Der Rock, der aus dem Barrio kommt

Es ist ihre erste Auslandstournee überhaupt. Allerdings waren LOS MOJARROS bisher im eigenen Land überaus beschäftigt: Erst 1992 hatten sie ihr erstes Konzert, und schon ein Jahr später wurden sie eingeladen, die Musik für den Film “Anda, corre, vuele…” (Geh, lauf, flieg…) zu produzieren. Seither können sie über mangelnde Popularität nicht klagen. 1994 und 1995 machten sie die Musik für zwei beliebten Fernsehserien, und ihre CDs und Videos stehen in den Hitlisten weit oben.
Damit scheint zu gelingen, was LOS MOJARROS sich vorgenommen haben. Denn bisher war Rock in Peru eher eine Sache für Reiche, nichts für die Leute “aus dem Viertel”. In ihrer Musik wollen sie diesen Riß zwischen “weißem” Rock und der populären Musik, die eher von Mestizen und Indígenas gehört wird, kitten – es ist ein Riß, den sie als Mestizen am eigenen Leibe erfahren. Die Traditionen ihrer Vorfahren gehören genauso zu ihnen wie die Kultur der Großstadt. Um die alltäglichen Erfahrungen der Zerrissenheit geht es in ihren Texten, und aus der Musik kann man das heraushören. Sie sind auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, natürlich nach Liebe, und nach soetwas wie Identität der jungen PeruanerInnen.
Ihre Musik bezeichnen sie selbst als mestizisch. Populäre Rhythmen wie Chicha, Huayno, Salsa und Vals werden aufgegriffen und mit frischem, druckvollem Rock gemischt. Dieses Konzept scheint anzukommen, denn es entspricht der Lebenswirklichkeit von Tausenden, die aus der Provinz in die Hauptstadt gekommen sind – ebenso wie die Vorfahren der Band-Mitglieder. Sie wissen also, wovon sie reden. “Das Gute an LOS MOJARROS ist, daß wir die breite Masse verstehen, ohne darüber nachdenken zu müsen, weil wir Teil von ihr sind”, so Hernán Condori, Chef der Gruppe.
Auf ihrer Tournee durch Deutschland stellen sie ihre neue CD vor: “Opera salvaje para tribus urbanos”, Wilde Oper für Stadtvölker. 1997 geht es dann weiter mit einer Rockoper, die unter anderem beim Festival des lateinamerikanischen Theaters “Theater Adelante” in den USA gespielt werden soll.
Übrigens: Der Film “Anda, corre, vuele…” ist eine Koproduktion mit dem ZDF. Die deutsche Fassung hat den Titel “Gregorio und Juliana” und wird parallel zur Tournee in 19 deutschen Städten gezeigt.
P.S.: Es ist bedauerlich, daß die Tournee nicht auch irgendwo in Neufünfland Station macht. Sei es, daß das am mangelnden Engagement der Organisatoren oder an fehlender Bereitschaft der Kulturleute vor Ort liegt – Interesse an lateinamerikanischem Rock besteht nicht nur in Tübingen, Hamburg & Co.

Calaveras und Jaguarkrieger

Mit den unterschiedlichen Konzeptionen von Tod und somit von Leben im alten Mexiko und dem spätmittelalterlichen, von der Pest dezimierten Europa mit seinen Totentänzen setzt sich das Buch “Der Tod in Mexiko” von Paul Westheim auseinander. Die darin beschriebenen Motive des aztekischen Gottes der Unberechenbarkeit, Tezcatlipoca und seiner Jaguar-Krieger werden auch in der Aktualität wieder aufgegriffen, nicht zuletzt von den neu auftgetauchten sozialen, teilweise bewaffneten Bewegungen im südlichen Mexiko, in Guerrero und Oaxaca, die sich sehr auf die Jaguar-Symbolik beziehen.
Die Vorstellung einer Hölle im christlichen Sinne ist in Mexiko in jeder Hinsicht Import. Ebensowenig kannten die mesoamerikanischen Völker die “Verheißung” eines Himmels, das einzig Lohnenswerte im Zusammenhang mit dem Tod war es noch, für die Götter zu sterben, das Schicksal der geopferten Kriegsgefangenen.
Dementsprechend ist auch die Konzeption vom Leben vor dem Tod eine andere als in Europa. Was vor allen Dingen fehlt, ist die Vorstellung, durch religiös normgerechtes Verhalten das Schicksal nach dem Abtritt von der Weltbühne beeinflussen zu können. Bei den Azteken war der Tod nichts besonderes, ein alltägliches Geschehen, und es ist fraglich, wieweit es den spanischen Eroberern gelang, ihren Nachfahren die Furcht vor ihm zu lehren, war der Tod doch angesichts der Lebens”qualität”, die die neuen Herren den eroberten Bevölkerungen aufdrückten, oftmals eher die angenehmere Option. Paul Westheim stellt zwei unterschiedliche kulturelle Konzeptionen nebeneinander: Todesfurcht versus Lebensangst. Für die indianische Bevölkerung war von jeher und ungeachtet der sozialen Zugehörigkeit die unmittelbare Lebenserfahrung erst einmal die der Unberechenbarkeit, des potentiellen und unbeeinflußbaren Verhängnisses. Dies besserte sich nicht gerade, nachdem, losgelassen durch ein päpstliches Plazet: “es ist allen erlaubt, zu glauben daß die Erde rund ist”, die Spanier ins Land fielen, die ihre katechistisch unterlegte Überzeugung “man lebt nur einmal” unmißverständlich mit Ausbeutung und Raffsucht manifestierten. Die mesoamerikanischen Völker verstanden den Tod dagegen eher als eine Art temporären Ortswechsel – es gab in Mexiko eine relativ materielle Vorstellung von Wiedergeburt. Hiervon ausgenommen waren lediglich die eher spektakulären “Tode” wie die der Krieger, der geopferten Kriegsgefangenen und der Frauen, die im Kindbett starben. Sie alle vereinten sich ohne Umwege direkt mit der lebensspendenden Sonne. Einer gewissen Klassenhierarchie des Todes stand das grundsätzliche Prinzip der Unzerstörbarkeit der Lebenskraft gegenüber. Die eines “normalen” Todes Gestorbenen reisten – und auch das nur auf absehbare Zeit – nach Mictlan, in das Reich des Totengottes Mictlantecuhtli, der jedoch keine besonders herausragende Stellung im aztekischen Pantheon besaß.

Ein Zauberer und Unheilbringer

Die weitaus schillerndere Figur heißt Tezcatlipoca. Tezcatlipoca ist der Gott des Verhängnisses, ein Zwietrachtsäer und professioneller Bösewicht. Die Wahrscheinlichkeit, es mit ihm zu tun zu bekommen ist relativ gegenwärtig, er lauert so ziemlich überall, nichts besseres im Sinn, als Panik und Verzweiflung zu verbreiten. Sein Name heißt übersetzt: “rauchender Spiegel”, im Zusammenhang zu sehen mit seiner graphischen Darstellung. Ihm fehlt der linke Fuß, an dessen Stelle sitzt ein Spiegel aus Pyrit, mithilfe dessen Tezcatlipoca quasi alles sehen kann, was sich unter den Menschen abspielt. So gibt es kein Entrinnen. Er ist assoziiert mit der untergehenden Sonne, mit Finsternis und dem Abendstern. Sein vorrangiges Zeichen ist der Jaguar, das tückische Raubtier, das seinen Opfern im Hinterhalt auflauert, und das am Tagesende die lebensspendende Sonne verschlingt. Ebenso wie die Erdgöttin Coatlicue, die “Erdkröte”, die Toten zunächst verschlingt. Auch sie ist mit Finsternis assoziiert, aus der jedoch wieder Leben erwächst. Verschlingen und Gebären werden in einen logischen Zusammenhang gebracht. Diese Zeitkonzeption ist eine zyklische, von den linear denkenden Europäern bis heute belächelte.
Tezcatlipoca kann sich jederzeit problemlos in einen Jaguar verwandeln. Er ist unter anderem auch der Gott der Straßenräuber und der Zauberer. Auf ihn ist kein Verlaß, er ist nicht einplanbar. Von daher gibt es in diesem Leben auch keine Sicherheit, das Unglück kommt unvorhergesehen.

Wer sitzt am längeren Hebel?

Tezcatlipoca ist ein “wahrer Teufel”, aber dennoch nicht mit dem gleichnamigen Herrn der christlichen Hölle zu vergleichen. Er ist nicht identisch mit dem Sensenmann, dem personifizierten Tod des spätmittelalterlichen, von der Pest heimgesuchten Europa. Tezcatlipocas Wirkungskreis ist eindeutig das jetzige Leben, das von Unabwägbarkeiten und Leiden geprägt ist. Die Alternative ist nicht eine durch Frömmigkeit zu erwirkende Erlösung, sondern vielmehr die Anerkennung einer unbeständigen und einer von Konzepten wie Schuld oder Unschuld unabhängigen, magischen Realität. “Nicht der Tod ist das Schrecknis dieser Welt, sondern Tezcatlipoca, das Bewußtsein, niemals Herr sein zu können über das Schicksal.” (Westheim). Die beständige Ungewißheit, ob auf das Heute ein Morgen folgt, spiegelt sich im aztekischen Kalender – heute bestens als touristisches Mitbringsel bekannt und beliebt. Alle 52 Jahre schloß sich der Zyklus der aztekischen Zeitrechnung, aus vier Zeichen mal dreizehn Jahreszahlen bestehend, und das gesamte Land zitterte, ob am nächsten Morgen möglicherweise die Sonne wieder aufginge, womit ein neuer Zyklus gesichert wäre. Es war in der mesoamerikanischen Welt verhältnismäßig leicht zu sterben und schwer zu leben. Eine nicht besonders glückliche, auf alle Fälle provisorische Situation; bei den Maya wurde das neugeborene Kind als “Gefangener des Lebens” bezeichnet.

Familienzwist im Pantheon

Tezcatlipoca hat auch engere Verwandte. Er und Quetzalcoatl (der friedliche Gott der Azteken), das ungleiche Brüderpaar, sind weniger “ewige Rivalen”, wie Westheim schreibt, als Widersacher vom Thema her. Sie ergänzen sich, etwa in der Verursachung der Vernichtung und dadurch bedingten Abfolge der vier Welten, die der jetzigen vorausgingen: zwei dieser auf vier Säulen ruhenden Welten werden von Quetzalcoatl, dem Morgenstern zerstört, zwei macht sein Bruder, der Abendstern=Tezcatlipoca nieder. Dies spiegelt zum einen das zyklische Zeitverständnis wieder, zum anderen die unmißverständliche Geschichtsschreibung der Azteken. Tezcatlipoca sitzt am längeren Hebel und überlistet Quetzalcoatl, den Humanisten, den Pazifisten und Gegner der Menschenopfer, Verfechter einer Reformstrategie, die der Theokratie ein Dorn im Auge ist. Er läßt seine List und Tücke walten, und Quetzalcoatl betrinkt sich, begeht Inzucht mit seiner Schwester und räumt, die Konsequenzen aus diesen beiden Todsünden ziehend, per Selbstmord das Feld. Auf Tezcatlipoca ist in mancher Hinsicht doch Verlaß, er ist aufgrund seiner quasi “sportlichen Passion für Vernichtung” (Westheim) der geeignete “man for the job”, die Ablösung des eher harmonischen toltekischen Staatsgefüges durch die kriegerischen Azteken mythologisch zu legitimieren.

Der wandlungsfähige “Tigre”

Der Jaguar verkörpert die Art der Zerstörung und Vernichtung, die keiner moralischen Begründung bedarf. Er steht für die Ungewißheit, nicht angesichts des Todes sondern aufgrund des potentiell tragischen und qualvollen Lebens. In der zwangsbekehrten indianischen Bevölkerung wurde das Motiv des leidenden Christus mit der Dornenkrone mit einer wahren Leidenschaft thematisiert, entsprach es doch der eigenen Lebenserfahrung. Es kam sicherlich ein Einfluß seitens des spanischen Verismus in der Malerei hinzu, jedoch ist der meist von anonymen Künstlern in den Dorfkirchen des 16. Jahrhunderts dargestellte “koloniale Nazarener” (Westheim) eine synkretistische und somit autochtone Schöpfung.
Als die Personifizierung von Lebensangst, ist Tezcatlipoca jedoch gleichzeitig einer der Schöpfungsgötter, er ist der “ewig Junge”, kurz gesagt: er hat Power. Er ist auch nicht umsonst der Herr der Jaguar-Krieger, die “aus dem Herzen der Berge” kommen – auch hier ein Bezug zur Erdgöttin Coatlicue, die ebenfalls dort wohnt.
Der Danza del Tigre, wird in den entlegensten Regionen Guerreros, Oaxacas und in Michoacan vereinzelt heute noch aufgeführt. Es ist ein mit dem Maisanbau zusammenhängender Fruchtbarkeitstanz – die tückischen und unberechenbaren Jaguare dringen auf die frisch bestellten Maisfelder und müssen von den cazadores, den Jägern, besiegt werden, damit der Mais wachsen kann. Der Tanz verliert mehr und mehr an traditioneller Bedeutung. Wozu ein Fruchtbarkeitsritus, wenn die macehualli, die indigenen Kleinbauern, kein Land haben. Die Jaguarmasken werden weiterhin geschnitzt und – auf alt getrimmt, oder auch als Miniatur-Souvenirs – an Touristen verkauft.
Die Jaguar-Krieger töteten nicht, oder nur aus Gründen der Selbstverteidigung. Ihre Aufgabe war es, Kriegsgefangene heranzuschaffen, mithilfe deren ritueller Opferung der Lauf der Sonne und des gesamten Kosmos aufrechterhalten wurde.
Die Symbolik der unberechenbaren und zerstörerischen Jaguare, die jedoch gleichzeitig tapfere und unerschrockene Krieger sind, wird mit dem Erstarken des indigenen Widerstandes im südlichen Mexiko wieder aufgegriffen. Bereits in der seinerzeit vernachlässigten und kaum zur Kenntnis genommenen “Erklärung aus den Bergen von Guerrero” vom Dezember 1994 heißt es in jedem zweiten Abschnitt: “Wir, das Volk des Regens, die Menschen aus dem Herz der Berge, die Jaguar-Menschen … sagen Euch (an die EZLN und ihr Umfeld gerichtet): Ihr seid nicht allein”. Hier wird ein eindeutig anderes und militanteres Bild heraufbeschworen, eine andere Sprache gesprochen als die eines Käfers Don Durito aus dem lacandonischen Urwald.

Vom Totentanz zu den Calaveras

Die mexikanischen Künstler Hernandez, Manilla und – als bekanntester – José Guadalupe Posada – griffen in einer ebenso unerschrockenen Sprache und in satirischen Darstellungen die Motive des europäischen Totentanzes, des “danse macabre” auf. Der Totenreigen der Spätgotik, zunächst als Fresko an den Friedhofsmauern realisiert, entsprach zum einen dem Bedürfnis der pestgeplagten Europäer (1348 ging, glaubt man den entsprechenden statistischen Recherchen, 1/5 der gesamten Menschheit zugrunde), die Angst vor Hölle und Verdammnis geistig abzureagieren, zum anderen war er auch Ausdruck einer Art Profilneurose in einer Zeit des ideologischen Umbruchs, einer aufgewühlten Epoche. Die Höllenvisionen von Bosch, Dürer und anderen symbolisieren die Wert-Unterminierung der traditionellen spätmittelalterlichen Gesellschaft. Der Totentanz unterläuft jedoch auch in Europa einer eigendynamische Entwicklung: aus einem makabren Reigen, in dem sich Edelmänner und Frauen jeweils “tête à tête” ihrem illustren entleibten Partner gegenüberstehen, wird das abstrakte Skelett, das durch die Lande schweift und die “Sterblichen” gleich welcher Klasse, egal bei welcher Tätigkeit sie auch gerade sind, erwischt. Bei den Holzschnitten von Holbein etwa findet, so Westheim, eine Demokratisierung des Todes statt, eine Art Sozialkritik an der immer noch ständischen Gesellschaft. Diese Tendenz greifen die mexikanischen Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts auf. Eine Art “Narrenfreiheit” nutzend, die angesichts des für die Bevölkerung so bedeutsamen Tages der Toten herrscht, verfassen sie Flugblätter, in denen Mißwirtschaft sowie politische Persönlichkeiten angeprangert werden. Der Tod tritt sehr menschlich auf, als berittener Don Quichotte, als Räuber, als Pulque-Trinker – Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind “eher zufällig” bzw. unter dem Deckmäntelchen von Sarkasmus, volkstümlichem Humor und Ironie getarnt. In Mexiko ist der Tod ohnehin ein guter Bekannter, ein vertrauter Gast, ein Gegenspieler in einem durchaus fair ausgetragenen Spiel. Die Konzeption des Todes ist mehr oder weniger die einer anderen Daseinsform. So “trifft man sich” auch am 2. November eher unspektakulär. Es gibt keine Thematisierung einer furchterregenden Wiederkehr der Seelen. Die Toten sind vielmehr eher “auf Urlaub”, geniessen die ihnen dargebrachten Speisen sowie die Aufmerksamkeit, die ihnen zu Ehren errichteten, mit den Totenblumen, den cempazuchiles, geschmückten Altäre und die Kerzenprozessionen zum Friedhof, wo man sie abholt, und verschwinden anderntags ebenso unspektakulär wieder.
Vom 31.10. bis 3.11.1996 findet in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg, anknüpfend an die gute Resonanz einer gleichartigen Veranstaltung im letzten Jahr im Haus der Kulturen der Welt, eine dreitägige Reihe zur Thematik des “Día de los Muertos” in Mexiko statt. In den verschiedenen Musik- und Tanzperformances der Gruppe Calaca e.V. und in Vorträgen von José Mendez und Barbara Beck werden die calaveras, die dekorierten Totenschädel, der Tod und die Geburt der Götter sowie die unterschiedliche Bedeutung des Todes in Mexiko und Europa, die Eigen- und Fremdsicht dieser Trauer, die auch Fest ist, thematisiert. Die Intention des Vereins Calaca hierbei ist es, durch eine Veranschaulichung der verschiedenen und doch zusammenhängenden Aspekte dieses Ereignisses, vom gemeinsamen Speisen mit den Toten, dem Opfertisch – in dessen Rahmen auch die an der Festivität in der Kulturbrauerei Teilnehmenden ihren Beitrag loswerden können – wie auch durch Tanzdarbietungen ein Stück Identität und Selbstverständnis der mexikanischen Volkskultur nach außen zu tragen.

Paul Westheim: “Der Tod in Mexico.” 131 S., Verlag Müller und Kiepenheuer, Hanau 1986.

Lizenz zum Töten

Eldorado liegt im Süden Parás in unmittelbarer Nähe der berühmten (und zur Zeit stilliegenden) Goldmine “Serra Pelada” und von Carajás, der größten Eisenerzmine der Welt. Eine Region intensiver Landkonflikte. Am 16. April blockierten 1500 Landlose die Landesstraße PA 150, die die Region mit der Landeshauptstadt Belém verbindet. Die Blockade sollte die Regierung dazu bringen, die Ansiedlung der Landlosen zu beschleunigen. Noch am selben Tag gab Gouverneur Almir Gabriel den Befehl, die Straße zu räumen. Die Aufnahmen eines Fernsehteams zeigen anscheinend, was geschah: Bei dem Versuch, die Straße zu räumen, werden die Polizisten von den Landlosen angegriffen. Die Polizei schießt zunächst in die Luft; als sie von den BesetzerInnen in die Flucht geschlagen wird, schießt sie mit scharfer Munition in die Menge. Aber eine weitere Sequenz läßt schon ahnen, daß es sich hier nicht einfach um eine Straßenschlacht handelte. Das Fernsehteam sucht in einer Hütte am Straßenrand Zuflucht, die Hütte wird beschossen. Die Reporterin schreit aus der Hütte: “Hier sind nur Frauen und Kinder”, die Polizei schießt weiter. Schließlich wird das Fernsehteam festgenommen.

Der Soziologenpräsident und das Massaker

Am Tag nach dem Massaker – bevor die Fernsehbilder gezeigt wurden – erklärte Präsident Cardoso, das sei eine Geschichte des “archaischen Brasiliens”. Klar, daß er als Vertreter des “modernen” Brasiliens damit nichts zu tun hat. Bankrotter kann sich eine zynische Vernunft kaum zeigen: Opfer und Täter sind zusammen nur noch Chiffren einer intellektuellen Leerformel. Als das Fernsehen die erschütternden Bilder zeigt, verkündet Cardoso andere Leerformeln: Das Massaker sei “unerträglich, nicht zu rechtfertigen, und erschüttert das Land und den Präsidenten”. Die späte Erschütterung hat einen einfachen Grund. Das beschossene und verhaftete Fernsehteam arbeitet für den Regionalsender TV Liberal, dem paraensischen Ausstrahler des allmächtigen Fernsehsenders Globo. Und Globo entschloß sich, die Bilder mit großer Intensität zu verbreiten. So wird Eldorado zu einem Massaker, das mehr als andere in letzter Zeit in Brasilien aufrüttelt.
Aber einen entscheidenden Teil dessen, was sich am 17. April abspielte, zeigen die Bilder des Fernsehens nicht. Nach den ersten gerichtsmedizinischen Gutachten sind mindestens zehn der Landlosen von der Polizei keineswegs im Konflikt erschossen, sondern gezielt hingerichtet worden. Zu den Gutachten kommen Zeugenaussagen. Um nur eins der blutigen Beispiele zu zitieren: Der siebzehnjährige Oziel Pereira, trotz seines Alters einer der Führer der Landlosen, wird von den Militärpolizisten aus dem Haus geschleppt, in dem er sich versteckt hatte, geschlagen und schließlich durch Schüsse in den Kopf getötet. Ein ganze Reihe von Zeugenaussagen stimmen darin überein, daß auch Kinder und Frauen getötet wurden. Unter den neunzehn registrierten Toten finden sich aber keine Frauen und Kinder. Zwei Lehrerinnen, die in einem der Busse waren, die blockiert wurden, sagen nun aus, daß sie gesehen haben, wie die Militärpolizisten Leichen von Frauen und Kindern abtransportierten. So bleibt also ein Zweifel über die wahre Zahl der Toten. Die Landlosenbewegung gibt an, daß etwa hundert Personen, die sich bei oder im Umfeld der Blokkade befanden, verschwunden seien. Ein wichtiges Detail zeigt, in welchem Geist die Aktion durchgeführt wurde: Militärpolizisten tragen in Brasilien Namensschilder auf ihren Uniformen. Vor dem Einsatz in Eldorado hatten die Militärpolizisten die Namensetiketten abgetrennt. Sie hatten offensichtlich die Lizenz zu töten.

Die Aktualität der Agrarreform

Das Massaker von Eldorado reiht sich in eine Serie von blutigen Landkonflikten ein. Das “archaische” Brasilien hat sich damit wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Bewegung der Landlosen, zu einem großen Teil im MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem-Terra) zusammengeschlossen, ist zu dem wohl unbequemsten Widersacher der Regierung Cardoso geworden. Das MST hat seit Beginn letzten Jahres eine unerwartete Mobilisationskraft gezeigt. Gezielt wurden die Landbesetzungen, insbesondere in den Bundesstaaten Sao Paulo und Paraná, intensiviert. In derselben Woche, in der das Massaker in Eldorado stattfand, besetzten 10. 000 Landlose in Paraná Teile einer 80. 000 Hektar großen Fazenda. Es ist die größte Landbesetzung in der Geschichte des MST. Während die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen eher wie von der Politik Cardosos betäubt wirken oder zumindest nur geringes Widerstandspotential entwickeln können, zeigt das MST eine erstaunliche Effizienz. In einer selbstgesuchten Teilisolierung von anderen sozialen Bewegungen Brasiliens, unterstützt von einem Teil der Kirche, hat das MST eine Strategie der gezielten Konfrontation verfolgt. Die blutigen Reaktionen zeigen, daß die Landfrage auch heute noch ein soziales Problem von höchster Priorität ist.
Tatsächlich hat Brasilien nie eine Landreform erlebt, die diesen Namen verdiente. Die Landverteilung ist nach wie vor eine der ungerechtesten der Welt. Von den 4,7 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben, die in Brasilien existieren, besitzen 58.000 Großgrundbesitzer 264 Millionen Hektar, oder 42,9 Prozent der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche des Landes. Allein die 350 größten Fazendas umfassen 50 Millionen Hektar. Die größte Fazenda Brasiliens gehört dem Bauunternehmer Cecilio Rego Almeida. Mit 4 Millionen Hektar ist sie größer als die Niederlande. Auf der anderen Seite teilen sich vier Millionen Kleinproduzenten, das sind 87 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe, nur 20 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Für den Bundesstaat Pará, dem Zentrum der gewalttätigsten Konflikte, sehen die Zahlen noch dramatischer aus. Die Anzahl der Landlosen ist schwer zu schätzen. Immer wieder wird eine Zahl von fünf Millionen genannt, aber dabei sind sicherlich viele posseiros mitgezählt, das heißt Kleinbauern, die zwar ein Stück Land bearbeiten, aber keine offiziellen Besitztitel haben.
Wie alle Regierungen hat auch Fernando Henrique Cardoso versprochen, etwas zu tun. Landreformen sind inzwischen aus der Mode geraten, Modernisierung lautet das neue Schlagwort. Die Ansiedlung von Landlosen läuft dabei eher unter den Stichworten “Sozialpolitik und Armutsbekämpfung”. Aber selbst die bescheidenen Ziele, die sich die Regierung zu erreichen vorgenommen hat, sind nicht erfüllt worden: Von den versprochenen 43. 000 Familien sind gerade einmal 7.000 angesiedelt worden. In den Händen der Staatsbehörde INCRA ist die Ansiedlung von Landlosen eine bürokratische, langwierige und teure Angelegenheit. Denn Brasilien ist, zumindest für Menschen, die Geld haben und einen guten Anwalt bezahlen können, durchaus ein Rechtsstaat. Einsprüche, lange Prozesse und zum Teil hohe Entschädigungen sind die Folge. Es war auch im Fall Eldorado diese Zähigkeit, welche die Aktion der LandbesetzerInnen provozierte: Immer wieder verzögerte sich die versprochene Ansiedlung auf der Fazenda Macaxeira wegen bürokratischer Schwierigkeiten. Nach dem Massaker versprach die Landesregierung nun Schnelligkeit.
Aber es sind mehr als nur bürokratische Schwierigkeiten, die eine andere Politik im Agrarbereich verhindern. Für die Regierung liegt hier keine politische Priorität, und sie ist politisch abhängig von reaktionären Agrarkreisen.

Konfuse Kabinettsumbildung

Der bisherige Landwirtschaftsminister Andrade Vieira war alles andere als ein Hoffnungsträger: Er ist Präsident der Bamerindus, der drittgrößten Privatbank des Landes, die selbst Großgrundbesitzer ist. Am Tag nach dem Massaker ist Vieira zurückgetreten.
Fernando Henrique zog aus den Ereignissen eine klassische Konsequenz: Er schuf ein neues Ministerium. Das bereits früher existierende “Ministerium für Agrarreform” erlebte die Wiederauferstehung. Chef des neuen Ressorts ist Raúl Jungmann, bisheriger Leiter der Umweltbehörde IBAMA. Die Besetzung hat durchaus eine Pointe: Jungmann ist Mitglied der PPS, der so umgetauften ehemaligen kommunistischen Partei. Die PPS hat sich inzwischen zu einer kleinen, aber recht effizienten reformerischen Gruppe gewandelt, hierzulande oft als “Linke light” tituliert. Jungmann hat in der schlecht beleumundeten IBAMA für eine gewisse Öffnung und Dezentralisierung gesorgt.
Für das neue Ministerium hat Cardoso ihm freie Hand gegeben. Der erste Schritt Jungmanns war, den Vorsitzenden der Landarbeitergewerkschaft CONTAG einzuladen, den neuzubildenden “Nationalen Rat für Agrarreform” zu leiten. Mit der Wahl Jungmanns hat Cardoso einen Mann seines Vertrauens in das neue Ministerium lanciert, um so das sozialreformerische Image seiner Regierung zu retten. Einen Erfolg hat die Bewegung der Landlosen damit erreicht: Die Agrarreform kehrt zumindest in die Regierungsrhetorik zurück. Was an Taten folgt, muß abgewartet werden.
Mit der Ausgrenzung des Ressorts “Agrarreform” aus dem Landwirtschaftsministerium hat Cardoso auf der einen Seite freie Hand, in einer Minikabinettsumbildung seine reaktionären Bündnispartner zu bedienen. Die PPB, Partei der Militärdiktatur, wurde bereits mit dem Ministerium für Industrie, Handel und Tourismus belohnt. Politikveteran Francisco Dornelles ist der neue Minister; die bisherige Amtsinhaberin, die smarte Dorothea Werneck, sollte das Landwirtschaftsministerium übernehmen, hat dies aber wegen eingestandener Inkompetenz abgelehnt. Bei Redaktionsschluß stand der neue Landwirtschaftsminister noch nicht fest.
Sicherlich wird es in den nächsten Wochen nicht an sozialer Rhetorik fehlen und vielleicht auch zu einigen spektakulären Ansiedlungen kommen. Durchgreifende Änderungen sind jedoch nicht in Sicht. Die sogenannte Agrarfraktion, ein Zusammenschluß von Abgeordneten, die Großgrundbesitzerinteressen vertreten, ist größer als die größte Partei des Parlaments – und erheblich disziplinierter. Gegen diesen Block unternimmt die Regierung nichts, sie hängt vielmehr politisch von ihm ab. Wenn Cardoso also das “archaische” Brasilien bekehren will, dann kann er bei seiner Regierung anfangen.

Strafvollzug und Straffreiheit

In Brasilien kam es Ende März im Bundesstaat Goiás zu einer Gefangenenmeuterei, bei der die rebellierenden Häftlinge 18 Geiseln in ihre Gewalt brachten, darunter den Direktor des Gefängnisses und mehrere Mitglieder einer Kommission von Richtern und Anwälten, die zur Begutachtung der dortigen Zustände ins Gefängnis gekommen waren. Für nahezu zwei Wochen übernahmen die revoltierenden Häftlinge das Centro Penitenciário Agroindustrial de Goiás (Cepaigo) in Selbstverwaltung, während die Polizei das Terrain weiträumig umstellt hielt.

Von Meutereien, Medien und Maconha

Die Häftlinge forderten Drogen, Waffen, Geld und Fluchtautos, in denen sie dann mit einigen Geiseln flohen. Während der live im Fernsehen übertragenen Verfolgungsjagd kam es zu mehreren Schußwechseln, bei denen ein Häftling und eine Passantin getötet wurden. Letztlich wurden die Flüchtenden – unter Beisein der anwesenden Reporterschar – von der Polizei gestellt.
Das brasilianische Fernsehen machte aus der Gefängnisrevolte eine allabendlich, pünktlich zu den Nachrichten fortgesetzte reality-show als telenovela. Der TV-Star wurde Leonardo Pareja, ein zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Gefangener, der während der Revolte Sprecher der Häftlinge war und nach Angaben der Geiseln entscheidend dazu beigetragen hatte, daß die Revolte “verhältnismäßig unblutig” verlief. Pareja war schon im letzten Jahr ein Medienereignis, als er ein dreizehnjähriges Mädchen entführt hatte und mit ihr durch drei Bundesstaaten vor der Polizei floh und der Presse bereitwillig Interviews gab. Nun wurde er zum Hauptdarsteller des Abendprogramms bei TV-Globo: Das in den Medien alles beherrschende Bild der Gefängnismeuterei zeigte Pareja oben auf dem Dach des Gefängnisses sitzend, auf der Gitarre spielend und dabei genüßlich maconha-rauchend, vor den Augen der über Satellit dem Spektakel beiwohnenden brasilianischen Öffentlichkeit.
Durch die lässigen Allüren des in der Öffentlichkeit zum bom bandido avancierten Pareja und dessen Publicity fühlte sich die Wochenzeitschrift Veja derart provoziert, daß sie in einer Titelstory die Medienwirksamkeit dieses “Banditen” und das Verhalten der Medien anprangerte. Bedauernswert fand die Veja es außerdem, daß es in der brasilianischen Polizei nicht genügend für derartige Ernstfälle ausgebildete Spezialisten gebe, wie zum Beispiel in der BRD die GSG 9 … Solche gedanklichen Auswüchse sind symptomatisch für eine Berichterstattung über eine Häftlingsmeuterei, bei der mit keinem Wort über ihre Ursachen reflektiert wird. Die Zustände in den brasilianischen Gefängnissen als Ursachen der Meuterei fanden in der Veja keine Erwähnung. Der soziale Sprengstoff in den brasilianischen Knästen geriet dabei letztlich vollkommen aus dem Blickwinkel des öffentlichen Interesses: Es scheint, daß das Rauchen von Maconha einen größeren Skandal darstellt als Menschenrechtsverletzungen.

“Müllkippen für Gefangene”

Das Gefängnis Cepaigo ist mit seinen 702 Gefangenen um 100 Prozent überbelegt, wie die meisten Haftanstalten Brasiliens, in denen sich Schätzungen zufolge rund 130.000 Häftlinge 60.000 Plätze teilen müssen. Im April 1989 waren in Brasilien nach offiziellen Angaben “nur” 90.691 Personen inhaftiert, die eigentliche Kapazität der Haftanstalten lag damals bei 43.338 Personen. Diese unzumutbaren Bedingungen sind einer der Gründe für die unzähligen Gefängnisrevolten. Statistisch kommt es dreimal monatlich zu Meutereien in Brasiliens Gefängnissen. 1992 hatten revoltierende Häftlinge in einem Gefängnis in Minas Gerais stündlich russisches Roulette “gespielt”, um auszulosen, wer von ihnen erschossen werden sollte, damit auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Selbst ein brasilianischer Justizminister der letzten Militärregierung unter Joâo Figueiredo gestand 1980 ein, die Situation in den brasilianischen Gefängnissen sei “eine der dramatischsten in der Welt”. Sie seien “Müllkippen für Gefangene, wo der Einzelne den schlimmsten Erniedrigungen unterworfen wird”. In einem Bericht über Folter und außergerichtliche Hinrichtungen in Brasilien, den amnesty international 1990 veröffentlicht hat, wird die langjährige Militärdiktatur für die Verwahrlosung der Gefängnisse verantwortlich gemacht.
Um die soziale Lage in den Gefängnissen zu entschärfen und die angesichts der unzumutbaren Zustände in den Knästen revoltierenden Häftlinge zu besänftigen, erließ Präsident Cardoso als Reaktion auf diese längste Gefängnisrevolte Brasiliens am 11. April ein Dekret, nach dem nicht vorbestrafte Häftlinge, die zu bis zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt sind, bei guter Führung vorzeitig, frühestens aber nach einem Sechstel ihrer Haftzeit, entlassen werden können. Dies könnte rund 13.000 Gefangenen zugute kommen. Generell ausgenommen sind hiervon Häftlinge, die wegen Mordes, Folter, Vergewaltigung, Korruption oder ähnlicher Verbrechen einsitzen.
Die Haftanstalten werden in ganz Brasilien bundesstaatlich geführt. Die Gefängnisse unterstehen direkt dem jeweiligen Justizministerium, einzige Ausnahme ist der Bundestaat Sâo Paulo, wo 1991 der Gouverneur Fleury die Gefängnisse dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellte. Somit unterstehen Polizei und Haftanstalten einem einzigen Ministerium, ein Zustand, den amnesty international in einem Bericht von 1993 über das Gefängnismassaker von Carandiru, Sâo Paulo, für äußerst bedenklich hält.

Massaker in Block 9

Carandiru, so heißt der Stadtteil von Sâo Paulo, in dem sich die Haftanstalt Flamínio Fávero befindet, die allgemein nur Carandiru genannt wird. Diese ist mit ihren 7200 Insassen das größte Gefängnis Südamerikas. Da es zu Beginn der 50er Jahre als Untersuchungsgefängnis für nur 3250 Häftlinge errichtet wurde, ist es heutzutage, wie nahezu alle brasilianischen Gefängnisse, zum einen weit überbelegt, zum anderen werden Untersuchungshäftlinge mit schon rechtskräftig verurteilten Personen gesetzwidrig in gemischten Zellen untergebracht. Diese gemischte Unterbringung wurde 1984 mit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (Lei de Execuçâo Penal) gesetzlich verboten. Doch die Praxis widerspricht dem. Carandiru hält noch einen anderen Rekord aller brasilianischen Haftanstalten: Dort wurden im Block 9 (dem Pavilhâo 9) am 2./3. Oktober 1992 nach einer Meuterei 111 Häftlinge von der Militärpolizei erschossen, weitere 110 verletzt. Amnesty international kam in einem Bericht von 1993 zu dem Schluß, daß die Polizei die Gefangenen “kaltblütig ermordet” hatte.
Hauptverantwortlich für das Massaker war Coronel Ubiratan Guimarâes, der noch 1994 – allerdings erfolglos – bei den Stadtverordnetenwahlen in Sâo Paulo kandidierte. Ubiratan ist Oberst der ROTA, einer berüchtigten Einheit der Polizei Sâo Paulos, deren zweifelhafter Ruf in der enorm hohen Zahl von erschossenen Personen gründet. Ein Großteil der Polizisten, die am Massaker in Carandiru beteiligt waren, sind Mitglied der ROTA.
Im März 1993 wurden Gerichtsverfahren gegen Coronel Ubiratan und 119 weitere am Massaker beteiligte Polizisten von der Militärjustiz eingeleitet. Diese Justiça Militar ist für die im Dienst begangenen Delikte von Militärpolizisten zuständig. Jede Richterkommision dieser Militärjustiz setzt sich aus einem zivilen Richter und drei Militärangehörigen zusammen, die mindestens Offiziere sein müssen, aber über keine höhere juristische Ausbildung zu verfügen brauchen. Anfang 1996 erklärte sich die Justiça Militar als Reaktion auf öffentlichen Druck für nicht zuständig und übertrug das Verfahren der zivilen Gerichtsbarkeit. Ein Urteil steht nun, dreieinhalb Jahre nach dem Massaker, noch immer aus, aber zumindest handelt es sich bei der Übertragung der Jurisdiktion von der Militärjustiz auf zivile Gerichte um eine Rarität in der Geschichte der brasilianischen Militärjustiz.

Korporativistische Justiz

Elói Pietá, Rechtsanwalt, Abgeordneter des Bundesstaats Sâo Paulo und Autor eines Buchs über das Gefängnismassaker in Carandiru, spricht deshalb von einer “korporativistischen Justiz”, und unabhängige Gruppen fordern folgerichtig die Abschaffung der ausschließlichen Zuständigkeit der Militärjustiz für Polizisten, die nach Artikel 124 und Art. 125 §4 der brasilianischen Verfassung von 1988 für alle crimes militares zuständig ist. Somit hat sie für alle von Militärangehörigen (also auch von Polizisten) im Dienst begangenen Straftaten alleinige Urteilskompetenz.
Begehen Militärangehörige Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihres Dienstes, so waren und sind – nach dem Gesetz – zivile Gerichte dafür zuständig. Dies ist der Grund dafür, daß die Militärpolizisten, die im August 1993 das Massaker an 21 Menschen in der Favela Vigário Geral, einem Vorort von Rio, verübt hatten, durch zivile Gerichte verurteilt wurden. Diese von der Verfassung vorgeschriebene Bestimmung wird aber in der Praxis oft hintergangen, da die kriminologischen Untersuchungen des jeweiligen Falles im Rahmen des sogenannten Inquérito Policial Militar (IPM) von der Militärpolizei selbst durchgeführt werden.
Um diese Praxis der Straffreiheit zu verhindern, liegt dem Kongreß in Brasília nun eine Gesetzesänderung vor, nach der die Rechtsprechung für durch Militärpolizisten im Dienst und außerhalb der Kaserne begangene Verbrechen der zivilen Gerichtsbarkeit übertragen würde. Doch bliebe auch nach dem neuen Gesetz die kriminaltechnische Untersuchung der Vorfälle in den Händen der Militärpolizei und nicht der Polícia Civil, wie einige der Initiatoren des Reformprojekts es erhofften, so daß weiterhin die Gefahr der Manipulierung von Indizien im Rahmen dieser krimaltechnischen Untersuchung durch die Militärpolizei besteht.
Wenn der Kongreß der Gesetzesänderung zustimmen sollte, bleibt abzuwarten, ob die Verlagerung der Zuständigkeit von der Militärjustiz zu zivilen Gerichten die Tradition der Straffreiheit bricht. Noch agiert vor allem die Militärpolizei in einer Art und Weise, die an Todesschwadrone erinnert. So sticht vor allem die Militärpolizei Sâo Paulos mit erschreckenden Bilanzen hervor: Während 1991 die Polizei von New York City 27 Personen erschoß, tötete die Militärpolizei Sâo Paulos 1.140 Personen, was einem Viertel aller gewaltsamen Tode in diesem Zeitraum entspricht. 1991 und 1992 wurde durchschnittlich alle sieben Stunden ein Mensch durch die Polizei in Sâo Paulo getötet. Nach Zahlen des Journalisten Caco Barcellos tötete diese Polizei von 1970 bis 1990 nahezu 8.000 Personen, von denen die Mehrzahl arm, schwarz, Migranten aus dem Nordosten Brasiliens, um 19 Jahre alt war und über ein monatliches Durchschnittseinkommen von ungefähr 60 US-Dollar verfügte.
Diese Angaben ähneln dem soziographischen Durchschnitt der Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen. Nach Zahlen von ISER, einer kirchennahen Nichtregierungsorganisation, waren 1988 68,6 Prozent der Häftlinge im Bundesstaat Rio de Janeiro Schwarze, während sie nur 40 Prozent der Bevölkerung von Rio ausmachen. Ein Viertel der Gefangenen war jünger als 25 Jahre, ein Drittel 25 bis 31 Jahre alt. In den Gefängnissen waren 97 Prozent der Insassen Männer, drei Fünftel von ihnen hatten keine oder nur wenig Schulbildung erhalten, die Hälfte mußte vorher ohne die gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherungskarte, der carteira assinada, arbeiten, und 46 Prozent der Inhaftierten waren erstmalig zu einer Haftstrafe verurteilt.
Die Opfer von Polizeigewalt sind die Gleichen wie diejenigen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, und das auf mehreren Ebenen: Die Marginalisierten in peripheren Konkurrenzgesellschaften werden von der Teilhabe an ökonomischen Prozessen ausgeschlossen, sie werden wegen ihrer Armut als Bedrohung der Ordnung angesehen, die es zu schützen gelte. In der Vorstellungswelt der besitzstandswahrenden Mittelklasse werden die Begriffe “arm”, “schwarz” und “gefährlich” als identisch gleichgesetzt. Die Segregation der Armen findet im sozialen Ausschluß ihren kruden Ausdruck. Die soziale Frage in der brasilianischen Gesellschaft wird weiterhin behandelt nach dem miesen Bonmot eines ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Washington Luis, der 1926 verlautbaren ließ, die soziale Frage wäre nur eine Frage der Polizei. Polizei und Sicherheitskräfte tragen ihren Teil zum Schutz dieser ungerechten Ordnung bei, indem sie die Ausgeschlossenen aus den Stadtteilen der Wohlhabenderen vertreibt, in überfüllten Gefängnissen von der Gesellschaft abschließt oder sie erschießt.

Literatur:
amnesty international: Brasilien. Jenseits des Gesetzes, Köln 1990.
Barcellos, Caco: Mord in Sâo Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur, Göttingen 1994.
Campos Coelho, Edmundo /ISER: Estudo Descritivo do Censo Penitenciário do Rio de Janeiro 1988, Rio de Janeiro 1988.
FDCL/amnesty international: Carandiru – das Gefängnismassaker in Sâo Paulo, Berlin 1995.

Offener Brief an Menem

Die “Großmütter der Plaza de Mayo” suchen Kinder mit diesem Schicksal und verlangen nach einer Aufklärung dieser Fälle, die bis heute, 13 Jahre nach dem Ende der Diktatur, häufig noch im Dunkeln liegen.
Das Absenden des folgenden offenen Briefes der “Großmütter” an Staatsptäsident Menem soll ihre Arbeit unterstützen und einen Beitrag dazu leisten, die Kinder mit ihren Angehörigen zusammenzuführen und ihre wahre Geschichte kennenzulernen.

Sehr geehrter Herr Präsident:
20 Jahre sind vergangen, seit der Militärputsch die offene Verletzung der Menschenrechte des argentinischen Volkes institutionalisiert hat. Tausende von “Verschwundenen”, Ermordeten und politischen Gefangenen kennzeichneten diese Jahre des Terrors.
Hunderte von Kindern wurden systematisch entführt. Schon geborene Babys oder solche, die das Licht der Welt in Konzentrationslagern erblickten, wurden gewaltsam von ihren Eltern getrennt.
Diese Kinder sind die EnkelInnen, die von den “Großmüttern der Plaza de Mayo” gesucht werden. Sie werden “Verschwundene mit Leben” genannt. Sie sind ihren Entführern ausgeliefert, mittlerweile erwachsene Menschen, die immer noch des Rechtes beraubt sind, mit ihrer Geschichte und ihren Angehörigen zusammenzuwachsen und ihre wirkliche Identität zu kennen.
20 Jahre sind vergangen, und was hat der Rechtsstaat für sie getan?
Während die Exekutive ihre Entscheidung und den Willen, diese Kinder zu finden und zurückzugeben, öffentlich äußert, stellen die Entscheidungen der Legislative endlose Hindernisse dar, die letztendlich bewirken, daß die Täter Straffreiheit erhalten.
Wir bitten Sie, Herr Präsident, daß Ihre Regierung ihre ganze Kraft einsetzt, um das Unrecht, das den Unschuldigsten von allen, diesen Kinder, geschehen ist, wiedergutzumachen. Wir danken Ihnen für die notwendige Unterstützung der ehrenhaften Aufgabe der “Großmütter der Plaza de Mayo”.
Hochachtungsvoll

Excmo Sr. Carlos Menem
Presidente de la Nación
Casa Rosada
Capital Federal
Buenos Aires
República Argentina

Excelentísimo Señor Presidente:
Han pasado veinte años del golpe militar que instaló desde el Estado la más flagrante violación de los derechos fundamentales contra el pueblo argentino.

Miles de desaparecidos/as, asesinados/as y presos/as políticos/as marcaron esos años de terror.

Centenares de niños/as fueron secuestrados/as sistemáticamente. Bebés/as ya nacidos/as, o que vieron la luz en los campos de concentración, separados/as violentamente de sus padres.

Esos niños/as son los nietos/as que buscan las Abuelas de Plaza de Mayo. Son “desaparecidos/as con vida”, rehenes de sus captores, hoy adolescentes que siguen despojados/as de su derecho a crecer con su historia y su familia, a conocer su verdadera identidad.
Han pasado veinte años, y que ha hecho el Estado de Derecho por ellos/as?

Mientras el Poder Ejecutivo manifiesta públicamente su decisión y voluntad para encontrarlos/as y restituirlos/as, decisiones de la Justicia están poniendo obstáculos jurídicos indeterminables que tienen como consecuencia, la impunidad en las causas en las que se les reclama.

Le rogamos que su Gobierno ponga todo su empeño por que se haga Justicia para reparar a los/as más inocentes que son los/as niños/as. Agradeciendole su respaldo necesario a la labor tan admirable de las Abuelas de Plaza de Mayo, le saluda

atentamente

Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Abwahl des Trujillismo

Der Wahlkampf ist in vollem Gange. Ständig laufen die Werbespots in Radio und vor allem im Fernsehen. In den Städten wie auf dem Lande beherrschen die Konterfeis der Präsidentschaftskandidaten das Bild, wobei der Teint bei allen merklich aufgehellt wurde. Die Symbole der Parteien sind allerorten anzutreffen, auf dem Lande sind einzelne Hütten komplett in Parteifarben angestrichen. Jedes Wochenende versammeln sich Hunderte von meist jugendlichen AnhängerInnen an den Straßen der großen Städte und machen lautstark Werbung für ihre Favoriten. Die in den Farben weiß, violett und rot gehaltenen Fähnchen, Mützen und Spruchbänder der Fans beherrschen das Stadtbild. Die AutofahrerInnen bringen ihre politische Überzeugung durch Bänder oder im Wind flatternde Plastikstreifen zum Ausdruck und werden von der jeweiligen Gruppe jubelnd begrüßt.
Drei Präsidentschaftskandidaten werden überhaupt Gewinnchancen eingeräumt: Jacinto Peynado tritt für die Balaguer-Partei PRSC an, für die sozialdemokratische PRD unternimmt Francisco Peña Gómez den dritten Anlauf in seiner politischen Laufbahn, und die von Expräsident Bosch als Abspaltung von der PRD gegründete PLD schickt Leonel Fernández ins Rennen. Die Entscheidung dürfte zwischen den beiden letztgenannten fallen. Der feiste und geistig wenig bewegliche Peynado verkörpert zu deutlich das herrschende Establishment, als daß er gemässigte oder linke WählerInnen zu sich herüberziehen könnte. Als ein zusätzliches Handicap wird die Tatsache angesehen, daß der amtierende Präsident Balaguer erst sehr spät in den Wahlkampf eingestiegen ist und nicht mit sichtbarer Überzeugung für den Kandidaten seiner eigenen Partei Stellung bezogen hat.
Lange Zeit hatte er unverhohlen Sympathie für den Kandidaten der Partido de la Liberación Dominicana (PLD), Leonel Fernández, erkennen lassen. Die Presse berichtete wiederholt von inoffiziellen bis geheimen Treffen des greisen Präsidenten mit dem jugendlich wirkenden Anwärter auf seine Nachfolge. Gerade bei jungen Menschen und bei den Wählerinnen kommt der schnauzbärtige Leonel gut an. Politische BeobachterInnen bescheinigen ihm, daß er als einziger Kandidat über ein seriöses und solide zusammengesetztes Team verfügt. Die gleichen Stimmen bescheinigen seiner PLD, als einzige Partei in der Dominikanischen Republik wirklich im Sinne eines politischen Kampfinstrumentes zu agieren und nicht nur als bloße Wahlkampforganisation ohne politische Inhalte und Schlagkraft. Leonel Fernández bietet einen weiteren Vorteil gegenüber seinen wichtigsten Gegenkandidaten, der möglicherweise von entscheidender Bedeutung sein könnte. Er ist politisch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Das heißt zwar einerseits, daß er bisher kaum Meriten erworben hat, entscheidend ist aber, daß er nicht durch zurückliegende Ereignisse oder Aktivitäten vorbelastet ist. So setzt er auf die Rolle eines politischer Saubermanns, der gegen die allgegenwärtige Korruption angehen will und vor allem das zerstörte Vertrauen in Staat und Politik wieder herstellen möchte. Auf dem rechten Kandidaten Peynado hingegen lastet die Verantwortung für die durch und durch korrupte Regierungsarbeit der vergangenen Jahre. Dem Sozialdemokraten Peña Gómez werden die rücksichtslose Selbstbereicherung und die sich in nichts von den rechten Herrschern unterscheidende Korrumpiertheit der beiden Regierungsperioden seiner PRD zur Last gelegt.
Doch das sind nicht die einzigen Vorwürfe, denen sich der “linkeste” der aussichtsreichen Kandidaten ausgesetzt sieht. Als schärftes Geschütz wurden alle tief in der dominikanischen Seele verankerten antihaitianischen Ressentiments mobilisiert. Die mehrere Monate zurückliegende, von Präsident Balaguer angeführte Diffamierungskampagne gegen den einzigen tiefschwarzen Kandidaten hat ihre Spuren hinterlassen. Nicht alle gehen so weit wie jener Busfahrer auf der Fahrt in den Nationalpark Barohuco nahe der haitianischen Grenze, der zutiefst davon überzeugt war, daß sich Peña Gómez als Haitianer unter falschem Namen eingeschlichen habe und letztlich nur die Annektierung der Republik durch das kleine Nachbarland im Sinn habe. “Wir waren 40 Jahre lang von Haiti besetzt, das wollen wir nicht wieder haben. Und damit das nicht wieder passiert, dürfen wir auch unsere Armee nicht verkleinern, wie es zum Beispiel die USA fordern!” Daß Haiti seine Armee vor knapp einem Jahr abgeschafft hat, davon hat er noch nichts gehört. Und so recht glauben mag er es auch nicht.
Unabhängig von seiner Hautfarbe haftet Peña Gómez das Bild eines jähzornigen, oft unbeherrschten Politikers an. Politische Freunde wie Gegner schätzen ihn als unberechenbar ein. Wenig Vertrauen erwecken gemeinhin seine engeren MitarbeiterInnen bzw. KandidatInnen auf MinisterInnenposten. Nach zwei Niederlagen in den vorangegangenen Wahlen konnte er sich trotz damals offenkundiger Manipulationen bisher nicht vom Bild des ewigen Verlierers frei machen. Aufgebaut mit maßgeblicher Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der spanischen PSOE – mit besonderer Vorliebe ließ sich Peña Gómez bis zu dessen Wahlniederlage mit Felipe González ablichten – steht der PRD-Kandidat für ein sozialdemokratisches und damit für das derzeit fortschrittlichste Programm der dominikanischen Politik. Politische Beobachter wie der Ökonom Miguel Ceara Hatton und der Soziologe Wilfredo Lozano von der lateinamerikanischen sozialwissenschaftlichen Studienzentrale FLACSO bescheinigen Peña die größte Seriosität aller Präsidentschaftsanwärter im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Positiv wird ihm vor allem angerechnet, daß er weitgehend von falschen Versprechungen absieht und seinen WählerInnen auch sagt, daß die ökonomische Strukturanpassung nicht ohne Einbussen und Opfer vonstatten gehen wird.

Balaguer – Statthalter des Trujillismus

Der mittlerweile 89jährige und seit vielen Jahre blinde Präsident Joaquín Balaguer darf aufgrund des Übereinkommens im Anschluß an seinen zweifelhaften Wahlsieg vor zwei Jahren nicht mehr antreten. Ein Teil seiner Gegner unterstellt ihm jedoch kaum verborgene weitergehende Machtgelüste. “Balaguer wird alles tun, um in diesem Land ein Klima der Unruhe und Instabilität zu erzeugen, denn er will sich um jeden Preis an der Macht halten”, befürchtet Narciso Isa Conde, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei. “Es gibt praktisch keine demokratische Tradition und das Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber allen PolitikerInnen sitzt so tief, daß alles passieren kann. Und wenn es zu Aufruhr kommt, wird Balaguer seine starke Hand zeigen, das Wahlergebnis nicht anerkennen und bis 1998 an der Macht bleiben.”
Ganz im paternalistischen Stile lateinamerikanischer Diktatoren reist er derzeit durch das Land und weiht hier und dort eine Schule, ein Krankenhaus oder eine andere soziale Einrichtung ein. Keins dieser Ereignisse ist zu billig, um nicht in klassischer Manier von den regierungstreuen Medien publizistisch ausgewertet zu werden. Doch es mehrt sich die Kritik an derartigen Ausgaben des noch amtierenden Präsidenten. Der angesehene Wirtschaftswissenschaftler Miguel Ceara beziffert die Summe, die Balaguer jährlich ohne Kontrolle durch Parlament oder andere politische Instanzen ausgibt, auf eine Milliarde US-Dollar. Übereinstimmend haben alle Kandidaten die Umlenkung dieser Mittel angekündigt, um damit Programme zur Wirtschaftsförderung und die versprochenen Sozialmaßnahmen zu finanzieren.

Zölle ‘runter – Steuern ‘rauf

In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik stehen den DominikanerInnen insgesamt keine großen Alternativen zur Wahl. Alle drei Programme gehen von der Fortsetzung der zwischen 1990 und 1991 eingeleiteten Strukturanpassung im Sinne der grundsätzlichen Vorgaben von IWF und Weltbank aus. Seither hat sich die dominikanische Volkswirtschaft zu einer weitgehend geöffneten Ökonomie entwickelt, die zunehmend auf den Exportbranchen beruht. Schwerpunkt ist dabei das Angebot eines Billiglohnstandortes. Vorwiegend US-amerikanische, in zunehmendem Maße aber auch asiatische und sogar dominikanische Unternehmen investieren in der maquila-Industrie der sogenannten Freihandelszonen. Auch die Wettbewerbsvorteile beim Tourismus, dem zweiten wichtigen Standbein, beruhen im wesentlichen auf dem kostengünstigen Arbeitskräfteangebot. Alle Kandidaten kündigen den weiteren Ausbau beider Bereiche und eine verstärkte Förderung der exportorientierten Landwirtschaft an. Und eine entscheidende innenpolitische Auseinandersetzung steht allen drei möglichen zukünftigen Präsidenten ins Haus: Der Kampf um die Durchsetzung von Steueransprüchen vor allem bei den VielverdienerInnen. Durch den Abbau von Ein- und Ausfuhrzöllen fällt die bisher wichtigste Einnahmequelle des Staates in zunehmendem Maße weg. Um die wichtigsten Aufgaben wie Bildung und Sozialpolitik finanzieren zu können, kommt die Regierung nicht um die Eintreibung der inländischen Steuerschuld herum, deren Zahlung in der Vergangenheit weitgehend umgangen wurde. Die GroßverdienerInnen, die in dem kleinen Land im Ostteil der Insel Hispaniola bisher nach Gutdünken schalten und walten konnten, werden das nur gegen erhebliche Zugeständnisse hinnehmen. Wie diese aussehen werden, darüber gibt es sicherlich unterschiedliche Vorstellungen, je nachdem, ob der zukünftige Präsident Francisco Peynado, Leonel Fernández oder Francisco Peña Gómez heißt.

Zwei Favoriten für die erste, einer für die zweite Runde

Eine zuverlässige Einschätzung der Wahlchancen der verschiedenen Kandidaten liegt derzeit nicht vor. Den bekanntgewordenen Meinungsumfragen ist zu deutlich der jeweilige Auftraggeber anzumerken, als daß sie den Anspruch der Seriosität erfüllen könnten. Ein Wahlsieg bereits in der ersten Runde, das heißt die absolute Mehrheit für einen der drei genannten Kandidaten, scheint nach übereinstimmender Einschätzung ausgeschlossen. Manche Peña-AnhängerInnen wünschen sich dies zwar für ihren Kandidaten, dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß gerade er sich einem erheblichen Potential an absoluter Ablehnung gegenübersieht. Doch auch Leonel Fernández wird die Fünfzig-Prozent-Hürde im ersten Anlauf kaum überspringen können. Und Peynado dürfte kaum über ein Fünftel an Stimmen hinauskommen.
Die Entscheidung über den Nachfolger des Alt-Caudillo Balaguer im Präsidentenpalast fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit also erst in der Stichwahl im August. Dabei dürfte es zu einer Entscheidung zwischen Leonel Fernández und dem PRD-Kandidaten Peña Gómez kommen. Als Favorit gilt der Youngster aus den Reihen der PLD. Die Rechnung ist relativ einfach: Kein einziger der rechten Peynado-WählerInnen wird sich zu einer Stimmabgabe für den “linken” Peña durchringen können. Da bleibt selbst für die Hardliner Leonel das geringere Übel.

Wird das Land ein zweites Mallorca?

LN: Gesetzt den Fall, Sie gehen als Sieger aus den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen hervor. Wie würden Sie die Grundzüge der Politik einer von Ihnen angeführten zukünftigen Regierung beschreiben?

Leonel Fernández: Unser Gesellschaftsprojekt für die Dominikanische Republik bezieht sich auf institutionelle Aspekte des Staatsapparates, die Ankurbelung der Wirtschaft und eine Sozialpolitik zur Verbesserung der Lebensbedingungen des dominikanischen Volkes. Wir wollen die Reformierung und Modernisierung des Staatswesens vorantreiben und die Korruption bekämpfen, ein grundsätzliches Thema im Leben der Dominikanischen Republik. Gleichzeitig streben wir eine Verbesserung in der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen an. Dazu wollen wir einen Ausbildungsgang für Verwaltungsangestellte einrichten, die Gehälter anheben und letztlich eine professionelle Verwaltung aufbauen. Wir planen die Reform des Justizwesens, die Reform der Steuergesetzgebung, und zwar so, daß die Kontrolle des Steuerwesens dem Kongreß untersteht.

Wer kontrolliert denn im Moment den Haushalt?

Es gibt keine Instanz, die den Staatshaushalt kontrolliert, merkwürdigerweise macht das hier der Präsident. Wir fordern die Dezentralisierung des Staates. Die Rathäuser müssen ihre Selbständigkeit wiederbekommen, in Fragen der Kommunalpolitik Entscheidungen treffen und die in ihre Zuständigkeit fallenden Vorhaben selber finanzieren. Derzeit ist das nicht so. Wir setzen auf die Reaktivierung der Produktion in Landwirtschaft und Industrie, um die Ernährung der Bevölkerung dieses Landes gewährleisten zu können. Gleichzeitig muß eine exportorientierte Landwirtschaft aufgebaut werden, die Gewinne für die Volkswirtschaft abwirft. Derzeit haben wir mehrere Dinge, Zukker, Kaffee, Kakao, Tabak und die sogenannten nicht-traditionellen Exportprodukte wie Ananas, Bananen und andere Obstsorten, die zur Stärkung dieser Wirtschaftsbranche beitragen können.

Was sind Ihrer Meinung nach die zukünftigen Grundpfeiler der dominikanischen Volkswirtschaft?

Weiterhin die einheimische Landwirtschaft und Industrie. Gleichzeitig wollen wir den Tourismus fördern und andere Branchen unserer Volkswirtschaft. Im wesentlichen müssen wir die Produktion in unserem Land ankurbeln.

Dazu bedarf es Investitionen in größerem Umfang. Woher soll das Kapital dafür kommen?

Es gibt ein neues Investitionsgesetz, das Investitionen in der Dominikanischen Republik erleichtern soll. Derzeit ist sogar die Gleichsetzung von in- und ausländischen Investoren gesetzlich festgeschrieben. Ebenso der Gewinntransfer in die Ursprungsländer in frei konvertierbarer Währung. Wir haben also ein recht liberales Investitionsgesetz, das neues Kapital und neue Technologien in das Land zieht. Für die hiesigen Investoren müssen wir eine Senkung der Kreditzinsen erreichen, damit die Investitionen in der Fertigungsindustrie und in der Landwirtschaft billiger werden.

Der Massentourismus gerade aus Deutschland hat ein sehr schlechtes Image, es wird von einem zweiten Mallorca gesprochen, einem Urlaubsparadies für untere Schichten. Welche Orientierung wollen Sie als Präsident dieses Landes dem Tourismus geben?

Zuallererst muß der Tourismus mehr als bisher vom Staat gefördert werden. Derzeit passiert von Seiten der Regierung praktisch gar nichts in dieser Hinsicht. Zweitens muß eine Reihe von Dienstleistungen verbessert werden. Dazu gehören die Stromversorgung und Trinkwasserversorgung, Müllabfuhr und der Schutz der TouristInnen. Ausserdem müssen wir den Tourismus in der Dominikanisc hen Republik auf andere Bereiche ausweiten, damit wieder Passagiere der Kreuzfahrtschiffe in das Land kommen. Die Häfen müssen überholt und ausgebaut werden, um einen vielschichtigeren Karibik-Tourismus in das Land zu holen. Ich glaube, die Dominikanische Republik erfüllt auch die Bedingungen für den Öko-Tourismus, für Gruppen mit besonderem ökologischen Interesse. Als sichtbaren Beweis für die Vielseitigkeit der Natur haben wir Nationalparks. Das könnten interessante Ansätze zur Erhöhung der touristischen Anziehungskraft sein, die bisher noch nicht richtig ausgenutzt und gefördert wurden. Zudem soll ein Konferenz-Tourismus gefördert werden, damit Gruppen von Fachleuten – Ärzte, Techniker, Anwälte und dergleichen – zu wissenschaftlichen Kongressen in die Dominikanische Republik kommen. Mit der Diversifizierung des touristischen Angebots könnte auch der Zugriff auf den US-amerikanischen Markt gelingen. Denn derzeit kommen nur wenige BesucherInnen aus den Vereinigten Staaten, die meisten stammen aus Deutschland, Italien, in geringerem Maße aus England, Spanien und aus Kanada.

Was sehen Sie als die größte Herausforderung für eine zukünftige Regierung unter Ihrer Leitung an?

Eine wichtige Herausforderung sehe ich darin, das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung wiederherzustellen. Das Volk muß spüren, daß die Regierung an der Lösung der Probleme im Land interessiert ist. Hier herrscht eine Vertrauenskrise, ein Mangel an Glaubwürdigkeit. Das liegt an den Ereignissen der Vergangenheit, es wurde viel versprochen und wenig gehalten.

Die Armut ist eines der offensichtlichsten Probleme. Welche Vorschläge haben Sie zur Überwindung der Misere in diesem Land?

Ich habe ja schon von der Ankurbelung der Produktion gesprochen. Dadurch können Arbeitsplätze geschaffen werden. An zweiter Stelle sind beschäftigungspolitische Maßnahmen zu nennen, die die Einrichtung neuer Arbeitsplätze nach sich ziehen. So zum Beispiel Programme zur Wiederaufforstung oder zur Rettung der natürlichen Wasserreserven und zum Aufbau mittelständischer und kleiner Betriebe mit staatlichen Geldern zur Absicherung der Kredite, die zur Einrichtung der Kleinunternehmen aufgenommen werden müssen. Durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in diesen Bereichen entstehen Verdienstmöglichkeiten, und dadurch wollen wir die Armut, vor allem die extreme Armut bekämpfen.

Es ist davon auszugehen, daß keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit bekommt und sich die Wahl erst in der zweiten Runde entscheidet. Können Sie problemlos mit den Stimmen der Rechten, der AnhängerInnen von Jacinto Peynado (dem Kandidaten der Balaguer-Partei PRSC), leben und regieren, oder bedeutet das nicht auch eine gewisse Hypothek für Ihre Regierung?

Unser wichtigster Gegner ist Francisco Peña Gómez. Sein Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten ist ein Mann aus den Reihen der Balaguer-AnhängerInnen. Sie reden im Augenblick sogar offen darüber, wie sie Balaguer-AnhängerInnen für ihr politisches Programm gewinnen können. Also das ganze Gerede davon, daß wir die rechte und sie die linke Mitte bilden sollen, hat hier eigentlich keine Bedeutung.

Das habe ich nicht gemeint. Es ist doch davon auszugehen, daß niemand von denen, die in der ersten Runde ihre Stimme für Peynado abgegeben haben, in einer zweiten Runde für Peña Gómez stimmen wird, sondern für Sie. Müssen Sie dadurch nicht automatisch Konzessionen an rechte Positionen machen?

Ich halte das keineswegs für schädlich. Das ist eher ein positives Element, weil es die gesellschaftliche Basis der zukünftigen Regierung vergrößert. Das heißt, meine politische Legitimität ist dann größer, weil wir in der zweiten Runde 58 Prozent der Stimmen bekommen werden. Schließlich stößt der andere Kandidat, Peña Gómez, auf breite Ablehnung. 35 bis 40 Prozent der WählerInnen sagen, sie würden ihn unter keinen Umständen wählen. Ihre Stimmen gehören ihnen, und ich kann nichts unternehmen, um die Stimmen für Peña Gómez auf mich umzulenken. Und wenn die Stimmen aus dem Lager von Peynado kommen, sind sie herzlich willkommen. Ich kann allerdings keine Verpflichtungen eingehen, die mich daran hindern würden, unser Gesellschaftsprojekt durchzusetzen.

Was erwarten Sie persönlich für ein Ergebnis in der ersten Wahlrunde?

Die einzige Partei, die Aussichten hat, schon in der ersten Runde zu gewinnen, sind wir. Jedoch können wir noch nicht genau abschätzen, was im Umfeld der Wahlen passieren wird, das die Stimmabgabe für die PLD beeinflußt. Aber wie gesagt, wenn es eine zweite Runde gibt, gewinnt die PLD mit überwältigender Mehrheit.

Kommt mit Arzú der Frieden?

Eigentlich schien nach dem ersten Wahlgang am 12. November die Sache klar zu sein: Alvaro Arzú von der Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) verfehlte zwar mit 36 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit, der Abstand zu seinem schärfsten Konkurrenten war aber mit über 14 Prozent ausreichend groß, so daß er beruhigt der notwendig gewordenen Stichwahl gegen Alfonso Portillo der Republikanischen Front Guatemalas (FRG), der Partei des ehemaligen Putschgenerals Efraín Ríos Montt, entgegensehen konnte. Wenige Wochen vor dem zweiten Wahlgang mehrten sich jedoch die Anzeichen, daß es vielleicht noch einmal spannend werden könnte. Arzú konnte sich schließlich nur mit einem knappen Vorsprung von 31.950 Stimmen ins Ziel retten. Sein Wahlsieg stützte sich dabei fast ausschließlich auf eine deutliche Mehrheit in Guatemala-Stadt. Dort erhielt er mit 65,23 Prozent über 130.000 Stimmen mehr als Portillo (34,77 Prozent). Dagegen konnte sich Arzú im Inneren des Landes nur in drei Departamentos durchsetzen (El Progreso, Petén und Jalapa). In allen anderen 18 Departamentos gewann Portillo, zum Teil mit klarem Abstand. Insgesamt vereinte der Kandidat der FRG in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt 55,68 Prozent der Stimmen auf sich. An der Südküste und besonders in den indianisch geprägten Regionen konnte der weiße Städter Arzú kein Bein auf den Boden bekommen, zu eng ist er mit den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen verbunden und wird mit ihnen auch identifiziert, und zu weit ist er von den Problemen des Lebensalltags auf dem Land entfernt. In Guatemala-Stadt kehrt sich dieses Bild um: Arzú genießt dort durchaus gutes Ansehen, das sich vor allem aus seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt von 1986 – 1990 nährt, als er gezielt und mit gewissem Erfolg versuchte, die Stadtverwaltung effizienter zu gestalten und gegen die schlimmsten Auswüchse der Korruption vorzugehen.
Ähnlich wie nach dem ersten Wahlgang bemühten sich die offiziellen internationalen WahlbeobachterInnen, den sauberen Ablauf der Wahlen zu bestätigen. Diesmal war am technischen Ablauf des Wahlvorganges auch wirklich wenig auszusetzen, hielt doch selbst das nationale Stromnetz im Gegensatz zum ersten Wahlgang den Belastungen der Stimmenauswertung sowie fallenden Bäumen und Ästen stand. So waren dann in der Wahlnacht auch viele Stimmen zu hören, die diese Wahlen als einen Meilenstein in der Demokratisierung des Landes sahen. Löst man sich aber von einer rein technischen Betrachtung des Wahlvorganges und wertet die Wahlen als Gradmesser für das Vertrauen, das die Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen und der politischen Entwicklung des Landes entgegenbringt, so muß insbesondere der zweite Wahlgang als Debakel bezeichnet werden. Im ersten Wahlgang brachte zumindest die FDNG (Frente Democratico Nuevo Guatemala) frischen Wind: Sie konnte mit einem unerwartet guten Ergebnis überraschen und mit 6 Abgeordneten in den Kongreß einziehen. Dieser Achtungserfolg einer oppositionellen Kraft konnte aber nur kurze Zeit über das Mißtrauen hinwegtäuschen, das die große Mehrheit der guatemaltekischen Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen des Landes entgegenbringt. Im zweiten Wahlgang war mit 63,12 Prozent die höchste Wahlenthaltungsquote bei Präsidentschaftswahlen seit 1985 zu verzeichnen.

Die ersten Schritte

In der Woche vor seinem Amtsantritt am 14. Januar verkündete Arzú, daß er für seine persönliche Sicherheit nicht den eigentlich zuständigen Generalstab des Präsidialamtes (EMP) in Anspruch nehmen werde, sondern einen privaten israelischen Sicherheitsdienst, der schon seit längerem für ihn arbeitet. Ferner gab er bekannt, er und seine Familie würden nicht in der offiziellen Residenz wohnen. Allgemein wurden diese Äußerungen als ein Versuch gewertet, sich der Kontrolle des Militärs, das den EMP stellt, zu entziehen. Nach heftiger Kritik von seiten führender Militärs, die es als eine “Schande” bezeichneten, wenn Ausländer für die Sicherheit des Präsidenten zuständig seien, nahm Arzú seine Ankündigung zurück. Er blieb jedoch dabei, nicht in die Residenz des Präsidenten einzuziehen, da seine Familie zu groß sei. Auch Ex-Präsident De León Carpio hatte zu Beginn seiner Amtszeit versucht, sich der Kontrolle des Militärs zu entziehen und nicht im Präsidentenpalast zu wohnen. Letztlich mußte er jedoch dem Druck des Militärs nachgeben. Arzú scheint widerstandsfähiger zu sein. Nicht nur durch diesen mehr als symbolischen Akt versucht er, sich dem Einfluß der Militärs zu entziehen. Einige Wochen nach seiner Amtsübernahme wurden ca. 50 hohe Armeeoffiziere entlassen beziehungsweise suspendiert, bei einer Hausdurchsuchung im Privathaus des Militärkomandeurs des Quiché wurden Utensilien zur Kokainherstellung sichergestellt. Diese Maßnahmen spiegeln die Bemühungen Arzús und seiner Militärführung wieder, seine Macht gegenüber ultra-konservativen Militärs, den sogenannten Hardlinern, durchzusetzen.
In seiner Antrittsrede definierte Arzú die wichtigsten Handlungslinien seiner Regierung: Neben einem möglichst schnellen Abschluß der Friedensverhandlungen mit der Guerilla kündigte er Reformen zur Dezentralisierung kommunaler Regierungsstrukturen sowie zur Umgestaltung der Sicherheitskräfte an. Ferner sagte er der Diskriminierung der Indígenas und der Frauen, den Privilegien bestimmter Gesellschaftsgruppen, der Armut sowie der Straffreiheit den Kampf an. Zudem versprach er ein 180-Tage-Programm zur Bekämpfung der Kriminalität. Der neue Innenminister Rodolfo Mendoza legte noch in derselben Woche der Öffentlichkeit Pläne zur Vereinheitlichung der zivilen Sicherheitskräfte vor. Danach sollen die Nationalpolizei, die Zollpolizei und die Gefängnispolizei nach dem Vorbild der spanischen “Guardia Civil” zusammengefaßt sowie die Mobile Militärpolizei (PMA) in die zivilen Sicherheitskräfte integriert werden. Die spanische Regierung und die Europäische Gemeinschaft haben Unterstützung zugesagt und Mitte April sind die ersten spanischen Spezialisten im Land eingetroffen.
Aufschlußreich ist ein Blick auf die Personalentscheidungen. In sein Kabinett hat Arzú Repräsentanten der ihn stützenden Machtsektoren berufen. “Verteidigungsminister” Balconi ist Teil des reformbereiten, sogenannten “Institutionalisten-Flügels” innerhalb des Militärs, Landwirtschaftsminister Luis Reyes Mayén ist einer der führenden Köpfe des Zusammenschlusses von alteingesessenen Großgrundbesitzern UNAGRO, Arzú selbst, mit seinen engen Verbindungen zu den Zuckerfinqueros, repräsentiert die Interessen derer, die sich ihre Chancen am Weltmarkt ausrechnen. Zudem hat er mit Peter Lamport einen Botschafter nach Washington entsandt, der wie alle anderen genannten – außer Balconi – dem mächtigen Unternehmerverband CACIF angehört und dessen Agrarexportinteressen in den USA vertreten wird, in die nach wie vor mehr als 70 Prozent der Exporte Guatemalas gehen. Mit der direkten Vertretung verschiedener Interessengruppen dürfte Arzú zwei Ziele verfolgen: Zum einen kann er sich so der Unterstützung der unterschiedlichen Machtgruppen gerade bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen versichern, zum anderen verschafft er sich einen starken Rückhalt bei seinen Bemühungen, die Militär-Hardliner in ihrer Macht zu beschneiden.

Volksbewegung im Kongreß

Mittlerweile hat auch die Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) die ersten drei Monate Parlamentsarbeit hinter sich. Mit den sechs Abgeordneten der FDNG, einem Bündnis von Gewerkschaften, Indígenaorganisationen, Menschenrechtsgruppen u.a. sind erstmals RepräsentantInnen der Volksbewegung im Kongreß. Die Frente-Abgeordneten müssen sich in der neuen, ungewohnten Umgebung erst noch einarbeiten. Es ist aber bereits abzusehen, daß die FDNG sich in Richtung einer konstruktiven Oppositionsarbeit orientiert. Die Abgeordneten versuchen, eher über Verhandlungen mit der Regierung als über konfrontative Fundamentalopposition vorhandene politische Spielräume zu erweitern. Inwiefern diese Strategie angesichts der absoluten Kongreßmehrheit der PAN Erfolg haben kann, bleibt jedoch abzuwarten.

Der Anfang vom Kriegsende

Nach wie vor ist die FDNG aber auch noch damit konfrontiert, daß sie in der Öffentlichkeit gedrängt wird, ihr Verhältnis zur URNG zu klären. In der Presse wird immer wieder gemutmaßt, die Frente sei nur eine Filiale der URNG – was für die AktivistInnen eine große Gefährdung darstellt, da dies trotz politischer Öffnung des Landes massive Repressalien nach sich zieht. Die Äußerungen von URNG und FDNG tragen zur weiteren Konfusion bei: Während aus der URNG immer mal wieder verlautet, die FDNG sei in irgendeiner Weise “ihr” Parteiprojekt, dementiert diese solche Äußerungen umgehend. Eine Klärung muß wohl auf die Zeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verschoben werden, wenn die URNG sich in das zivile politische Leben des Landes integrieren wird.
Und dieser Zeitpunkt scheint gar nicht so fern zu sein – auch wenn mit solchen Einschätzungen sehr vorsichtig umzugehen ist, denn seit Jahren wird dieser Satz wiederholt. Einen Monat nach Amtsantritt benannte Arzú die Mitglieder der Verhandlungskommission der Regierung (COPAZ). Zum Chefunterhändler bestimmte er seinen Wahlkampfleiter und persönlichen Sekretär Gustavo Porras Castejón, der den Ruf eines fortschrittlichen Intellektuellen genießt. Des weiteren arbeiten Richard Aitkenhead, Wirtschaftsminister zu Beginn der Regierungszeit Jorge Serranos, und Raquel Zelaya, Direktorin des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung ASIES, das u.a. enge Kontakte zu der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält, in COPAZ mit. Gleichzeitig wurde sowohl von Regierungsseite als auch von der URNG bekanntgegeben, daß es seit Anfang Dezember bereits insgesamt fünf vertrauliche Treffen zwischen Kommandanten der URNG und Alvaro Arzú bzw. mit dessen politischen Vertrauten gegeben habe. Und seit Ende Februar wird auch wieder auf offizieller Ebene mit Volldampf verhandelt. Zwar gab es noch kein neues Abkommen zwischen Regierung und URNG – seit über einem Jahr wird das Thema “Sozioökonomische Aspekte und Agrarsituation” diskutiert -, aber dennoch wurde schon der Anfang vom Ende des Krieges konkretisiert. Am 19. März gab die Guerillaführung die vorläufige Einstellung aller Offensivaktionen ihrer Einheiten bekannt. Zwei Tage später reiste Arzú öffentlichkeitswirksam in den Ixcán, eine der Konfliktzonen im Nordwesten Guatemalas, um den dort versammelten Militärkommandanten, stellvertretend für die gesamte Armee, den Befehl zu geben, alle Aktionen gegen die Guerilla auszusetzen. Am 23. März fügte Arzú hinzu, die Regierung sei bereit, Propagandaaktionen der URNG zu erlauben, sofern sie friedlich und ohne Risiko für die Bevölkerung durchgeführt würden. Allgemein wurde diese Entwicklung als ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Noch stehen allerdings fünf Teilabkommen zu verschiedenen Themen aus, unter denen beispielsweise auch solch komplexe Probleme wie die zukünftige Rolle des Militärs und Amnestiebedingungen sind.

Hartes Durchgreifen gegen Landbesetzungen

Und erst einmal geht es noch um das Abkommen zum Wirtschaftsthema, das nicht nur ein Punkt auf der Agenda ist, wie die vielen Landbestzungen in letzter Zeit zeigen. So waren im Februar letzten Jahres insgesamt 124 Fincas von organisierten Campesinos/as besetzt. Einige dieser Besetzungen dauern nach wie vor an, bei anderen wurden die BesetzerInnen von der Polizei vertrieben. Auch in den letzten Monaten haben Campesinas/os, die in der Nationalen Koordination der Indígenas und Campesinas/os CONIC organisiert sind, immer wieder Fincas besetzt, um ihre Forderungen nach würdigen Lebensbedingungen durchzusetzen. Gerade im nordwestlichen Hochland erfahren sie dabei auch Unterstützung seitens der katholischen Kirche. Die Regierung Arzú hat in den Landkonflikten, im Gegensatz zu ihrer ansonsten recht liberal wirkenden Politik, klar Farbe bekannt. Vizepräsident Flores Asturias erklärte, die Regierung werde künftig weder Besetzungen von Land noch von sonstigem Privateigentum hinnehmen und rekurrierte dabei auf die Einhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Mission der Vereinten Nationen in Guatemala (MINUGUA) bat er um Begleitung bei Landräumungen, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.
Am 17. April marschierten etwa 150 Polizisten einer Schnellen Eingreiftruppe (FRI) in der Nähe der Finca El Tablero/Departamento San Marcos auf, um die dortige Besetzung durch mehrere hundert Campesinos/as zu beenden. Bei dem Räumungsversuch, der letztlich am Widerstand der BesetzerInnen scheiterte, wurden mindestens drei Besetzer durch Schüsse verletzt, einer starb einige Tage später an seinen schweren inneren Verletzungen. Daß bei den Auseinandersetzungen auch ein Polizist getötet wurde, hat zu einem entsetzten Aufschrei in der guatemaltekischen Presse geführt. Alvaro Arzú kündigte an, gegen die “Wildheit” der LandbesetzerInnen nun erst recht mit “harter Hand” durchzugreifen. Aus Regierungskreisen verlautete, man werde die Räumung von Landbesetzungen in Zukunft forcieren.
Nach Meinung der FDNG sind die Verantwortlichen für die Eskalation der Landkonflikte unter denen zu suchen, die einer Lösung der grundlegenden Probleme wie der Landverteilung, der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Armut der Landbevölkerung entgegenstehen.
Auch wenn, wie aus verschiedenen Quellen verlautet, dieses Jahr noch ein abschließender Friedensvertrag unterzeichnet wird, so fehlt dann noch dessen Umsetzung. Die Erfahrungen El Salvadors haben die Probleme dabei überdeutlich gemacht. Arzú könnte als der Präsident in die Geschichte Guatemalas eingehen, in dessen Amtszeit der Frieden “ausbricht”. Bisher hat er viel Wert auf sein liberales Image gelegt. In der Landfrage ist allerdings von seiner sonst so hochgepriesenen Dialogbereitschaft nichts zu spüren. Langsam aber sicher bröckelt sein Image.

Was heißt hier Fortschritt?

Nachts übernehmen die Hunde die Stadt. Wenn man glaubt, endlich einschlafen zu können, jault der Nachbarshund einmal übers Tal, und das Gekläff geht wieder los. Zwecklos, sich am nächsten Morgen zu beschweren. “Die Hunde halten die bösen Geister fern”, sagt die Nachbarin. Und in Tepoztlán gibt es viele Geister.
Tepoztlán liegt im Valle Sagrado, im heiligen Tal. Eine Autostunde südlich von Mexiko-Stadt, ist es ein altes Städtchen mit gepflasterten Gassen und knallbuntbemalten Häusern. Jedes Wochenende strömen die Ausflügler aus Mexiko-Stadt ein, fliehen vor dem Smog in die laue Luft von Tepoztlán, essen Huhn in Schokoladensoße in einem der vielen Restaurants, oder flanieren auf einem der schönsten Kunsthandwerkmärkte der Gegend. Oder sie besteigen die kleine Pyramide auf dem höchsten Punkt der Berge, dort wo sich angeblich die kosmische Energie bündelt.

Noch ein Kampf für Land und Freiheit

Unten hat sich der Zorn der Tepoztecos entzündet. Am 24. August letzten Jahres haben sie ihren Bürgermeister Alejandro Morales verjagt und die Stadt abgeriegelt. Dann haben sie einen neuen Stadtrat gewählt und eine Selbstverwaltung aufgebaut. Als sie erfahren hatten, daß Bürgermeister Morales heimlich den Bau des Golfplatzes erlaubt hatte, besetzten BewohnerInnen das Rathaus, läuteten die Glokken und innerhalb von Minuten zogen Tausende erzürnter Tepoztecos auf den Marktplatz.
Was Golfplatz genannt wird, ist eigentlich eine 187 Hektar große touristische High-Tech-Anlage: Ein Fünfsternehotel, 800 Ferienhäuser mit Swimming-Pools, eine Landebahn für Privatflugzeuge, einige Golfplätze und künstliche Seen. Die Investorengruppe, zu denen auch der Schwager des Ex-Präsidenten Carlos Salinas de Gortari gehört, wirbt mit Öko-Image, verspricht Steuern und Arbeitsplätze für Tepoztlán.

Sturheit siegt

Doch die Tepoztecos sind stur und der Widerstand gegen den Golfplatz hat Tradition. Seit über dreißig Jahren haben sie den Bau immer wieder verhindert. Das Land sei schon seit Jahrhunderten Gemeindeeigentum, behaupten sie, die Aufkäufe bei Privatpersonen daher nicht rechtens. An Arbeitsplätze glaubt niemand: “Sehen Sie sich doch die Tourismusprojekte in der Umgebung an”, meint der 63jährige Bauer Alberto Palacios. “An den entscheidenden Stellen sitzen die Leute aus der Stadt, und wir dürfen die Drecksarbeit machen. Von ehrenwerten Bauern und Kunsthandwerkern würden wir zu Gärtnern und Hausangestellten der reichen Leute, die herkommen, um sich zu vergnügen”. Am heftigsten kritisieren die BewohnerInnen, daß der Golfplatz pro Tag mehr Wasser verbrauchen würde, als sie das ganze Jahr. Und schon jetzt reicht das Wasser nicht. Abends laufen die Leute aus den hoch gelegenen Stadtteilen die steilen Gassen runter und schleppen ein paar Eimer Wasser nach Hause.

Parolen pinseln

Die Farbverkäufer im meinungsfreudigen Tepoztlán machen gute Geschäfte. “Nein zum Golfclub!” Das steht auf Hausmauern, Transparenten und Straßen geschrieben. Der Dorfeingang ist mit einem Steinwall und Stacheldraht verbarrikadiert und begrüßt die BesucherInnen mit dem Slogan: “Willkommen bei einem Volk, daß seine Traditionen und Gewohnheiten verteidigt!” Die Umfrage einer Zeitung ergab: 80 Prozent der BewohnerInnen sind gegen den Golfclub, zehn Prozent sind sich nicht sicher, sechs Prozent ist es egal und vier Prozent unterstützen den Club. Die vier Prozent behalten ihre Meinung lieber für sich. Einige Häuser und kleine Geschäfte sind gekennzeichnet: “Verräter” steht auf ihre Wände gesprüht. Die Familie des ehemaligen Bürgermeister überpinselt die Parolen an ihrem Haus mit immer neuen Lagen grüner Farbe: “Tod dem Verräter”, oder “Alejandro wir kriegen Dich” steht da wieder und wieder.
Auf der allabendlichen Versammlung vor dem Rathaus informiert der Stadtrat regelmäßig über die Ereignisse des Tages. Dort werden auch neue Parolen entworfen, an Ort und Stelle Geld gesammelt, Farbe gekauft und dann sofort Wände und Straßen bemalt. “Nein zu den Wahlen”, hieß es im März. Denn die Provinzregierung von Morelaos erkennt den autonomen Stadtrat nicht an und hat Neuwahlen angesetzt. “Das ist der immer gleiche Betrug”, schimpft eine Frau vor dem Rathaus. “Die Parteien kaufen sich Leute, die den Golfplatz unterstützen und dann kaufen sie Leute, die sie wählen.”

Wahl nach den Regeln von Riten und Traditionen

Die Tepoztecos bestehen auf ihrem Stadtrat, den sie im September 1995 nach altem Brauch gewählt haben: Die (ausschließlich männlichen) Kandidaten wurden nicht von Parteien aufgestellt, sondern pro Stadtteil gewählt.
Am meisten Stimmen bekam Lázaro Rodríguez, ein 41jähriger Bauer und Kunsthandwerker, dessen Familie sich seit drei Generationen im Widerstand gegen den Golfplatz verdient gemacht hat. In einer traditionellen Zeremonie bekam Lázaro Rodríguez dann von der mythischen Figur des Tepoztecatl den Befehlsstab überreicht. In der indianischen Sprache Nahuatl belehrte ihn der Tepoztecatl vor der ganzen Stadtbevölkerung über Rechte und Pflichten des Herrschers: “Er muß dem Willen des Volkes dienen, sonst wird ihn der Zorn des Volkes treffen.” Vom Rathaus baumelten damals noch als Puppen die dreizehn “Verräter” des abgesetzten Stadtrates. Mittlerweile sind ein paar heruntergefallen und andere verbrannt worden.
Im März, ein halbes Jahr nach seiner Wahl ruft der Stadtrat wieder einmal zu einer außerordentlichen Sitzung ins Theater. Während die Versammlungen am Anfang des Konfliktes aus allen Nähten platzten, kommen diesmal nur circa 60 Leute. Die Diskussion über die Gründe für das erlahmende Engagement der Bevölkerung dümpelt dahin. Die einen wollen die Strukturen ändern, die Stadtteilkomitees umorganisieren, die anderen kritisieren die abgehobenen Vorschläge einiger Personen im Stadtrat. Die Dritten finden, der zentrale Punkt seien die Verhandlungen mit der Provinzregierung, die nur in die Sackgasse geführt hätten. Immer noch ist der Stadtrat nicht anerkannt, bekommt keinen Haushalt, obwohl die Tepoztecos Steuern bezahlen, darf keine Geburts- oder Sterbeurkunden ausstellen.

Kein Polizist setzt ungestraft einen Fuß nach Tepoztlán

Lebendig wird die Diskussion, als das Thema auf die drei Polizisten kommt, die am vorhergehenden Abend in der Stadt gefangen wurden und nun im Knast sitzen. Denn immerhin dieses Zugeständnis hatte der Stadtrat der Provinzregierung abgerungen: Keine Polizei und kein Militär darf ohne Genehmigung die Stadt betreten. Das kontrollieren die Tepoztecos seither genau: Wer die Stadt besuchen will, muß die Barrikade passieren, oder in ein Taxi steigen, deren Fahrer ausnahmslos den Stadtrat unterstützen. Die Sicherheit in Tepoztlán regelt jeden Tag ein anderer Stadtteil, genau wie die Müllabfuhr und den Verkehr – unentgeltlich versteht sich. Und jede Nacht versammeln sich überall Wachen um Feuer – das ist der harte Kern des Städtchens. Das ist eine verschworene Gemeinschaft.
Die 60jährige Restaurantbesitzerin Alicia Rodríguez ist extra zur Versammlung ins Theater gekommen, um als Augenzeugin den Zwischenfall mit den Polizisten zu schildern. Sie waren zwar in Zivil in die Stadt gekommen, aber sie wurden erkannt, als sie im Restaurant darüber redeten, daß sie jemanden festnehmen wollten. Obwohl die drei bewaffnet waren, verfolgte sie die Stadtbevölkerung daraufhin durch die Straßen und steckte sie ins Kittchen. Bürgermeister Lázaro Rodríguez versucht die Leute davon zu überzeugen, die Polizisten nach 72 Stunden freizulassen: “Was sollen wir ihnen denn zu essen geben?” “Wasser und Brot”, ruft eine Frau erbost, “das ist mehr, als wir im Knast kriegen würden”. Mit Mühe hält der Bürgermeister die Versammlung davon ab, das Auto und das Geld der Polizisten zu beschlagnahmen. Nur die Waffen wollen sie als Beweisstücke behalten.

Erste freie Gemeinde Mexikos

Mit ihrem Protest hat die Stadt immerhin einen Baustopp für den Golfplatz erreicht. Daß die Investoren den Plan völlig aufgeben, daran glauben sie nicht. Daher wollen die Tepoztecos das Land zurück, das ihrer Meinung nach nicht an Privatpersonen hätte verkauft werden dürfen. Nachdem Tepoztlán durch den Kampf gegen den Golfplatz als “erste freie Gemeinde Mexikos” in die Schlagzeilen geraten ist, kommen viele ausländische Medienleute in die Stadt. Ein großer Teil des Golfprojektes liegt in einem Naturschutzgebiet, und ein anderer Teil des Landes wird gar nicht bewirtschaftet. Und so kommen die JournalistInnen immer wieder auf eine Frage, die die Tepoztecos nicht verstehen: “Wofür wollt Ihr dieses ungenutzte Land?” Er habe lange über die Antwort nachgedacht, sagt der alte Alberto Palacios und erklärt dann langsam, wie sehr es ihn stört, daß das Land für den Golfplatz mit Zäunen umgeben werden soll: “Über dieses Land gehen uralte Wege. Auf ihnen laufe ich zu meiner Parzelle, so wie mein Vater und Großvater gelaufen sind. Ich will über dieses Land laufen. Von diesem Land lebe ich. Und auf diesem Land sterbe ich.”

Die Mexikanisierung Deutschlands

Neuerdings wundern sich meine Freunde, wenn ich ihnen versichere, daß ich mich in Berlin immer heimischer fühle. Sie wissen, daß ich aus dem sonnigen Mexiko stamme, dem biblischen Land, wo Milch und Honig fließen. Am Wetter, überlegen sie, kann es sicherlich nicht liegen: Der kälteste Winter seit dreißig Jahren hat mich aber wahrscheinlich endgültig um den Verstand gebracht. Ich bin eine Erklärung schuldig, und hiermit gebe ich sie: Das mexikanische Herz fühlt sich in Berlin wohler, weil Berlin immer mexikanischer wird. Doch alles der Reihe nach.
Ich kam nach Deutschland, als in Mexiko die Verschuldungskrise offensichtlich ausgebrochen war. Der Erdölreichtum des Landes wurde in den siebziger Jahren so gründlich geplündert, daß nur zehn Jahre danach Mexiko ein Fall für den Internationalen Währungsfonds wurde. Ich erinnere mich noch gut daran: Blühende Landschaften haben die Politiker versprochen und den WählerInnen eingeredet, sie hätten das Geheimnis des ewigen Wohlstands zum Nulltarif entdeckt.
Als ich nach Westdeutschland kam, schien alles so grundlegend anders. Ich habe die Geschichte des Landes studiert und mich darüber gewundert, daß ein Willy Brandt zurücktreten mußte, nur weil ein Spion in seiner Umgebung entdeckt wurde. In Mexiko tritt natürlich kein Politiker wegen solcher Bagatellen zurück. Politik in Deutschland schien dagegen so transparent, so einfach zu begreifen zu sein. Mensch brauchte keine Kremlinologie zu betreiben, um zu erfahren, wofür die Parteien stehen. Es gab eine echte Opposition, und dabei erinnere ich mich noch gut an Frau Eidimtas. Sie hat mir mein erstes Zimmer vermietet und mich in das abendliche Ritual des Tagesschauguckens eingeweiht. Parallel zu den Nachrichten hat sie mich freundlicherweise aufgeklärt: Die Oppositionellen Brandt und Wehner seien Kommunisten, die mit Honecker unter einer Decke stecken. Nur Strauß vermochte sie in quasireligiöse Ekstase zu versetzen (“ein feiner Mann, ein feiner Mann”).
Ja, das waren Zeiten. Und was haben wir heute? Genau wie in Mexiko eine Regierung, die schon seit dem mittleren Tertiär an der Macht ist. Zumindest habe ich keinen anderen Regierungschef als Señor Bundeskanzler Kohl erlebt. Die Älteren erzählen, daß irgendwann mal auch ein gewisser Schmidt an der Macht war, aber ich glaube es nicht. In Mexiko gibt es auch eine Staatspartei, die PRI, die immer die Wahlen gewinnt, weil es nichts anderes zu wählen gibt oder weil die Regierung selbst die Fehler des Volkes an den Urnen mit dem Computer korrigiert. Tja, es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber in Berlin ist die Partei der sechs Buchstaben CDUSPD (oder besser gesagt CDUspd) zur Staatspartei geworden. Mensch kann es drehen und wenden wie mensch will: stimmt jemand für die CDU hat er/sie die CDUspd gewählt. Stimmt er/sie für die SPD, hat er/sie auch die CDUspd gewählt. Genau wie in Mexiko, nur da ist die Sache komischerweise transparenter: Es gibt nur drei Buchstaben.
Nun hat uns die Verschuldungskrise auch hier eingeholt. Ich kann meinen Augen und Ohren nicht mehr trauen, wenn ich sehe und höre, wie dieselben Politiker, die Berlin in die Finanzmisere gebracht haben, sich öffentlich feiern lassen, weil sie jetzt das Loch stopfen möchten. Hört mensch ihnen zu, scheint es einem, daß Außerirdische die letzten 14 Jahre lang Berlin regiert haben. Genau so ist es in Mexiko, wo jede neue Regierung Augias’ Ställe endlich zu säubern verspricht. Die Staatspartei verkauft sich in Mexiko als Herkules. Wieso die unsauberen Ställe überhaupt entstanden sind, erfahren wir nie. Genau wie in Berlin.
Und das Bündnis für Arbeit? Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich zum ersten Mal davon hörte. Ich fühlte mich wie mit der Zeitmaschine rückwärts katapultiert und glaubte, Señor López Portillo zu hören. Die Erfinder solcher Bündnisse sind nämlich Mexikaner. Ich weiß nicht mehr, wie viele Bündnisse dort vor und nach der Krise ins Leben gerufen wurden: gegen Inflation, für Arbeit, für Wachstum, für soziale Solidarität usw. Und bei solchen Bündnissen hieß es immer: Jetzt müssen die ArbeiterInnen den Gürtel enger schnallen. Was der Beitrag der Regierung und der Unternehmer war, blieb für mich immer im Dunkeln. So wie beim hiesigen Bündnis für Arbeit.
Den Rücktritt eines Politikers habe ich seit langem nicht mehr erlebt. Ich glaube, der einzige, der während meiner Zeit in Deutschland wegen politischer Fehler zurückgetreten ist, war Honecker. Das muß ich dem Mann immerhin zugute halten. Alle anderen, die heute desaparecidos geworden sind (wo ist Stoltenberg?), sind es deswegen, weil sie den größtmöglichen Frevel begangen haben: den starken Mann an der Spitze zu ärgern. So wie in Mexiko.
Ach ja, und das Fernsehen. Als ich nach Deutschland kam, gab es nur drei West-Programme. Samstags gab es immer irgendwelche historischen Rückblicke, und es war faszinierend zu beobachten, wie die deutsche Seele wöchentlich malträtiert wurde. Aber es gab immer etwas Interessantes und, ich wage es kaum zu sagen, auch Gutes. Heute haben wir eine Satellitenschüssel, die für alle MieterInnen in unserem Haus installiert wurde. Ich habe sie nicht gezählt, aber es müssen um die 2000 Programme zu sehen sein. Dramatisch ist nur, daß die heutige Qualität der deutschen Sendungen die mexikanische Seifenoper wie Werke für Intellektuelle aussehen lassen. Im Vergleich zum Glücksrad, gewissen Late-Night-Shows und wie-sie-alle-heißen mutet eine mexikanische Comedia an, als ob sie aus der Feder Balzacs entstanden wäre (übrigens: mexikanisches Fernsehen kommt auch aus der Schüssel: Programm 34).
Meine Mutter hat immer für die USA und Europa geschwärmt und uns, ihren Söhnen und Töchtern, versichert, dort gebe es keine Armen und auch keine Musikanten und Bettler im Bus. Am besten lade ich sie nicht nach Berlin ein. Sie könnte sonst in die U-Bahn geraten, und ihre vorwurfsvolle Miene kann ich mir jetzt schon vorstellen (“und dafür bist Du nach Deutschland gekommen?”).
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, sagt ein Sprichwort. In Mexiko hatte ich nie die Gelegenheit zu wählen. Nachdem ich das wahlfähige Alter erreicht hatte, gab es dort nur eine einzige Wahl, an der ich hätte teilnehmen können. Das Dumme daran war, daß es nur einen einzigen Kandidaten gab, den von der PRI. Ich habe deswegen nicht gewählt. Das war meine letzte Chance, denn seit ich hier bin, darf ich nicht wählen. Ich nehme an, daß ich irgendwann ins Rentenalter komme, ohne jemals gewählt zu haben. Aber an-dererseits, wenn ich wählen dürfte, würde ich mich vielleicht wie damals fühlen, weil es praktisch nur die Staatspartei der sechs Buchstaben zu wählen gibt. Ich bitte um Verzeihung, falls ich mich irre, aber in Deutschland hat noch keine Regierung seit 1933 die Wahlen verloren. Regierungen sind nur gefallen, weil der kleine Koalitionspartner rechtzeitig die Seite gewechselt hat (auch im Fall von Schmidt) oder weil der Krieg verloren wurde. In Mexiko hat noch keine Regierung seit 1810 die Wahlen verloren, die Regierung ist nur nach verlorenen Kriegen gewechselt worden.
So viel Gemeinsamkeit zwischen Mexiko und Deutschland kann kein Zufall sein. Ich habe lange überlegt, ob die Germanen nicht vielleicht Nachkommen des verschollenen Klans von Quetzalcoatl sind. Quetzalcoatl war blond und ist mit seinem Boot im Atlantik verschwunden. Für diese These spricht einiges. Auf Nahuatl kann man Worte aneinanderreihen und solche zusammengesetzten Worte wie “deraltemannmitdemgroßenbauch” bilden. Deutsch ist vielleicht eine im Laufe der Jahrhunderte entstandene Vereinfachung. Nur der Mangel an Zeit hat meine Nachforschungen in dieser Richtung bis heute verhindert. Der Klan des Quetzalcoatl hat zuerst den Mond verwüstet und ist dann in Mexiko erschienen. Ob das etwas für den Standort Deutschland zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Echte Kenner der kulinarischen Szene wissen von der Expansion mexikanischer Restaurants in Deutschland zu berichten. Ich sage Euch: es ist kein Zufall. Zwei Völker, eine Gesinnung!

Lebenswege – Zwischen Europa und Lateinamerika

“Exil ist wie wenn Blätter und Wurzeln eines Baumes keinen Kontakt mehr zu Luft und Erde, ihrem Lebensraum, haben. Es ist das plötzliche Ende einer Liebe; es ist wie ein unvorstellbar schreckliches Sterben, weil es ein Sterben ist, das man bewußt erlebt.”
Dieses Zitat von Julio Cortá­zar spiegelt vermutlich das Ge­fühl der meisten Menschen wi­der, die in dem Buch zu Wort kommen. Ihre Flucht und die verzweifelte Suche nach einem Exilland verlief oft unter drama­tischen Umständen. Der Ab­schied von ihrer Heimat und die Trennung von Familie und Freunden bedeutete für sie eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Im Gegensatz aber zu vielen ande­ren, denen die Flucht nicht mög­lich war oder die am Exil zerbra­chen, gelang es ihnen, der Ver­folgung zu entgehen und sich in ihrem Zufluchtsland eine neue Existenz aufzubauen.
Es kommen hier aber nicht nur Menschen zu Wort, die in das Exil flüchten mußten, son­dern auch Fluchthelfer wie Gil­berto Bosques, der während des Zweiten Weltkriegs als General­konsul von Mexiko vielen Ver­folgten die Emigration über Frankreich nach Mexiko ermög­lichte. Die Schauspielerin Steffi Spira gelangte mit Bos­ques Hilfe nach Mexiko: “Wir waren glücklich, daß wir die Möglich­keit hatten, nach Mexiko zu ge­hen. Natürlich sind wir gerne dorthin gegangen, wir ha­ben nicht etwa Hemmungen ge­habt, nein, wir waren an und für sich sogar glücklich, nicht nach Nordamerika zu gehen, weil wir fanden, Mexiko sei eben doch ein unbetretener Boden”. Ob­wohl sie nicht das Exilland aus­wählen konnte, machte sie sehr positive Erfah­rungen in Mexiko und hatte so­gar die Möglichkeit, in ihrem Beruf zu arbeiten.
Ein weiteres Land, das zahl­reiche Flüchtlinge aufnahm war Argentinien. Nelly Meffert schil­dert das Leben in der Exilge­meinschaft in Buenos Aires, zu der viele politisch aktive Künst­lerInnen und Intellektuelle gehör­ten. Dazu zählte auch die Familie von August Siemsen. Sein Sohn Pieter berichtet von der Arbeit für die Zeitschrift und Bewegung “Das andere Deutsch­land”, die sein Vater leitete und die in der linken und demokrati­schen Strömung eine wichtige Rolle spielte. Für ihn, wie für die mei­sten Flüchtlinge war es wichtig, ihre politische Arbeit, die auch oft der Grund für ihr Exil war, dort weiterzu­führen.
Von dem Weg in die andere Richtung spricht der argentini­sche Schriftsteller und Publizist Osvaldo Bayer. Nach dem Mili­tärputsch 1976 mußte er Argen­tinien verlassen und flüchtete nach Deutschland. Doch das Exil erlebte er als sehr zwiespältig, denn er flüchtete in ein Land, daß dem Militärregime in Ar­gentinien kritiklos gegen­überstand und es teilweise sogar unterstützte: “… die Verzweif­lung, sich da zu befinden, wo das System entwickelt wird, das die Tragödie des Exils, den Tod und die Verhaftung von Freunden ja möglich macht. […] Und da erle­ben wir schon die Zwiespältig­keit in der Existenz des latein­amerikanischen Exilierten, der sich gezwungen sieht in irgend­einem industrialisierten Land der westlichen Hemisphäre zu le­ben.” Dies ist nur ein Teil des Deutschlandbildes das Osvaldo Bayer 1976 in seinem Referat “Bundesrepublik Deutschland: Das Bild eines lateinamerikani­schen Exilierten” dargestellt hat.
Die Interviews ermöglichen es, einen wichtigen Teil Ge­schichte zu verstehen und zeigen die Parallelen zur heuti­gen Flücht­lingsproblematik.

Gert Eisenbürger (Hg.): Le­bens­wege – 15 Bio­gra­phien zwi­schen Europa und La­tein­ame­rika; Verlag Li­ber­tä­re As­so­ziation, Ham­burg 1995, 240 S., DM 24,-

Das Asylrecht war kein Versehen

Als 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch­land das Asyl­grundrecht ohne jede Ein­schränkung festgeschrieben wur­de, war dies keineswegs ein Versehen. Zeithistori­scher Erfah­rungshinter­grund waren Terror und Verfolgung in Deutschland, die industrielle Vernichtung von Millionen Menschen, die durch den zwei­ten Welt­krieg aus­gelösten Flücht­lingsströme und die Auf­nahme – oder eben Nicht-Auf­nahme – dieser Menschen in an­deren Län­dern.
Die Ausgestaltung des Asyl­rechts garantierte dem einzelnen Flüchtling den Anspruch auf um­fassende Anhörung sowie das Recht, bis zum Abschluß des Ver­fahrens in Deutschland zu bleiben. Weder das Völ­kerrecht noch die Verfas­sung anderer Staaten kannten eine derartig weitreichende Ausgestal­tung des Asylgrundrechts. Dennoch war die Praxis der Asylgewährung in anderen Staaten, die kein Grund­recht auf Asyl besaßen, häufig liberaler als in der Bundesrepu­blik. Neben ei­ner restriktiven Ausle­gungspraxis führten seit 1978 vielfache Gesetzesän­der­ungen zur Verkürzung des Rechts-mittelweges und zur Er­schwerung des Zu­gangs zum Verfahren. Vom Grundrecht auf Asyl ist kaum etwas übrig geblie­ben.
Die Vorgeschichte der Grundgesetzänderung
1991 kamen 256.112 Asylbe­werberInnen in die Bundesrepu­blik Deutsch­land, etwa 33 Pro­zent mehr als 1990. 1992 stieg die Zahl noch einmal um 71 Pro­zent auf 438.191. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1993 verlangsamte sich der Anstieg der Ge­suche, auch unter dem Einfluß des seit dem November 1992 geltenden “Rücknahme-Abkom­mens” mit Rumänien. Es gab 224.099 AsylbewerberInnen, 19,5 Prozent mehr als in der er­sten Hälfte des Vor­jahres. Das seit dem 1. Juli 1993 gültige neue Asylrecht brachte die “Wende”: mit 98.690 Personen sank die Zahl der Antragstelle­rInnen um 56 Prozent im Ver­gleich zur ersten Hälfte dessel­ben Jahres.
Restiktive Anerkennungs­praxis
Der Rückgang der Be­werberInnenzahlen wird von der Regierungskoalition und darüber hinaus als Er­folg verbucht. Die überwie­gende Mehrheit der An­tragsteller seien “Schein­asy­lanten” und “Wirt­schafts­flücht­linge” gewesen. Hierzu sind min­destens zwei Dinge zu be­merken:
1. Zu den etwa 5 Prozent an­erkannten Flüchtlingen kamen weitere 5 Prozent hinzu, die auf­grund von Gerichtsverfahren doch noch Asyl erhielten. Wei­tere 10 Prozent müssen hinzug­rechnet werden als zunächst ab­gelehnte Ange­hörige, die mit Rücksicht auf den Schutz der Familie bleiben durften. Noch ein­mal 20 Prozent der An­tragstellerInnen waren zwar nicht im engeren Sinne asylbe­rechtigt, erhielten aber ein Blei­berecht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonven­tion. Insgesamt durften also mindesten 40 Prozent aller An­tragstellerInnen bleiben, und das bei der auch vor Juli 1993 schon ausge­sprochen restriktiven Aner­kennungspraxis.
2. Wer von “Schein­asy­lanten” spricht, vergißt, daß es seit dem Anwerbestop 1973 kaum noch legale Wege gibt, in die Bun­des­republik zu kommen. Ne­ben der Stel­lung eines Asylantrags blei­ben im we­sentlichen Fami­liennachzug sowie die be­fristete Einreise zu Ausbil­dungszwecken und zu Be­suchen. Würde die Bun­desrepublik endlich aner­kennen, daß sie längst ein Ein­wanderungsland gewor­den ist und die entspre­chenden Rege­lungen ein­führen, wären Men­schen, die tatsächlich nicht direkt politisch verfolgt werden, aber nichts desto trotz le­gitime Gründe ha­ben, in der Bundesre­publik leben zu wollen, nicht län­ger gezwungen, diesen Wunsch auf dem Umweg Asyl zu verfolgen.
Die Situation nach der Grundgesetzänderung
Der Kern der neuen Asyl­rechtsregelung ist die Konstruk­tion von “sicheren Her­kunftsländern” und “siche­ren Dritt­staaten”. Grundlage für letzteres ist die formale, nicht je­doch die faktische Anerkennung der Genfer Flüchtlings­konven­tion.
Kommt ein Flüchtling aus ei­nem “sicheren Her­kunftsland” (auch Rumä­nien etwa ist trotz der staatlich geduldeten Po­grome gegen Roma als Nichtverfolger­staat aufge­führt), so ist sein An­trag “of­fensichtlich unbegrün­det” und er durchläuft ein gekürztes Asylverfahren. Gegen die Ent­scheidung klagen darf er nur vom an­geblich verfolgungsfreien Herkunftsland aus.
Ist ein Flüchtling durch einen “sicheren Drittstaat” eingereist, gilt sein Antrag als unbeachtlich, da er ja in diesem Staat seinen Antrag auf Asyl hätte stellen kön­nen. Nicht der Fluchtgrund, sondern der Fluchtweg sind aus­schlaggebend. Wer an der Grenze zu Polen, einem der “sicheren Drittstaaten”, einreisen will, wird sofort, ohne Anhö­rung, dorthin zurückgeschoben. Daß es dort keine rechtsstaatli­chen Verfahren im strengen Sinne gibt, daß die Gefahr von Kettenabschiebungen besteht, wird ignoriert. Diese Regelung führt zur faktischen Abschot­tung, da alle an Deutschland gren­zenden Staaten entweder “siche­re Dritt­staaten” oder “Nicht­ver­folger­staaten” sind.
So bleiben im Grunde nur die illegale Einreise und das Ver­schweigen des Fluchtweges, oder die Ein­reise auf dem Luftweg. Nach der sogenannten “Flugha­fen­regelung” gelten An­tragsteller aus “siche­ren Her­kunfts­ländern” als nicht ein­gereist und haben sich auf dem vorgeblich “exter­ri­torialen” Ge­lände des Flughafens bei Zwangs­aufenthalt im Lager ei­nem Schnellverfahren zu unter­ziehen. In nur einer Woche wird über die Abschie­bung oder die Einreise und das re­guläre Ver­fahren entschie­den. Dasselbe gilt für Menschen mit ungültigen Reisepapie­ren. Um ihre Chance auf ein reguläres Asylverfahren zu erhöhen, kann es für diejenigen, die aus angeb­lich si­cheren Herkunftslän­dern kom­men, unter Umständen günstiger sein, wenn sieihre Papiere ver­nichten und eine fremde Identität, ein an­deres Her­kunftsland angeben.
Neben der weiteren Er­schwerung des Zugangs zum Asylverfahren und der Verkür­zung der Fristen, in denen Rechtsmittel einge­legt werden können, wird versucht, durch die Ver­schlechterung der Lebens­situation im Land Flücht­linge abzuschrecken.
Asylrecht und 8. Mai
Wer “einen Ausländer ver­leitet oder dabei unter­stützt, im Asylverfahren (…) unrichtige oder unvollstän­dige Angaben zu machen” (Asylverfahrensgesetz ´84) damit er zum Beispiel nicht in einen Staat zurückge­schoben wird, in dem er mit großer Wahrscheinlich­keit Folter zu er­warten hat, wird mit Freiheits­entzug und Geldstrafe bedroht.
Menschen, die illegale Roma aus Rumänien ver­stecken, wer­den kriminali­siert, diejenigen, die Flüchtlingen über die “grü­ne Grenze” helfen, un­differenziert als Schlepper diffamiert. Abge­lehnte AsylbewerberInnen wer­den verfolgt, weil sie mangels anderer Möglichkeiten, das Auf­enthaltsrecht zu erwer­ben, eine Ehe eingehen.
Eine AsylbewerberIn, der/die falsche Papiere vorgelegt hat, wird als Be­trügerIn bezeichnet und hat kaum Chancen, sein/ihr Asylverfahren erfolgreich zu beenden. Hierbei spielt es keine Rolle, ob er/sie das Heimatland an­sonsten nicht hätte verlassen können – sei es wegen restrikti­ver Visabestimmungen oder weil ihm/ihr vom Verfolgerstaat keine Papiere ausgestellt wurden.

Das Zahlenmaterial wurde dem Buch von Klaus J. Bade: Ausländer, Aus­siedler, Asyl (München 1994) entnommen
Menschen­würde
garantieren!
Am 28.1.95 wurde Ben­jamin Ramos Vega, der mit in­ternationalem Haftbefehl wegen “Mitgliedschaft in einer terrori­stischen Vereinigung”(ETA) so­wie “Sprengstoffbesitz” und “Lagerung von Kriegswaffen” gesucht wurde, in Berlin festge­nommen.
Die Grundlage der Festnahme war eine Aussage eines am 28.4.94 in Barcelona festge­nommenen, ehemaligen Füh­rungs­mitglieds der baskischen Partei Herri Batasuna, genannt Pipe. Vor dem Haftrichter wider­rief Pipe alle Aussagen und er­klärte, daß die Aussagen unter Folter zustande gekommen sind
Der spanische Staat fordert die Auslieferung von Benjamin. Obwohl nach Einschätzungen von amnesty international und des UNO-Sonderbeauftragten für Folterangelegenheiten systemati­schen Folter im spanischen Staat betrieben wird, wird voraus­sichtlich der Asylantrag, den er gestellt hat, abgelehnt werden da Spanien von der BRD als “verfolgungsfreies Herkunfts­land” eingestuft wird.

Protestschreiben können Sie an folgende Adresse schicken: Bundesjustizministerium, Hei­nemannstr. 6, 53175 Bonn, fax: (o228) 584525 und an das Kammergericht Berlin, Witzle­benstr.4, 14057 Berlin, Fax:(030) 32092266
Solidaritätsbriefe in einfa­chem Deutsch an: Benjamin Ramos Vega, JVA, Alt-Moabit 12a, 10559 Berlin

Collage eines Kontinentes

Havanna und Sao Paulo – diese beiden Namen ste­hen für die zwei lateiname­rikanischen Kunstbiennalen, und für zwei recht unter­schiedliche, konkur­rierende, aber auch sich gegen­seitig er­gänzende Konzepte, der bildenden Kunst dieses Kon­ti­nentes ein in­ternatio­nales Fo­rum zu ver­schaffen. Die Kunst­messe von Sao Paulo wurde 1951 gegrün­det, al­so zu einem Zeit­punkt, als das offizielle Bra­silien sich mit­ten im Mo­dernisierungs­fie­ber be­fand. Er­klärtes Ziel war, der lokalen Kunstszene Anre­gungen zu ver­schaffen und ihr gleichzeitig in­ternatio­nale Ab­satzmärkte zu er­schließen. Ent­spre­chend wurde von vornherein da­r­auf gesetzt, KünstlerInnen und KunsthändlerInnen aus der ganzen Welt einzula­den. Da­ge­gen entstand in den achtziger Jahren die Bien­nale von Ha­vanna ex­plizit als kul­turelles und po­litisches Pro­jekt, um – ähnlich wie bei dem In­ter­nationalen Film­festival von Havanna – Kunst aus La­teinamerika und anderen Re­gio­nen der Drit­ten Welt ein Forum zu verschaffen.
Die Ausstellung “Havanna – Sao Pau­lo” zeigt jetzt sa­lomoni­scher­weise eine Aus­wahl aus beiden Biennalen von 1994. Ölge­mäl­de, Skulptu­ren, Fo­tografien, Installationen, Envi­ronments – die Ar­beitsmate­ri­alien der 33 Künstle­rinnen und Künstler sind so un­terschiedlich wie ihre Aus­drucksweisen. Ein postmodernes Stil­gemisch mit ei­nigen gemein­sa­men Bezugs­punkten im in­halt­lichen Be­reich.
Religiöse Qualen
für Aug`und Seele
Wie es sich für katho­lisch so­zi­alisierte Künst­ler­Innen ge­hört, arbeiten sich einige an sakralen Mythen ab. Bei dem drei­flügeli­gen Altar des venezo­la­ni­schen Künstlers Nel­son Garrido um­armt die le­gen­däre ita­lie­nische Pornodar­stellerin Cic­ciolina einen schwar­zen Chris­tus am Kreuz, des­sen äußerer Er­schei­nung durch Heiligen­schein aus Neon sowie drei wul­stige Stoffpe­nis­se die Krone aufge­setzt wird. Umrahmt wird das ungleiche Paar von einem con­junto aus Pin-Up Fo­tos, Putten­glanzbil­dern, Totenschä­deln und anderen illustren Gestal­ten. Noch qual­vol­ler für Aug` und Seele ist die Rauminstalla­tion “Mea culpa” der ar­gentinischen Künstlerin Kuki Benski. Ein gruf­tiger Raum mit Devolutio­nalien, altertümlichen Sa­do-Maso-Por­nofotos und kle­rikalen Schriften, die vor Unzucht war­nen: “No for­nicarás!” Fast wie Inventar einer Gei­sterbahn er­scheint der dazu­gehörige Altar. Der züchtigen Ma­donna ist eine nackte Brust auf­geklebt, die diese als Schwester je­ner nackten Sex­puppe outet, die davor mit ver­renk­tem Körper und gefes­selten Händen kniet. Die Frau als Hure oder Heilige, klassi­scher Ausdruck bür­gerli­cher Dop­pel­moral, die blasphemische Provo­kation als Gegenreaktion – nichts neues, aber immer noch ak­tuell, wenn man an die Rolle der ka­tholischen Kirche in Lateiname­rika denkt.
Um die “Ausrot­tung des Bö­sen” geht es auch bei den zwei Bildern der Brasi­lianerin Adriana Varejao: Zwei makabre Va­ri­anten stehen zur Auswahl: Ex­or­zismus durch “Einschnitt” oder durch “Überdosis”. Zwei Leinwände, auf denen an Fran­ciso Goyas Monster erinnernde dämonische Fa­bel­wesen skiz­ziert sind, werden auf grausige Art zerstört. Während bei der “Über­dosis” zwei medi­zi­nische Infusionsständer eine blaue Flüs­sigkeit in die Leinwand injizie­ren, welche diese an einer Ecke auf­platzen und das Gift wieder ausbrechen läßt, ist das an­dere Bild unter das Messer eines Chi­rurgen geraten. Die Lein­wand als blutige, klaffende Wunde, das her­ausgerissene Stück einer Leichenhaut gleich auf dem Seziertisch. Die Lein­wand selbst erscheint als Op­fer eines blindwütigen Ein­griffs von außen, der das zerstört, was er angeblich retten will.
Von grotesker Gestalt sind die sieben Straßen­hunde des Argen­tiniers Luis Frei­stav: Sie kratzen sich, sie scheißen, sie ko­pulieren – und verenden. Auf den ersten Blick wir­ken die Skulpturen aus Papp­maché fast wie mumifi­zierte Kadaver, fast meint man den Geruch der Armut, der Ver­wesung in der Nase zu spüren.
Indianischer Kult und Da­daismus
In dieser Ver­bindung von Material und Thema liegt der Schlüs­sel zu einigen der ein­drucksvollsten Objekte: Statt ed­le Materialien zu verarbeiten, werden Ver­satz­stücke der Re­alität zu Assem­bla­gen montiert.
Diese Art des Arbeitens zeugt zum einen von ei­ner Auseinan­der­set­zung mit der europäischen Objektkunst der Moderne: 1917 hatten die Dada­ist­Innen das Ende der bürgerlichen Kunst verkün­det. Der Franzose Mar­cel Duchamp stell­te einen industriell ge­fer­tigten Fla­schentrockner auf ein Podest und erklärte diesen kurzerhand zur Kunst. Im Span­nungsfeld zwischen Kunst und Anti-Kunst ent­stand das Konzept des Materialbildes, der Installa­tion, der Assemblage aus “objets trouvés”, vorgefun­denen Ge­gen­ständen – mal kitschig, mal poe­tisch, mal geheimnisvoll, pro­vo­zierend oder von bra­chialer Heftig­keit.
Die moderne Kunst Eu­ropas entstand allerdings auch nicht im luftlee­ren Raum. Bekann­terweise ka­men die entscheidenden Im­pulse für die deutschen Expres­sionistInnen oder für Picassos Ku­bis­mus aus der sogenannten “pri­mi­tiven” Kunst “exotischer” Kul­turen. Frustriert vom blut­leeren Aka­demismus der euro­päischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, un­ternahmen viele Künstler­Innen ausgedehnte Fern­reisen, um der mü­den Ima­gination wieder auf die Beine zu helfen. Dabei wur­den zu Spott­preisen “Neger­plas­tiken” oder Kultgegenstände er­worben, im hei­mischen Atelier mit ge­rin­gen Abwand­lungen kopiert und als bahnbre­chende künstlerische Neu­entdeckung ausgegeben. Die Daheimgebliebenen konnten sich zu­mindest von den völkerkundli­chen Sammlungen des Lou­vre, des Britischen Museums oder der Preus­sischen Mu­seen inspirieren las­sen, wo die ge­plünderten Kunst­schätze europäi­scher Kolo­nien hinter Glas zu bewun­dern waren.
In vielen außer­eu­ro­päi­schen Kulturen, darunter auch bei indi­genen Völkern Süd­amerikas, ge­hört das, was wir heute als Ob­jek­te, Installationen oder Perfor­mances bezeichnen, zur kul­turellen Tra­dition. So grup­pieren die Xing-India­ner bei ih­rem Kuarup-Fest be­malte Baum­stämme zu “Envi­ronments”, die Cu­nas in Panamá bauen bei Hei­lungszeremonien ihre “Uchu”-Holz­skulpturen instal­lations­ar­tig auf. Ganz zu schweigen von den vie­len reli­giösen und ästhe­tischen Mischfor­men, die aus dem Aufeinandertreffen indige­ner, euro­päi­scher und afroameri­kani­scher Kul­tu­ren entstanden sind. Da entsteht nichts Eindeu­tiges, Ge­fäl­liges oder Ein­dimen­siona­les, was sich auf den ersten Blick erschließen läßt.
Trotzdem bevorzugten jahr­zehntelang gerade viele latein­ame­rikanische Künst­lerInnen, denen an einer eigenstän­digen kulturellen Identität gelegen war, die gegen­ständliche Malerei. Be­kann­testes Beispiel hier­für sind die mexikanischen muralistas, die Wand­maler im Um­kreis von Diego Rivera. Eine in­nere Verbin­dungs­linie zur Ob­jektkunst liegt allerdings darin, daß auch die Wand­gemälde be­wußt den klas­si­schen Kunstrah­men ver­lassen und sich auf alltäg­li­ches Terrain, in öffentli­che Ge­bäude, auf die Straße be­geben.
Mittlerweile scheint die Ob­jektkunst gerade für junge latein­amerikanische Künstler eine ide­a­le Mög­lich­keit zu sein, Re­alitäts­split­ter aufzugreifen und gegenein­an­der­zu­montieren.
Objektkunst: Medium für Realitätssplitter
Hinzu kom­men aber si­cher auch ökono­mische Motive: Mate­ri­al, das sich auf der Straße finden läßt, ist ein viel billigeres Ar­beitsmittel als Leinwand, edle Höl­zer oder Bron­ze. Auch der Transport ist oft nicht so auf­wendig. So wurden im letzten Jahr, angesichts der wirtschaftli­chen Engpässe der Bien­nale von Ha­vanna, die aus­wär­tigen Künst­ler­Innen gebeten, keine riesi­gen Skulpturen oder Lein­wände zu schicken, sondern nach Möglichkeit an Ort und Stelle Installationen auf­zubauen.
Die wirtschaftliche und politi­sche Si­tuation auf Ku­ba spiegelte sich auch auf an­dere Art in den Ex­ponaten der Bien­nale 1994 wie­der. Es wim­melte von Schif­fen: Während Ob­jekte wie die Konquistadoren­boo­te von Mar­cos Lora Read aus der Dominikani­schen Republik gewis­ser­maßen die Nach­hut des Ge­den­kens an die 500 Jahre Kolo­nia­lismus bilde­ten, enthiel­ten die Boote einiger kubani­scher Künst­lerInnen ei­ne recht ex­plo­sive Fracht. So etwa die As­semblage “Die Re­gatta” von Alexis Leyva: Einer Völ­kerwan­derung gleich, durch­que­ren un­zählige kleine Boote aus Holz, In­du­striemüll und ka­putten Gummilat­schen den Raum. Ge­fährte, so schä­big und wak­kelig wie die Boote, auf denen im gleichen Jahr, wo sich in Ha­vanna die Kunstwelt traf, Tau­sende Kubaner versuchten, die In­sel für immer zu verlas­sen. Noch deutlicher drückt sich die kubanische Künst­lerin Sandra Ramos aus: “Migraciones” sind die bei­den 1993 bemalten Köf­ferchen eti­kettiert, deren In­nen­futter das Thema in einer Mi­schung aus na­i­ver Verspielt­heit und Grausam­keit il­lu­striert. Während in dem einen noch ein Fischer träu­mend in seinem Kahn liegt und von Segeljachten, schnel­len Autos und blon­den Frau­en träumt, be­her­bergt der zweite Behälter die bei der Flucht Ertrun­kenen, de­ren Träume auf dem Meeresgrund zwi­schen Haien und al­ten Auto­reifen ihr feuchtes Grab finden.
Flucht und geopferte Leidenschaften
Mit Tod und ge­scheiter­ten Träu­men setzten sich auch die bei­den großflä­chi­gen Fotocol­la­gen “La pa­sión sacrificada” – “Die geopferte Lei­denschaft” von Paolo Gasparini aus­einander. Der gebürtige Italie­ner, der seit 1967 in Venezuela lebt, widmete sie zwei Legenden der la­tein­amerikani­schen – und eu­ropäischen – Lin­ken: Che Gue­vara und Tina Modotti. Rechteckige Schwarzweißfotos, zum Teil blutrot oder in kühlem Blaugrau einge­färbt, konfron­tie­ren histo­ri­sche Fotos mit aktuel­len Bildern aus Mexiko, wo die Fotografin und linke Akti­vistin Tina Modotti jah­relang lebte, be­zie­hungs­weise aus Bolivien, wo Che Guevara als Guerillero starb. Ches toter Körper, aufgebahrt, be­gut­achtet und aus verschiedenen Rich­tungen foto­grafiert, kontra­stiert mit dem Foto eines ambu­lanten Poster­ge­schäftes, wo die Ikone Che neben Madonnen­bildchen und Rambopo­stern zum Verkauf aus­hängt. Noch kom­plexer die Col­lage zu Tina Mo­dotti: Alltags­fotos aus dem heu­ti­gen Mexiko, das Porträt eines alten Mannes, Ti­nas schönes, ru­higes Gesicht ne­ben einem Porträt von Emi­liano Zapa­ta, ihr nack­ter Körper auf einer Son­nenterasse, der am rechten Bildrand in das Bild ei­nes erschossenen Ar­beiters über­geht. Und ein Foto von einer Versteige­rung im Londoner Kunstauktions­haus Sotheby: Nach ih­rem Tod kommt Tina Modottis berühmtes Stilleben aus dem mexikanischen Bür­gerkrieg mit Gitarre, Sense und Patronengurt unter den Hammer.
“Die geopferte Leiden­schaft” oder “Die ver­marktete Leiden­schaft”: Wenn sich lateinamerika­nische Künstler­In­nen auf die internationalen Pu­bli­kums- und Han­delsmärkte be­ge­ben, müssen sie auf­passen, nicht auf Fol­klore, Armut oder Revolutionsro­man­tik festgelegt zu wer­den. Die Ausstellung “Ha­vanna – Sao Paulo” setzt der­artigen Klischees eine schil­lernde Stil- und Themenvielfalt entgegen. Allerdings um den Preis, daß es auch schon wieder etwas unübersichtlich wird.

“Havanna – Sao Paulo: Junge Kunst aus Latein­amerika bis zum 5. Juni im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 030/397870

Die Zeit, als Gott eine Frau war

Zu erleben war eine auch dem in experimenteller Musik Uner­fahrenen gut zugängliche Ge­schichte von den zwei Seiten des Ich, verkörpert in den beiden Hauptakteurinnen. Die Sängerin, Gabriela de Geanx, hatte eine durch Konventionen eingeengte Persönlichkeit darzustellen, agie­rend auf einem hohen Podest mit wenig Platz, in ein altmodisches Kostüm gezwängt, künstlerisch “schön” singend, mit marionet­tenhaften, unfreien Bewegungen.
Die Schau­spielerin, Marilena Bi­bas, spielte den Gegenpart: In schwarzem Kleid, mit wir­rem Haar, repräsentierte sie das Traumhafte, Unterbe­wußte, My­thische. Sie warf Steine in einen großen Kupferkessel und rollte diese darin herum, setzte sich auch selbst hinein – sowohl Assoziationen zum Kochtopf als auch zum Hexenkessel liegen nahe – , sie streifte durch ein großes Metallröhrenspiel, stellte sich hinter einen vergrößernden Zerrspiegel und stieß beim Töp­fern ei­nes Phallus vogelartige Laute aus. Märchenhaft, mit dem exotischen Geruch der eigenen Träume und Phantasien, kamen die Klänge und Bilder daher.
Die Texte, die von bei­den ge­sprochen und gesun­gen werden, reichen von Mythen der Ya­nomami über Euripides bis zu einem Text der Regisseurin und beschäftigen sich mit Träumen von Weiblichkeit, mit Frauenge­stalten und -geschichten, die von allem Bürgerlich-Traditionellen abweichen. Jocy de Oli­veira, Drehbuchautorin, Komponistin und Regis­seurin der Oper, sucht of­fenbar nach anderen, neuen Formen des Frau-Seins, und sie findet diese in “jener Zeit” (illud tempus), der Ur-Zeit, als Gott eine Frau war. Auch räumlich steht die Sängerin, die die “Kultur” verkörpert, im Hinter­grund, die Schau­spielerin – “Natur” – je­doch im Zentrum der Bühne, und auf ihre Le­bensform läuft das Stück hinaus: Am Ende reißt sie der Sängerin das Ko­stüm vom Leib, befreit sie, oder wenn wir es bei den zwei Seiten des Ich lassen: be­freit sich selbst von den Zwängen, den falschen Traditionen.
Der Feminismus hat sich der­artiger Gedanken längst ange­nommen; die Überle­gungen zu dem Bild “Gott als Frau”, zum vorhistori­schen Matriarchat und zu weiblicher Mythologie ha­ben sich etabliert. Aber auch wenn die Oper inhalt­lich nicht viel Neues bringt, ist sie keineswegs überflüs­sig. Zum einen ist uns ge­nauso geläufig, daß sich die Frau-Mann-Rollen und patriar­chale Herrschafts­formen hart­näckig halten und das Thema folglich nicht erledigt ist. Zum an­deren macht de Oliveira von den Mitteln der expe­rimentellen Musik in die­sem Zusammenhang wun­dervollen Gebrauch: Nach­denken über Weiblichkeit findet hier nicht in troc­kenen Texten statt, sondern durch die Auffor­derung, die Sinne zu öffnen, der phan­tasievollen Musik zu lau­schen (Schlagzeugerin, Klarinet­tist, de Oliveira mit Keyboard und elektroni­schen Geräuschen) und die Augen wandern zu las­sen. Darüberhinaus stellt sich ge­rade durch die geschlechtsunab­hängige, berührende Sinnlichkeit in Bild und Ton die Frage, wie spezifisch weiblich es eigentlich ist, den Mythen und Träumen nachzugehen. Möglicherweise ist die Oper ein geeignetes Medium, die Konventionen und Traditio­nen auch bei Män­nern zu hinter­fragen.
Glücklicherweise scheint “Illud Tempus” in Brasilien kein marginales Ereignis zu sein. 1994 wählte die Zei­tung “O Globo” das Werk zur besten mu­sikalischen Arbeit des Jahres, und durch Open-Air-Veranstal­tungen mit tausenden Zu­schauerInnen ist sie ins Gespräch gekommen.
Die Oper ist der zweite Teil einer Trilogie. Die Überra­schung, die man nach drei Vier­telstunden erlebt – da ist die Oper nämlich aus – , läßt sich so viel­leicht erklären. Nach wie vor un­glaublich ist jedoch, daß die KünstlerInnen um Jocy de Oli­veira nur wegen dieser zwei Konzerte im Berliner Haus der Kulturen der Welt nach Europa ge­kommen sind und sonst keine weiteren Auftritte ha­ben. Aber vielleicht gibt es eine neue Tour­nee, wenn die Trilogie abge­schlossen ist?

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