“Ich hatte Pfirsichgeschmack im Mund”

Silvester 1969: eine ereignisreiche Dekade neigt sich dem Ende zu. Carlos Fuentes, damals 41jährig, trifft auf die zehn Jahre jüngere Jean Seberg. Im Roman heißt sie Diana Soren, so wie fast alle Personen, außer Luis Buñuel, innerhalb des Romans andere Namen tragen. Es ist die bewährte Liebe auf den ersten Blick, nur daß seine Frau dabei ist. “Ich sah sie an. Sie sah mich an. Luisa sah uns an, wie wir uns ansahen.” Letztere daraufhin: “Ich glaube, wir müssen gehen.” Das macht sie dann auch, allerdings alleine, denn jetzt, im erst ein paar Stunden alten 1970, entspannt sich die heftige Liaison zwischen Carlos und “Diana”, die er auch anschaulich beschreibt. Wir erfahren, von Vaginalsalben diverser Geschmacksrichtungen, vom Vorspiel bis hin zu Unterhaltungen, so allerhand in schonungsloser Offenheit. Später, es läuft schon nicht mehr ganz so blendend, sie zu ihm: “Verehrter Herr, Sie haben zwei Wochen lang Ihr Vergnügen gehabt. Wann denken Sie daran, für meines zu sorgen?”
Carlos Fuentes erzählt, im Unterschied zu vielen früheren Romanen, in diesem Buch durchweg verständlich, teilweise eindringlich. Die Liebe wechselt in den zwei Monaten nur einmal den Ort, vom Hilton in Mexiko-Stadt nach Santiago in die Provinz. Dort haben die beiden Metropoliten teilweise ähnliche Probleme. Man bekommt nicht die richtigen Zeitschriften, Kosmetika, später läßt sie ihm seine Lieblingszahnpasta “El Capitano” aus Italien extra kommen. Wenig Ablenkung, umso mehr Intimität. Allerdings kommt dann später doch die Krise, und es beginnt – wie so häufig – mit einer aufgelassenen Tür.
Lange Rede, kurzer Sinn: Carlos der Erste wird abgelöst von Carlos dem Zweiten, einem, der die Revolution konkreter vorantreibt. Sie: “Ich hatte geglaubt, du wärest ein richtiger Revolutionär. Jemand, dessen Worte und Werke übereinstimmen. Aber das ist nicht wahr. Du schreibst, doch du tust nichts. Du bist wie die liberalen Yankees.” Klatsch, das war’s dann wohl. Der Vorwurf trifft ihn voll, das merkt man.
“Die heilige Johanna”, wie sie nach einem gleichnamigen Film von 1957 genant wird, unterstützt später die Black Panther, spielt noch in einigen Filmen mit, schreibt Bücher. 1979 wird ihre Leiche in einem Renault in Paris gefunden. Bis heute ranken sich Spekulationen um ihren Tod. Fuentes beschreibt einerseits ihren psychischen Verfall, verweist andererseits aber auch auf das FBI, das 1980 zugab Verleumdungskampagnen gegen Anhänger “unpopulärer Bewegungen” initiiert zu haben.
So wird aus diesem persönlichen Enthüllungsroman auch das – wenngleich nur skizzenhafte – Portrait einer Epoche. Noch heute blickt Fuentes mit einem zärtlichen Gefühl auf diese Idealistin und denkt mit Wehmut an die Anfänge der 70er zurück: “Arme Diana, die so stark war, daß sie keinen Schutz gegen die Schwächen der Welt besaß.”

Carlos Fuentes: “Diana oder Die einsame Jägerin.” Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1996. 240 Seiten; 39,80 DM (TB, Fischer 1998, 8,90 Euro)

Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren

Die Mission endete tragisch. “Dies ist die Geschichte eines Scheiterns. Sie begibt sich hinab in anekdotische Details, wie es sich für Episoden aus Kriegen gehört, doch geprägt ist sie von Beobachtungen und kritischen Einschätzungen. Denn ich glaube, wenn diese Erzählung irgendeine Bedeutung hat, so die, daß sie einige Erfahrungen vermittelt, die für andere revolutionäre Bewegungen von Nutzen sein können. Der Sieg ist eine große Quelle positiver Erfahrungen, aber ebenso ist es die Niederlage, und dies meiner Ansicht nach um so mehr, wenn die handelnden Personen Ausländer sind, die ihr Leben in unbekanntem Territorium aufs Spiel gesetzt haben, in einem Land mit einer anderen Sprache, mit dem sie nur die Bande des proletarischen Internationalismus teilten, um eine Methode zu begründen, wie sie in den modernen Befreiungskriegen noch niemals angewandt worden ist.” Dies beschreibt Che Guevara selbst in einem Typoscript, das bisher nicht veröffentlicht wurde und das dem kürzlich bei der Edition ID-Archiv Berlin verlegten Werk zugrunde liegt.
Dieses Typoscript bildet den Leitfaden der zu einer interessanten Lektüre gestalteten Chronik des anti-imperialistischen Engagements Ché Guevaras in Zentralafrika. Dem Autoren-Trio Paco Ignacio Taibo II, Froilán Escobar und Félix Guerra ist es gelungen, aus Tagebuchnotizen, Interviews mit Kongo-Kämpfern und Hintergrundinformationen eine spannende Geschichte zu spinnen. Das verwundert nicht. Zwar sind die Kubaner Froilán Escobar und Félix Guerra hierzulande unbekannt, in Lateinamerika gelten sie jedoch als Kenner der Materie. Schließlich haben sie zusammen schon drei Bücher über Che Guevara publiziert. Und der dritte im Bunde, der Mexikaner Paco Ignacio Taibo II, hat sich nicht zuletzt durch seinen Roman “Vier Hände” als Kriminalautor in Deutschland einen Namen gemacht.
“Wenn diese Notizen veröffentlicht werden, wird viel Zeit seit ihrer Aufzeichnung vergangen sein, und vielleicht wird der Autor für das, was hier gesagt wird, nicht mehr verantwortlich gemacht werden können. Die Zeit wird viele Wunden geheilt haben, und wenn ihr Erscheinen noch irgendeine Bedeutung hat, mögen die Herausgeber die Korrekturen anbringen, die sie für nötig halten, um im Lichte der inzwischen vergangenen Zeit Klarheit in die Meinungen und Ereignisse zu bringen.” (Che Guevara, 1966). Das haben Paco Ignacio Taibo II, Froilán Escobar und Félix Guerra getan. Erzählt wird die Geschichte von Treffen Che Guevaras mit afrikanischen Staatschefs und Führern progressiv-nationalistischer Befreiungsbewegungen, von Vorbereitungen für die geplante Entsendung einer kubanischen Brigade, Schwierigkeiten bei der kulturellen Annäherung zwischen kubanischen und kongolesischen Kämpfern, kurzen Gefechten, Verlusten, vom schließlichen Rückzug und der Heimkehr nach Kuba.
Mit “Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren” wird eine Lücke in Che Guevaras Biografie geschlossen. Dennoch bleiben Fragen offen. Die Autoren wurden seitens der Kritik nicht nur mit Lorbeeren überschüttet. Obwohl sie mit der Veröffentlichung bisher unbekannter Tagebuchnotizen Guevaras (Originaltitel: “Passagen des revolutionären Krieges. Der Kongo”) den Spielraum für neue Interpretationen des Internationalismus-Entwurfs Che Guevaras eröffnen, geht das einigen offenbar nicht weit genug. In einem im doppelten Wortsinn einseitigen Artikel vom 24. September 1996 in der “tageszeitung” greift Gastautor Reynaldo Escobar das Autoren-Trio gleich von zwei Seiten an. Einerseits kritisiert er, daß sie nur bestimmte Teile der Aufzeichnungen des Che veröffentlicht hätten: “Und gerade, daß die Verfasser nicht den vollständigen Text von Chés Kongo-Manuskript, sondern nur Fragmente daraus zitieren, macht die Frage umso interessanter, was in dem zurückgehaltenen Rest steht.” Andererseits, und das ist die zentrale Aussage des mit “Mission Kongo: Gesang auf die Niederlage” betitelten Artikels, sei eine Veröffentlichung nur im Einverständnis Fidel Castros möglich gewesen und wahrscheinlich auch im Auftrag desselben erst erstellt worden. Ein schwerwiegender Vorwurf, den Escobar weder beweisen, noch überzeugend begründen kann. Keinesfalls sollte mensch sich jedoch dadurch von der Lektüre dieses Buches abhalten lassen.

Paco I. Taibo II, Froilán Escobar, Félix Guerra: Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren. Ernesto Che Guevara und die afrikanische Guerrilla, Edition ID-Archiv, 253 S. 29,80 DM (ca. 15 Euro).

“Das Gespenst ist lebendig”

Paco, hier in Deutschland bist Du vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt. Was hat Dich an der Fertigstellung dieses Buches über den Che in Afrika am meisten gereizt?

Zum einen war es die Art und Weise der kriminalistischen Untersuchung. Andererseits ist es die Liebe zur Figur des Che, die Notwendigkeit, den Che zu entmystifizieren, um ihn re-mystifizieren zu können, einen neuen Mythos aus Fleisch und Knochen zu schaffen. Es geht darum, diese fotografische Ikone von der Inhaltsleere zu befreien, die T-Shirts und Poster mit Inhalt zu füllen. Ich glaube, daß genau dies eine wichtige Aufgabe ist, nicht nur für meine Generation.
Immer wenn ich beginne über das Thema zu reden, entdecke ich, daß es eine richtige Leidenschaft seitens der jüngeren Generation gibt, herauszufinden, was hinter dieser Ikone steckt: der unmögliche Revolutionär und Abenteurer – oder eine Person aus Fleisch und Blut, mit Widersprüchen, Irrtümern und Vorschlägen. Und natürlich geht es um das Interesse an einer noch nie erzählten Geschichte. Man fragt sich, warum sie bisher noch nicht erzählt wurde. Vor allem, wenn man der ureigensten Logik des Che folgt: Die Geschichte darf nicht schweigen, man muß sie erzählen. Eine Position, die auch der Che vertreten hat: Schreiten wir mit der Wahrheit voran, komme was wolle.

Warum wurden nur Teile aus Che Guevaras Aufzeichnungen veröffentlicht und nicht der gesamte Text?

Das ist schnell gesagt: Das entscheidende Kriterium war die historische Information. Alle Texte des Che, die uns wichtig erschienen, sind abgedruckt. Diejenigen, in denen Che Geschichten aus zweiter Hand erzählt und zu denen wir direkte Zeugen zur Verfügung hatten, fielen raus. Wenn zum Beispiel Che von einer Geschichte schrieb, die ihm sein Mitkämpfer Viktor Dreke erzählt hat, lassen wir diesen zu Wort kommen. Denn Victor Dreke lebt und kann die Ereignisse selbst schildern.

In der “tageszeitung” vertrat der kubanische Journalist Reynaldo Escobar die Auffassung, das Buch sei wohl ein Auftragswerk Fidel Castros, da nur dieser selbst die Publikation von Ches Aufzeichnungen genehmigen könne. Was denkst Du darüber?

Die Frage ist doch: Woher will der Verfasser des Artikels das denn wissen? Falls sich Fidel entschlossen hätte, das Tagebuch des Che zu veröffentlichen, hätte er das getan. Er hätte nicht uns als “U-Boote” mit einem Manuskript vorschicken müssen. Woher will der Journalist wissen, wie das Manuskript in unsere Hände gelangt ist? Er weiß es nicht.
In Kuba existiert eine sehr zentralisierte Herangehensweise gegenüber diesen Themen der geschichtlichen Debatte. Aber Kuba ist ein Land, in dem die Leute sich unterhalten, sich gegenseitig Sachen erzählen, in dem die Geschichte lebendig ist. Was man nicht mithilfe von Freunden im Staatsapparat löst, gelingt mithilfe von unzähligen Bekannten, mit compinches und compadres, die den Che ebenfalls bewunderten.
Ich traf bei meinen Recherchen in Kuba auf zwei völlig unterschiedliche Reaktionen: auf der einen Seite Funktionäre, die mir alle Türen versperrten, mich beleidigten und mir vorhielten, ich wolle nur die Figur des Che gegen die von Fidel ausspielen. Andere wiederum waren sehr hilfsbereit, öffneten die Schubladen und zeigten uns die Dokumente, die uns von den anderen verweigert worden waren.

Das Buch ist sicher wichtig für eine Neubewertung des philosophischen und politischen Denkens Che Guevaras. Aber haben denn seine Auffassung von Internationalismus und seine Utopie vom Neuen Menschen fast 30 Jahre nach seinem Tod noch Relevanz?

Eine Gesellschaft ohne Utopie ist eine absterbende Gesellschaft. Das philosophische Gedankengut der Konservativen benötigt keine Utopien. Es operiert unter einer Logik der Verfälschung: Du streichst die alltägliche Realität grün an, und verkaufst sie weiter. Das reaktionäre Denken braucht keine Utopie, es braucht nur eine Verkleidung der Realität.
Die Linke jedoch kann ohne die Formulierung einer Utopie, die den gegenwärtigen Alltag mit der Idee der Zukunft verknüpft, nicht überleben. Deshalb ist die Suche nach einer komplexen Utopie so wichtig: simple Utopien – schwarz-weiß gefärbt und verlogen – gibt es genug. Ich glaube, daß uns Che in zweifacher Hinsicht Material bietet, anzufangen nachzudenken: Seine Idee von Gerechtigkeit und die Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Dies waren zwei zentrale Elemente in Ches alltäglichem und politischem Leben. Man muß nicht nur betrachten, was er sagt, sondern auch, was er macht. Das ist fundamental für die Reformulierung eines utopischen Denkens.

In Mexiko erschien vor wenigen Tagen eine umfangreiche Che-Biographie von Dir. Welchen Stellenwert hat darin die Kongo-Episode?

Die Kongo-Episode nimmt darin einen wichtigen Platz ein. Wichtiger noch ist jedoch die Geschichte des Che als Industrieminister. Diese Geschichte ist niemals in geordneter Weise dargestellt worden. Was machte Che dreieinhalb Jahre im Industrieministerium? Welches industrielle Modernisierungsmodell entwarf er? Wie sah seine Beziehung zu den ArbeiterInnen aus? Wie kämpfte er gegen die Bürokratie? Obwohl die Industrieminister-Tagebücher noch nicht veröffentlicht wurden, konnte ich all’ diese Probleme in lebendiger Form diskutieren, da ich Einblick in die Akten der Direktion des Ministeriums bekam.

Sowohl die “Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung” (EZLN) als auch das seit kurzem agierende “Revolutionäre Volksheer (ERP) beziehen sich auf den Che. Gibt es in Mexiko eine Renaissance guevaristischer Ideen?

Dies bedeutet doch vor allem, daß das Gespenst lebendig ist. Diese Renaissance gibt es jedoch nicht nur bei den bewaffnet kämpfenden Gruppen, sondern auch und vor allem auf der Ebene der städtischen Bewegungen, die das Problem der Gerechtigkeit debattieren, den Stil der Machtausübung. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, den Che nicht auf den Guerrilla-Krieg zu reduzieren, auf eine Methodik. Wenn Du das tust, verwandelst Du ihn eine Guerilla-Option mit ziemlich abenteuerlichem und avantgardistischem Zuschnitt; mit Konzepten, wie sie in den siebziger Jahren formuliert wurden. Das ist sehr dürftig. Die historische Distanz darf den Blick nicht überschatten; die Vergangenheit darf nicht mechanisch in die Gegenwart übertragen werden. Es gibt viele Ches, man muß sie alle sehen, nicht nur einen.

Berlin, 11. Oktober 1996

Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald

“Also gut. Salud und guten Appetit. Die Lektüre ist eine Nahrung, die glücklicherweise nie sättigt.” (Subcomandante Marcos)
Mit den “Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald” stellt Edition Nautilus wesentliche Schriften der mexikanischen Guerilla vor. Die Textauswahl umfaßt die Zeit vom Aufstandsbeginn bis zum 503. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas am 12.10.1995 und vermag auch ohne Begleitkommentare einen spannenden und lehrreichen Überblick über Ursachen und Verlauf der bewaffneten Rebellion zu vermitteln. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Anthologie politischer Pamphlete, sondern – und das macht den besonderen Reiz der Lektüre aus – um Literatur. Gerade dieser Aspekt, die brutale Beschreibung alltäglicher Erfahrungen und die humorvolle, oftmals selbstironische Bewertung aktueller Ereignisse, macht die Zeugnisse aus der Feder des Subcomandante Marcos so wertvoll. Offizielle Erklärungen der Generalkommandantur der EZLN, Grußworte an die Gründungsversammlung des Nationalen Demokratischen Konvents (CND) und die Internationale Solidarität, Briefe an SchriftstellerInnen und Gewerkschaften, Analysen über Wesen und Art des Neoliberalismus, Ausflüge zu Traditionen und Visionen indigener Völker und surrealistische Exkursionen des Zapatistensprechers bilden einen Lesestoff, der fasziniert und gleichzeitig zum Nachdenken anregt:
“Der Vizekönig träumt, daß sein Land von einem fürchterlichen Wind durchgeschüttelt wird. Daß ihm weggenommen wird, was er geglaubt hat. Daß sein Haus zerstört wird und das Reich, das er regiert, untergeht. Er träumt und kann nicht schlafen. Also geht der Vizekönig zu seinen feudalen Herren, und die sagen ihm, sie hätten dasselbe geträumt. Der Vizekönig findet keine Ruhe, er sucht seine Ärzte auf und die sagen ihm, es handele sich um indianische Hexerei. Und sie entscheiden, er könne sich nur mit Blut von diesem Fluch befreien. Und der Vizekönig befiehlt, zu töten und einzukerkern und baut mehr Gefängnisse und Kasernen und der Traum raubt ihm weiterhin den Schlaf. In diesem Land träumen alle. Es ist Zeit aufzuwachen. Der Sturm… den es gibt. Er wird geboren aus dem Zusammenstoß der Winde, schon naht seine Zeit, der Ofen der Geschichte wird angeheizt. Jetzt herrscht der Wind von oben, schon kommt der Wind von unten, schon naht der Sturm. So wird es sein. Die Prophezeiung… die es gibt. Wenn der Sturm nachläßt, wenn Regen und Feuer die Erde wieder in Frieden lassen, wird die Welt nicht mehr die Welt sein, sondern etwas Besseres.” (Subcomandante Marcos)
Nicht unerwähnt bleiben darf, daß das Autorenhonorar dem Solidaritätsfond des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkomandantur der EZLN – zugeführt wird.

Subcomandante Marcos: Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Edition Nautilus, Hamburg 1996, 250 Seiten, 29,80 DM (ca. 15 Euro)

Keine Verhandlungen in Sicht

Sie kamen abends um halb acht. Mit Granatwerfern, Panzerfäusten und MG-Salven nahmen Ende August 500 Guerilleros der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) das Militärlager Las Delicias im kolumbianischen Amazonasbecken unter Dauerbeschuß. Bilanz: 27 Tote, 16 Verletzte und 60 Kriegsgefangene.
“Das war der schwerste Einzelschlag gegen Regierungstruppen in diesem Jahrhundert”, meint Antonio Navarro Wolff, gewählter Bürgermeister der Provinzhauptstadt Pasto. Der hagere Politiker weiß, wovon er spricht: In den achtziger Jahren war er führendes Mitglied der Guerilla-Organisation M-19 (Bewegung 19. April), die schließlich mit der Regierung Frieden schloß und als Partei zunächst überraschende Wahlerfolge verbuchen konnte. Mittlerweile ist die M-19 zu einer sozialdemokratischen Splittergruppe mit einer einzigen Vertreterin im Kongreß geschrumpft – allzuschnell hatte sie sich durch Ministerposten und andere Verlockungen von der früheren Liberalen Partei einbinden lassen. So zerstob der Traum von einer dritten Kraft als starker Opposition zu Liberalen und Konservativen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Regierungsmacht im Andenstaat aufteilen.
Auch ein anderes ziviles Experiment kann als gescheitert betrachtet werden: Als sich die FARC 1984 zu einem mehrjährigen Waffenstillstand entschlossen, entstand – als politisches Pendant und unter enger Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei – die UP (Patriotische Union), die seither über 3.000 tote AktivstInnen zu beklagen hat. In einem bis heute andauernden “schmutzigen Krieg” waren es vor allem paramilitärische Trupps, die unter Duldung oder Mithilfe der Armee die linken Politiker aufs Korn nahmen. Erst vor wenigen Monaten mußte sich die UP-Vorsitzende Aída Abella ins europäische Exil begeben, nachdem sie auf der Bogotaner Stadtautobahn knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Guerilla im Aufwind

“Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen”, so Alfonso Cano, zweiter Mann der FARC. Stattdessen propagiert er eine “Bolivarianische Bewegung”, die die militärischen Aktionen der Guerilla politisch flankieren soll, allerdings im Untergrund. “Wir bleiben diesmal in der Führung, als Garantie”, versichert der bärtige Chefstratege, der nach wie vor eine Machtübernahme unter sozialistischem Vorzeichen anstrebt.
Wie sich die FARC die politische Arbeit vorstellen, zeigten zuletzt wochenlange Märsche von mehreren zehntausend KokapflanzerInnen in den Amazonas-Provinzen Putumayo, Caquetá und Guaviare. Dort wollte die Regierung, gedrängt von den Vereinigten Staaten, den Kokainhandel an seiner schwächsten Stelle treffen und die Besprühung der Kokafelder mit Pflanzengift ausweiten. Die Kleinbauern und -bäuerinnen, die plötzlich ihre jahrelang tolerierte Existenzgrundlage bedroht sahen, mußten nicht lange zu den Protestmärschen überredet werden. In Florencia, der Hauptstadt Caquetás, kam es zu Straßenschlachten und Verwüstungen, an anderen Stellen wurden die campesinos brutal von der Armee gestoppt. Um die Lage zu entschärfen, einigte man sich schließlich auf eine staatlich bezahlte, manuelle Ausrottung der Kokapflanzen. In der Praxis heißt dies: Der status quo ist vorläufig gesichert, der konkurrenzlos attraktive Anbau des grünen Kokainrohstoffs geht weiter, und die Guerilla – dort wie in anderen Landesteilen unangefochtene Ordnungsmacht – hat etliche SympathisantInnen hinzugewonnen.
Bereits Mitte letzten Jahres hatte Präsident Ernesto Samper unter dem Druck der Militärs sein Vorhaben aufgegeben, Friedensverhandlungen mit FARC und ELN (Heer zur Nationalen Befreiung) aufzunehmen. Doch auch die Gesprächsbereitschaft der insgesamt etwa 15.000 Aufständischen, die sich nicht zuletzt durch Entführungen, Erpressungen und Besteuerung des Drogengeschäfts finanzieren, ist nicht allzu groß. Die jetzige Regierung sei korrupt, schwach, illegitim und kaum in der Lage, etwaige Abkommen durchzusetzen, ließ ELN-Chef Manuel Pérez, ein ehemaliger Priester, kürzlich wissen.
ELN und FARC setzen auf militärischen Druck, um mittelfristig ihre Verhandlungsposition zu stärken. Immer wieder werden in abgelegenen Dörfern Polizeistationen und Sparkassen überfallen; durchschnittlich zweimal am Tag finden Gefechte mit der Armee statt. Wie schon seit zehn Jahren setzt das ELN seine Anschläge auf Erdölpipelines fort, um eine nationalistische Rohstoffpolitik einzufordern. Im September war buchstäblich das halbe Land lahmgelegt – die Guerilla hatte Fahrverbote auf vielen Straßen verhängt und setzte diese konsequent durch: So verbrannte sie reihenweise Lastwagen und Busse, die das Verbot ignorierten, und blokkierte zehn Tage lang den Zugang zur Bananenregion Urabá nördlich von Medellín, bis sie von der Armee nach heftigen Gefechten zurückgedrängt wurde. Die Botschaften der USA und anderer Industriestaaten wiesen ihre BürgerInnen an, Bogotá nicht zu verlassen; das Nachrichtenmagazin Semana fürchtete gar eine Belagerung der Hauptstadt durch die Rebellen. Auch hinter den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen, die anläßlich der Erhöhung der Stromtarife im Bogotaner Vorort Facatativá ausbrachen, vermuteten viele Politiker und Militärs die Mitwirkung der Guerilla.

Dialog nicht in Sicht

Im Gegenzug kündigte die ziemlich ratlos wirkende Regierung Samper die Mobilmachung von Reservisten und eine Kriegsanleihe bei den Unternehmen an. Antonio Navarro, Bürgermeister von Pasto, sieht in der massiven Ausweitung der Kampfaktionen auf das ganze Land eine neue Qualität: “Die Angriffs- und Verhandlungsformen ‘salvadorisieren’ sich”. In der Tat versuchen die FARC, die Übergabe der 60 Kriegsgefangenen von Las Delicias zu einer internationalen Aufwertung als Kriegspartei mit politischem Charakter zu nutzen. Für die Regierung ist diese Vorstellung ein rotes Tuch. Sie spricht immer noch von “Entführten” und hat bereits einige US-Kongreßabgeordnete dazu gebracht, ihre Sprachregelung von den FARC als kriminellem “drittem Kartell” zu übernehmen.
Daß eine der beiden Seiten den Krieg für sich entscheiden könnte, glaubt niemand. Doch Guerilla wie Armee – jeweils ohne ernsthaftes Gegengewicht auf ziviler Seite – setzen darauf, sich bis zu Verhandlungen strategische Vorteile erkämpfen zu können. Deshalb blicken viele KolumbianerInnen neidisch nach Guatemala, wo gerade ein ebenso jahrzehntelanger blutiger Krieg erfolgreich beendet zu werden scheint – mit internationaler Hilfestellung.

Zapatistas in der Hauptstadt

Vom 8.-12.10. fand der Congreso Nacional Indígena (CNI) im Zentrum von Mexiko-Stadt statt. VertreterInnen von über dreißig der 56 indigenen Völker Mexikos kamen zusammen, um Mißstände anzuprangern und einen Katalog von Forderungen für eine “neue, würdige Verfassung” zu formulieren. “Mexiko niemals mehr ohne uns!”, hieß das Motto. Die Eröffnungsveranstaltung lief eher verhalten und ohne Überraschungen ab. Forderungen nach mehr Autonomie und Demokratie wurden wiederholt. Die aktuelle Situation der indigenen Völker wurde allerdings zunächst wenig konkret diskutiert. Dies lag nach dem Bekunden einiger Delegierter vor allem an der Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern auch einige Kaziken befanden, die für ihre Dienstbarkeit gegenüber der PRI auf der einen und ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung oppositioneller indigener Dörfer andererseits bekannt sind.

Schlappe für die Staatspartei

Das Augenmerk der Medien hatte der CNI allerdings hauptsächlich deshalb erregt, weil im Vorfeld des Kongresses hitzig darüber diskutiert wurde, ob es den Rebellen des EZLN gestattet werden solle, eine Delegation zum CNI nach Mexiko-Stadt zu senden. RegierungsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, daß das Gesetz über den Dialog Reisen von Mitgliedern des EZLN außerhalb Chiapas verbiete. Sie kündigten die sofortige Verhaftung einer zapatistischen Delegation auf dem Weg in die Hauptstadt an. Doch schließlich ging es doch. Die Forderung der Zapatistas nach einer Möglichkeit zur Teilnahme am CNI, der von der EZLN selbst mitinitiiert worden war, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die PRI mußte schließlich widerwillig nachgeben. Anders als von vielen erwartet, war es dann aber nicht der Subcomandante Marcos oder ein anderer der bekannteren Zapatista-Führer, der in die größte Stadt der Welt aufbrach, sondern die Comandante Ramona, eine Tzotzil, die zuletzt in der ersten Runde der Friedensverhandlungen in San Cristóbal 1994 in der Öffentlichkeit erschienen war. Eine schwere, unheilbare Krankheit hatte sie in den letzten beiden Jahren daran gehindert, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen; nun jedoch hatte sich die Comandante dafür entschieden, vor ihrem Tode noch einmal im Namen der EZLN mit anderen Indigenas zusammenzutreffen.
Die Ankündigung, daß die EZLN tatsächlich eine Delegierte zum CNI schicken würde, war noch nicht verhallt, da wurden die Stellungnahmen der Kongreßteilnehmer bereits konkreter und weniger verhalten. Offenbar flöste diese Schlappe für die PRI den Delegierten der einzelnen Völker Mut ein und so kam es am Freitag und Samstag doch noch zu deutlichen Anklagen und Forderungen, die zuvor in verschiedenen, thematischen Kommissionen erarbeitet worden waren.
Am Freitag, Comandante Ramona nahm an diesem Tag lediglich beobachtend am Kongreß teil, äußerten sich die Delegierten ganz offen zur Existenz von Todesschwadronen, der wachsenden Militarisierung, die durch Raubbau entstehenden Umweltschäden und anderen Problemen, mit denen die indigenen Gemeinden des Landes zu kämpfen haben. Dem wurde die Forderung nach Schaffung eines wirklichen Rechtsstaates, der die Praxis des Verschwindenlassens, die Vergewaltigungen, den Amtsmißbrauch und die Folter durch die örtlichen Polizeitruppen verfolgen müsse, entgegengestellt. Wie deckungsgleich die Forderungen des CNI mit jenen der EZLN sind, machte ein Aufruf der CNI-Delegierten deutlich. Ausdrücklich schlugen sie die Annahme der von der EZLN im Dialog von San Andrés Larráinzar aufgestellten Demokratisierungsforderungen vor.
Als eine besonders wichtige Forderung für das Überleben der indigenen Völker wurde die Rückkehr zur ursprünglichen Form des Artikels 27 der Verfassung erhoben. Dieser Artikel, einer der Grundpfeiler der mexikanischen Verfassung von 1917, schützte das kommunale Eigentum an Land, über das viele indigene Dörfer verfügen. Salinas hob 1992 in einer Verfassungsreform diesen Schutz vor einer Privatisierung des Ackerlandes auf, und erklärte andererseits die Agrarreform für vollendet, obwohl noch Hunderttausende von landlosen campesinos auf den Wartelisten für Landzuteilungen stehen. Eine jüngst herausgegebene Studie des Nationalen Instituts für Ernährung (INN) verleiht der Forderung nach angemessener Landzuteilung Nachdruck. “Die Landkarte der Mangelernährung in Mexiko stimmt haargenau mit den von Indígenas besiedelten Zonen überein”, so Kirsten A. de Appendini vom Colegio de México. Mit einer gerechten Landverteilung allein könne das Problem zwar nicht beseitigt, zumindest aber entschärft werden.

“Legitimes Recht auf Rebellion”

Thematisiert wurde das Recht auf Rebellion, das sich die indigenen Völker angesichts der “schlechten Regierung” vorbehalten. Zwar seien die indigenen Völker keine Separatisten, sondern von ganzem Herzen Mexikaner. Doch solange dies von der anderen Seite ignoriert werde, und die indigenen Gemeinden weiterhin in einem Zustand der Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit und Militarisierung lebten, würden die indigenen Völker ihrerseits nicht auf das Recht verzichten, eine Veränderung der Regierungsform – notfalls mit Gewalt – anzustreben. Die Regierung müsse sich darauf einrichten, daß Mexiko am Tor des neuen “Stadiums der sechsten Sonne” (alte indigene Zeitrechnung) stünde und sich der Lauf der Geschichte zu ändern beginne.
Am Ende des Kongresses stand am Freitagabend eine Resolution, in der die Comandante Ramona sich für die Wiederaufnahme der (von der EZLN am 2. August, aufgrund zunehmender Repression durch die Bundesarmee ausgesetzten) Friedensgespräche und einen breiten nationalen Dialog aussprach, sowie für ein Abschlußkommuniqué der versammelten Delegierten.
Das Kommuniqué bekräftigt den Wunsch auf ein “harmonisches Mexiko, in dem alle ihren würdigen Platz finden” und weist darauf hin, daß es sich dazu als notwendig erweisen wird, der Welt zu zeigen, daß es sich bei den Indígenas um eine Vielfalt von Völkern handele. Nur so könne erreicht werden, daß der mexikanische Staat das Recht der demokratischen Selbstbestimmung jedes einzelnen dieser Völker in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiere.
Das Dokument schließt mit einer Anklage der neoliberalen Politik. Da eine solche Politik darauf abziele, die ganze Welt in einen großen Markt zu verwandeln, sei die Beseitigung der widerstehenden Kulturen programmiert.

“Niemals mehr ohne uns”

Am vergangenen Samstag ergriff dann die EZLN-Delegierte Comandante Ramona das Wort bei einer Großkundgebung auf dem Zócalo, der Hauptstadt. Vor einigen tausend Sympathisanten verkündete Ramona ihre Botschaft. Nach einigen Grußworten in spanischer Sprache fuhr die Comandante in ihrer eigenen Sprache, Tzotzil, fort. Und es war mehr die Tatsache, daß zum ersten Mal vor dem Regierungspalast der Diskurs der Opposition seinen Ausdruck in Tzotzil fand, als die Botschaft an sich. Bischof Samuel Ruiz äußerte sich von seiner Diözese in Chiapas aus sehr zuversichtlich, was die Anwesenheit der Comandante Ramona auf dem Zócalo anging: “Endlich haben die Indígenas eine Plattform, von der aus sie Gehör finden”.
Comandante Ramona, die zeitweilig gestützt werden mußte, sprach sich in ihrer kurzen Rede im Namen der EZLN für die Fortsetzung des Dialogs aus. Die EZLN sei bereit, sich an einem großen nationalen Dialog zu beteiligen und appellierte an die Anwesenden, den “Zapatisten auf dem Weg dorthin so zu helfen, wie ihr auf dem Weg in die Hauptstadt geholfen worden” sei. Nie wieder solle es ein Mexiko ohne die indigenen Völker geben. Nach ihrer kurzen Ansprache und noch bevor die Veranstaltung zuende war, begab sich Comandante Ramona, die nach offiziellen Angaben schwer nierenkrank ist, zur Behandlung und weiteren Beobachtung ihrer Erkrankung in eine Klinik.
Mittlerweile haben EZLN und die parlamentarische Vermittlungskommission COCOPA im chiapanekischen Dorf La Realidad ein weiteres Treffen anberaumt, auf dem über eine Fortsetzung der Friedensgespräche verhandelt werden soll. Nach Angaben der EZLN könnte an diesen Gesprächen auch der Sub, der sich in den letzten Wochen nur wenig in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, teilnehmen.

Kritik am neuen Wohlfahrtsgesetz

Die New York Times berichtet seit Anfang September in kurzen Abständen immer wieder über Auswirkungen und Reaktionen auf das neue ImmigrantInnengesetz. Die Artikel erscheinen teilweise auf der ersten Seite und kritisieren ausnahmslos das Gesetz. `Immigrant-bashing’ kommt in einer stark immigrantendominierten Stadt wie New York nicht an.
Auf der Meinungsseite kommen Finanzgiganten wie George Soros zu Wort, der als Reaktion auf das neue Gesetz einen Fonds zur Hilfe für legale ImmigrantInnen gegründet hat. Soros, ein aus Ungarn emigrierter US-Bürger, kritisiert den Kongreß scharf dafür, ein Wohlfahrtsgesetz mit Ungerechtigkeiten zu verbinden. Selbst Bürgermeister Giuliani hat sich dem allgemeinen Protestgeschrei angeschlossen, obwohl er im Großen und Ganzen hinter dem Wohlfahrtsgesetz steht. Ende September bezeichnete er die neue Regelung für ImmigrantInnen als “moralisch unvertretbar und nicht verfassungsmäßig”. “Ich halte es für grundsätzlich unfair und unvernünftig zu sagen, wir lassen Euch herein, wir nehmen all Euer Geld, wie werden Euer Einkommen genauso besteuern wie das aller anderen Bürger, aber Vorteile könnt Ihr nicht erwarten.” Die Stadt New York hat vor, eine Verfassungsklage gegen die neuen Regelungen für ImmigrantInnen einzureichen.

Erste Auswirkungen des Gesetzes: Keiner weiß was

Der bedeutendste Einschnitt des neuen Gesetzes besteht in der Einschränkung des Essensmarkenprogrammes. Ungefähr 1,8 von 25 Millionen Essensmarken-BezieherInnen sind legale ImmigrantInnen. Das Congressional Budget Office schätzt, daß von den 1,8 Millionen etwa 1 Million ihre Marken verlieren werden. Obwohl ImmigrantInnen in New York, Houston oder El Paso in Texas in absoluten Zahlen am meisten mit Sozialkürzungen rechnen müssen, treffen die Regelungen die texanische Grenzregion zu Mexiko proportional am stärksten. Einige der Landkreise dort sind sehr arm, haben Arbeitslosenraten bis zu 19 Prozent und einen ImmigrantInnenanteil von 8 Prozent. Diese wären von den Markenkürzungen besonders betroffen. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft können in armen Gegenden wie dem Rio Grande-Tal fatal sein, wo teilweise die Hälfte aller Lebensmittel mit Marken gekauft werden.
New York hatte – ebenso wie New Jersey, Connecticut und Kalifornien – bereits Ende September damit begonnen, einige legale ImmigrantInnen aus dem Essensmarkenprogramm zu streichen. Die Verwirrung über die neuen Regelungen auf Seiten der Beamten war aber weiterhin enorm, so daß eine einheitliche Behandlung von Einzelfällen fragwürdig blieb. Der kalifornische Gouverneur Pete Wilson erließ bereits am 19. September eine Order, ab dem 22. keinem legalen Immigranten mehr Essensmarken auszugeben – und widerrief dies kurz darauf, als kalifornische Demokraten sich beim Weißen Haus beschwerten und der Regionaldirektor des Bundes-Essensprogramms öffentlich erklärte, daß kalifornische Beamte dem vorläufig nicht zu folgen hätten.
Mit Blick auf die landesweiten Irrungen und Wirrungen hat der Kongreß Anfang Oktober dann die Deadline zur Berechtigung auf Essensmarken bundesweit bis April kommenden Jahres verlängert. Das bringt zwar neuen SozialantragstellerInnen nichts, hilft aber wenigstens denen, die bisher schon BezieherInnen von Marken sind, nicht plötzlich ohne Unterstützung dazustehen.
Neben den Essensmarken wird auch die Bedeutung der Einschränkungen in bezug auf die Krankenversicherung immer deutlicher. Gouverneur Wilson, wie immer als Erster, hat bereits verlauten lassen, daß die Schwangerschaftsbetreuung für illegale Immigrantinnen demnächst wegfällt. Da ist der Schritt zur Einschränkung auch für legale Immigrantinnen nicht weit.
Wie zu erwarten war, hat das neue Gesetz zu einem sprunghaften Anstieg von Einbürgerungsverfahren geführt. Bereits Anfang September füllten sich an einigen Tagen ganze Stadien mit sechs- bis zwölftausend ImmigrantInnen in Houston, Texas oder San José, Kalifornien, die in einer Massenveranstaltung eingebürgert wurden. Bis Ende des Haushaltsjahres (das ist Ende September) waren 1,1 Millionen ImmigrantInnen US-Staatsbürger geworden – die Rekordzahl von 445.853 im letzten Jahr erscheint dagegen geradezu blaß. Die meisten der neuen StaatsbürgerInnen konzentrieren sich auf die Gebiete um New York, Los Angeles, Chicago, San Francisco, Miami und Houston, allesamt in Staaten mit großem WählerInnenanteil.

Einbürgerung im Massen-verfahren – Wahlhilfe für die Demokraten?

Demokraten werden mit Blick auf die anstehenden Wahlen von den Einbürgerungen deutlich mehr profitieren als Republikaner. Präsident Clinton hat wiederholt betont, daß er die neuen Regelungen für ImmigrantInnen im Falle einer Wiederwahl erleichtern möchte. Republikaner, allen voran Pete Wilson, werden dagegen weiterhin als ImmigrantInnen-Gegner angesehen. Es ist daher nicht erstaunlich, daß viele Republikaner die Masseneinbürgerungen so kurz vor den Präsidentschaftswahlen als Wahltaktik der Clinton-Administration kritisieren. Ein kürzlich veröffentlichtes internes Memorandum von Clinton und Gore hat die Spekulationen um ein politisches Motiv hinter den Masseneinbürgerungen verstärkt: “Das INS (Immigration Naturalization Service) warnt uns davor, den Weg zur Einbürgerung zu rasch freizumachen. Wir könnten öffentlich kritisiert werden, eine pro-demokratische Wählermühle anzutreiben, und sogar riskieren, vom Kongreß gestoppt zu werden.”
Beamte der Immigrationsbehörde betonen jedoch, daß das “Citizenship U.S.A.”- Programm, von Al Gore im letzten Jahr mit großem Rummel eingeleitet und vom republikanisch dominierten Kongreß bewilligt, nun endlich Früchte zeigt, und daß ein Großteil des derzeitigen Booms darauf zurückzuführen ist.
MexikanerInnen gehören zu der Einwanderungsgruppe, die sich bisher am wenigsten um die Einbürgerung bemüht hat: Eine INS-Studie Anfang der 90er Jahre zeigt, daß nur 17 Prozent der legalen mexikanischen EinwandrerInnen sich um die US-amerikanische Staatsangehörigkeit bemühten, verglichen mit 63 Prozent aller EinwandrerInnen aus der ehemaligen Sowjetunion. Dieser Trend hat sich definitiv ganz gravierend geändert, vor allem in diesem Jahr. Lateinamerikanische AktivistInnen hoffen, daß der forcierte Einbürgerungstrend positive Auswirkungen auf eine stärkere politische Organisierung der Latinos hat.
Der Trend heißt dennoch: Je härter, desto besser, denn mit dem neuen Gesetz ist es noch nicht genug. Der Kongreß hat Ende September bereits ein weiteres Immigrationsgesetz verabschiedet, mit dem Grenzkontrollen verschärft, Deportationen von Kriminellen erleichtert und öffentliche Bezüge von legalen ImmigratInnen eingeschränkt werden. Nur aufgrund des Drucks von DemokratInnen haben die republikanischen ParteiführerInnen eine – pikanterweise besonders von Bob Dole verfochtene – Klausel herausgenommen, die es den einzelnen Staaten erlauben würde, Kinder von illegalen ImmigrantInnen vom öffentlichen Schulsystem auszuschließen. Diese Regelung wird nun als separater Gesetzesentwurf verhandelt.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Amazonien: Eldorado der Straffreiheit

Am Abend des 6. Septembers bekam Reijane Guimaraes Besuch von einem Mann, den sie hereinbat und sich eine Weile mit ihm unterhielt. Ihre Schwägerin und ihre beiden Kinder hielten sich im Nebenraum auf. Als diese Schüsse aus der Küche hörten, verließen sie fluchtartig das Haus und informierten die Polizei, deren Revier sich in unmittelbarer Nähe des Hauses befindet. Wenig später konnte ein Trupp Polizisten den Mörder Reijane Guimaraes festnehmen. Mehrere Zeugenaussagen belegen, daß der Mann bei seiner Verhaftung unverletzt war., vierzig Minuten später jedoch wurde er mit schweren Schußverletzungen am Kopf ins nahegelegene Krankenhaus eingeliefert. Er erlag seinen Verletzungen in den Morgenstunden des nächsten Tages, ohne daß Bewußtsein wieder erlangt zu haben.

Vernichtung von Archiven

“Das ist wie die Vernichtung von Archiven”, kritisierte Evandro Rodrigues, Präsident des regionalen Verbands der Arbeitergewerkschaft CUT, in einer Stellungnahme gegenüber der regionalen Tageszeitung O Liberal das Vorgehen der Polizei. Dieser Pistoleiro war die einzige Person, die Hinweise auf den Auftraggeber hätte geben können. Denn woher nahm der Mann, der alleine und ohne Fahrzeug bei Reijane Guimaraes vorsprach, eigentlich die Sicherheit, an der gegenüberliegenden Polizeistation vorbei fliehen zu können? Die elfjährige Tochter Reijane Guimaraes, die den Tathergang zum Teil beobachtet hatte, sagte aus, ein Mann mit weißem Bart und Halbglatze sei der Mörder ihrer Mutter. Eine Beschreibung, die auf den festgenommenen und erschossenen Pistoleiro jedenfalls nicht zutrifft. Ein zweiter Täter konnte möglicherweise im Tumult vor dem Haus durch die Hintertür flüchten. Auch wurden vor Ort mehr Geschosse gefunden, als die Trommel des sichergestellten Revolvers faßt.
Die Polizei ging in ihren Ermittlungen äußerst nachlässig vor. Es wurden kaum Zeugen vernommen, der Tatort wurde vor der Spurensicherung wieder freigegeben und die Untersuchungen der Familienangehörigen und Freunde in mehreren Fällen durch komplizierte Genehmigungsverfahren behindert. Der Ermittlungsleitende selbst reichte die sichergestellte Tatwaffe in die Menge Schaulustiger. Daß die Polizei ein ernsthaftes Interesse an der Aufklärung dieses Verbrechens hat, ist sehr zweifelhaft.

Eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt

Reijane Guimaraes war seit 1995 Vorstandsmitglied des MMNEPA (Movimento de Mulheres do Nordeste Paraense) und insbesondere im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz in Peking aktiv an der Gestaltung der regionalen Vorbereitungskonferenzen beteiligt. Auf kommunaler Ebene hatte der Ortsverband des MMNEPA in Mae do Rio unter der Federführung von Reijane Guimaraes in den letzten Monaten erheblichen Druck auf den Präfekten ausüben können. Mit ihrer Forderung nach ausreichender und zugänglicher gesundheitlicher Betreuung von Frauen im Rahmen eines spezifischen Gesundheitsprogramms waren die Frauen vom MMNEPA/Mae do Rio immer wieder in die Offensive gegangen und hatten die Ausflüchte und das Desinteresse des Präfekten öffentlich scharf kritisiert.
Außer ihrem Engagement im Rahmen des MMNEPA war Reijane derzeit verantwortliche Leiterin der Volkszählung in ihrem Munizip unter der Aufsicht des IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística). Sie war maßgeblich beteiligt an der Ermittlung weitgehender Fälschungen und Manipulationen der Statistiken in Mae do Rio während der letzten Volkszählung, in die zahlreiche Personen verwickelt sind. Der Volkszählungsbetrug ist deshalb so brisant, da aufgrund der festgestellten Einwohnerzahlen Geldmittel für das Munizip zur Verfügung gestellt werden. Reijane Guimaraes hatte die Denunzierung einzelner Verantwortlicher nach Beendigung ihrer Arbeit angekündigt. Seit dem Attentat am 6. September ist ein Umschlag mit Unterlagen und Informationen über die Fälschungen des letzten Zensus vom Tatort verschwunden.
Aber auch Reijanes Mann, Raimundo Nonato Guimaraes, der wie sie engagiertes Mitglied der PT ist, hat viele Feinde in der Region. Der ehemalige PT-Abgeordnete und zeitweilige Parteivorsitzende Parás betreut derzeit ein landwirtschaftliches Pilotprojekt im Nachbarmunizip Irituia und ist eine wichtige Figur der gewerkschaftlichen Landarbeiterbewegung. Beide hatten aktiv an den derzeitigen Wahlveranstaltungen der PT in der Region teilgenommen und die amtierende PSDB heftig kritisiert. Seit einiger Zeit erhielten Reijane und Nonato Guimaraes Morddrohungen per Telefon, was sie ebenfalls in Wahlkundgebungen thematisierten.

Demokratisierung in Häppchen

Das Ehepaar Guimaraes hatte zweifellos eine exponierte Stellung im Demokratisierungsprozeß der Region, der seit 1990 im Umfeld der sogenannten Gritos do Campo und eines dadurch erwirkten speziellen Kreditprogramms FNO-Especial für die KleinbäuerInnen der Region zur deutlichen Erstarkung gewerkschaftlicher und sozialen Bewegungen geführt hat. Der Demokratisierungsprozeß vollzieht sich stückchenweise aber stetig, und so ist auch der Kampf des Ortsverbandes des MMNEPA in Mae do Rio zu verstehen als ein wichtiger Bruch mit den bestehenden Machtstrukturen der Region, die die Landoligarchie mit den Zähnen verteidigt.
“Land ohne Menschen…”
Das Munizip Mae do Rio liegt an der Autoroute Belém-Brasilia, etwa 200 km südöstlich von der Hauptstadt Belém im Nordosten des Amazonasstaates Pará. In den 60er Jahren war diese Region Ziel zahlreicher Migrationsströme aus dem Nordosten Brasiliens, aber auch aus anderen Regionen. Mit dem Slogan “Land ohne Menschen für Menschen ohne Land” lockte die Regierung Menschen auf der Flucht vor Hunger und Dürre, die sich zu Tausenden auf kleinen Parzellen entlang der Verkehrsachsen der Region ansiedelten. Von der versprochenen organisatorischen und infrastrukturellen Hilfe seitens der Regierung war jedoch nichts zu spüren. Bis heute strömen Menschen aus den Nachbarstaaten Maranhao und Tocantins in den Nordosten Parás, was zu immer stärkerem Siedlungsdruck führt. Gleichzeitig liegt Parás im Hinblick auf Landbesitzkonzentration noch um ein Viertel über dem brasilianischen Landesdurchschnitt, seinerseits eine der höchsten weltweit. Nur ein Prozent der Bevölkerung besitzen rund 60 Prozent der Ländereien. 78 Prozent der ländlichen Gebiete sind landwirtschaftlich ungenutzt. In Mae do Rio selbst wie auch im Nachbarmunizip Irituia hatte es in den vergangenen Monaten mehrere Landbesetzungen gegeben.
Der Verband der Großgrundbesitzer UDR (Unión Democrática Ruralista) hat im September eine Neustrukturierung auf nationaler Ebene angekündigt, was allerhöchsten Alarm bedeutet für eine friedliche Lösung der Landkonflikte Parás.

“…für Menschen ohne Land”

Die UDR hat den Widerstand gegen die Agrarreform zu ihrem erklärten Ziel und will den Aktivitäten der Landlosen-Vertretung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra) nun mit bewaffneten Truppen entgegengehen. “Wenn die landlosen Campesinos meinen, daß sie ein Recht auf Überfälle haben, dann haben wir das Recht, uns zu verteidigen”, verkündete der Vorsitzende der UDR unheilvoll. Und Skrupel haben sie da bestimmt keine: Das Mahnmal für die Opfer des Massakers in Eldorado de Carajás des berühmten Architekten Oscar Niemeyer wurde nur wenige Tage nach seiner Einweihung von “Unbekannten” verwüstet.
Auch der derzeit angestrengte Prozeß gegen den Begriff “Exekution” in den Gerichtsakten des Massakers in Eldorado gibt Anlaß zu äußerster Beunruhigung, da durch ihn eine gefährliche Verzerrung der öffentlichen Meinung stattfindet. Die Argumentation: eine Exekution ist eine streng definierte Tat mit einem Winkel von soundsoviel Grad und einer Entfernung von soundsoviel Metern.

Banalisierung durch die Medien

Im Zusammenhang von Eldorado könne demnach nicht von einer “Exekution” gesprochen werden. Tenor: das sei ja auch alles etwas aufgebauscht worden und eigentlich war’s gar nicht so schlimm. In die gleiche Richtung der Banalisierung im öffentlichen Raum zielen infame Gerüchte, Reijane Guimaraes sei aus privaten Gründen und Streitigkeiten mit ihrem Mann umgebracht worden: dieser selbst und niemand anderes sei der eigentliche Auftraggeber. Außer dem Versuch, das Attentat durch das Abdrängen in die private Sphäre zu banalisieren, zeigen die Reaktionen der paraensischen Medien jedoch auch, daß die gesellschaftliche Anerkennung der Frau im erz-machistischen Amazonien noch weit entfernt ist: “Eine Frau? – Naja, die kann ja mit dem Attentat eigentlich nicht gemeint gewesen sein.” und “Bloß nicht überbewerten, so politisch war sie nun auch wieder nicht…” spricht aus unterschiedlichen Berichterstattungen. Die politische Arbeit und Person Reijane Guimaraes wird dadurch über ihren gewaltsamen Tod hinaus auf skandalöse Art und Weise diskriminiert. Sie sei vielmehr “zufällig” ermordet worden, daß Attentat habe eigentlich ihrem Mann gegolten.

Rechtsfreier Raum

Im Mordfall Reijane Guimaraes wurde mit Hilfe von Notizen und dem Adressbuch des verstorbenen Pistoleiros eine Spur in den Nachbarstaat Maranhao verfolgt und der angebliche Apotheker, Besitzer einer kleinen Baufirma und lokale Größe der PFL Palmireno Silva vorrübergehend festgenommen. Dank der Arbeit seines Spitzenanwalts und den Fürsprachen seiner einflußreichen Freunde wurde Palmireno aber nach eingehender Vernehmung wieder entlassen. Die eindeutige Identifizierung und Bestrafung der Auftraggebenden sowie der Schutz Nonato Guimaraes, der beiden Kinder und der beiden bei den Kommunalwahlen kandidierenden PT-Mitglieder ist die Hauptforderung des aus Vertretern des MMNEPA, der NRO FASE und der Gewerkschaften bestehenden Comitê Reijane Guimaraes, und das ist im tendenziell rechtsfreien Raum Parás alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es gibt über 600 Fälle ungeklärter Morde in Pará im Zusammenhang mit Landkonflikten. In den wenigen Fällen, wo Schuldige festgenommen werden, verlieren sie sich in der korrupten Polizei- und Rechtsstruktur. Des weiteren fordern sie die regionale Verbesserung der Infrastruktur im Punkte Gesundheit und die Einrichtung des Gesundheitszentrums für Frauen in Mae do Rio.

Frauen fordern ihre Rechte

Für die zweite Oktoberhäfte ist ein gewaltiger Marsch auf Belém geplant, um den Forderungen nach Bürgerrechten für Frauen, Agrarreform und Gerechtigkeit für Pará Nachdruck zu verleihen. Zur Missa do séptimo dia am 13.September, eine Woche nach dem gewaltsamen Tod Reijane Guimaraes waren rund 5000 Trauernde erschienen, zum Teil von weither angereist und die meisten von ihnen Frauen. Der Schmerz und die Entschlossenheit zum Weiterkämpfen, die den Trauergottesdienst in Mae do Rio prägten, waren überwältigend und ein deutliches Indiz dafür, was das MMNEPA und andere soziale Bewegungen in den vergangenen Jahren in der Region geleistet haben, und daß der regionale Demokratisierungsprozeß auch nicht durch brutale Gewalt aufzuhalten ist.

“Zu unbequem für die lokale Elite”

LN: Welche Stellung hat das MMNEPA im regionalen Kontext sozialer Bewegungen?

Ivana Gasparim: Das MMNEPA versteht sich als eine Organisation, die sich für die spezifischen Belange der Frauen in der Region einsetzt. Es handelt sich dabei aber nicht um einen isolierten Kampf der Frauen, vielmehr ergänzt das MMNEPA die Arbeit gewerkschaftlicher Organisationen, der Arbeiterverbände und der Kooperativen für eine Verbesserung der Situation kleinbäuerlicher Familienwirtschaften in der Region. Die Erstarkung sozialer Bewegungen im Nordosten von Pará in den letzten Jahren steht in engem Zusammenhang mit dem Kampf der Gewerkschaften für den Zugang zu Agrarkrediten. Aber es ist offensichtlich, daß in der Gewerkschaft, genau wie auch in den Kooperativen und Kleinbauernverbänden eine gewisse Abwesenheit von Frauen vorherrscht. Und genau da setzt das MMNEPA an: Frauen müssen stärker mit diesem Raum der Organisationen verbunden sein, um tatsächlich am eigentlichen Kampf teilnehmen zu können. Natürlich gibt es bereits Frauen, die gewerkschaftlich organisiert sind, und das ist ein Indiz dafür, das Frauen beginnen, in diese Bereiche vorzudringen, aber der Weg ist noch sehr weit. Nichtsdestotrotz glaube ich, das MMNEPA hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Frauen die Notwendigkeit dieses Engagements zu verdeutlichen.

Welche Position hatte Reijane Guimaraes innerhalb des MMNEPA?

Reijane war seit dem ersten Kongreß des MMNEPA 1995 aktives Mitglied der Bewegung. Sie begann, die Frauen im Munizip Mae do Rio zu mobilisieren. Mae do Rio ist im Vergleich zu anderen Munizipien eine sehr aktive Gemeinde. Auf dem Kongreß des MMNEPA haben wir den Kampf für die Gesundheit als unseren inhaltlichen Schwerpunkt für 1996 und 1997 bestimmt, und Mae do Rio hat dieses Ziel noch stärker als andere Munizipien verinnerlicht.

Welche politische Bedeutung hat die Arbeit des MMNEPA in Mae do Rio?

Reijane und die anderen Frauen des MMNEPA in Mae do Rio stellten Forderungen auf hinsichtlich der Verbesserung gesundheitlicher Betreuung und arbeiteten in diesem Punkt mit anderen sozialen Bewegungen zusammen: mit den Gewerkschaften, den Kleinbauernverbänden, den Jugendorganisationen, Parteien. Auf diese Weise konstituierte sich eine politische Kraft in Mae do Rio: der Kampf für die Gesundheit, Zugang zu Krediten, für die Preise einzelner Produkte wurde zu einer gemeinsamen Stoßrichtung.

Ist speziell das Munizip Mae do Rio besonders geprägt von Landkonflikten?
Nein, eigentlich nicht in besonderem Maße. Naja, aber Mae do Rio liegt halt strategisch wichtig an der Belém-Brasilia. Insofern ist es ein Ort, den viele Leute kennen und besuchen, dort vorbeifahren. Ich habe den Eindruck, daß die Kraft der sozialen Bewegungen dort akzentuierter ist. Ja, vielleicht ist das der Unterschied.

Was bedeutete das Massaker an Landlosen in Eldorado de Carajás im April für die Zielsetzung und den Einsatz der sozialen Bewegungen hier in der Region?

Die Idee der fruchtbaren Nutzung des Bodens hat durch die Ereignisse in Eldorado de Carajás nochmal einen ganz neuen Stellenwert bekommen, daran besteht kein Zweifel. Und die LandbesetzerInnen bekamen noch einmal ein ganz neues politisches Gewicht. Eigentlich waren die Landbesetzungen etwas aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden, sie schienen fast aufgehört zu haben. Ich glaube, daß Eldorado de Carajás dem Wunsch, unseren Raum für uns zu beanspruchen, neuen Auftrieb gegeben hat. Die Gruppen, die sich in letzter Zeit auf die Besetzung von Land vorbereitet haben, bekamen Unterstützung von den Gewerkschaften, vom MMNEPA und anderen. Und zwar Unterstützung in Form von juristischer Beratung beispielsweise.

Welche Interessen stehen hinter dem Attentat auf Reijane Guimaraes am 6. September?

Der Mord an Reijane hat verschiedene Gründe. Ich bin fest überzeugt davon, daß es sich um einen politischen Mord handelt, der mit der Rolle dieser Gruppe organisierter sozialer Bewegungen in Mae do Rio zu tun hat. Sie stellen heute eine wichtige Kraft dar, die für die lokalen Machthaber sehr unbequem ist, da sie es geschafft haben, die zentrale politische Achse in Mae do Rio zu verschieben. Für die lokalen Machthaber stehen nun Macht und Prestige auf dem Spiel, sie fühlen sich in ihrer Stellung bedroht. Dieser Aspekt steht an erster Stelle, wenn es darum geht, Motive für den Mord zu benennen.
Ein weiterer Punkt ist die Arbeit von Reijane im IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) in den letzten Monaten. Die Zahl der EinwohnerInnen war im letzten Zensus auf absurde Weise erhöht worden, um dadurch zusätzliche staatliche Mittel zu erlangen. Reijane hatte den Betrug in einigen Fällen nachweisen können und weitere Enthüllungen angekündigt, was sicherlich ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Attentat steht.
Und speziell ihr Einsatz für Frauenfragen war dem Präfekten ein Stein im Schuh, da sie ihn immer wieder mit Forderungen belagerte, Vereinbarungen aushandelte, daß war zu einer heftigen Auseinandersetzung herangereift. Und sie hatte seine leeren Versprechungen auch immer wieder lautstark öffentlich kritisiert.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Mord an Reijane Guimaraes für die sozialen Bewegungen der Region und insbesondere für das MMNEPA?

Der Schock über die Ereignisse sitzt sehr tief. Gleichzeitig glaube ich, daß wir eine ungeheure Verantwortung tragen, diesen Kampf weiterzuführen. Reijane war eine so offene und gutherzige Person. Ich denke, wir müssen in Zukunft professioneller arbeiten um diesen Leuten die Stirn bieten zu können, in manchen Fällen mißtrauischer sein statt hilfsbereit und offen. In jedem Fall werden wir das MMNEPA neu strukturieren, unsere Strategien überprüfen, unsere Methoden diskutieren. Viele Frauen haben jetzt Angst, und gerade deshalb müssen wir präsent sein und andere mitreißen. Für Oktober ist ein großer Marsch auf Belém geplant, und auch in Brasilia werden wir unserer Forderung nach Gerechtigkeit und Agrarreform für Pará durch Aktionen Nachdruck verleihen.

Rettet die Weltbank den Regenwald?

Satellitenbilder der jüngsten Erhebung zeigen deutlich, daß in einem Zeitraum von zwei Jahren (von Mitte 1992 bis Mitte 1994) 14.896 km² Regenwald zerstört wurden. Dies bedeutet einen Anstieg von immerhin 34 Prozent gegenüber dem Zeitraum 1990-1991. Insgesamt sind inzwischen 469.978 km² Primärwald vernichtet worden, was etwa 12 Prozent des Waldbestandes der Region entspricht. Diese von dem brasilianischen Regierungsinstitut INPE gelieferten Zahlen sind die offiziellen Angaben der Regierung, die in der Vergangenheit oft erheblich unter den Daten anderer Institutionen lagen.
Die Zahlen schlugen ein wie eine Bombe, hatte die brasilianische Regierung doch versucht, eine gewisse Entwarnung zu geben. Die immensen Entwaldungsraten von über 20.000 km² pro Jahr in den siebziger und achtziger Jahren hatten sich Anfang der neunziger Jahre fast halbiert. Zwar liegen die neuen Zahlen immer noch erheblich unter den alten Spitzenwerten, aber es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß eine Tendenz zu Minderung der Entwaldung stabilisiert worden ist. Im Gegenteil, die Kritiker, die in den niedrigeren Zahlen von 1989 -1999 eher die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sahen als eine Folge gezielter Politikbemühungen oder verbesserter Kontrollen, scheinen recht zu behalten.

Ungebremster Holzeinschlag

Ein vom brasilianischen Umweltministerium und der Weltbank herausgegebenes Papier zum Bonner Treffen zitiert die brasilianische Umweltbehörde IBAMA, die drei Hauptursachen in der erneuten Zunahme der Entwaldung sieht: den illegalen Holzeinschlag, die Ausweitung der Viehweiden und den Bau von Straßen. Dies ist eigentlich nichts Neues, allerdings hat sich in den letzten Jahren in Amazonien eine bedeutende und schwerwiegende Veränderung ergeben: Während vor noch etwa 10 Jahren die Auswirkungen des kommerziellen Holzeinschlages in der Region gering waren, hat sich dies bis heute drastisch geändert. Um es nur mit zwei Zahlen zu dokumentieren: Para, der wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat der Amazonasregion, exportierte 1988 Holz im Volumen von 492.000 Kubikmetern, 1992 waren es schon 922.500 Kubikmeter. In einem Zeitraum von 10 Jahren (1982-1992) hat sich das registrierte Volumen an eingeschlagenem Holz fast verdreifacht. Und selbst nach Regierungsangaben kommt nur ein zu vernachlässigender Anteil von weniger als 1 Prozent dieses Holzes aus nachhaltiger Nutzung.

Das Pilotprogramm – ein innovativer Ansatz in der Entwicklungspolitik?

Es fehlt also nicht an guten Gründen für konkrete Aktionen zum Schutz der brasilianischen Regenwälder. Das Pilotprogramm, das während des G-7 Treffens 1990 in Houston, auf die Initiative Kohls hin, ins Leben gerufen wurde, wird inzwischen als das größte internationale Programm für nachhaltige Entwicklung angepriesen. Es beeindruckt dabei weniger durch die Summe der Geldmittel, denn 250 Millionen US$ für das gesamte brasilianische Amazonasgebiet sind letztendlich eher bescheiden. Dafür steht hinter dem Pilotprogramm eine geballte politische Kraft: Die G-7 (+EG) und die Weltbank vereint können gegenüber der brasilianischen Regierung natürlich eine große Verhandlungsmacht in die Waagschale werfen. Die G-7 Staaten fungieren dabei als Geldgeber (die Bundesregierung steuert etwa 2/3 der Gesamtsumme bei), während die Weltbank koordiniert. Die administrative Struktur des Pilotprogramms ist hochkomplex. Es vereinigt eine multilaterale Finanzierung über einen Regenwaldfond, in den die Geberstaaten einzahlen, mit sogenannten bilateral-assoziierten Projekten. Den innovativen Charakter des Programms macht jedoch nicht dieser eher problematische Komplexitätszuwachs aus, sondern folgende Merkmale:
– Das Programm verfolgt einen policy-Ansatz. Das heißt, daß im Mittelpunkt nicht konkrete Projekte (die es durchaus gibt) stehen sondern die Beeinflussung und Umformulierung der Politiken, die zur Vernichtung der Wälder führen.
– Das Programm bekennt sich zum Ideal einer nachhaltigen Entwicklung und setzt konkret das Ziel, eine Reduzierung der Entwaldungsrate zu erreichen. Mit der Unterschrift zu dem Programm hat sich auch die brasilianische Regierung diesem Oberziel verpflichtet.
– Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen sind in das Programm einbezogen. Zwei Unterprogramme beziehen sich direkt auf wichtige soziale Gruppen des Regenwaldes: das Programm zur Demarkierung von Indianergebieten und das Programm für die Einrichtung von Sammelreserven für Kautschukzapfer.
– Etwa 12 Prozent der Gesamtmittel sollen direkt an NGOs fließen, in sogenannte Demonstrativprojekte. In den anderen, den sogenannten strukturellen Programmen geht es zum Beispiel um die Stärkung der Landesumweltbehörden, um die Förderung von Forschungszentren und die Einrichtung von Naturparks. Bisher hat sich die Umsetzung dieser einzelnen Programmteile schwerfällig angelassen, aber in diesem Jahr ist der Mittelfluß doch einigermaßen in Gang gekommen.

Grenzen des Pilotprogramms

Entscheidendes Merkmal des Pilotprogramms soll die Einbeziehung der “Zivilgesellschaft” in Ausarbeitung und Umsetzung der einzelnen Programmteile sein. Die GTA (Grupo de Trabalho Amazônico, Arbeitsgruppe Amazonien), ein Zusammenschluß von NGOs, wurde eigens gegründet um die Begleitung des Pilotprogramms zu garantieren und umfaßt inzwischen über 300 Organisationen, von größeren Dachverbänden bis hin zu Basisgruppen. Und so waren in Bonn auch die NGOs vertreten. Die GTA durften drei Repräsentanten schicken: einen Vertreter der Kautschukzapfer, einen Indio (des Dachverbandes COIAB) und einen Vertreter der Organisation der traditionellen Fischer. Deutsche (Urgewald, Kobra) und internationale NGOs (WWF, Friends of the Earth) waren mit vier Personen vertreten. Angesichts der über 50 Regierungsvertreter, Unternehmer und Berater von internationalen Entwicklungsagenturen war die Präsenz von sieben Exemplaren der “Zivilgesellschaft” doch eher bescheiden. Aber immerhin hatten sowohl die deutschen wie auch die internationalen und brasilianischen NGOs (ein joint-venture von Friends of the Earth und GTA) Dokumente zum Stand des Pilotprogramms erarbeitet.
Bei beiden Dokumenten fällt zunächst auf, daß die Kritik an dem Pilotprogramm eher vorsichtig formuliert ist und von einer Zustimmung zu den Grundideen des Programms ausgeht. Tatsächlich sieht das Pilotprogramm vor, die Forderungen der indianischen Völker und der Kautschukzapfer umsetzen. Es geht also eher um die Garantie der Umsetzung, als darum grundsätzliche Kritik zu üben. Jenseits von Detaildiskussionen über einzelne Subprogramme ergibt sich die zentrale Fragestellung, ob das Pilotprogramm tatsächlich seinem policy-Ansatz gerecht werden kann.
Beide Dokumente stellen fest, daß die Realität von einer Kohärenz des Pilotprogramms mit anderen politischen und ökonomischen Interventionen in Amazonien weit entfernt ist. So hat die brasilianische Regierung mit dem Erlaß des Dekrets 1775 die Überprüfung aller Demarkierungen von Indianergebieten zugelassen und damit große Unsicherheit und Proteste provoziert. Zwar haben die zuständigen Behörden inzwischen fast alle Einsprüche zurückgewiesen, doch die rechtlich Lage von immerhin acht Indianergebieten (zwei davon fallen unter das Pilotprogramm) bleibt vorerst ungeklärt.

Letztendlich Erschließungspolitik

Ein großer Entwicklungplan (Brasil em Acçâo) von der Regierung FHC im August diese Jahres lanciert, sieht Investitionen im Infrastukturbereich von 54 Milliarden US$ bis 1998 vor. Von den insgesamt 42 Projekten entfallen sechs mit einem Volumen von 2.3 Millarden auf die Amazonasregion. Die Mittel sind dabei ausschließlich für Projekte der allertraditionellsten Art vorgesehen: Ausbau von Wasserstraßen, Bundesstraßen und der Energieversorgung. Amazonaspolitik wird so immer noch als Erschließungspolitik verstanden.
Die Infrastrukturprojekte im Regierungsprogramm bestätigen die Wahl von Integrationsachsen als regionale Entwikklungsstrategie. Auch die Sprache dieser Pläne betont das nachhaltige Wachstum in Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung (GTA /Friends of the Earth).

Mehr Macht für die Weltbank dank NGOs?

So fällt die Schlußfolgerung nicht schwer, daß das Pilotprogramm bisher nicht zu einem Schlüssel für ein grundsätzliche Umorientierung der brasilianischen Amazonaspolitik geworden ist. Eine andere Kritik findet zumindest Eingang in das Dokument der GTA und Friends of the Earth: Das Pilotprogramm behandelt Amazonien als großen Wald und reduziert damit eine komplexe soziale Realität auf eines ihrer (allerdings zentralen) Elemente. Damit bekommt das Programm einen starken naturschützerischen Akzent, der nur noch die sozialen Gruppen einschließt (indigene Völker und traditionelle Sammler), die vermeintlich leicht an Schutzkonzepte anzukoppeln sind. Weitgehend ausgegrenzt bleiben dabei die KleinbäuerInnen, die mit Abstand größte Gruppe auf dem Land. Ausgeblendet wird auch, daß in Amazonien, im Gegensatz zu allen Klisches, inzwischen fast 60 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt.
Alle diese Kritiken gehen davon aus, daß das Pilotprogramm eher unzureichend als falsch ist. Tatsächlich hat das Pilotprogramm durch die Einbeziehung von Kautschukzapfern, Indios und zahlreichen NGOs einen Grad von Legitimität erreicht, der von außen schwer zu kritisieren ist. Und offensichtlich haben die beteiligten brasilianischen Gruppen wenig grundsätzliche Einwände hervorzubringen. Allerdings bleibt bis heute die Frage unbeantwortet, ob die Beteiligung der Zivilgesellschaft ein Programm legitimiert, das diese letztendlich nicht oder nur marginal beeinflussen kann, oder ob hier im Umfeld der internationalen Kooperation neue Handlungsspielräume eröffnet werden können, die tatsächlich Positionen stärken, die der Regenwaldvernichtung und der damit verbundenen Marginalisierung der traditionellen Bevölkerung Einhalt gebieten kann.
Bei aller Kritik im Einzelnen sehen die beteiligten brasilianischen Gruppen im Pilotprogramm doch einen Ansatz, der erfolgversprechend ist und dessen Umsetzung ernsthaft versucht werden sollte. Das Pilotprogramm steht dabei nicht allein, sondern auch andere Programme, die durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwikklungsbank koordiniert werden, haben inzwischen die Beteiligung auf ihre Fahnen geschrieben. Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit NGOs dazu dienen, über eine fragmentierte Beteiligung an spezifischen Projekten, bei denen sich dann oft noch Beteiligung mit dem Empfang von Geldmitteln verknüpft, den internationalen Banken über ihre Legitimationskrise hinwegzuhelfen. Der Weltbank kann jedenfalls ein Unternehmen wie das Pilotprogramm, zu dem sie noch dazu keinen Pfennig beigesteuert hat, nur hochwillkommen sein, um ihre Öffnung hin zu Umweltbelangen zu demonstrieren.
Im Falle des Pilotprogramms gibt es aber noch einen besonderen Aspekt zu beachten. Sein Entstehen ist zum einen sicherlich eine Konsequenz der Kritik an zerstörerischen Projekten der internationalen Kooperation in Amazonien, zum anderen aber auch Ausdruck von Tendenzen, bestimmte Probleme als globale Aufgaben zu definieren. Das Pilotprogramm selbst nimmt in seiner offiziellen Begründung ausdrücklich auf zwei globale Aspekte der Regenwaldzerstörung Bezug: den Beitrag des Abbrennens des Regenwaldes zu den Kohlendioxyd Emissionen und die Verminderung der Artenvielfalt. Auch das bereits zitierte Papier von Weltbank und brasilianischem Umweltministerium stellt fest, daß die nachhaltige Entwicklung der Ökosysteme der tropischen Regenwälder Brasiliens eine globale Herausforderung ist.
Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal, daß Brasilien internationale Mittel bereitgestellt werden müßten, um Aufgaben zu lösen, die globale Aspekte beinhalten. Zum anderen aber bedeutet es auch, daß Definitionsmacht neu verteilt wird, weg von nationalen hin zu internationalen Instanzen. Für NGOs und soziale Bewegungen, die durch nationale Instanzen drangsaliert oder auch brutal unterdrückt werden, kann dies zunächst durchaus attraktiv erscheinen. Aber ist es dies auch auf lange Sicht? Oder laufen NGOs da nicht Gefahr, zum Spielball von Interessen zu werden, die sie gar nicht mehr kontrollieren können?
Nur scheint es, daß dies eher eine Frage langfristiger Perspektiven ist. Die angeführte Kritik, daß das Pilotprogramm bisher seinem policy-Ansatz nicht gerecht wird, weist eher in eine andere Richtung: Nicht daß die Weltbank enorme Definitionsmacht in Amazonien gewinnt, sondern daß es – trotz Weltbank und G-7 – ein marginales Programm bleibt. Dann wäre also weniger ein neues hegemoniales Projekt zu fürchten als (postmoderne) Beliebigkeit nach dem Modell des Supermarktes: Der ist zwar bei weitem kein ökologisches Projekt, bietet aber doch auch inzwischen Ökowaschpulver und Müsli aus biologisch-organischem Anbau an. Das Pilotprogramm diene dann wohl der Befriedigung der Umwelt-, Regenwald- und Indianerlobby, die sich zwar lautstark artikuliert, aber auf lange Sicht doch immer marginal geblieben ist.
Das Bonner Treffen jedenfalls belegt eher die Marginalitätsthese. Die brasilianische Seite (Regierung wie NGOs) hatte offensichtlich gehofft, daß in Bonn eine zweite Phase des Pilotprogramms eingeläutet werden könnte, bei der dann eine ursprünglich in Aussicht gestellte Milliardensumme ins Spiel käme. Stattdesen bekräftigten lediglich Deutschland und die EU die Außsicht auf eine zweite Phase. Und die Bundesregierung zog es vor, statt eine bereits angekündigte Aufstockung der Gelder für die NGO-Projekte zu ratifizieren, auf eine gleichere Verteilung der Finanzierungslasten unter den Geberländern zu pochen. Auch hier ließ anscheinend Waigel grüssen.

KASTEN:
Die Jahrestagung des Pilotprogramms fand in diesem Jahr vom 9. bis 12. September in Bonn statt. Um Einfluß auf diese Konferenz und den entsprechenden politischen Prozeß zu nehmen wurde von deutschen NGOs eine öffentliche Erlärung zum Pilotprogramm und der Politik, in die es eingebunden ist, abgegeben. Auch die LN schloß sich dieser Erklärung an.
Aus der Erklärung deutscher NGOs zur Teilnehmerkonferenz des Pilotprogramms:
(…)Wenn die G7 und andere Industrieländer über Sachstand und Perspektiven des “Pilotprogramms zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien” beraten, können sie ihre Verantwortung für die Folgen ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen nicht ignorieren. Für den Erfolg ist nicht nur die Kohärenz der brasilianischen Politik erforderlich, sondern auch die Kohärenz der Außenwirtschaftspolitik der Industrieländer mit den Zielen des Pilotprogramms. Über sechs Jahre nach seiner Initiierung besteht die Herausforderung an die Industrieländer darin, ihre außenwirtschaftliche Verantwortung anzuerkennen und praktische Schritte zu unternehmen, um Ziele des Pilotprogramms durch das Handeln aller relevanten Ressorts zu unterstützen.
Zur Teilnehmertagung 1996 stellt sich dementsprechend eine Reihe aktueller Herausforderungen an die Träger des Programms:
– Die Teilnehmer sollen den dringendsten sozialen und ökologischen Anliegen, darunter an erster Stelle der Schutz der indigenen Völker, in der Programmdurchführung einen höheren Stellenwert geben und diese zu einem beschleunigten Abschluß bringen.
– Die Teilnehmer sollen die politischen, finanziellen und zeitlichen Aktivitäten auf die öko-sozialen Kernpunkte dieses Programms konzentrieren, damit es den Charakter eines echten Pilotprogramms gewinnt.
– Die Industrieländer sollen eine praxisorientierte Überprüfung ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem Ziel auf den Weg bringen, die dem Pilotprogramm entgegenwirkende Einflüsse zu korrigieren und solche Außenbeziehungen zu unterstützen, die den Zielen des Pilotprogramms förderlich sind.
– Nach der langen Stagnation in ihrer Indianerpolitik soll die brasilianische Regierung die Demarkierung und den nachhaltigen Schutz der Indianergebiete zügig voranbringen und die juristischen und politischen Rahmenbedingungen entsprechend den Forderungen der betroffenen Indianer gestalten. Zudem soll die brasilianische Regierung weitere deutliche Schritte in Richtung auf Tropenwaldschutz und fort von riskanten Erschließungsstrategien unternehmen.
Der Bedrohung der brasilianischen Tropenwälder kann nur mit einem strategischen, kohärenten Entwurf begegnet werden, der die hier skizzierten Elemente integriert. In dem Maße, wie die Teilnehmer des Programms entsprechende Schritte unternehmen, kann das Pilotprogramm zu einem wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Entwicklung werden.

“Unser Europabild ist falsch!”

Welche Ziele hat CHAME?

Das Projekt wurde während meiner vierjährigen Tätigkeit im Frauen-Informationszentrum in Zürich gegründet. Ich habe dort Brasilianerinnen betreut und gemerkt, daß es wichtig wäre, Präventionsarbeit in Sachen Frauenhandel und Sextourismus in Brasilien zu machen. Wir können oft nicht mehr viel tun, wenn die Frauen erst einmal in Europa sind. Viele der Frauen haben ein Bild von Europa, wonach europäische Männer schön und gut sind. Sie glauben, daß sie hier Arbeit finden und vielleicht einen Europäer heiraten.

Wer sind diese Frauen?

Die Frauen, die mit Touristen verkehren, sind normalerweise keine Professionellen. Es sind Frauen, die sofort verliebt sind, wenn sie mit einem Europäer zusammen sind. Dann vergessen sie das Geld, benutzen kein Kondom mehr und glauben an die Liebesversprechungen. Viele von ihnen haben keine Arbeit und keine Perspektive. Sie wollen nur weg von Brasilien. Gegen diesen Traum zu arbeiten, ist sehr kompliziert. Wir können ihnen nicht einfach diesen Traum nehmen und die Frauen ohne Hoffnung zurücklassen, wir müssen Alternativen finden. Interessant ist, daß viele der Frauen, die nach Europa migrieren, aus der Mittelschicht kommen. Auch die Mittelschicht hat unter den ökonomischen Problemen in Brasilien zu leiden. Hinzu kommt, daß wir eine sehr kolonialistische Mentalität haben: Alles, was von außen kommt, ist viel besser als das, was in Brasilien ist. Diese Illusion, nach Europa zu kommen und als Europäerin zu leben, ist vor allem in der Mittelschicht sehr präsent. Aber unser Bild von Europa ist falsch.

Frauenmigration und Sextourismus sind zwei Problemfelder, die aufeinanderprallen. Wie wird das Problem in Brasilien thematisiert, und was konnte bislang mit der Arbeit von CHAME und anderen Frauenorganisationen erzielt werden?

Letztes Jahr haben wir in Recife an einem Forum über Tourismus und Entwicklung teilgenommen. Die Frauenorganisationen haben erreicht, daß die Tourismusagenturen auf ihren Plakaten und Broschüren nicht mehr mit brasilianischen Frauen werben dürfen. Die Regierung selbst investiert viel Geld in den Tourismus und möchte über das Problem Sextourismus lieber nichts wissen. Aber die Sextouristen sind nicht gut für das Land, nicht nur wegen der Frauen, sondern weil sie kein Geld bringen. Die Sextouristen zahlen noch in Europa zusammen mit einer Pauschalreise das Hotel und manchmal auch das Mädchen, viel Geld geben sie im Land gar nicht mehr aus. Mit dieser Argumentation versuchen wir die Tourismusbörse zu überzeugen.

Wie sieht konkret die Arbeit von CHAME aus?

Als wir das Projekt 1994 gründeten, wollten wir mit den Basisgruppen zusammenarbeiten. Damals war dieses Thema in Brasilien fast unbekannt. Also mußten wir von vorne anfangen: intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe der oft unfähigen Behörden, Wir machen auch eine Forschungsarbeit, um das Milieu zu erkunden. Wir wollen wissen, wo die Frauen die ausländischen Männer treffen. In der nächsten Phase der Forschung werden wir die Frauen und Männer befragen, um zu wissen, woher sie kommen. Mit diesen Informationen können wir bessere Informationsarbeit leisten. Wir wollen die Problematik der Frauenmigration von der Prostitution trennen: nicht alle Frauen, die migrieren, gehen in die Prostitution. Mit unserer Arbeit wollen wir die Frauenmigration nicht verhindern, sondern die Frauen über ihre Rechte in Europa informieren. Gehen die Frauen trotzdem nach Europa, können sie dort mit anderen Frauenorganisationen kooperieren.

Mexiko im Umbruch

Dieter Boris hat ein zutiefst konservatives Buch über Mexiko geschrieben. Konservativ im Beharren auf wissenschaftlichen Standards und in der Qualität seiner Argumentation. Es ist kein journalistischer Schnellschuß. Für die LeserInnen bedeutet dies den nicht immer mühelosen Nachvollzug einer konzentrierten und problemorientierten Betrachtung der mexikanischen Entwicklung seit 1982, einer Bilanz der neoliberalen Strukturanpassungspoltik.
“Zugespitzt formuliert: Steht die neoliberale Politik, die über zwölf Jahre in besonders rigoroser Form in Mexiko durchgeführt wurde, vor einem Scherbenhaufen?” (Boris, S.2) Das Buch gliedert sich neben einer historischen Einführung in drei große Abschnitte: die Betrachtung der beiden Präsidentschaftsperioden von Miguel de la Madrid 1982-88 und Salinas de Gortari 1988-94, die Auswirkungen dieser Präsidentschaftsperioden auf die wirtschaftlichen Sektoren und die Veränderungen in der sozialen Struktur der mexikanischen Gesellschaft sowie die politischen und sozialen Akteure in diesen Zeiträumen. Umrahmt werden diese Abschnitte von Betrachtungen der tiefen Krisen von 1982 und 1994 – wobei zumindest für die Krise 1982 gilt, daß sie gleichzeitig den Wendepunkt einer bis dahin geführten Konzeption der importsubstituierenden Industrialisierung Mexikos markiert, während die Krise 1994 zwar die inneren Blockierungen der neoliberalen Konzeption offenlegte, aber: “Der Umbruch der Gesellschaft hat unter neoliberalen Vorzeichen begonnen, wohin er ökonomisch und politisch führen wird, bleibt ungewiss.”

Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende

Im folgenden soll etwas näher auf die Ausgangsbedingungen des neoliberalen Projekts, seine Auswirkungen und inneren Widersprüche eingegangen werden. Betrachtet man die ökonomischen und politischen Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende in Mexiko, so können sie als günstig bezeichnet werden. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
1. die besonderen Schuldendiensterleichterungen (nach 1982) seitens der USA im Gefolge der Brady-Initiative;
2. die verbesserten Marktzugangsmöglichkeiten Mexikos zu den USA infolge des NAFTA-Abkommens und weitere bilaterale und multilaterale Unterstützungsmaßnahmen;
3. die immer noch funktionierenden sozial-integrativen Mechanismen Mexikos, die garantierten, daß eine harte und länger währende Austeritätspolitik, ohne größere soziale und politische Proteste von der Bevölkerung hingenommen werden (Vgl. Boris, S.3).
Das Herzstück der mexikanischen Modernisierungspolitik bildete ohne Zweifel die schon im Anfang der Präsidentschaftsperiode von Miguel de la Madrid unter großem publizistischen Aufwand formulierte reconversión industrial. Was sind nun die Ergebnisse dieser industriellen Restrukturierung und die realen außenwirtschaftlichen Wirkungen dieser neoliberalen Modernisierung? Die erste Bilanz, bezogen auf das Wachstum des industriellen Sektors in den 12 Jahren, ist mehr als bescheiden. Es betrug im Durchschnitt der Jahre 1982-1988 nur 0,14 Prozent und erhöhte sich in der Präsidentschaftsperiode von Salinas zwischen 1989 und 1994 um circa 3,7 Prozent pro Jahr. Diese Zuwachsraten liegen damit weit unter denen der so heftig kritisierten Importsubstitutionsphase in den 50er und 60er Jahren (Vgl. Boris S.112/113). Betrachtet man die einzelnen Industriezweige, so gab es die Gewinner der Strukturanpassungspolitik (Petrochemie/Chemie/Grundstoffe/Bau- und Automobilindustrie), die Zweige, in denen sich Wachstum und Schrumpfung die Waage hielten (vor allem Konsumgüterindustrien) sowie die klaren Verlierer (Lebensmittelindustrien, Textil, Tabak, Kosmetik, Maschinenbau und Transportmittel außer Automobilbau). In der Quintessenz dieser Strukturanpassung für den industriellen Sektor ist von einer Polarisierung der Produktionsstruktur zu sprechen. So beschrieb die Zeitschrift Expansión 1987 die Situation Mexikos mit den Worten: “En medio de la crisis las 500 estan de fiesta” (Inmitten der Krise befinden sich 500 in einer Fiesta”, Boris, S.115).
Die neoliberalen Reformen haben bislang keine generelle Produktivitätsanhebung bewirken können. Reallohnabsenkung, massive Arbeitskraftfreisetzungen und Konzentration auf einige Unternehmensgruppen begründeten im wesentlichen das vielzitierte “Neoliberale Wunder” (Vgl. Boris, S.118). Auch die außenwirtschaftliche Verflechtung mit den USA hat sich in diesem Zeitraum verstärkt. 1994 kamen 69 Prozent aller Importe aus den USA (1976: 62 Prozent) und die mexikanischen Exporte gingen zu knapp 85 Prozent in die USA (1976: 56 Prozent). Dieses partielle Exportwunder verschleiert zudem, daß die ProduzentInnen – landwirtschaftliche oder industrielle – den Binnenmarkt verlieren. Es gibt einen Rückgang des Prozesses der Importsubstitution und eine zunehmende Unfähigkeit, den ausländischen Konkurrenten auf dem eigenen Markt zu begegnen (Vgl. Boris, S.132). Dazu paßt, daß sich die ausländischen Direktinvestitionen zwischen 1982 und 1993 verfünffachten (von 10,8 Mrd. auf circa 56,3 Mrd. US-Dollar) und die Bedeutung der Maquiladora-Industrie (Lohnveredelungsindustrie) in diesem Zeitraum im Grenzgebiet zu den USA dramatisch angestiegen ist; von circa 580 Betrieben mit 130.000 Beschäftigten auf 2.000 Betriebe mit rund 540.000 Beschäftigten. Das sind fast 20 Prozent aller industriellen mexikanischen Arbeitskräfte. Im Kontrast zu diesem Wachstum weisen die einschlägigen sozialen Indikatoren (Einkommensverteilung, Minimallohnentwicklung, durchschnittlicher Reallohn, Arbeitslosigkeit, Armutsausmaß) auf eine klare Verschlechterung der Lage der Masse der Bevölkerung hin (Vgl. Boris, S.137). Zwar kam es unter Salinas zu Einkommensverbesserungen, aber in 12 Jahren neoliberaler Politik wurde das Lohnniveau von 1982 nicht annähernd wieder erreicht. Auch die Einkommenspolarisierung hat sich in diesem Zeitraum zugespitzt. Während 1984 die obersten 10 Prozent im Vergleich zu den untersten 10 Prozent ein neunzehnmal größeres Einkommen erzielten, hatte sich diese Differenz 1989 auf das 24fache erhöht.
Auf weitere Aussagen in Bezug auf die Entwicklung des Agrarsektors, der Sozialstruktur und des politischen Systems muß an dieser Stelle mit Verweis auf die entsprechenden Kapitel im Buch von Dieter Boris verzichtet werden. Zum Schluß soll auf die internen krisenauslösenden Blokkierungen des Neoliberalen Modells eingegangen werden (Vgl. Boris, S.220 ff). Vordergründig stellte sich die Krise 1994 als explosive Mischung aus der staatlicherseits längerfristig hingenommenen Überbewertung des Peso, eines Leistungsbilanzdefizits, einem hohen Zinsfuß und dem starken Anstieg der Außenverschuldung über kurzfristig fällig werdende und in US-Dollar rückzahlbare Staatspapiere, sogenannte Tesobonos, dar. Diese Faktoren der Krisenauslösung sind entweder selbst direkt Ergebnis der Defizite neoliberaler Politik oder der Preis für erreichte positive Zielsetzungen (Inflationsbekämpfung) im Rahmen dieser Politik. Diese Blockierungen (Boris verweist in diesem Zusammenhang auch auf Brasilien und Argentinien, da in diesen Ländern ähnliche Faktoren wirken) sind in folgenden Punkten zu sehen:
1. Ein hoher und anhaltender Schuldendienst verhindert den Haushaltsausgleich und heizt die Inflation an.
2. Ein zum Zweck der Inflationseindämmung tendenziell fixierter Wechselkurs führt zu einer Überbewertung der nationalen Währung, damit zu einer Exportschwäche und Begünstigung der Importe – vor allem, wenn das interne Inflationstempo größer ist als das des wichtigsten Handelspartners, im Falle Mexikos der USA.
3. Dieses Passivsaldo (1994 circa 28 Mrd. US-Dollar) kann nur durch Kapitalzuflüsse (Kredite/Geldkapitalanlagen, Direktinvestitionen) kompensiert werden. Diese Zuflüsse sind zum Teil kurzfristig und hochspekulativ. Steigt irgendwo anders der Zinsfuß, so fließen die Geldanlagen wieder ab.
4. Zum Zweck der Inflationseindämmung ist die “Über”nachfrage (herrschende Meinung) über Haushaltskürzungen, Lohnkürzungen und eine restriktive Geldpolitik zu beschränken. Dies beeinträchtigt die Binnenkonjunktur und die realen Investitionen im Inneren.
Diese Faktoren führen zwangsläufig zu sich immer wieder zuspitzenden Krisen und keineswegs zu einem stabilen, sozialen und ökonomischen Wachstum.
Dieter Boris´ Buch verdient die Aufmerksamkeit aller, die sich ernsthaft mit dem Neoliberalen Modell und seinen immanenten Widersprüchen auseinandersetzen wollen. Ein vergleichbares Buch gibt es auf dem deutschsprachigen Markt nicht. Zusätzlich wünschenswert wäre ein eigener Abschnitt im Buch über die regionale Struktur Mexikos und das Militär. Beides könnte in Zukunft noch eine wichtige Frage werden, da mit dem Wachstumspol im Norden und mit den armen Provinzen im Süden ein starkes regionales Gefälle entstanden ist und sich in den Südprovinzen der Einfluß des Militärs in den letzten Monaten erheblich verstärkt hat.

Dieter Boris: Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996, 263 Seiten mit Literaturverzeichnis und Tabellen, 59 DM (ca. 30 Euro).

Es gibt keinen dritten, sondern nur einen einzigen Weg!

Die neueren Entwicklungen auf Kuba können ohne einen Rekurs auf die kubanische Historie nicht verstanden werden. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er überblicksweise die wirtschaftliche Entwicklung von 1959 bis 1989 darstellt. Dabei räumt er mit manchen durchaus verbreiteten Ansichten zum kubanischen Revolutionsverlauf auf. So war die kubanische Revolution weder in ihren politischen Zielsetzungen noch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine Revolution im marxistisch-leninistischen Sinn. Es gab keine Arbeiterpartei als Avantgarde. Die Bewegung des 26. Juli um Fidel Castro wird vielmehr als radikaldemokratische, jakobinische Gruppe kleinbürgerlichen und populistischen Ursprungs verortet. Dies erklärt auch den sozialdemokratischen Charakter des Aufstandsprogrammes, das Castro 1953 in seiner legendären Verteidigungsrede nach dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne formulierte. Noch nach 1959 beschrieb Castro die Revolution als “weder kapitalistisch noch kommunistisch”. Denn der Kapitalismus gibt den Menschen preis, der Kommunismus mit seinen totalitären Vorstellungen opfert seine Rechte.” Der Autor versteht demgemäß die kubanische Revolution als nationalen, antiimperialistischen Befreiungskampf mit sozialreformerischen Inhalten.
Die Verkündung des sozialistischen Charakters der kubanischen Revolution erfolgte erst 1961. Sie war Reaktion und nicht ursprüngliches Programm der kubanischen Revolutionäre. Reaktion auf den fundamentalen Interessenkonflikt zwischen den sozialen Inhalten der Revolution und den dazu im Widerspruch stehenden Besitzverhältnissen, denn ein großer Teil der Unternehmen sowie der landwirtschaftlichen Produktion wurde von US-Kapital kontrolliert. Reaktion auf die sich seit der Agrarreform von 1959 verschlechternden Beziehungen zu den USA, die mit der Invasion in der Schweinebucht 1961 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.

Zwischen CEPAL und Sowjets

Die kubanische Entwicklungsstrategie war in den ersten Jahren von den Positionen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) und von sowjetsozialistischen Entwicklungsmodellen geprägt. Die Überwindung der strukturellen Abhängigkeit vom Zucker und damit vom Außenhandel stand im Zentrum. Erreicht werden sollte dies durch eine Diversifikation der landwirtschaftlichen Produktionspalette, eine beschleunigte Industrialisierung sowie einen Ausbau der sozialen Sektoren mit dem gemeinsamen Ziel, Importe zu ersetzen und somit die Außenhandelsabhänigkeit zu reduzieren. Burchardt macht eine fehlende Koordination der Produktionsumstellung in der Landwirtschaft und die Vernachlässigung der Zuckerproduktion als Ursachen des Scheiterns dieser Strategie aus.
Ab 1964 wurde wieder dem Zuckersektor Priorität eingeräumt. Preis- und Abnahmegarantien seitens der Sowjets ließen den Zuckersektor vom Hemmschuh zum Hoffnungsträger avancieren. Durch seine als Agroindustrialisierung bezeichnete Modernisierung sollte das für eine Industrialisierung notwendige Kapital erwirtschaftet werden. Den Höhepunkt dieser Strategie bildete die gran zafra (große Ernte) von 1970. Utopische 10 Millionen Tonnen Zukkerrohr wurden als Produktionsziel vorgegeben. Alle Ressourcen wurden auf dieses Ziel hin mobilisiert. Trotz einer Rekordernte von 8,5 Millionen wurde das Ziel verfehlt. Mit fatalen Folgen: Die Wirtschaft lag am Boden und mit ihr das kubanische Volk, dessen immenser Arbeitseinsatz nicht von Erfolg gekrönt war.
Kennzeichen dieser ersten 10 Revolutionsjahre ist nach Ansicht des Autors ein zentrales und bis heute gültiges inneres Strukturmerkmal: “Eine aus spezifischen historischen Bedingungen entstandene zentralisierte Macht- und Herrschaftskonzentration in der Form einer militärischen Kommandostruktur, die vor allem in Krisensituationen ihre Dominanz über alle sozioökonomischen Sphären präsentierte.”
Nach dem Scheitern der gran zafra erfolgte ein erneuter Kurswechsel. Die Mechanisierung und Rationalisierung der Zukkerproduktion wurde als zentrales Entwicklungsziel postuliert. Die mit dem Zucker eng verbundenen Produktionsbereiche sollten auf hohem Niveau stabilisiert – und zudem nachgelagerte Wachstumspole in der Landwirtschaft und der Industrie aufgebaut werden. Der Eintritt in den Rat gegenseitiger Wirtschaftshilfe (RGW) 1972 und die sukzessive Übernahme sowjetischer Lenkungsmethoden bildeten weitere Schritte in Richtung Übernahme des sowjetsozialistischen Modells. Relativ hohe jährliche Wachstumsraten von 3,5 bis 7 Prozent bis 1985 schienen die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zu bestätigen. Eine stagnierende Binnenproduktion und fallende Zuckerpreise bereiteten der von den KubanerInnen als “Jahre der fetten Kuh” (1980-85) bezeichneten Phase ein Ende. Ein zweites zentrales inneres Strukturmerkmal wurde laut Burchardt spätestens jetzt überdeutlich. Das Vorherrschen extensiver Produktionsformen, die insbesondere durch geringe Arbeitsproduktivität und geringe Effizienz charakterisiert sind. Die Notwendigkeit intensiven Wachstums wurde offensichtlich. Zu diesem Zweck wurde das sowjetsozialistische Modell ab 1986 nun einer Korrektur, der sogenannten rectificación unterzogen. Aufrufe zur Massenpartizipation, moralische Appelle, rhetorische Entbürokratisierungskampagnen, Anti-Korruptionspolitik und der Abbau bisheriger Lenkungsmechanismen läuteten die Korrektur ein. Die Ausschaltung von Marktmechanismen wurde zum Fixpunkt der neuen Entwicklungsstrategie. Zudem wurde die staatliche Wirtschaftslenkung rezentralisiert. Die qualitativen Wachstumsziele wurden indes verfehlt. Steigende Abwesenheit vom Arbeitsplatz ging mit sinkender Arbeitsproduktivität einher. Der Zusammenbruch des RGW nach 1989 beendete diese Phase abrupt und ließ grundlegende Reformen dringlich werden.

US-Blockade versus Sowjet-Hilfe

Neben den beschriebenen zentralen inneren Strukturelementen des kubanischen Reformprozesses arbeitet Burchardt zwei zentrale äußere Strukturelemente heraus. Da ist zum einen die US-Blockade, deren Kosten in Geldwerten schwer zu fassen ist. Klar ist hingegen, daß Kuba durch die Blockade bis 1990 kaum Alternativen zum sowjetischen Entwicklungsmodell hatte und sich seitdem die entwicklungshemmenden Wirkungen verstärkt haben, da kompensatorische Effekte aufgrund sowjetischer Hilfe nun entfallen. Zudem konterkarieren die USA durch den Druck auf potentielle Handelspartner den Versuch Kubas, sich politisch und wirtschaftlich in die Region zu reintegrieren. Innenpolitisch wird der Strukturkonservatismus, der die Reformen kennzeichnet, durch die Blockade noch verstärkt. Wenn eine falsche Entscheidung alles kosten kann, werden nur vorsichtige Reformschritte unternommen. Der Reformprozeß kommt nur langsam voran.
Als zweites äußeres Strukturmerkmal macht Burchardt den massiven externen Ressourcenzufluß aus. Über die Einbindung in den RGW erlangte Kuba Kredite und direkte Wirtschaftshilfen in beträchtlichem Ausmaß. Durch den RGW-Handel konnte es so nach offiziellen Angaben seine Importkaufkraft verdoppeln. Umso stärker traf die Insel der Zusammenbruch des RGW und damit der Verlust von zwei Dritteln der Absatzmärkte und sämtlicher Kreditgeber. Eine schwere binnenwirtschafliche Krise folgte, der die Regierung mit Reformen zu begegnen versuchte.

Von Reformen und anderen Unbekannten

Nachdem sich die Außenhandelskrise bereits deutlich abzeichnete, verkündete die kubanische Regierung im August 1990 den período especial in tiempos de paz (Sonderperiode in Friedenszeiten). Mit diesem Notstandsprogramm sollte eine weitere Verschärfung der Krise vermieden und die wirtschaftliche Erholung eingeleitet werden. Dabei standen vier Ziele auf der Prioritätenliste. Eine totale Rationierung aller verfügbaren Güter und Dienstleistungen sollte den Fortbestand der egalitären Versorgung sichern. Die sozialen Errungenschaften im Bildungs- und Gesundheitswesen, die politische Stabilität und die nationale Unabhängigkeit sollten aufrechterhalten werden. Des weiteren sollten die Importverluste durch gezielte Spar- und Importsubstitutionsmaßnahmen abgemildert werden. Schließlich wurde durch den Handel mit traditionellen Exportgütern sowie einer verstärkten Exportdiversifizierung (pharmazeutische Produkte) eine Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft angestrebt.
Burchardt beschreibt diese neue Wirtschaftspolitik als eine Kriegswirtschaft mit zentral gesteuerter Ressourcenlenkung und -verteilung. Dabei wurde die Wirtschaft in zwei Segmente aufgeteilt: ein nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktionierender Exportsektor kontrastierte mit einem nachgeordneten planwirtschaftlich organisierten Binnensektor. Dieser sollte mittels Subventionen über die Krisenphase hinübergerettet werden. Ein grundlegender Strukturwandel blieb aus. Vielmehr sollte die Gesamtwirtschaft allein durch den Devisensektor stabilisiert werden. Eine graduelle Weltmarktöffnung einzelner Wirtschaftszweige bildete das Fundament der neuen Wirtschaftsstrategie. Im Rahmen der apertura (Öffnung) wurden ausländische Direktinvestitionen und Joint-Ventures zugelassen, die Tourismusindustrie und Forschungszentren ausgebaut sowie rechtliche und politische Rahmenbedingungen angepaßt.

Scheitern der ersten Reformetappe

Im Herbst 1993 scheiterte auch diese Strategie. Verschiedene Fehlentwicklungen und Strukturdefizite werden vom Verfasser als Ursachen herausgestellt. Die Deviseneinnahmen schrumpften aufgrund eines Einbruchs in der Zuckerproduktion. Die anderweitig zu verzeichnenden Erfolge in der Weltmarktintegration reichten nicht aus, um auch nur die Devisen für das minimale Importvolumen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft bereitzustellen. Gleichzeitig scheiterte auch das 1990 gestartete Programm zur Importsubstitution (programa alimentaria) in der Lebensmittelproduktion. Ein erhöhter Importbedarf an Lebensmitteln und an Erdöl stand nun erheblich verringerten Deviseneinnahmen gegenüber. Mit der Legalisierung des Dollarbesitzes als Zweitwährung reagierte die Regierung auf die drohende Liquiditätskrise. Über diese Maßnahme sollten die Schwarzmarktdollars und die Dollarüberweisungen aus den USA angezapft werden. Für Burchardt markiert diese Dollarlegalisierung das Scheitern der bisherigen Reformschritte, mußte die Regierung nun doch zum ersten Mal offiziell das von ihr vertretene Gleichheitsprinzip aufgeben. Schließlich verfügt vermutlich nur ein Fünftel der Bevölkerung über ein regelmäßiges Deviseneinkommen. Brisant wird die Dollarlegalisierung dadurch, daß zwei besonders staatsloyale Gruppen diskriminiert werden. Die Funktionsträger, die während des Kalten Kriegs alle Verbindungen zum westlichen Ausland abbrachen und die ehemals schwarze Unterschicht, aus der nur wenige in die USA emigrierten.
Dennoch gab es zur Dollarfreigabe nach Meinung des Verfassers zu diesem Zeitpunkt keine Alternative. Die Freigabe war zwangsläufige Folge einer strukturkonservativen Anpassungsstrategie, die durch den trägen Reformverlauf die kritische Situation heraufbeschwor.
Eine zusammenhängende Strategie eines qualitativen Strukturwandels blieb während der ersten Reformetappe 1990-93 also aus. Das System hatte sich nicht gewandelt, sondern lediglich ausgedehnt. Die soziale und politische Stabilität des Systems konnte jedoch aufrechterhalten werden. “Die Existenz einer offensichtlich hochgradigen Einheit des sozialen und nationalen Konsens” wird so von Burchardt als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal des Umbruchs festgemacht.

Wandel statt Wende

Während in der theoretischen Reformdiskussion ab 1993 einem fundamentalen Systemwandel das Wort geredet und für eine dauerhafte Einführung von Marktmechanismen plädiert wurde, machte die Regierung klar, daß die Marktmechanismen nur vorübergehend zur Rettung des Sozialismus angewandt werden sollten. Dennoch wurden zentrale Strukturmerkmale als Folge weitergehender Reformen teilweise reformiert und umgestaltet: die Zentralverwaltung und die extensive Produktion. In erster Linie sind hier die Zulassung des Privatgewerbes, die Kooperativierung der staatlichen Agrar- und Zuckerbetriebe und die Wiederzulassung der freien Bauernmärkte nach den Unruhen im Sommer 1994 zu nennen. Indirekte Regulierungsformen wie Steuern ergänzen nun die direkten Kontrollmechanismen der Zentralverwaltung. Extensive Produktion wurde zum Teil durch arbeitsintensive Produktionsformen ersetzt. Allerdings läßt sich darin nach Burchardt noch keine zusammenhängende Reformstrategie erkennen. Daß die zweite Reformetappe über die erste hinausgeht, ist seiner Ansicht nach dem steigenden Reformdruck geschuldet. Eine offensive Transformation der Strukturelemente läßt indes weiter auf sich warten. Zwar kann die zweite Reformetappe schon als qualitativer Transformationsprozeß bezeichnet werden, aber eben nicht als zusammenhängender. In einer Währungsreform am Anfang und einer anderen Abfolge der Reformschritte hätte nach Burchardt eine zusammenhängende Alternative bestehen können. Das Ergebnis eines solch alternativ-fiktiven Reformverlaufs bleibt natürlich spekluativ. Klar ist jedoch, daß der unkoordinierte, tatsächliche Reformverlauf zu einer sozialen Fragmentierung geführt hat, die den weiteren Umbruch gefährdet. Den ReformgewinnlerInnen aus dem informellen und Privatsektor sowie den im Devisensektor Beschäftigten stehen die ReformverliererInnen gegenüber. Die letzteren sind in der Mehrheit und setzen sich aus den öffentlichen Angestellten, den schlechtverdienenden Industrie- und LandarbeiterInnen sowie den Kooperativisten zusammen. Der voher als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal ausgemachte soziale Konsens beginnt so zu erodieren. Bisher ist es der Regierung gelungen, durch ihr Monopol auf die politische Macht die Integrität des Systems trotz divergierender sozialer Interessen zu sichern. Burchardt hält aber eine umfassende ökonomische Wende für unabdingbar, weil eine sich fortsetzende Spaltung der Gesellschaft durch die Regierung dauerhaft kaum aufgefangen werden könnte.

Perspektiven statt Spekulationen

Wie eine solche umfassende ökonomische Wende aussehen könnte, beschreibt Hans-Jürgen Burchardt in seinem abschließenden Kapitel. Eine zusammenhängende Entwicklungsstrategie müßte demnach zwei grundlegende Faktoren berücksichtigen: Zum einen müßten vorhandene produktive Kräfte in der Binnenwirtschaft mobilisiert werden, zum anderen müßten neue entwickelt und im Weltmarktkontext eingesetzt werden. Als theoretischen Hintergrund benützt der Autor das Konzept der assoziativ-autozentrierten Entwicklungsstrategie. Dieses Konzept hat drei entwicklungstheoretische Imperative abgeleitet: eine zeitweise Abkopplung vom Weltmarkt durch Protektionismus, eine breitenwirksame Erschließung der Binnenmärkte und eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation. Dabei wird das Konzept ausdrücklich nur als theoretischer Orientierungspunkt verstanden, eine Allgemeingültigkeit dieses Konzepts dagegen zurückgewiesen.
Die Landwirtschaft müßte demnach in der zukünftigen Entwicklungsstrategie Priorität erhalten. Dort könnten Produktivitätssteigerungen ohne massiven Ressourceneinsatz realisiert werden. Große Bedeutung käme auch dem Zucker zu. Aber nicht mehr in erster Linie als Exportprodukt, sondern vielmehr als Ressourcenträger. So könnte Papier auf der Basis von Zuckerrohrbagasse hergestellt werden. Die dazu benötigte Technologie wurde bereits entwickelt.

Zukunft des Sozialismus

Burchardt geht jedoch über die Forderung nach einer ökonomischen Wende für Kuba hinaus. Er begibt sich generell auf die Suche nach einer Alternative zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus. Im Mittelpunkt einer neuen Sozialismuskonzeption steht für ihn die Demokratisierung der betrieblichen Sphäre, die die ProduzentInnen gemeinsam zum unmittelbaren Eigentümer ihrer Produktionsmittel macht. Diese Demokratisierung vermochte der Staatssozialismus nicht zu leisten. Ein solcher Marktsozialismus würde als zentrale Komponente die Verknüpfung von demokratisierten Wirtschaftsunternehmen in verschiedenen Eigentumsformen und eine gesamtwirtschaftliche Steuerung durch einen demokratisierten, dezentralen Staat beinhalten.
Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs zum Kapitalismus bleibt für Burchardt somit weiter auf der Tagesordnung. In der gemeinsamen bewußten Überwindung des Kapitalismus im Norden wie im Süden sieht Burchardt die Zukunft der Weltgesellschaft. Ein einsamer Rufer in der Wüste oder doch mehr. Zumindest ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur Kuba-Interessierten ausgiebige Einblicke verschafft, sondern die Diskussion um gesellschaftliche Gegenentwürfe neu beleben könnte.

Hans-Jürgen Burchardt: Der lange Abschied von einem Mythos. Schmetterling Verlag, Stuttgart 1996. 264 Seiten. 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Der Rock, der aus dem Barrio kommt

Es ist ihre erste Auslandstournee überhaupt. Allerdings waren LOS MOJARROS bisher im eigenen Land überaus beschäftigt: Erst 1992 hatten sie ihr erstes Konzert, und schon ein Jahr später wurden sie eingeladen, die Musik für den Film “Anda, corre, vuele…” (Geh, lauf, flieg…) zu produzieren. Seither können sie über mangelnde Popularität nicht klagen. 1994 und 1995 machten sie die Musik für zwei beliebten Fernsehserien, und ihre CDs und Videos stehen in den Hitlisten weit oben.
Damit scheint zu gelingen, was LOS MOJARROS sich vorgenommen haben. Denn bisher war Rock in Peru eher eine Sache für Reiche, nichts für die Leute “aus dem Viertel”. In ihrer Musik wollen sie diesen Riß zwischen “weißem” Rock und der populären Musik, die eher von Mestizen und Indígenas gehört wird, kitten – es ist ein Riß, den sie als Mestizen am eigenen Leibe erfahren. Die Traditionen ihrer Vorfahren gehören genauso zu ihnen wie die Kultur der Großstadt. Um die alltäglichen Erfahrungen der Zerrissenheit geht es in ihren Texten, und aus der Musik kann man das heraushören. Sie sind auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, natürlich nach Liebe, und nach soetwas wie Identität der jungen PeruanerInnen.
Ihre Musik bezeichnen sie selbst als mestizisch. Populäre Rhythmen wie Chicha, Huayno, Salsa und Vals werden aufgegriffen und mit frischem, druckvollem Rock gemischt. Dieses Konzept scheint anzukommen, denn es entspricht der Lebenswirklichkeit von Tausenden, die aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen sind – ebenso wie die Vorfahren der Band-Mitglieder. Sie wissen also, wovon sie reden. “Das Gute an LOS MOJARROS ist, daß wir die breite Masse verstehen, ohne darüber nachdenken zu müsen, weil wir Teil von ihr sind”, so Hernán Condori, Chef der Gruppe.
Auf ihrer Tournee durch Deutschland stellen sie ihre neue CD vor: “Opera salvaje para tribus urbanos”, Wilde Oper für Stadtvölker. 1997 geht es dann weiter mit einer Rockoper, die unter anderem beim Festival des lateinamerikanischen Theaters “Theater Adelante” in den USA gespielt werden soll.
Übrigens: Der Film “Anda, corre, vuele…” ist eine Koproduktion mit dem ZDF. Die deutsche Fassung hat den Titel “Gregorio und Juliana” und wird parallel zur Tournee in 19 deutschen Städten gezeigt.
P.S.: Es ist bedauerlich, daß die Tournee nicht auch irgendwo in Neufünfland Station macht. Sei es, daß das am mangelnden Engagement der Organisatoren oder an fehlender Bereitschaft der Kulturleute vor Ort liegt – Interesse an lateinamerikanischem Rock besteht nicht nur in Tübingen, Hamburg & Co.

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