. Abbau bürokratischer Hemmnisse und Förderung von Auslandsinvestitionen lautet seine vielbeschworene Formel. Die Spezialisierung auf niedrige Arbeitslöhne als komparativer Kostenvorteil im internationalen Handel ist Bestandteil dieser neoliberal geprägten, auf außenwirtschaftliche Öffnung und Deregulierung gerichteten Wirtschaftsreformen, die derzeit in den meisten zentralamerikanischen Ländern betrieben werden.
Sind es für US-Firmen vor allem die billigen Arbeitskräfte, die sie zur Verlagerung von Teilfertigungsprozessen nach Zentralamerika bringen, so ist es für asiatische Unternehmen der bessere Zugang zum US-amerikanischen Markt von Zentralamerika aus. Die asiatischen Textilgiganten haben die Heerscharen billiger Arbeitskräfte in der Region unter sich aufgeteilt: Japan investiert in Mexiko und Costa Rica, Taiwan in Honduras und Nicaragua, Südkorea in Guatemala und El Salvador.
“Die Länder in der Region haben wenig davon”, meint Eduardo Melendes, Wirtschaftsprofessor an der Nationaluniversität in San Salvador. “Sie schaffen zwar Arbeitsplätze, aber nur zu den Bedingungen der Maquila-Industrie.” Denn dem jeweiligen Land bringen die Freien Produktionszonen wenig Geld in die Staatskasse – keine Steuern, keine Zolleinnahmen, lediglich die geringen Löhne und die Mieten für die Fabrikanlagen bringen Devisen ein. Dieser Devisenbetrag ist jedoch eher unbedeutend. Für die Freien Produktionszonen in Costa Rica beispielsweise wurden diese Einnahmen 1993 auf 43 Millionen US-Dollar geschätzt, was 1,6 Prozent der Gesamteinnahmen des Landes aus Waren- und Dienstleistungsexporten entspricht. Auch der Transfer von Wissen und Technologie ist gering, da in den zentralamerikanischen Weltmarktfabriken fast ausschließlich einfache Tätigkeiten von angelerntem Personal ausgeführt werden. Nachfrageimpulse für die nationale heimische Industrie gehen von den Weltmarktfabriken gleichfalls nicht aus, da sie überwiegend vorgefertigte Teile aus dem Ausland beziehen. Selbst weit mehr als ein Drittel der Verpakkungskartons werden von den Unternehmen in Honduras und Costa Rica importiert.

Oasen der schweigenden Ausbeutung

Menschenrechtsverletzungen und Mißachtungen des Arbeitsrechts stehen in den Maquiladora-Fabriken Zentralamerikas auf der Tagesordnung.
Zu 80 bis 90 Prozent sind es Frauen, die in den Maquilas für ein Monatsgehalt zwischen 100 und 180 DM arbeiten. Bevorzugt werden junge Frauen im Alter von 18 bis 28 Jahren eingestellt, die leistungsstark und kräftig genug sind, um die hohen Arbeitsbelastungen auszuhalten.
Kollektive, das heißt für alle ArbeiterInnen einheitlich geltende Arbeitsverträge werden in den Maquilas nicht abgeschlossen. Auf Probe werden häufig mehr Frauen, als später überhaupt übernommen werden können, unbezahlt beschäftigt. Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall gibt es nicht, statt dessen droht die Entlassung – auch im Falle von Schwangerschaft.
Arbeitsschutz ist hier nur ein Fremdwort. Staub, Hitze und unzureichende Frischluftzufuhr verursachen bei einem Großteil der TextilarbeiterInnen Atmungsstörungen und Lungenerkrankungen. Migräne, Muskelschmerzen und Menstruationsausfall sind körperliche Reaktionen auf psychischen und physischen Druck. Die Rate der Fehlgeburten unter Arbeiterinnen in den Maquiladoras liegt über dem nationalen Durchschnitt.
Zehn bis zwölf Stunden täglich sitzen die Frauen auf Holzbänken ohne Lehnen, zu Hunderten in Zweierreihen angeordnet, an den Nähmaschinen, ohne aufstehen zu dürfen. Der Produktionsprozeß ist in kleinste Operationen zerlegt. Der bereits zugeschnittene Stoff wird nur noch nach Modell des zu fertigenden Produktes zusammengenäht. Jede Arbeiterin führt daher tagtäglich die gleiche Operation durch: näht Hemdkragen an oder die Ärmel zusammen – bis am Ende der Reihe das fertige Produkt herauskommt. Gearbeitet wird im Akkord unter Tempokontrolle und ständiger Überwachung durch die WerkmeisterInnen. Am Arbeitsplatz darf nicht gesprochen und nicht gegessen werden. Für einen Gang zur Toilette bedarf es einer Erlaubnis – und die wird nur zweimal am Tag erteilt. Davon abweichendes Verhalten wird bestraft – oft sogar mit Prügel, wie eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) belegt. Zur Disziplinierung müssen ArbeiterInnen in einigen Maquilas in El Salvador einen unbezahlten Arbeitstag lang mit dem Gesicht zur Wand stehen oder werden in sogenannten piezas frías (Kühlräumen) eingesperrt.
Kollektiv gegen derart sklavische Arbeitsbedingungen vorzugehen, ist nur sehr schwer möglich. Denn in allen zentralamerikanischen Staaten arbeiten die Arbeitsministerien, die eigentlich die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung überwachen müßten, eng mit den Unternehmen zusammen. Namen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen werden an die Maquila-BesitzerInnen weitergeleitet. Nach Schätzungen der ILO sind in den letzten drei Jahren in El Salvador mehr als tausend ArbeiterInnen wegen gewerkschaftlicher Organisierung auf die Straße gesetzt worden.
Fragt man nach dem Interesse der zentralamerikanischen Regierungen, die Gründung von Gewerkschaften in den zonas francas zu unterbinden, so lassen sich zwei Gründe nennen: Korruption und Angst vor Standortverlagerung der Maquila-Unternehmen. Es ist nachgewiesen, daß Angestellte des Arbeitsministeriums häufig bestochen werden – sei es durch direkte Bestechungsgelder oder dadurch, daß sie in den Konzernen als Unternehmensberater oder sogar als Personalchefs eingestellt werden. Die Regierungen ihrerseits befürchten, daß die Unternehmen bei einem hohen Organisationsgrad der Maquila-ArbeiterInnen abziehen und sich in den Industrieparks der Länder niederlassen, in denen Arbeitsrechtsbestimmungen widerstandslos mißachtet werden können oder die Löhne der Arbeitskräfte noch niedriger sind. So ist im Moment zu beobachten, daß in Nicaragua der Maquila-Sektor deshalb anwächst, weil Unternehmen aus Costa Rica wegen des höheren Lohnniveaus ihre Produktion nach Nicaragua verlagern.
Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Daten, zum Beispiel die Auslandsverschuldung, belegen die Abhängigkeit der zentralamerikanischen Länder von den Staaten des Nordens. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des IWF fordern den zentralamerikanischen Staaten enorme Haushaltseinsparungen ab. Kaum ein Land verfügt über bedeutende Bodenschätze oder verarbeitende Industrien, die Devisen in die Staatskasse bringen könnten. Zudem liegen die Arbeitslosenquoten in den zentralamerikanischen Staaten über 40 Prozent. In dieser prekären Situation ist es erklärbar, daß diese Länder nach kurzfristigen Lösungen Ausschau halten. Eine Entwicklungsperspektive ist damit freilich nicht verbunden.

KASTEN:
Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung

Am 1. August diesen Jahres stirbt in San Salvador die Textilarbeiterin Lourdes Rodríguez an ihrem Arbeitsplatz. Trotz starker Kopfschmerzen wurde ihr untersagt, einen Arzt aufzusuchen. Sieben Jahre lang arbeitete Lourdes bei Doall Enterprises. Sieben Jahre lang zog man ihr den Krankenversicherungsbeitrag vom Lohn ab und leitete keinen einzigen Pfennig weiter.
Gleiches geschah mit María Paula Rodriguez, 23 Jahre alt. Sie starb am 5. Oktober 1995 – ebenfalls an ihrem Arbeitsplatz. Auch ihr wurde der Gang zum Arzt verboten. Statt dessen verabreichte man ihr ein Medikament. Kurze Zeit später war sie tot. Maria Paula Rodriguez arbeitete bei Han Chang Textiles, einem Maquiladora-Betrieb in der Freien Produktionszone San Marcos in San Salvador.
Ebenfalls am 5. Oktober 1995 werden in der Fabrik Encasa y Esmodica in San Salvador 120 ArbeiterInnen mit der Begründung, KommunistInnen und Verbündete der Guerilla zu sein, entlassen. Die Fabrik, ein Maquiladora-Unternehmen, ist im Besitz der ARENA-Abgeordneten Milena de Escalón, der Schwester des Präsidenten El Salvadors Calderón Sol. Der wirkliche Grund für die Entlassung: Die ArbeiterInnen hatten dagegen protestiert, daß das Unternehmen über ein Jahr lang von ihnen eingezogene Sozialversicherungsabgaben nicht weiterleitete.
Am 28. Februar 1995 wird die Textilarbeiterin Deborah Guzmán aus dem Maquila-Betrieb L&L-Modas wegen des gewerkschaftlichen Engagements ihres Partners Felíx Gonzales in Guatemala entführt. Nach ihrer Freilassung erhält sie fortlaufend Morddrohungen. Im Sommer 1996 treten Deborah und Felix offiziell aus der guatemaltekischen ArbeiterInnengewerkschaft UNSITRAGUA aus. Sie wissen sich gegen den anhaltenden Terror nicht mehr zu wehren und zu schützen.
Flor de María Salguero, damals noch aktiv in der Gewerkschaft FESTRAS, wird im Mai 1995 in Guatemala-Stadt auf dem Weg zur Arbeit von ihr unbekannten Männern aus dem Bus gezerrt. Sie schleppen sie in ein Haus, wo sie geschlagen und vergewaltigt wird. Flor de Maria ist ebenfalls im Maquiladora-Bereich aktiv. Durch ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen in US-amerikanischen Maquila-Fabriken kam es 1994 im US-Kongreß zu einer Anhörung.

Guanacos und jaguares

Selbst Kommunalwahlen versetzen Chile in eine Art Ausnahmezustand: Wenn sich das Volk in Sachen Demokratie übt, werden Selbstverständlichkeiten des neoliberalen Alltags außer Kraft gesetzt. Supermärkte und Läden, die gewöhnlich an 365 Tagen im Jahr bis in den späten Abend hinein zum Kaufrausch einladen, bleiben diesmal geschlossen; bereits am Abend zuvor werden Gesetze aktiviert, die von einem tiefen Mißtrauen in die Einhaltung der ersten Bürgerpflicht sprechen: Einer im Volksmund ley seca genannten Regelung zufolge wird jeglicher Alkoholausschank und -verkauf streng geahndet, Versammlungen von mehr als fünf Personen sind unzulässig. Der den feierlustigen ChilenInnen heilige Samstag-abend fällt der “staatsbürgerlichen Verantwortlichkeit” zum Opfer.

Wahlkampf nach allen Regeln des Marktes

Auch im Jahre 6 nach der Machtübergabe an eine wieder demokratisch gewählte Regierung ist ein Urnengang auf nationaler Ebene noch keine Routinehandlung für die beinahe neun Millionen stimmberechtigten ChilenInnen. Und dennoch ordnete sich der Aktionismus des demokratischen Machtkampfes den weitgehend verinnerlichten Marktgesetzen unter. Uneingeweihten BetrachterInnen mochten die schier allgegenwärtige KandidatInnenwerbung auf allen Mauern und Straßen und die lautstarken Autokarawanen als Ausdruck eines überbordenden politischen Idealismus erscheinen, zu dem Chile nach zwei Jahrzehnten der Apathie zurückgefunden hat. Tatsächlich ist es lediglich eine Frage der Parteikassen und der persönlichen Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der KandidatInnen, ob für Stimmung gesorgt wird.

Die heimlichen Kandidaten: Foxley und Lagos

Im Vorfeld des 27. Oktobers mangelte es an Stimmung nicht. Schließlich hatten sich Regierung und Opposition tatkräftig darum bemüht, die Ergebnisse der in den 341 Gemeinden des Landes abgehaltenen Wahlen zu einem politischen Stimmungsbarometer von überregionaler Tragweite aufzuwerten: Politische Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich auf Gemeindeebene in einem weiterhin stark zentralistischen Chile kaum. In der Tat markierte das Datum die Halbzeit der aktuellen Regierungsperiode und den Auftakt zu den 1997 anstehenden Parlamentswahlen, bei denen über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und eines Teils der Senatorenämter entschieden wird.
Mit besonderer Nervosität – oder Zuversicht – erwarteten die Führungsriegen zweier am Regierungsbündnis Concertación beteiligten Parteien den Wahlabend: Innerhalb der nächsten Monate steht die Bestätigung des Vorsitzenden der Christdemokraten (PDC), Alejandro Foxley und seines Amtskollegen Jorge Schaulsohn von der sozialdemokratischen Sammelpartei Partido por la Democracia (PPD) auf der Tagesordnung. Foxley, der sich mit seiner wenig populistischen Amtsführung des Finanzministeriums in der ersten Regierung der Concertación kaum Anhänger in der chilenischen Bevölkerung geschaffen hat, gilt in der PDC immer noch als sicherer Kandidat der Koalition bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Daß ihm der PPD-Sozialist Ricardo Lagos, zur Zeit Minister für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, den Sessel in der Moneda abspenstig machen möchte, ist ein offenes Geheimnis. Auf seiner Haben-Seite kann Lagos, dessen Partei nicht einmal an die Hälfte christdemokratischer Wahlergebnisse herankommt, eine enorme Popularität verbuchen. Noch bewahrt er sich bei vielen ChilenInnen das Image des Mannes, der es 1988 als einer der ersten wagte, Pinochet öffentlich und live im Fernsehen anzuklagen.

Christdemokratische Schlappe

Die politische Landkarte, die sich am Abend des 27. Oktobers geformt hat, mißfällt der PDC am meisten. Entgegen allen Erwartungen steht sie als die Verliererin inmitten einer erfolgreichen Concertación da: Von den beinahe drei Prozentpunkten, die die Regierungsallianz im Vergleich zu den letzten Kommunalwahlen 1992 zulegen konnte (von 53,3 auf 56,02 Prozent), fiel nicht der geringste Teil auf die Partei von Präsident Eduardo Frei ab – im Gegenteil. Um annähernd drei Prozente schrumpfte sie zugunsten ihrer tendenziell sozialdemokratischen Bündnispartner zusammen. Sozialisten (PS), PPD und Radikale konnten jeweils zwischen 3 und 1,5 Prozent wachsen. Spektakulär erscheint diese Gewichtsverschiebung vor allem im Hinblick auf die Rolle, die nun der kürzlich aus der Wiedervereinigung von Partido Radical und Socialdemocracia hervorgegangenen PRSD zukommen wird. Als Zünglein an der Waage kann die älteste Partei Chiles, die im vergangenen Jahrhundert als bürgerlich-liberale und laizistische Bewegung entstanden war und nach ihrer Spaltung 1971 zumindest teilweise an der sozialistischen Regierung Allendes teilhatte, sich nach Belieben auf die “linke” oder “rechte” Seite der Concertación schlagen. Ob sie zusammen mit dem Block PS/PPD die Christdemokraten zur Minderheit macht oder den entgegengesetzten Weg wählt, hängt im weiteren von der innerkoalitionären Diplomatie ab.

UDI im Aufwind

Strahlende Gesichter auch bei der Rechten: Sie hat zwar um ein Haar das “historische Drittel” von 33 Prozent verfehlt, befindet sich jedoch weiterhin im Aufwind. Profitieren konnten die beiden untereinander in stetem Clinch liegenden Parteien – die seit Jahr und Tag pinochettreue Unión Democrática Independiente (UDI) und die gemäßigtere Renovación Nacional (RN) unter ihrem jungcharismatischen líder Andrés Allamand – vom Absturz des Errazurismo, der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung von Großunternehmer und Allround-Talent Francisco-Javier Errázuriz. Die Quittung für deren Uneinigkeit bei der Kandidatenauslese und die programmatische Leere jenseits der Person ihres Caudillos war ein Einbruch von über 5 Prozent der Stimmen.
Auch die Rechte hat spätestens seit dem 27. Oktober einen handfesten Führungsstreit. Ungeachtet der Tatsache, daß RN mit gut 18 Prozent das rechte Lager eindeutig dominiert und ihre Position als landesweit zweitstärkste Partei ausgebaut hat, setzte der Erdrutschsieg des UDI-Kandidaten Joaquín Lavín im Stadtteil der Hauptstadt Las Condes, Wohnort der oberen Zehntausend, neue Akzente. Die Amtsführung des Chicago-Boy, der es sich nicht nehmen ließ, zu wichtigen Fragen der Gemeindepolitik plebiszitäre Abstimmungen durchzuführen, wurde jenseits aller Parteiloyalitäten mit einem Ergebnis von knapp 80 Prozent belohnt. Der Bürgermeister von Las Condes als künftiger Präsident? Las Condes ist nicht Chile, lautet die Devise bei RN, der kein spektakulärer Einzelsieg gelang.
An Erfolgen wie dem Lavíns läßt sich freilich auch die fehlende Aussagekraft landesweit kumulierter Stimmenanteile für einzelne Parteien ablesen. Die ChilenInnen haben in den meisten Gemeinden mehr Wert auf eine glaubwürdige Administration und auf herausragende Persönlichkeiten, denn auf Parteiprogrammatik und Ideologie gelegt. In der Ersten Region, in der die PDC mehrere Parlamentarier stellt, kam sie angesichts populärer sozialistischer Bürgermeister nicht einmal auf 8 Prozent; ihr Kandidat für Santiago-Centro, Jaime Ravinet, steht mit über 45 Prozent Zustimmug auf der Liste der besten Ergebnisse im Land, obwohl sein Wahlkreis 1993 keinen einzigen christdemokratischen Abgeordneten oder Senator in den Kongreß von Valparaíso entsenden konnte.
Schlechte Karten hatte bei den Kommunalwahlen die linke Opposition, die dank der “binominalen Mehrheitswahl” auf nationaler Ebene auch eine außerparlamentarische ist. Zwar fielen die Kommunisten (PC) nicht unter die Schmerzgrenze von fünf Prozent, in ganz Chile sind sie jedoch nicht einmal mit einer Handvoll ihrer Politiker in den Gemeinderäten vertreten. Dabei hatten einige KandidatInnen der PC beachtliche Erfolge erzielt. Die Unterrepräsentierung ist auch in diesem Fall dem komplizierten System der Sitzverteilung geschuldet, das qua subpacto vielen Verlierern im Schlepptau erfolgreicher Bündnispartner den Weg in die concejos municipales eröffnete.
Keinen Profit konnte die PC aus dem zunehmend aufgeheizten sozialen Klima im Land ziehen. Seit mehreren Monaten meldet sich die Arbeitnehmergruppe, die eine reale Möglichkeit zu breitem gewerkschaftlichen Zusammenschluß – und zum Streik – besitzt, zu Wort: der öffentliche Dienst. Ist es der einst durch die Militärs zerschlagenen und in der Demokratie nur mühsam wiedererweckten Gewerkschaftszentrale CUT durch die höchst unternehmerfreundliche Arbeitsgesetzgebung kaum möglich, betriebsübergreifende Arbeitsniederlegungen zu organisieren, so protestieren Lehrer, Verwaltungsangestellte und Krankenschwestern mit wachsendem Unmut gegen miserable Löhne und inhumane Wochenarbeitszeiten. Anfang Oktober waren die LehrerInnen an der Reihe, die unter der Führung des Kommunisten Jorge Pavez auf die Straße gingen. Trotz anhaltenden Beteuerungen, das Haushaltsgleichgewicht vertrage keine Gehaltsangleichungen, und trotz der Auswechslung des Erziehungsministers (neben vier anderen Kollegen in politisch strapaziösen Ministerien) erreichte die Lehrerschaft teilweise ihre Ziele. Keine einschneidenden Verbesserungen, wenig Aussicht auf eine Verringerung der bis zu 70 Wochenstunden, aber immerhin merkliche Erhöhungen ihrer Bezüge.

Der öffentliche Dienst geht auf die Straße

Nach diesem relativen Erfolg ließen sich die Gemeindeangestellten nicht zweimal bitten und traten in den Ausstand, mit der zusätzlichen Drohung, die Durchführung der Wahlen zu boykottieren. Aus den staatlichen Krankenhäusern, die für die Versorgung des nicht vom privatisierten Gesundheitssektor abgesicherten Teils der Bevölkerung zuständig sind, drangen ähnliche Botschaften, mit dem Hinweis auf die katastrophale Ausstattung und den drohenden Bankrott.
Daß sich die zunehmende soziale Mobilisierung nicht stärker in den Wahlergebnissen niederschlug, hat auch mit dem instrumentellen, eher unpolitischen Charakter der erhobenen Forderungen zu tun. Nicht lange auf sich warten ließen auch kritische Stimmen, die gerade im Arbeitskampf der – meist noch zu Pinochets Zeiten eingestellten – Gemeindeangestellten einen von reaktionären Kräften angestoßenen Versuch der Destabilisierung von Freis Regierung erkennen wollen. Wie dem auch sei, die chilenische Demokratie bedient sich gerne einmal althergebrachter Rezepte zur Befriedung: Als die Streikenden zusammen mit der CUT am 23. Oktober zu einer nicht genehmigten Demonstration in unittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes aufriefen, wurden die in letzter Zeit seltener in Erscheinung getretenen Wasserwerfer und Tränengaskanonen von Spezialeinheiten der Polizei ohne weitere Rücksichtnahme eingesetzt. Das erneute Auftauchen der im Volksmund guanacos genannten Wasserwerfer stellte für die Kolumnisten der Zeitschrift Hoy eine Rückkehr zur landesüblichen Fauna dar: Seit geraumer Zeit bedenken selbstbewußte chilenische Politiker ihr prosperierendes Land mit dem Ehrentitel jaguar – eine Art südamerikanische Variante der ostasiatischen “Tiger”.
Das repressive Erbe der Diktatur kam auch zwei Tage nach dem Wahltag zum Vorschein, als Gladys Marín, die Generalsekretärin der PC auf offener Straße von einem Sonderkommando der Kriminalpolizei verhaftet wurde. Grundlage dafür war eine Verleumdungsklage des Heeres, nachdem die Politikerin am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, in einer Rede vor dem zentralen Denkmal für die unter dem Militärregime Verschwundenen Pinochet mit deutlichen Worten zur Rechenschaft gezogen hatte. Freilich wurde die Klage etwas kleinlaut zurückgezogen, als die Vorsitzenden aller Regierungsparteien geschlossen Solidarität mit der sonst eher ungeliebten Kollegin bewiesen und ihr noch am selben Tag eine Visite in der Untersuchungshaft abstatteten.

Politikverdrossenheit jenseits der Anden

Spätestens bei den Kongreßwahlen im kommenden Jahr wird sich klären, wieviel Engagement die eigentlichen Parteien mit ihrer Programmatik bei der Bevölkerung auslösen können, und ob die große Masse der Zukurzgekommenen weiterhin die Administration der concertacionistas belohnt. Ein deutliches Zeichen ihres Desinteresses an einer von Technokraten gestalteten Politik ohne nennenswerte Alternative haben die beinahe zwei Millionen Wahlberechtigten gesetzt, die sich auf unterschiedliche Art und Weise enthielten. Über eine Million – vor allem NeuwählerInnen – verzichteten auf den Eintrag in die Wahlregister, knapp 500.000 Wahlpflichtige ließen sich unter Hinweis auf Krankheit oder zu große geographische Entfernung von ihrem Wahlort freistellen. Etwa ebensoviele sahen zwar keine Möglichkeit, ihrer Verpflichtung nicht nachzukommen – Wahlverweigerung wird mit empfindlichen Geldstrafen sanktioniert -, brachten aber ihren Verdruß zum Ausdruck, indem sie ungültige Stimmzettel abgaben.

Kindesmißbraucg in der “Kolonie der Würde”

Eine Frau hatte Schäfer im Juni 1996 beschuldigt, ihren Sohn sexuell mißbraucht zu haben. Ob es zu einer Verhaftung und einem späteren Prozeß kommen wird, bleibt abzuwarten. Im Laufe der mittlerweile 35-jährigen Geschichte der Sekte auf chilenischem Boden hat es ihr Führer Paul Schäfer immer wieder geschafft, Verhaftungen und Nachprüfungen zu entgehen. Schon 1961, noch in Deutschland, war Paul Schäfer wegen Kindesmißbrauchs angezeigt worden. Die Staatsanwaltschaft in Bonn kam damals nicht mehr dazu, die Ermittlungen erfolgreich zu Ende zu führen. Bevor weitere Kinder gehört und Schäfer verhaftet werden konnte, hatte er sich bereits nach Chile abgesetzt. Seine Anhänger folgten ihm später. Dort tauchte er erst einmal auf dem großen Landgut der Sekte unter. Offiziell war er wieder aus Chile ausgereist. Die Sektenmitglieder erklärten, er sei tot. Erst nachdem die Delikte verjährt waren, leugnete die Sekte nicht mehr die Existenz ihres Führers, der bis heute darauf bedacht war, nie eine offizielle Funktion in der Sekte wahrzunehmen. An den Vorwürfen der chilenischen Mutter wird es keinen Zweifel geben. Ehemalige Sektenmitglieder bestätigen, daß sich Schäfer auch in Chile an Jungen vergangen hat. Zwei “Springer”, wie sie in der Sektensprache genannt wurden, mußten ihn ständig begleiten.
Noch immer leben in der Colonia Dignidad, nahe der Provinzstadt Parral in Südchile, 250 deutsche Staatsangehörige und 50 Chilenen. Ende 1995 waren schon einmal Haftbefehle gegen zwei führende Mitglieder der Sekte, Herman Schmidt und Kurt Schnellenkamp, wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ergangen.

Die Colonia Dignidad als Folterlager der DINA

Diese Haftbefehle waren offensichtlich die Folge des Abschlußberichtes des “Untersuchungsausschusses zur Auflösung der Rechtspersönlichkeit der Colonia Dignidad” des chilenischen Abgeordnetenhauses vom 15. November 1995. Die Verhafteten kamen gegen Zahlung einer Kaution frei. Die Kommission unter Leitung des sozialistischen Abgeordneten Jaime Naranjo hatte zahlreiche Verstöße gegen chilenische Gesetze festgestellt, auch wegen nicht gezahlter Steuern. Zur Unterdrückung der Rechte der Gruppenmitglieder hatte die Kommission festgestellt: “Es scheint weiterhin starke Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit der Einwohner der früheren Kolonie und im Briefgeheimnis zu bestehen.
Zu der Tatsache, daß die Colonia Dignidad nach dem Pinochet-Putsch im Jahre 1973 als Folterlager der DINA diente, sagte der Kommissionsbericht nichts. Darum bemüht sich eine Gruppe von etwa 80 ChilenInnen, die damals von der Geheimpolizei verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt und dort gefoltert worden waren.
Derweil lebt die Colonia Dignidad weiter. Zwar hatten die Berufungen gegen die Auflösung der “Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” durch das Justizministerium vom 31.1.1991 keinen Erfolg, die Sekte hatte jedoch schon vorher sämtliche Vermögensgegenstände und Grundstücke auf andere Gesellschaften, die im Eigentum von Sektenmitgliedern standen, übertragen, so daß das Auflösungsdekret praktisch ins Leere lief.
(Die LN haben über die Colonia Dignidad seit Jahren immer wieder berichtet, zuletzt in den LN 227, im Dezember 1989 gab es ein Sonderheft und im Januar 1988, Nr. 166, ein Schwerpunktheft zur Colonia Dignidad)

EZLN: Keine Verhandlungen mit Regierung

LN: Nach langer Unterbrechung kam eine Delegation der EZLN wieder zu Gesprächen nach San Cristóbal, allerdings nur mit den Vermittlerorganisationen und nicht mit der Regierung, wie eigentlich geplant. Gibt es Fortschritte?

David: Die Friedensgespräche wurden unterbrochen, weil es keine Anzeichen für echten Friedenswillen der Regierung gibt. Wir haben fünf Mindestforderungen zur Wiederaufnahme der Gespräche genannt. Diese sind bisher noch nicht erfüllt worden. Aber es hat kleine Fortschritte gegeben. Zumindest ein Punkt, die Einrichtung der Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen (COSEVE), ist am 7.11.96 erfolgt. Aber alle anderen Punkte stehen noch aus. Und von Seiten der chiapanekischen Regierung hat es massive Provokationen gegeben. Indígenas werden vertrieben, entführt und ermordet. So wurde vor drei Tagen eine friedliche Demonstration von Campesinos im Landkreis Venustiano Carranza gewaltsam von Polizei und Militär aufgelöst. Anstatt mit den Campesinos über ihre Forderungen nach Anhebung der Maispreise zu verhandeln, wurden drei Campesinos durch staatliche Truppen erschossen und weitere fünf schwer verletzt. Unter solchen Bedingungen kann es keinen Friedensdialog geben, weil die Regierung von Chiapas keinen Frieden will.

LN: Welcher Form kann die Kommission zur Prüfung und Realisierung der Abkommen COSEVE Druck auf die Regierung ausüben?

Zepedeo: Zunächst geht es um das im Februar geschlossene Abkommen über die Rechte und Kultur der indigenen Völker, dem für uns wichtigsten Punkt. Bisher ist es durch die Regierung nicht umgesetzt worden. Die COSEVE wird prüfen, inwieweit den Worten Taten folgen. Die COSEVE wird die Nichteinhaltung des Abkommens offensichtlich machen und mit der Zivilgesellschaft Druck ausüben.

LN: Wie bewertet Ihr die Morde in Venustiano Carranza und den Überfall auf CONPAZ, sowie die Repression gegenüber internationalen BeobachterInnen?

David: Das sind Versuche der Regierung von Chiapas, den Friedensprozeß zu stoppen. Die Regierung ist sehr verärgert über die Gruppen, die sich für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde einsetzen. Die Präsenz von internationalen BeobachterInnen ist für die Regierung negativ, da sie ZeugInnen dessen sind, was wirklich in Chiapas passiert. Die Attacken sind Teil des Planes, die wirklichen Zustände zu verschleiern und den Friedensprozeß zu sabotieren. Besonders im Norden von Chiapas herrscht ein Klima des Terrors. Campesino-Organisationen und Mitglieder der PRD werden eingeschüchtert und bedroht. Verantwortlich dafür sind direkt der Gouverneur von Chiapas Ruiz Fero und der Innenminister Eraclio Zepeda und die gesamte Bande der PRI. Die Auflösung der Weißen Garden ist ebenfalls eine unserer Mindestforderungen. Ohne sie wird es keinen Friedensdialog geben. Das haben wir erklärt und dabei bleibt es.

Lateinamerika – ein kultureller Hybrid

Der Begriff Hybridisierung ist zentral in deinen beiden letzten Büchern (“Consumidores y ciudadanos” und “Culturas híbridas”, Anm.d.Red.). Du benutzt ihn, um die Veränderungen seit den 70er Jahren in Lateinamerika zu beschreiben. Andererseits scheinst du damit einen neuen Begriff prägen zu wollen im Gegensatz zu anderen, deren Erklärungskraft nicht ausreicht. Was genau meinst du, wenn du von Hybridisierung sprichst?

Ich verwende den Begriff der Hybridisierung um die Vielfalt und das
Potential neuer Kombinationen zu beschreiben. Heutzutage verknüpft sich das Religiöse mit dem Politischen, das Künstlerische mit dem Kommunikativen und um diese Form erklären zu können, ist ein umfassender Begriff notwendig. Schon seit langem haben Menschen in Literatur, Kunst und Kultur über den hybriden Charakter Lateinamerikas nachgedacht und geschrieben, ohne allerdings den Begriff Hybridisierung zu verwenden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Grossteil der Untersuchungen über mestizaje und sincretismo spielen auf das Phänomen der Hybridisierung an. Ich wollte mich aber gegen diese früheren Arbeiten abgrenzen. Einerseits weil eine Vielzahl von ihnen nur eine einzelne, bestimmte Art von Hybridisierung analysiert. Zum Beispiel ist mit mestizaje immer die Hybridisierung von Menschen”rassen” gemeint. Oder Leute, die über Synkretismus schreiben, meinen nur religiöse Hybridisierung. Ich glaube aber, daß das Besondere seit der Mitte dieses Jahrhunderts ist, daß sich die unterschiedlichen Arten von Hybridisierung vermischen und kulturell miteinander verknüpfen. Es ist nicht mehr so, daß sich nur eine Religion mit der anderen vermischt. Stattdessen gibt es heute immer weniger orthodoxe Formen von Religionen. Dasselbe gilt für ethnische oder soziale Gruppen. Es gibt heute keine “Reinformen” mehr. Stattdessen verknüpfen sich alle diese Formen miteinander.

Welche Verbindungen gibt es zwischen deiner früheren Arbeit “Culturas híbridas” und deinem neuen Buch “Consumidores y ciudadanos”? Was sind die Hauptthemen deiner neuen Arbeit?

In Consumidores y ciudadanos greife ich einige Fragestellungen aus Culturas híbridas wieder auf und betrachte sie in einem anderen Licht. In den fünf Jahren nach dem Erscheinen von Culturas híbridas haben sich die nationalen und internationalen Bedingungen verändert, unter denen Prozesse der Hybridisierung stattfinden. Um nur einige solcher Bedingungen zu nennen: Ich meine den Freihandelsvertrag NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada, Mercosur in Südamerika oder einzelne Verträge zwischen Lateinamerika und Europa oder den USA. Auch die Migrationsbewegungen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Ich meine, daß Multikulturalismus Hybride erzeugt, und ich glaube, daß Hybridisierungsprozesse zwischen Menschen wichtiger geworden sind als die, die in der Welt des Kapitals und in den Massenmedien vonstatten gehen.
Schließlich haben sich elektronische Kommunikationsnetze ausgebreitet, die den Austausch von Botschaften erleichtern. Diese elektronische Kommunikation wirkt multiplizierend, intensivierend und bis zu einem bestimmten Grad auch demokratisierend. Als E-mail oder Internet ermöglicht sie Prozesse der Horizontalisierung von Kommunikation. Das heißt, Menschen sind nicht nur entweder SenderInnen oder EmpfängerInnen von Nachrichten, sondern können beides sein, vor allem beides gleichzeitig. E-Mail und Internet erweitern aber vor allem auch die Möglichkeiten internationaler Kommunikation. Dadurch können neue Kommunikationskreise zwischen NGOs oder alternativen Gruppen aufgebaut werden, allerdings natürlich auch zwischen den “großen” transnationalen Kräften. All das hat die Bedingungen verändert, unter denen Hybridisierung heute stattfindet.

Wie zeigen sich denn diese Veränderungen im Alltag und wie verändern sie konkret die politische Kultur in Lateinamerika?

Die größeren internationalen Kommunikationskreise breiten sich auch innerhalb der Bevölkerung eines einzelnen Landes immer weiter aus, obwohl bisher nur eine Minderheit der Bevölkerung Zugang zu den neuesten Technologien hat. So werden Formen der Aufnahme und Verarbeitung von Nachrichten und der Aneignung und Verknüpfung von Informationen und Gütern komplexer und vielfältiger, und Hybridisierung nimmt immer komplexere Formen an. In jeder mittelgroßen Stadt ist das Repertoire an Gütern und Nachrichten, die den lokalen Raum überschreiten, vielfältiger als noch vor zwanzig Jahren. Die Möglichkeiten, wie Menschen Nachrichten auswählen und verknüpfen haben sich deshalb vervielfältigt. Alle neuen Forschungen zeigen, daß Menschen Nachrichten nicht passiv empfangen, sondern kontinuierlich und individuell verändern.

Du sagst, daß Lateinamerika gegenwärtig aus “BürgerInnen des 18. Jahrhunderts und KonsumentInnen des 20. Jahrhunderts” besteht. Welche Möglichkeiten intellektueller und praktischer Einflußnahme gibt es heute in Zivilgesellschaften ?

In den letzten Jahren sind traditionelle Formen politischer Represäntation, wie Parteien, Gewerkschaften, StudentInnenorganisationen zerfallen. Öffentlichkeit hat sich von ihren konventionellen Orten weg und hin zur massenmedialen Sphäre verlagert. Die Definition, wer BürgerIn ist und wie Beteiligung aussehen kann, muß sich in diesem massenmedialen Bereich bewegen, wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung haben will. Fragen der Repräsentation und der Zugehörigkeit werden heute großenteils in der Sphäre des Konsums, der Aneignung von Gütern und in der Interaktion mit Massenmedien beantwortet und nicht mehr im Verhältnis zu Parteien oder den “klassischen” Institutionen politischer Repräsentation. Internationale ökonomische und politische Zusammenschlüssen zwingen uns, auch Öffentlichkeit international zu denken. Die Definitionen, wer BürgerIn ist und was ihre/seine Rechte und Einflußmöglichkeiten sind, muß also auch die traditionellen Grenzen des Nationalstaats überschreiten.

Läßt sich Politik denn überhaupt außerhalb von Konsum denken?

Ja, ich glaube, Politik existiert außerhalb von Konsumkreisläufen oder erschöpft sich jedenfalls nicht in ihnen. Dennoch findet heute ein Großteil dessen, was wir früher politische Bewußtseinsbildung oder das Schaffen eines kritischen Bewußtseins der Welt genannt haben, in einer Auseinandersetzung mit dem Lebensalltag des Konsums statt, mit Fragen der Lebensqualität, oder der Aneignung von Gütern. Diskussionen drehen sich nicht mehr so sehr um große historische Sprünge oder um die Veränderung ganzer Gesellschaftsmodelle.

Solange ein Großteil der Bevölkerung Lateinamerikas nicht mal Zugang zu minimalem Konsum hat, glaubst du nicht, daß du das Verhältnis von Konsum und Politik und die Rolle von Massenmedien überbetonst? Sind nicht andere soziale Netze und Beziehungen entscheidend, wie zum Beispiel klientelistische Beziehungen in der Politik oder Netzwerke kollektiven Handelns, die überhaupt erst den Zugang zu Mitteln, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ermöglichen?

Vielleicht ist es hier notwendig, klarzustellen, daß ich in der ersten Hälfte von Consumidores y Ciudadanos vor allem urbane Veränderungsprozeße beschreibe und die Auswirkungen, die die Veränderungen in den großen lateinamerikanischen Städten auf politische Beteiligung haben. Ich betrachte aber diese großen Städte in gewisser Weise auch als massenmediale Systeme, die nicht nur auf ihrem eigenen Territorium vernetzt sind, sondern auch international. Deshalb spreche ich von “Globalen Städten”. Ich will aber nicht andere Netzwerke von Zusammengehörigkeit vergessen, wie zum Beispiel Nachbarschaftsgruppen oder Jugendgruppen. Außerhalb oder neben massenmedialen Netzwerken bleiben diese Gruppen oder andere Formen der Zusammenschlüsse natürlich wichtig, aber beide interagieren auch miteinander.

In deinem Buch forderst du eine neue Art von Intellektuellen, die radikal die Grenzen ihrer Disziplinen überschreiten sollen. Was für ein Profil müssen Intellektuelle haben, die über aktuelle kulturelle Veränderungen nachdenken?

Ich glaube nicht, daß man von einem einzelnen Typ Intellektuellen sprechen kann. Genausowenig wie es ein einzelnes Motiv für politische Bewegungen gibt oder ein einzelnes Gesellschaftsmodell, das im Moment wünschenswert und praktikabel wäre. Ich würde deshalb im Plural sprechen, von den unterschiedlichen Profilen. Ich glaube auch, daß es weiterhin Intellektuelle geben kann, die sich nur einer Disziplin zurechnen und diese dann – teilweise sehr gut – ausüben. Sie sind dann gute SoziologInnen oder AnthropologInnen oder SpezialistInnen in Kommunikation oder Literaturgeschichte. Ich weiß auch, daß es viele institutionelle und vor allem ökonomische Anreize gibt, die dazu führen, daß Leute ihrer Disziplin treu bleiben. Mir aber erscheint es attraktiver, verschiedene Disziplinen zu durchqueren und nach unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Vorgang zu suchen. Daraus will ich aber kein Dogma machen. Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre kann man sehen, daß die Kulturstudien, die mit dem starken Impetus angefangen haben, Grenzen von Disziplinen zu überschreiten, später dann auch keine allzu großen theoretischen Entwürfe mehr geliefert haben. Jedenfalls haben sie nicht die Existenz der Einzeldisziplinen überflüßig gemacht.

Du selber hast dich zum hybriden Intellektuellen entwikkelt, insofern du viel mehr als früher die US-amerikanischen kulturwissenschaftlichen Debatten in deine Gedanken integrierst…

Wie der Großteil der Menschen vom Rio de la Plata bin ich mit einem ständigen Blick nach Europa großgeworden, vor allem nach Frankreich. Da bin ich dann auch hingegangen, intellektuell und physisch, habe vor allem über Sartre und Merleau-Ponty gearbeitet und später dann mit und über Bourdieu. Der ist für mich auch der attraktivste und systematischste Soziologe überhaupt geblieben. Ich glaube, daß diese Art von umfassenden Intellektuellen wie Sartre, Bourdieu oder auch Habermas theoretische Entwürfe geschaffen haben, die es so nicht mehr gibt. Stattdessen treten heute einzelne Figuren aus unterschiedlichen Ländern hervor. Viele von ihnen leben in den USA. Manche von ihnen arbeiten als Outsider der US-Gesellschaft, wie zum Beispiel die chicanos. Leute wie Renato Rosaldo sagen mir deshalb eine Menge und ich glaube, daß Kulturwissenschaften in den USA deshalb weitaus interessanter sind als sonstwo.

Übersetzung: Silke Steinhilber

KASTEN:
Néstor García Canclini machte seinen Doktor in Philosophie in Paris. Er lebte bis 1976 in Argentinien und zog dann nach Mexiko. Zur Zeit leitet er das Programm “Stadtkultur” an der Universidad Autónoma Metropolitana leitet. 1981 erhielt sein Buch Las culturas populares en el capitalismo den Literaturpreis Casa de las Americas, und 1992 erhielt das Buch Culturas híbridas (Hybride Kulturen) den iberoamerikanischen Buchpreis der Latin American Studies Association als bestes Buch über Lateinamerika der Jahre 1990-1992.

Wie ein Liberaler zum Rassisten wird

Vier Protagonisten beherrschen die Story. Hier Delaney und Kyra Mossbacher, ein Mittelschichtsehepaar, wohnhaft in einer schicken Neubausiedlung in der Nähe von Santa Monica. Dort Cándido Rincon und América, illegale Einwanderer aus Mexiko. Letztere campieren in einer Schlucht in unmittelbarer Nähe der Siedlung. Zwei Welten treffen aufeinander, zunächst in Form eines Unfalls. Delaney, mal wieder auf Recherche für seine monatliche Kolumne in einer Naturfreunde-Zeitschrift, streift Cándido mit dem Auto. Fortan stoßen die beiden Klassen und “Rassen” – zwar in großen Abständen, aber regelmäßig – aufeinander. Boyle schlüpft dazu in schöner Gleichmäßigkeit abwechselnd für ein Kapitel in die Perspektive des einen beziehungsweise des anderen Paars. Da das Buch aus drei Teilen mit jeweils acht Kapiteln besteht, ist das Erzählschema nicht gerade kunstvoll. Auch die Sprache ist teilweise quälend detailgenau. Ob das die Spannung steigert oder zum Weiterblättern anregt, sei dahingestellt.
Die eigentliche Hauptperson ist Delaney, der mit wachsendem Unmut die zunehmende Bedrohung seiner vormals intakten Umwelt wahrnimmt. Zu Beginn denkt er noch fortschrittlich: “Einwanderer sind die Lebenskraft dieses Landes – wir sind eine Nation von Einwanderern, und keiner von uns würde heute hier stehen, wenn’s nicht so wäre!” Später läßt das Ehepaar Mossbacher einen drei Meter hohen Gartenzaun um ihr Grundstück ziehen, natürlich von Einwanderern, unter ihnen Cándido. Die Eigentümergemeinschaft der Siedlung beschließt die Errichtung einer Schutzmauer mit einer bewachten Zufahrt. Delaney – es lebe die Freiheit – besorgt sich eine Waffe.
Seine Frau Kyra, eine Gesundheitsfanatikerin par exellance, als Maklerin tätig, war schon länger den Migranten feindlich gesonnen: “Jemand mußte etwas gegen diese Typen unternehmen – sie waren überall, sie vermehrten sich wie die Karnickel, und für das Geschäft bedeuteten sie den Tod.” Er, ohnehin unter ihrem Pantoffel stehend, formuliert zunächst in einer seiner Kolumnen: “Die Coyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren sich, um die Nischen zu füllen, siedeln sich dort an, wo das Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und nicht aufzuhalten.” Er meint damit hier in der Tat noch die Tiere, die trotz des Zauns inzwischen beide Hunde der Familie gerissen haben. Aber wenig später formt sich sein Weltbild in bezug auf Einwanderer entsprechend dieser Skizze aus dem Tierreich.
Der Autor als Provokateur?
Es ist die Frage, ob das Bild der zweigeteilt strukturierten Welt zur Beschreibung der Situation heute noch taugt. Ein Vorteil dieser einfachen, manchmal stark überzeichneten Darstellung ist ihre Provokation. Das Buch wurde von Konservativen und Liberalen in den USA attackiert. Von links kam die Kritik, Boyle hätte weder das Recht noch die Fähigkeit aus der Perspektive eines Mexikaners zu schreiben. Von rechts kamen Schmähbriefe, er sei zu nachsichtig mit den Einwanderern. Der Autor freut sich über die Kritik von beiden Seiten. In mehreren Interviews gab er zu verstehen, genau das gewollt zu haben, herauszufinden, inwieweit das liberale Ethos aus John Steinbeck’s Tagen heute wirklich noch funktioniert. Er will einen demokratischen und sozialen Grundkonsens in den USA verteidigen, sich aber nicht im Namen der Political Correctness bei der Wahl der Methode dabei einschränken lassen.
Im Rahmen der Globalisierung wird die Migration wohl eher noch zunehmen. Boyle weiß auch keine Patentlösung dazu. Er pocht gleichwohl auf die nationale Souveränität, einschließlich Personalausweis und Meldegesetz. Ob Kontrollen und ein Grenzzaun die Einwanderer von ihrem Marsch nach Norden abhalten, darf allerdings bezweifelt werden. Umfragen zeigen, daß selbst Chicanos, die schon länger in den Staaten leben, dafür sind, niemanden mehr hereinzulassen. Es gibt eine breite Antiimmigrationsstimmung in den USA und die wird eher noch stärker. Die Liberalen, die sich heute noch über prügelnde Grenzpolizisten aufregen, denken ganz anders, wenn sie persönlich mit der Einwanderungsproblematik konfrontiert werden. Wer das nicht glaubt, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

T. C. Boyle: “América”. Carl Hanser Verlag 1996, 384 Seiten, 45,-DM
(TB, Dtv 2006, 8,95 Euro).

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Rettet die Weltbank den Regenwald?

Satellitenbilder der jüngsten Erhebung zeigen deutlich, daß in einem Zeitraum von zwei Jahren (von Mitte 1992 bis Mitte 1994) 14.896 km² Regenwald zerstört wurden. Dies bedeutet einen Anstieg von immerhin 34 Prozent gegenüber dem Zeitraum 1990-1991. Insgesamt sind inzwischen 469.978 km² Primärwald vernichtet worden, was etwa 12 Prozent des Waldbestandes der Region entspricht. Diese von dem brasilianischen Regierungsinstitut INPE gelieferten Zahlen sind die offiziellen Angaben der Regierung, die in der Vergangenheit oft erheblich unter den Daten anderer Institutionen lagen.
Die Zahlen schlugen ein wie eine Bombe, hatte die brasilianische Regierung doch versucht, eine gewisse Entwarnung zu geben. Die immensen Entwaldungsraten von über 20.000 km² pro Jahr in den siebziger und achtziger Jahren hatten sich Anfang der neunziger Jahre fast halbiert. Zwar liegen die neuen Zahlen immer noch erheblich unter den alten Spitzenwerten, aber es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß eine Tendenz zu Minderung der Entwaldung stabilisiert worden ist. Im Gegenteil, die Kritiker, die in den niedrigeren Zahlen von 1989 -1999 eher die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sahen als eine Folge gezielter Politikbemühungen oder verbesserter Kontrollen, scheinen recht zu behalten.

Ungebremster Holzeinschlag

Ein vom brasilianischen Umweltministerium und der Weltbank herausgegebenes Papier zum Bonner Treffen zitiert die brasilianische Umweltbehörde IBAMA, die drei Hauptursachen in der erneuten Zunahme der Entwaldung sieht: den illegalen Holzeinschlag, die Ausweitung der Viehweiden und den Bau von Straßen. Dies ist eigentlich nichts Neues, allerdings hat sich in den letzten Jahren in Amazonien eine bedeutende und schwerwiegende Veränderung ergeben: Während vor noch etwa 10 Jahren die Auswirkungen des kommerziellen Holzeinschlages in der Region gering waren, hat sich dies bis heute drastisch geändert. Um es nur mit zwei Zahlen zu dokumentieren: Para, der wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat der Amazonasregion, exportierte 1988 Holz im Volumen von 492.000 Kubikmetern, 1992 waren es schon 922.500 Kubikmeter. In einem Zeitraum von 10 Jahren (1982-1992) hat sich das registrierte Volumen an eingeschlagenem Holz fast verdreifacht. Und selbst nach Regierungsangaben kommt nur ein zu vernachlässigender Anteil von weniger als 1 Prozent dieses Holzes aus nachhaltiger Nutzung.

Das Pilotprogramm – ein innovativer Ansatz in der Entwicklungspolitik?

Es fehlt also nicht an guten Gründen für konkrete Aktionen zum Schutz der brasilianischen Regenwälder. Das Pilotprogramm, das während des G-7 Treffens 1990 in Houston, auf die Initiative Kohls hin, ins Leben gerufen wurde, wird inzwischen als das größte internationale Programm für nachhaltige Entwicklung angepriesen. Es beeindruckt dabei weniger durch die Summe der Geldmittel, denn 250 Millionen US$ für das gesamte brasilianische Amazonasgebiet sind letztendlich eher bescheiden. Dafür steht hinter dem Pilotprogramm eine geballte politische Kraft: Die G-7 (+EG) und die Weltbank vereint können gegenüber der brasilianischen Regierung natürlich eine große Verhandlungsmacht in die Waagschale werfen. Die G-7 Staaten fungieren dabei als Geldgeber (die Bundesregierung steuert etwa 2/3 der Gesamtsumme bei), während die Weltbank koordiniert. Die administrative Struktur des Pilotprogramms ist hochkomplex. Es vereinigt eine multilaterale Finanzierung über einen Regenwaldfond, in den die Geberstaaten einzahlen, mit sogenannten bilateral-assoziierten Projekten. Den innovativen Charakter des Programms macht jedoch nicht dieser eher problematische Komplexitätszuwachs aus, sondern folgende Merkmale:
– Das Programm verfolgt einen policy-Ansatz. Das heißt, daß im Mittelpunkt nicht konkrete Projekte (die es durchaus gibt) stehen sondern die Beeinflussung und Umformulierung der Politiken, die zur Vernichtung der Wälder führen.
– Das Programm bekennt sich zum Ideal einer nachhaltigen Entwicklung und setzt konkret das Ziel, eine Reduzierung der Entwaldungsrate zu erreichen. Mit der Unterschrift zu dem Programm hat sich auch die brasilianische Regierung diesem Oberziel verpflichtet.
– Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen sind in das Programm einbezogen. Zwei Unterprogramme beziehen sich direkt auf wichtige soziale Gruppen des Regenwaldes: das Programm zur Demarkierung von Indianergebieten und das Programm für die Einrichtung von Sammelreserven für Kautschukzapfer.
– Etwa 12 Prozent der Gesamtmittel sollen direkt an NGOs fließen, in sogenannte Demonstrativprojekte. In den anderen, den sogenannten strukturellen Programmen geht es zum Beispiel um die Stärkung der Landesumweltbehörden, um die Förderung von Forschungszentren und die Einrichtung von Naturparks. Bisher hat sich die Umsetzung dieser einzelnen Programmteile schwerfällig angelassen, aber in diesem Jahr ist der Mittelfluß doch einigermaßen in Gang gekommen.

Grenzen des Pilotprogramms

Entscheidendes Merkmal des Pilotprogramms soll die Einbeziehung der “Zivilgesellschaft” in Ausarbeitung und Umsetzung der einzelnen Programmteile sein. Die GTA (Grupo de Trabalho Amazônico, Arbeitsgruppe Amazonien), ein Zusammenschluß von NGOs, wurde eigens gegründet um die Begleitung des Pilotprogramms zu garantieren und umfaßt inzwischen über 300 Organisationen, von größeren Dachverbänden bis hin zu Basisgruppen. Und so waren in Bonn auch die NGOs vertreten. Die GTA durften drei Repräsentanten schicken: einen Vertreter der Kautschukzapfer, einen Indio (des Dachverbandes COIAB) und einen Vertreter der Organisation der traditionellen Fischer. Deutsche (Urgewald, Kobra) und internationale NGOs (WWF, Friends of the Earth) waren mit vier Personen vertreten. Angesichts der über 50 Regierungsvertreter, Unternehmer und Berater von internationalen Entwicklungsagenturen war die Präsenz von sieben Exemplaren der “Zivilgesellschaft” doch eher bescheiden. Aber immerhin hatten sowohl die deutschen wie auch die internationalen und brasilianischen NGOs (ein joint-venture von Friends of the Earth und GTA) Dokumente zum Stand des Pilotprogramms erarbeitet.
Bei beiden Dokumenten fällt zunächst auf, daß die Kritik an dem Pilotprogramm eher vorsichtig formuliert ist und von einer Zustimmung zu den Grundideen des Programms ausgeht. Tatsächlich sieht das Pilotprogramm vor, die Forderungen der indianischen Völker und der Kautschukzapfer umsetzen. Es geht also eher um die Garantie der Umsetzung, als darum grundsätzliche Kritik zu üben. Jenseits von Detaildiskussionen über einzelne Subprogramme ergibt sich die zentrale Fragestellung, ob das Pilotprogramm tatsächlich seinem policy-Ansatz gerecht werden kann.
Beide Dokumente stellen fest, daß die Realität von einer Kohärenz des Pilotprogramms mit anderen politischen und ökonomischen Interventionen in Amazonien weit entfernt ist. So hat die brasilianische Regierung mit dem Erlaß des Dekrets 1775 die Überprüfung aller Demarkierungen von Indianergebieten zugelassen und damit große Unsicherheit und Proteste provoziert. Zwar haben die zuständigen Behörden inzwischen fast alle Einsprüche zurückgewiesen, doch die rechtlich Lage von immerhin acht Indianergebieten (zwei davon fallen unter das Pilotprogramm) bleibt vorerst ungeklärt.

Letztendlich Erschließungspolitik

Ein großer Entwicklungplan (Brasil em Acçâo) von der Regierung FHC im August diese Jahres lanciert, sieht Investitionen im Infrastukturbereich von 54 Milliarden US$ bis 1998 vor. Von den insgesamt 42 Projekten entfallen sechs mit einem Volumen von 2.3 Millarden auf die Amazonasregion. Die Mittel sind dabei ausschließlich für Projekte der allertraditionellsten Art vorgesehen: Ausbau von Wasserstraßen, Bundesstraßen und der Energieversorgung. Amazonaspolitik wird so immer noch als Erschließungspolitik verstanden.
Die Infrastrukturprojekte im Regierungsprogramm bestätigen die Wahl von Integrationsachsen als regionale Entwikklungsstrategie. Auch die Sprache dieser Pläne betont das nachhaltige Wachstum in Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung (GTA /Friends of the Earth).

Mehr Macht für die Weltbank dank NGOs?

So fällt die Schlußfolgerung nicht schwer, daß das Pilotprogramm bisher nicht zu einem Schlüssel für ein grundsätzliche Umorientierung der brasilianischen Amazonaspolitik geworden ist. Eine andere Kritik findet zumindest Eingang in das Dokument der GTA und Friends of the Earth: Das Pilotprogramm behandelt Amazonien als großen Wald und reduziert damit eine komplexe soziale Realität auf eines ihrer (allerdings zentralen) Elemente. Damit bekommt das Programm einen starken naturschützerischen Akzent, der nur noch die sozialen Gruppen einschließt (indigene Völker und traditionelle Sammler), die vermeintlich leicht an Schutzkonzepte anzukoppeln sind. Weitgehend ausgegrenzt bleiben dabei die KleinbäuerInnen, die mit Abstand größte Gruppe auf dem Land. Ausgeblendet wird auch, daß in Amazonien, im Gegensatz zu allen Klisches, inzwischen fast 60 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt.
Alle diese Kritiken gehen davon aus, daß das Pilotprogramm eher unzureichend als falsch ist. Tatsächlich hat das Pilotprogramm durch die Einbeziehung von Kautschukzapfern, Indios und zahlreichen NGOs einen Grad von Legitimität erreicht, der von außen schwer zu kritisieren ist. Und offensichtlich haben die beteiligten brasilianischen Gruppen wenig grundsätzliche Einwände hervorzubringen. Allerdings bleibt bis heute die Frage unbeantwortet, ob die Beteiligung der Zivilgesellschaft ein Programm legitimiert, das diese letztendlich nicht oder nur marginal beeinflussen kann, oder ob hier im Umfeld der internationalen Kooperation neue Handlungsspielräume eröffnet werden können, die tatsächlich Positionen stärken, die der Regenwaldvernichtung und der damit verbundenen Marginalisierung der traditionellen Bevölkerung Einhalt gebieten kann.
Bei aller Kritik im Einzelnen sehen die beteiligten brasilianischen Gruppen im Pilotprogramm doch einen Ansatz, der erfolgversprechend ist und dessen Umsetzung ernsthaft versucht werden sollte. Das Pilotprogramm steht dabei nicht allein, sondern auch andere Programme, die durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwikklungsbank koordiniert werden, haben inzwischen die Beteiligung auf ihre Fahnen geschrieben. Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit NGOs dazu dienen, über eine fragmentierte Beteiligung an spezifischen Projekten, bei denen sich dann oft noch Beteiligung mit dem Empfang von Geldmitteln verknüpft, den internationalen Banken über ihre Legitimationskrise hinwegzuhelfen. Der Weltbank kann jedenfalls ein Unternehmen wie das Pilotprogramm, zu dem sie noch dazu keinen Pfennig beigesteuert hat, nur hochwillkommen sein, um ihre Öffnung hin zu Umweltbelangen zu demonstrieren.
Im Falle des Pilotprogramms gibt es aber noch einen besonderen Aspekt zu beachten. Sein Entstehen ist zum einen sicherlich eine Konsequenz der Kritik an zerstörerischen Projekten der internationalen Kooperation in Amazonien, zum anderen aber auch Ausdruck von Tendenzen, bestimmte Probleme als globale Aufgaben zu definieren. Das Pilotprogramm selbst nimmt in seiner offiziellen Begründung ausdrücklich auf zwei globale Aspekte der Regenwaldzerstörung Bezug: den Beitrag des Abbrennens des Regenwaldes zu den Kohlendioxyd Emissionen und die Verminderung der Artenvielfalt. Auch das bereits zitierte Papier von Weltbank und brasilianischem Umweltministerium stellt fest, daß die nachhaltige Entwicklung der Ökosysteme der tropischen Regenwälder Brasiliens eine globale Herausforderung ist.
Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal, daß Brasilien internationale Mittel bereitgestellt werden müßten, um Aufgaben zu lösen, die globale Aspekte beinhalten. Zum anderen aber bedeutet es auch, daß Definitionsmacht neu verteilt wird, weg von nationalen hin zu internationalen Instanzen. Für NGOs und soziale Bewegungen, die durch nationale Instanzen drangsaliert oder auch brutal unterdrückt werden, kann dies zunächst durchaus attraktiv erscheinen. Aber ist es dies auch auf lange Sicht? Oder laufen NGOs da nicht Gefahr, zum Spielball von Interessen zu werden, die sie gar nicht mehr kontrollieren können?
Nur scheint es, daß dies eher eine Frage langfristiger Perspektiven ist. Die angeführte Kritik, daß das Pilotprogramm bisher seinem policy-Ansatz nicht gerecht wird, weist eher in eine andere Richtung: Nicht daß die Weltbank enorme Definitionsmacht in Amazonien gewinnt, sondern daß es – trotz Weltbank und G-7 – ein marginales Programm bleibt. Dann wäre also weniger ein neues hegemoniales Projekt zu fürchten als (postmoderne) Beliebigkeit nach dem Modell des Supermarktes: Der ist zwar bei weitem kein ökologisches Projekt, bietet aber doch auch inzwischen Ökowaschpulver und Müsli aus biologisch-organischem Anbau an. Das Pilotprogramm diene dann wohl der Befriedigung der Umwelt-, Regenwald- und Indianerlobby, die sich zwar lautstark artikuliert, aber auf lange Sicht doch immer marginal geblieben ist.
Das Bonner Treffen jedenfalls belegt eher die Marginalitätsthese. Die brasilianische Seite (Regierung wie NGOs) hatte offensichtlich gehofft, daß in Bonn eine zweite Phase des Pilotprogramms eingeläutet werden könnte, bei der dann eine ursprünglich in Aussicht gestellte Milliardensumme ins Spiel käme. Stattdesen bekräftigten lediglich Deutschland und die EU die Außsicht auf eine zweite Phase. Und die Bundesregierung zog es vor, statt eine bereits angekündigte Aufstockung der Gelder für die NGO-Projekte zu ratifizieren, auf eine gleichere Verteilung der Finanzierungslasten unter den Geberländern zu pochen. Auch hier ließ anscheinend Waigel grüssen.

KASTEN:
Die Jahrestagung des Pilotprogramms fand in diesem Jahr vom 9. bis 12. September in Bonn statt. Um Einfluß auf diese Konferenz und den entsprechenden politischen Prozeß zu nehmen wurde von deutschen NGOs eine öffentliche Erlärung zum Pilotprogramm und der Politik, in die es eingebunden ist, abgegeben. Auch die LN schloß sich dieser Erklärung an.
Aus der Erklärung deutscher NGOs zur Teilnehmerkonferenz des Pilotprogramms:
(…)Wenn die G7 und andere Industrieländer über Sachstand und Perspektiven des “Pilotprogramms zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien” beraten, können sie ihre Verantwortung für die Folgen ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen nicht ignorieren. Für den Erfolg ist nicht nur die Kohärenz der brasilianischen Politik erforderlich, sondern auch die Kohärenz der Außenwirtschaftspolitik der Industrieländer mit den Zielen des Pilotprogramms. Über sechs Jahre nach seiner Initiierung besteht die Herausforderung an die Industrieländer darin, ihre außenwirtschaftliche Verantwortung anzuerkennen und praktische Schritte zu unternehmen, um Ziele des Pilotprogramms durch das Handeln aller relevanten Ressorts zu unterstützen.
Zur Teilnehmertagung 1996 stellt sich dementsprechend eine Reihe aktueller Herausforderungen an die Träger des Programms:
– Die Teilnehmer sollen den dringendsten sozialen und ökologischen Anliegen, darunter an erster Stelle der Schutz der indigenen Völker, in der Programmdurchführung einen höheren Stellenwert geben und diese zu einem beschleunigten Abschluß bringen.
– Die Teilnehmer sollen die politischen, finanziellen und zeitlichen Aktivitäten auf die öko-sozialen Kernpunkte dieses Programms konzentrieren, damit es den Charakter eines echten Pilotprogramms gewinnt.
– Die Industrieländer sollen eine praxisorientierte Überprüfung ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem Ziel auf den Weg bringen, die dem Pilotprogramm entgegenwirkende Einflüsse zu korrigieren und solche Außenbeziehungen zu unterstützen, die den Zielen des Pilotprogramms förderlich sind.
– Nach der langen Stagnation in ihrer Indianerpolitik soll die brasilianische Regierung die Demarkierung und den nachhaltigen Schutz der Indianergebiete zügig voranbringen und die juristischen und politischen Rahmenbedingungen entsprechend den Forderungen der betroffenen Indianer gestalten. Zudem soll die brasilianische Regierung weitere deutliche Schritte in Richtung auf Tropenwaldschutz und fort von riskanten Erschließungsstrategien unternehmen.
Der Bedrohung der brasilianischen Tropenwälder kann nur mit einem strategischen, kohärenten Entwurf begegnet werden, der die hier skizzierten Elemente integriert. In dem Maße, wie die Teilnehmer des Programms entsprechende Schritte unternehmen, kann das Pilotprogramm zu einem wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Entwicklung werden.

“Unser Europabild ist falsch!”

Welche Ziele hat CHAME?

Das Projekt wurde während meiner vierjährigen Tätigkeit im Frauen-Informationszentrum in Zürich gegründet. Ich habe dort Brasilianerinnen betreut und gemerkt, daß es wichtig wäre, Präventionsarbeit in Sachen Frauenhandel und Sextourismus in Brasilien zu machen. Wir können oft nicht mehr viel tun, wenn die Frauen erst einmal in Europa sind. Viele der Frauen haben ein Bild von Europa, wonach europäische Männer schön und gut sind. Sie glauben, daß sie hier Arbeit finden und vielleicht einen Europäer heiraten.

Wer sind diese Frauen?

Die Frauen, die mit Touristen verkehren, sind normalerweise keine Professionellen. Es sind Frauen, die sofort verliebt sind, wenn sie mit einem Europäer zusammen sind. Dann vergessen sie das Geld, benutzen kein Kondom mehr und glauben an die Liebesversprechungen. Viele von ihnen haben keine Arbeit und keine Perspektive. Sie wollen nur weg von Brasilien. Gegen diesen Traum zu arbeiten, ist sehr kompliziert. Wir können ihnen nicht einfach diesen Traum nehmen und die Frauen ohne Hoffnung zurücklassen, wir müssen Alternativen finden. Interessant ist, daß viele der Frauen, die nach Europa migrieren, aus der Mittelschicht kommen. Auch die Mittelschicht hat unter den ökonomischen Problemen in Brasilien zu leiden. Hinzu kommt, daß wir eine sehr kolonialistische Mentalität haben: Alles, was von außen kommt, ist viel besser als das, was in Brasilien ist. Diese Illusion, nach Europa zu kommen und als Europäerin zu leben, ist vor allem in der Mittelschicht sehr präsent. Aber unser Bild von Europa ist falsch.

Frauenmigration und Sextourismus sind zwei Problemfelder, die aufeinanderprallen. Wie wird das Problem in Brasilien thematisiert, und was konnte bislang mit der Arbeit von CHAME und anderen Frauenorganisationen erzielt werden?

Letztes Jahr haben wir in Recife an einem Forum über Tourismus und Entwicklung teilgenommen. Die Frauenorganisationen haben erreicht, daß die Tourismusagenturen auf ihren Plakaten und Broschüren nicht mehr mit brasilianischen Frauen werben dürfen. Die Regierung selbst investiert viel Geld in den Tourismus und möchte über das Problem Sextourismus lieber nichts wissen. Aber die Sextouristen sind nicht gut für das Land, nicht nur wegen der Frauen, sondern weil sie kein Geld bringen. Die Sextouristen zahlen noch in Europa zusammen mit einer Pauschalreise das Hotel und manchmal auch das Mädchen, viel Geld geben sie im Land gar nicht mehr aus. Mit dieser Argumentation versuchen wir die Tourismusbörse zu überzeugen.

Wie sieht konkret die Arbeit von CHAME aus?

Als wir das Projekt 1994 gründeten, wollten wir mit den Basisgruppen zusammenarbeiten. Damals war dieses Thema in Brasilien fast unbekannt. Also mußten wir von vorne anfangen: intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe der oft unfähigen Behörden, Wir machen auch eine Forschungsarbeit, um das Milieu zu erkunden. Wir wollen wissen, wo die Frauen die ausländischen Männer treffen. In der nächsten Phase der Forschung werden wir die Frauen und Männer befragen, um zu wissen, woher sie kommen. Mit diesen Informationen können wir bessere Informationsarbeit leisten. Wir wollen die Problematik der Frauenmigration von der Prostitution trennen: nicht alle Frauen, die migrieren, gehen in die Prostitution. Mit unserer Arbeit wollen wir die Frauenmigration nicht verhindern, sondern die Frauen über ihre Rechte in Europa informieren. Gehen die Frauen trotzdem nach Europa, können sie dort mit anderen Frauenorganisationen kooperieren.

Mexiko im Umbruch

Dieter Boris hat ein zutiefst konservatives Buch über Mexiko geschrieben. Konservativ im Beharren auf wissenschaftlichen Standards und in der Qualität seiner Argumentation. Es ist kein journalistischer Schnellschuß. Für die LeserInnen bedeutet dies den nicht immer mühelosen Nachvollzug einer konzentrierten und problemorientierten Betrachtung der mexikanischen Entwicklung seit 1982, einer Bilanz der neoliberalen Strukturanpassungspoltik.
“Zugespitzt formuliert: Steht die neoliberale Politik, die über zwölf Jahre in besonders rigoroser Form in Mexiko durchgeführt wurde, vor einem Scherbenhaufen?” (Boris, S.2) Das Buch gliedert sich neben einer historischen Einführung in drei große Abschnitte: die Betrachtung der beiden Präsidentschaftsperioden von Miguel de la Madrid 1982-88 und Salinas de Gortari 1988-94, die Auswirkungen dieser Präsidentschaftsperioden auf die wirtschaftlichen Sektoren und die Veränderungen in der sozialen Struktur der mexikanischen Gesellschaft sowie die politischen und sozialen Akteure in diesen Zeiträumen. Umrahmt werden diese Abschnitte von Betrachtungen der tiefen Krisen von 1982 und 1994 – wobei zumindest für die Krise 1982 gilt, daß sie gleichzeitig den Wendepunkt einer bis dahin geführten Konzeption der importsubstituierenden Industrialisierung Mexikos markiert, während die Krise 1994 zwar die inneren Blockierungen der neoliberalen Konzeption offenlegte, aber: “Der Umbruch der Gesellschaft hat unter neoliberalen Vorzeichen begonnen, wohin er ökonomisch und politisch führen wird, bleibt ungewiss.”

Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende

Im folgenden soll etwas näher auf die Ausgangsbedingungen des neoliberalen Projekts, seine Auswirkungen und inneren Widersprüche eingegangen werden. Betrachtet man die ökonomischen und politischen Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende in Mexiko, so können sie als günstig bezeichnet werden. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
1. die besonderen Schuldendiensterleichterungen (nach 1982) seitens der USA im Gefolge der Brady-Initiative;
2. die verbesserten Marktzugangsmöglichkeiten Mexikos zu den USA infolge des NAFTA-Abkommens und weitere bilaterale und multilaterale Unterstützungsmaßnahmen;
3. die immer noch funktionierenden sozial-integrativen Mechanismen Mexikos, die garantierten, daß eine harte und länger währende Austeritätspolitik, ohne größere soziale und politische Proteste von der Bevölkerung hingenommen werden (Vgl. Boris, S.3).
Das Herzstück der mexikanischen Modernisierungspolitik bildete ohne Zweifel die schon im Anfang der Präsidentschaftsperiode von Miguel de la Madrid unter großem publizistischen Aufwand formulierte reconversión industrial. Was sind nun die Ergebnisse dieser industriellen Restrukturierung und die realen außenwirtschaftlichen Wirkungen dieser neoliberalen Modernisierung? Die erste Bilanz, bezogen auf das Wachstum des industriellen Sektors in den 12 Jahren, ist mehr als bescheiden. Es betrug im Durchschnitt der Jahre 1982-1988 nur 0,14 Prozent und erhöhte sich in der Präsidentschaftsperiode von Salinas zwischen 1989 und 1994 um circa 3,7 Prozent pro Jahr. Diese Zuwachsraten liegen damit weit unter denen der so heftig kritisierten Importsubstitutionsphase in den 50er und 60er Jahren (Vgl. Boris S.112/113). Betrachtet man die einzelnen Industriezweige, so gab es die Gewinner der Strukturanpassungspolitik (Petrochemie/Chemie/Grundstoffe/Bau- und Automobilindustrie), die Zweige, in denen sich Wachstum und Schrumpfung die Waage hielten (vor allem Konsumgüterindustrien) sowie die klaren Verlierer (Lebensmittelindustrien, Textil, Tabak, Kosmetik, Maschinenbau und Transportmittel außer Automobilbau). In der Quintessenz dieser Strukturanpassung für den industriellen Sektor ist von einer Polarisierung der Produktionsstruktur zu sprechen. So beschrieb die Zeitschrift Expansión 1987 die Situation Mexikos mit den Worten: “En medio de la crisis las 500 estan de fiesta” (Inmitten der Krise befinden sich 500 in einer Fiesta”, Boris, S.115).
Die neoliberalen Reformen haben bislang keine generelle Produktivitätsanhebung bewirken können. Reallohnabsenkung, massive Arbeitskraftfreisetzungen und Konzentration auf einige Unternehmensgruppen begründeten im wesentlichen das vielzitierte “Neoliberale Wunder” (Vgl. Boris, S.118). Auch die außenwirtschaftliche Verflechtung mit den USA hat sich in diesem Zeitraum verstärkt. 1994 kamen 69 Prozent aller Importe aus den USA (1976: 62 Prozent) und die mexikanischen Exporte gingen zu knapp 85 Prozent in die USA (1976: 56 Prozent). Dieses partielle Exportwunder verschleiert zudem, daß die ProduzentInnen – landwirtschaftliche oder industrielle – den Binnenmarkt verlieren. Es gibt einen Rückgang des Prozesses der Importsubstitution und eine zunehmende Unfähigkeit, den ausländischen Konkurrenten auf dem eigenen Markt zu begegnen (Vgl. Boris, S.132). Dazu paßt, daß sich die ausländischen Direktinvestitionen zwischen 1982 und 1993 verfünffachten (von 10,8 Mrd. auf circa 56,3 Mrd. US-Dollar) und die Bedeutung der Maquiladora-Industrie (Lohnveredelungsindustrie) in diesem Zeitraum im Grenzgebiet zu den USA dramatisch angestiegen ist; von circa 580 Betrieben mit 130.000 Beschäftigten auf 2.000 Betriebe mit rund 540.000 Beschäftigten. Das sind fast 20 Prozent aller industriellen mexikanischen Arbeitskräfte. Im Kontrast zu diesem Wachstum weisen die einschlägigen sozialen Indikatoren (Einkommensverteilung, Minimallohnentwicklung, durchschnittlicher Reallohn, Arbeitslosigkeit, Armutsausmaß) auf eine klare Verschlechterung der Lage der Masse der Bevölkerung hin (Vgl. Boris, S.137). Zwar kam es unter Salinas zu Einkommensverbesserungen, aber in 12 Jahren neoliberaler Politik wurde das Lohnniveau von 1982 nicht annähernd wieder erreicht. Auch die Einkommenspolarisierung hat sich in diesem Zeitraum zugespitzt. Während 1984 die obersten 10 Prozent im Vergleich zu den untersten 10 Prozent ein neunzehnmal größeres Einkommen erzielten, hatte sich diese Differenz 1989 auf das 24fache erhöht.
Auf weitere Aussagen in Bezug auf die Entwicklung des Agrarsektors, der Sozialstruktur und des politischen Systems muß an dieser Stelle mit Verweis auf die entsprechenden Kapitel im Buch von Dieter Boris verzichtet werden. Zum Schluß soll auf die internen krisenauslösenden Blokkierungen des Neoliberalen Modells eingegangen werden (Vgl. Boris, S.220 ff). Vordergründig stellte sich die Krise 1994 als explosive Mischung aus der staatlicherseits längerfristig hingenommenen Überbewertung des Peso, eines Leistungsbilanzdefizits, einem hohen Zinsfuß und dem starken Anstieg der Außenverschuldung über kurzfristig fällig werdende und in US-Dollar rückzahlbare Staatspapiere, sogenannte Tesobonos, dar. Diese Faktoren der Krisenauslösung sind entweder selbst direkt Ergebnis der Defizite neoliberaler Politik oder der Preis für erreichte positive Zielsetzungen (Inflationsbekämpfung) im Rahmen dieser Politik. Diese Blockierungen (Boris verweist in diesem Zusammenhang auch auf Brasilien und Argentinien, da in diesen Ländern ähnliche Faktoren wirken) sind in folgenden Punkten zu sehen:
1. Ein hoher und anhaltender Schuldendienst verhindert den Haushaltsausgleich und heizt die Inflation an.
2. Ein zum Zweck der Inflationseindämmung tendenziell fixierter Wechselkurs führt zu einer Überbewertung der nationalen Währung, damit zu einer Exportschwäche und Begünstigung der Importe – vor allem, wenn das interne Inflationstempo größer ist als das des wichtigsten Handelspartners, im Falle Mexikos der USA.
3. Dieses Passivsaldo (1994 circa 28 Mrd. US-Dollar) kann nur durch Kapitalzuflüsse (Kredite/Geldkapitalanlagen, Direktinvestitionen) kompensiert werden. Diese Zuflüsse sind zum Teil kurzfristig und hochspekulativ. Steigt irgendwo anders der Zinsfuß, so fließen die Geldanlagen wieder ab.
4. Zum Zweck der Inflationseindämmung ist die “Über”nachfrage (herrschende Meinung) über Haushaltskürzungen, Lohnkürzungen und eine restriktive Geldpolitik zu beschränken. Dies beeinträchtigt die Binnenkonjunktur und die realen Investitionen im Inneren.
Diese Faktoren führen zwangsläufig zu sich immer wieder zuspitzenden Krisen und keineswegs zu einem stabilen, sozialen und ökonomischen Wachstum.
Dieter Boris´ Buch verdient die Aufmerksamkeit aller, die sich ernsthaft mit dem Neoliberalen Modell und seinen immanenten Widersprüchen auseinandersetzen wollen. Ein vergleichbares Buch gibt es auf dem deutschsprachigen Markt nicht. Zusätzlich wünschenswert wäre ein eigener Abschnitt im Buch über die regionale Struktur Mexikos und das Militär. Beides könnte in Zukunft noch eine wichtige Frage werden, da mit dem Wachstumspol im Norden und mit den armen Provinzen im Süden ein starkes regionales Gefälle entstanden ist und sich in den Südprovinzen der Einfluß des Militärs in den letzten Monaten erheblich verstärkt hat.

Dieter Boris: Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996, 263 Seiten mit Literaturverzeichnis und Tabellen, 59 DM (ca. 30 Euro).

Es gibt keinen dritten, sondern nur einen einzigen Weg!

Die neueren Entwicklungen auf Kuba können ohne einen Rekurs auf die kubanische Historie nicht verstanden werden. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er überblicksweise die wirtschaftliche Entwicklung von 1959 bis 1989 darstellt. Dabei räumt er mit manchen durchaus verbreiteten Ansichten zum kubanischen Revolutionsverlauf auf. So war die kubanische Revolution weder in ihren politischen Zielsetzungen noch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine Revolution im marxistisch-leninistischen Sinn. Es gab keine Arbeiterpartei als Avantgarde. Die Bewegung des 26. Juli um Fidel Castro wird vielmehr als radikaldemokratische, jakobinische Gruppe kleinbürgerlichen und populistischen Ursprungs verortet. Dies erklärt auch den sozialdemokratischen Charakter des Aufstandsprogrammes, das Castro 1953 in seiner legendären Verteidigungsrede nach dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne formulierte. Noch nach 1959 beschrieb Castro die Revolution als “weder kapitalistisch noch kommunistisch”. Denn der Kapitalismus gibt den Menschen preis, der Kommunismus mit seinen totalitären Vorstellungen opfert seine Rechte.” Der Autor versteht demgemäß die kubanische Revolution als nationalen, antiimperialistischen Befreiungskampf mit sozialreformerischen Inhalten.
Die Verkündung des sozialistischen Charakters der kubanischen Revolution erfolgte erst 1961. Sie war Reaktion und nicht ursprüngliches Programm der kubanischen Revolutionäre. Reaktion auf den fundamentalen Interessenkonflikt zwischen den sozialen Inhalten der Revolution und den dazu im Widerspruch stehenden Besitzverhältnissen, denn ein großer Teil der Unternehmen sowie der landwirtschaftlichen Produktion wurde von US-Kapital kontrolliert. Reaktion auf die sich seit der Agrarreform von 1959 verschlechternden Beziehungen zu den USA, die mit der Invasion in der Schweinebucht 1961 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.

Zwischen CEPAL und Sowjets

Die kubanische Entwicklungsstrategie war in den ersten Jahren von den Positionen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) und von sowjetsozialistischen Entwicklungsmodellen geprägt. Die Überwindung der strukturellen Abhängigkeit vom Zucker und damit vom Außenhandel stand im Zentrum. Erreicht werden sollte dies durch eine Diversifikation der landwirtschaftlichen Produktionspalette, eine beschleunigte Industrialisierung sowie einen Ausbau der sozialen Sektoren mit dem gemeinsamen Ziel, Importe zu ersetzen und somit die Außenhandelsabhänigkeit zu reduzieren. Burchardt macht eine fehlende Koordination der Produktionsumstellung in der Landwirtschaft und die Vernachlässigung der Zuckerproduktion als Ursachen des Scheiterns dieser Strategie aus.
Ab 1964 wurde wieder dem Zuckersektor Priorität eingeräumt. Preis- und Abnahmegarantien seitens der Sowjets ließen den Zuckersektor vom Hemmschuh zum Hoffnungsträger avancieren. Durch seine als Agroindustrialisierung bezeichnete Modernisierung sollte das für eine Industrialisierung notwendige Kapital erwirtschaftet werden. Den Höhepunkt dieser Strategie bildete die gran zafra (große Ernte) von 1970. Utopische 10 Millionen Tonnen Zukkerrohr wurden als Produktionsziel vorgegeben. Alle Ressourcen wurden auf dieses Ziel hin mobilisiert. Trotz einer Rekordernte von 8,5 Millionen wurde das Ziel verfehlt. Mit fatalen Folgen: Die Wirtschaft lag am Boden und mit ihr das kubanische Volk, dessen immenser Arbeitseinsatz nicht von Erfolg gekrönt war.
Kennzeichen dieser ersten 10 Revolutionsjahre ist nach Ansicht des Autors ein zentrales und bis heute gültiges inneres Strukturmerkmal: “Eine aus spezifischen historischen Bedingungen entstandene zentralisierte Macht- und Herrschaftskonzentration in der Form einer militärischen Kommandostruktur, die vor allem in Krisensituationen ihre Dominanz über alle sozioökonomischen Sphären präsentierte.”
Nach dem Scheitern der gran zafra erfolgte ein erneuter Kurswechsel. Die Mechanisierung und Rationalisierung der Zukkerproduktion wurde als zentrales Entwicklungsziel postuliert. Die mit dem Zucker eng verbundenen Produktionsbereiche sollten auf hohem Niveau stabilisiert – und zudem nachgelagerte Wachstumspole in der Landwirtschaft und der Industrie aufgebaut werden. Der Eintritt in den Rat gegenseitiger Wirtschaftshilfe (RGW) 1972 und die sukzessive Übernahme sowjetischer Lenkungsmethoden bildeten weitere Schritte in Richtung Übernahme des sowjetsozialistischen Modells. Relativ hohe jährliche Wachstumsraten von 3,5 bis 7 Prozent bis 1985 schienen die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zu bestätigen. Eine stagnierende Binnenproduktion und fallende Zuckerpreise bereiteten der von den KubanerInnen als “Jahre der fetten Kuh” (1980-85) bezeichneten Phase ein Ende. Ein zweites zentrales inneres Strukturmerkmal wurde laut Burchardt spätestens jetzt überdeutlich. Das Vorherrschen extensiver Produktionsformen, die insbesondere durch geringe Arbeitsproduktivität und geringe Effizienz charakterisiert sind. Die Notwendigkeit intensiven Wachstums wurde offensichtlich. Zu diesem Zweck wurde das sowjetsozialistische Modell ab 1986 nun einer Korrektur, der sogenannten rectificación unterzogen. Aufrufe zur Massenpartizipation, moralische Appelle, rhetorische Entbürokratisierungskampagnen, Anti-Korruptionspolitik und der Abbau bisheriger Lenkungsmechanismen läuteten die Korrektur ein. Die Ausschaltung von Marktmechanismen wurde zum Fixpunkt der neuen Entwicklungsstrategie. Zudem wurde die staatliche Wirtschaftslenkung rezentralisiert. Die qualitativen Wachstumsziele wurden indes verfehlt. Steigende Abwesenheit vom Arbeitsplatz ging mit sinkender Arbeitsproduktivität einher. Der Zusammenbruch des RGW nach 1989 beendete diese Phase abrupt und ließ grundlegende Reformen dringlich werden.

US-Blockade versus Sowjet-Hilfe

Neben den beschriebenen zentralen inneren Strukturelementen des kubanischen Reformprozesses arbeitet Burchardt zwei zentrale äußere Strukturelemente heraus. Da ist zum einen die US-Blockade, deren Kosten in Geldwerten schwer zu fassen ist. Klar ist hingegen, daß Kuba durch die Blockade bis 1990 kaum Alternativen zum sowjetischen Entwicklungsmodell hatte und sich seitdem die entwicklungshemmenden Wirkungen verstärkt haben, da kompensatorische Effekte aufgrund sowjetischer Hilfe nun entfallen. Zudem konterkarieren die USA durch den Druck auf potentielle Handelspartner den Versuch Kubas, sich politisch und wirtschaftlich in die Region zu reintegrieren. Innenpolitisch wird der Strukturkonservatismus, der die Reformen kennzeichnet, durch die Blockade noch verstärkt. Wenn eine falsche Entscheidung alles kosten kann, werden nur vorsichtige Reformschritte unternommen. Der Reformprozeß kommt nur langsam voran.
Als zweites äußeres Strukturmerkmal macht Burchardt den massiven externen Ressourcenzufluß aus. Über die Einbindung in den RGW erlangte Kuba Kredite und direkte Wirtschaftshilfen in beträchtlichem Ausmaß. Durch den RGW-Handel konnte es so nach offiziellen Angaben seine Importkaufkraft verdoppeln. Umso stärker traf die Insel der Zusammenbruch des RGW und damit der Verlust von zwei Dritteln der Absatzmärkte und sämtlicher Kreditgeber. Eine schwere binnenwirtschafliche Krise folgte, der die Regierung mit Reformen zu begegnen versuchte.

Von Reformen und anderen Unbekannten

Nachdem sich die Außenhandelskrise bereits deutlich abzeichnete, verkündete die kubanische Regierung im August 1990 den período especial in tiempos de paz (Sonderperiode in Friedenszeiten). Mit diesem Notstandsprogramm sollte eine weitere Verschärfung der Krise vermieden und die wirtschaftliche Erholung eingeleitet werden. Dabei standen vier Ziele auf der Prioritätenliste. Eine totale Rationierung aller verfügbaren Güter und Dienstleistungen sollte den Fortbestand der egalitären Versorgung sichern. Die sozialen Errungenschaften im Bildungs- und Gesundheitswesen, die politische Stabilität und die nationale Unabhängigkeit sollten aufrechterhalten werden. Des weiteren sollten die Importverluste durch gezielte Spar- und Importsubstitutionsmaßnahmen abgemildert werden. Schließlich wurde durch den Handel mit traditionellen Exportgütern sowie einer verstärkten Exportdiversifizierung (pharmazeutische Produkte) eine Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft angestrebt.
Burchardt beschreibt diese neue Wirtschaftspolitik als eine Kriegswirtschaft mit zentral gesteuerter Ressourcenlenkung und -verteilung. Dabei wurde die Wirtschaft in zwei Segmente aufgeteilt: ein nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktionierender Exportsektor kontrastierte mit einem nachgeordneten planwirtschaftlich organisierten Binnensektor. Dieser sollte mittels Subventionen über die Krisenphase hinübergerettet werden. Ein grundlegender Strukturwandel blieb aus. Vielmehr sollte die Gesamtwirtschaft allein durch den Devisensektor stabilisiert werden. Eine graduelle Weltmarktöffnung einzelner Wirtschaftszweige bildete das Fundament der neuen Wirtschaftsstrategie. Im Rahmen der apertura (Öffnung) wurden ausländische Direktinvestitionen und Joint-Ventures zugelassen, die Tourismusindustrie und Forschungszentren ausgebaut sowie rechtliche und politische Rahmenbedingungen angepaßt.

Scheitern der ersten Reformetappe

Im Herbst 1993 scheiterte auch diese Strategie. Verschiedene Fehlentwicklungen und Strukturdefizite werden vom Verfasser als Ursachen herausgestellt. Die Deviseneinnahmen schrumpften aufgrund eines Einbruchs in der Zuckerproduktion. Die anderweitig zu verzeichnenden Erfolge in der Weltmarktintegration reichten nicht aus, um auch nur die Devisen für das minimale Importvolumen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft bereitzustellen. Gleichzeitig scheiterte auch das 1990 gestartete Programm zur Importsubstitution (programa alimentaria) in der Lebensmittelproduktion. Ein erhöhter Importbedarf an Lebensmitteln und an Erdöl stand nun erheblich verringerten Deviseneinnahmen gegenüber. Mit der Legalisierung des Dollarbesitzes als Zweitwährung reagierte die Regierung auf die drohende Liquiditätskrise. Über diese Maßnahme sollten die Schwarzmarktdollars und die Dollarüberweisungen aus den USA angezapft werden. Für Burchardt markiert diese Dollarlegalisierung das Scheitern der bisherigen Reformschritte, mußte die Regierung nun doch zum ersten Mal offiziell das von ihr vertretene Gleichheitsprinzip aufgeben. Schließlich verfügt vermutlich nur ein Fünftel der Bevölkerung über ein regelmäßiges Deviseneinkommen. Brisant wird die Dollarlegalisierung dadurch, daß zwei besonders staatsloyale Gruppen diskriminiert werden. Die Funktionsträger, die während des Kalten Kriegs alle Verbindungen zum westlichen Ausland abbrachen und die ehemals schwarze Unterschicht, aus der nur wenige in die USA emigrierten.
Dennoch gab es zur Dollarfreigabe nach Meinung des Verfassers zu diesem Zeitpunkt keine Alternative. Die Freigabe war zwangsläufige Folge einer strukturkonservativen Anpassungsstrategie, die durch den trägen Reformverlauf die kritische Situation heraufbeschwor.
Eine zusammenhängende Strategie eines qualitativen Strukturwandels blieb während der ersten Reformetappe 1990-93 also aus. Das System hatte sich nicht gewandelt, sondern lediglich ausgedehnt. Die soziale und politische Stabilität des Systems konnte jedoch aufrechterhalten werden. “Die Existenz einer offensichtlich hochgradigen Einheit des sozialen und nationalen Konsens” wird so von Burchardt als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal des Umbruchs festgemacht.

Wandel statt Wende

Während in der theoretischen Reformdiskussion ab 1993 einem fundamentalen Systemwandel das Wort geredet und für eine dauerhafte Einführung von Marktmechanismen plädiert wurde, machte die Regierung klar, daß die Marktmechanismen nur vorübergehend zur Rettung des Sozialismus angewandt werden sollten. Dennoch wurden zentrale Strukturmerkmale als Folge weitergehender Reformen teilweise reformiert und umgestaltet: die Zentralverwaltung und die extensive Produktion. In erster Linie sind hier die Zulassung des Privatgewerbes, die Kooperativierung der staatlichen Agrar- und Zuckerbetriebe und die Wiederzulassung der freien Bauernmärkte nach den Unruhen im Sommer 1994 zu nennen. Indirekte Regulierungsformen wie Steuern ergänzen nun die direkten Kontrollmechanismen der Zentralverwaltung. Extensive Produktion wurde zum Teil durch arbeitsintensive Produktionsformen ersetzt. Allerdings läßt sich darin nach Burchardt noch keine zusammenhängende Reformstrategie erkennen. Daß die zweite Reformetappe über die erste hinausgeht, ist seiner Ansicht nach dem steigenden Reformdruck geschuldet. Eine offensive Transformation der Strukturelemente läßt indes weiter auf sich warten. Zwar kann die zweite Reformetappe schon als qualitativer Transformationsprozeß bezeichnet werden, aber eben nicht als zusammenhängender. In einer Währungsreform am Anfang und einer anderen Abfolge der Reformschritte hätte nach Burchardt eine zusammenhängende Alternative bestehen können. Das Ergebnis eines solch alternativ-fiktiven Reformverlaufs bleibt natürlich spekluativ. Klar ist jedoch, daß der unkoordinierte, tatsächliche Reformverlauf zu einer sozialen Fragmentierung geführt hat, die den weiteren Umbruch gefährdet. Den ReformgewinnlerInnen aus dem informellen und Privatsektor sowie den im Devisensektor Beschäftigten stehen die ReformverliererInnen gegenüber. Die letzteren sind in der Mehrheit und setzen sich aus den öffentlichen Angestellten, den schlechtverdienenden Industrie- und LandarbeiterInnen sowie den Kooperativisten zusammen. Der voher als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal ausgemachte soziale Konsens beginnt so zu erodieren. Bisher ist es der Regierung gelungen, durch ihr Monopol auf die politische Macht die Integrität des Systems trotz divergierender sozialer Interessen zu sichern. Burchardt hält aber eine umfassende ökonomische Wende für unabdingbar, weil eine sich fortsetzende Spaltung der Gesellschaft durch die Regierung dauerhaft kaum aufgefangen werden könnte.

Perspektiven statt Spekulationen

Wie eine solche umfassende ökonomische Wende aussehen könnte, beschreibt Hans-Jürgen Burchardt in seinem abschließenden Kapitel. Eine zusammenhängende Entwicklungsstrategie müßte demnach zwei grundlegende Faktoren berücksichtigen: Zum einen müßten vorhandene produktive Kräfte in der Binnenwirtschaft mobilisiert werden, zum anderen müßten neue entwickelt und im Weltmarktkontext eingesetzt werden. Als theoretischen Hintergrund benützt der Autor das Konzept der assoziativ-autozentrierten Entwicklungsstrategie. Dieses Konzept hat drei entwicklungstheoretische Imperative abgeleitet: eine zeitweise Abkopplung vom Weltmarkt durch Protektionismus, eine breitenwirksame Erschließung der Binnenmärkte und eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation. Dabei wird das Konzept ausdrücklich nur als theoretischer Orientierungspunkt verstanden, eine Allgemeingültigkeit dieses Konzepts dagegen zurückgewiesen.
Die Landwirtschaft müßte demnach in der zukünftigen Entwicklungsstrategie Priorität erhalten. Dort könnten Produktivitätssteigerungen ohne massiven Ressourceneinsatz realisiert werden. Große Bedeutung käme auch dem Zucker zu. Aber nicht mehr in erster Linie als Exportprodukt, sondern vielmehr als Ressourcenträger. So könnte Papier auf der Basis von Zuckerrohrbagasse hergestellt werden. Die dazu benötigte Technologie wurde bereits entwickelt.

Zukunft des Sozialismus

Burchardt geht jedoch über die Forderung nach einer ökonomischen Wende für Kuba hinaus. Er begibt sich generell auf die Suche nach einer Alternative zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus. Im Mittelpunkt einer neuen Sozialismuskonzeption steht für ihn die Demokratisierung der betrieblichen Sphäre, die die ProduzentInnen gemeinsam zum unmittelbaren Eigentümer ihrer Produktionsmittel macht. Diese Demokratisierung vermochte der Staatssozialismus nicht zu leisten. Ein solcher Marktsozialismus würde als zentrale Komponente die Verknüpfung von demokratisierten Wirtschaftsunternehmen in verschiedenen Eigentumsformen und eine gesamtwirtschaftliche Steuerung durch einen demokratisierten, dezentralen Staat beinhalten.
Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs zum Kapitalismus bleibt für Burchardt somit weiter auf der Tagesordnung. In der gemeinsamen bewußten Überwindung des Kapitalismus im Norden wie im Süden sieht Burchardt die Zukunft der Weltgesellschaft. Ein einsamer Rufer in der Wüste oder doch mehr. Zumindest ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur Kuba-Interessierten ausgiebige Einblicke verschafft, sondern die Diskussion um gesellschaftliche Gegenentwürfe neu beleben könnte.

Hans-Jürgen Burchardt: Der lange Abschied von einem Mythos. Schmetterling Verlag, Stuttgart 1996. 264 Seiten. 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Der Rock, der aus dem Barrio kommt

Es ist ihre erste Auslandstournee überhaupt. Allerdings waren LOS MOJARROS bisher im eigenen Land überaus beschäftigt: Erst 1992 hatten sie ihr erstes Konzert, und schon ein Jahr später wurden sie eingeladen, die Musik für den Film “Anda, corre, vuele…” (Geh, lauf, flieg…) zu produzieren. Seither können sie über mangelnde Popularität nicht klagen. 1994 und 1995 machten sie die Musik für zwei beliebten Fernsehserien, und ihre CDs und Videos stehen in den Hitlisten weit oben.
Damit scheint zu gelingen, was LOS MOJARROS sich vorgenommen haben. Denn bisher war Rock in Peru eher eine Sache für Reiche, nichts für die Leute “aus dem Viertel”. In ihrer Musik wollen sie diesen Riß zwischen “weißem” Rock und der populären Musik, die eher von Mestizen und Indígenas gehört wird, kitten – es ist ein Riß, den sie als Mestizen am eigenen Leibe erfahren. Die Traditionen ihrer Vorfahren gehören genauso zu ihnen wie die Kultur der Großstadt. Um die alltäglichen Erfahrungen der Zerrissenheit geht es in ihren Texten, und aus der Musik kann man das heraushören. Sie sind auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, natürlich nach Liebe, und nach soetwas wie Identität der jungen PeruanerInnen.
Ihre Musik bezeichnen sie selbst als mestizisch. Populäre Rhythmen wie Chicha, Huayno, Salsa und Vals werden aufgegriffen und mit frischem, druckvollem Rock gemischt. Dieses Konzept scheint anzukommen, denn es entspricht der Lebenswirklichkeit von Tausenden, die aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen sind – ebenso wie die Vorfahren der Band-Mitglieder. Sie wissen also, wovon sie reden. “Das Gute an LOS MOJARROS ist, daß wir die breite Masse verstehen, ohne darüber nachdenken zu müsen, weil wir Teil von ihr sind”, so Hernán Condori, Chef der Gruppe.
Auf ihrer Tournee durch Deutschland stellen sie ihre neue CD vor: “Opera salvaje para tribus urbanos”, Wilde Oper für Stadtvölker. 1997 geht es dann weiter mit einer Rockoper, die unter anderem beim Festival des lateinamerikanischen Theaters “Theater Adelante” in den USA gespielt werden soll.
Übrigens: Der Film “Anda, corre, vuele…” ist eine Koproduktion mit dem ZDF. Die deutsche Fassung hat den Titel “Gregorio und Juliana” und wird parallel zur Tournee in 19 deutschen Städten gezeigt.
P.S.: Es ist bedauerlich, daß die Tournee nicht auch irgendwo in Neufünfland Station macht. Sei es, daß das am mangelnden Engagement der Organisatoren oder an fehlender Bereitschaft der Kulturleute vor Ort liegt – Interesse an lateinamerikanischem Rock besteht nicht nur in Tübingen, Hamburg & Co.

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