Ein Gespenst geht um in Lateinamerika…

Er hatte wahrlich hoch gepokert: Am 26. August verkündete der ecuadorianische Präsident Jamil Mahuad, Ecuador werde die zum Ende des Monats fälligen Zinszahlungen der sogenannten Brady-Bonds vier Wochen aussetzen. Der Aufschub sei jedoch keinesfalls als einseitige Aufkündigung des Schuldendienstes mißzuverstehen, sondern stehe vielmehr im Kontext der laufenden Verhandlungen mit dem IWF, deren Abschluß unmittelbar bevorstehe. Auf Initiative des damaligen US-Außenministers Nicolas Brady war 1989 erstmals ein vordergründiger Abbau der lateinamerikanischen Auslandsverschuldung durch beispielsweise einen Umtausch in neue Schuldtitel mit niedrigeren Zinsen oder längeren Laufzeiten erreicht worden.
Im Interesse von „Ecuadors nachhaltiger Entwicklung“ appellierte Mahuad an die internationale Gebergemeinschaft, für die stellvertretend der US-amerikanische Präsident Bill Clinton die Initiative für ein „handhabbares Schuldenniveau“ zunächst auch begrüßte und seine Unterstützung bei Umschuldungsverhandlungen mit dem Pariser Club, einem Zusammenschluß der Gläubigerländer, zusagte. Die bereits unterschriftsreifen Kreditvereinbarungen mit dem IWF jedoch scheiterten am ecuadorianischen Kongreß, der den Haushaltsentwurf der Regierung Mahuad für das nächste Jahr ablehnte, an die wiederum die Kredit-Zusagen aus Washington geknüpft waren. Mahuads Verzögerungstaktik ging deshalb voll nach hinten los: Nur vier Wochen später kaschierte der ecuadorianische Präsident unter dem Deckmantel einer „innovativen Lösung“ nur spärlich die Zahlungsunfähigkeit des Andenstaates.

Teilzahlung verweist auf „Teil“-Bankrott

Was genau war geschehen? Mahuad, der sich seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres um Neuverhandlungen mit dem Pariser Club bemüht, hatte auf massiven innenpolitischen Druck gegen seine rigorose Austeritätspolitik folgende Lösung des Schuldenproblems vorgeschlagen: Von den Ende August fälligen 98 Millionen US-Dollar an Zinszahlungen sollte Ecuador seiner Ansicht nach nur rund die Hälfte begleichen. Bedient werden sollten nur jene Titel, die nicht durch Nebensicherheiten der US-amerikanischen Regierung gedeckt seien. Die Besitzer der anderen Hälfte an Schuldtiteln sollten ihre Ansprüche gegenüber der US-amerikanischen Regierung geltend machen beziehungsweise diese mit ihr neu verhandeln, und mit den neuen Konditionen zu einer Reduzierung der ecuadorianischen Schuldenlast beitragen.
Dieser dramatische Appell an die internationale Finanzwelt, Ecuador angesichts der erdrückenden Auslandsschulden – sie überschreiten mit über 13 Milliarden US-Dollar inzwischen das jährliche Bruttoinlandsprodukt – ein wenig Spielraum zum Atmen zu verschaffen, bewirkte das genaue Gegenteil: Über ein Drittel der Brady-Bonds-Halter, unter denen sich neben Gläubigern aus den westlichen Industriestaaten auch nicht wenige ecuadorianische Prominente aus Politik und Wirtschaft befinden, sprach sich gegen Neuverhandlungen aus und votierte stattdessen sogar für eine sofortige beschleunigte Begleichung ihrer Schuldtitel. Nur ein Fünftel von ihnen kam dem Appell Mahuads nach und hatte eine Schuldendeckung durch Nebensicherheiten in Erwägung gezogen.
Insgesamt belaufen sich Ecuadors Brady-Anleihen auf rund sechs Milliarden US-Dollar; im Staatshaushalt der laufende Periode waren für ihre Zinszahlungen allein 278 Millionen US-Dollar veranschlagt, wobei der Schuldendienst insgesamt einen Anteil von 42 Prozent des Budgets einnimmt – der höchste Anteil in der Region.

Soziale Unruhen nach freiem Fall des Sucre

Das Zuschnappen der Schuldenfalle und in deren Folge heftige soziale Unruhen scheint angesichts dieser Zahlen in Ecuador nur eine Frage der Zeit: Während die Regierung Mahuad noch bis zur letzten Minute alles daran setzte, ihre Kreditwürdigkeit gegenüber der Weltöffentlichkeit auf Kosten der ecuadorianischen Bevölkerung zu verteidigen und auf diesem Wege die wirtschaftliche Konsolidierung des Landes zu erreichen, fordert die in der indigenen Bevölkerung fest verankerte Oppositionspartei Pachakutik immer vehementer den sofortigen Stop aller Schuldendienstzahlungen – und im übrigen auch den Rücktritt Mahuads. Bereits das zweite Jahr in Folge liegt Ecuador mit nunmehr fast 60 Prozent Inflation an trauriger erster Stelle unter den lateinamerikanischen Staaten. Anfang März hatte die ecuadorianische Zentralbank nach monatelangen Stützkäufen den Wechselkurs der Landeswährung Sucre freigegeben und ihn dem freien Fall überlassen. Nur ein über Nacht angeordneter „Bankfeiertag“, der alles in allem auf neun Tage ausgedehnt wurde, sowie das sofortige Einfrieren aller Dollar-Konten konnten einen Crash des Bankensystems abwenden; die Dollarisierung greift stetig um sich. Über sechzig Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung leben bereits jetzt unter der Armutsgrenze. Die verheerenden Unwetterschäden durch das Klimaphänomen El Niño im vergangenen Jahr haben die durch anhaltend niedrige Preise von Ecuadors wichtigstem Exportprodukt Erdöl ohnehin äußerst angespannte wirtschaftliche Situation noch verschärft: Für das Bruttosozialprodukt zeichnet sich in diesem Jahr immer deutlicher ein Negativwachstum von mindestens sieben Prozent ab, auch wenn sich der Trend anziehender Ölpreise in Folge der von der OPEC beschlossenen Förderdrosselungen fortsetzt.

Massiv ansteigende Armutskriminalität

Analog zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Indikatoren haben Kriminalität und Gewalttaten in dem lange Zeit neben den Nachbarstaaten Kolumbien und Peru als friedlich-verschlafen geltenden Andenstaat massiv zugenommen. In der Hafenstadt Guayaquil, seit jeher Ecuadors „heißestes Pflaster“, wurde seit Anfang des Jahres mehrfach der lokale Ausnahmezustand ausgerufen, der das Militär befugt, die örtliche Polizei bei der Bekämpfung der „Alltagskriminalität“ zu unterstützen. Die Anzahl der auf Privatpersonen zugelassenen Schußwaffen hat sich in den letzten Monaten vervielfacht, ein erschreckender Trend, zumal die registrierten Waffenbesitzer aller Wahrscheinlichkeit nach nur einen Bruchteil darstellen. Das Ausmaß des sozialen Elends manifestiert sich ebenfalls deutlich in den Zahlen ecuadorianischer illegaler ImmigrantInnen, die an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze aufgegriffen und zurückgeschickt werden: Seit Anfang des Jahres ist auch diese Zahl deutlich in die Höhe geschossen.
Mitte Juli kam es, wie auch schon Anfang des Jahres, nach der Verabschiedung eines Maßnahmenbündels im Parlament, das unter anderem eine 35prozentige Erhöhung der Strompreise und die Aufhebung der Benzinpreisbindung vorsah, zu landesweiten Massenprotestkundgebungen und Streiks, gegen die die Einsatzkräfte brutal vorgingen. Eine wichtige Rolle im Rahmen dieser Kundgebungen spielte dabei die Frente Popular, ein nationales Bündnis verschiedener Bürgerrechtsinitiativen, unter denen sich vor allem die studentischen Gruppen hervortun. Der einträchtige Protest u.a. zusammen mit Anhängern der Oppositionsparteien, Gewerkschaften und der indigenen Bewegung erinnerte nicht wenig an den Sturz des populistischen Präsidenten Abdalá Bucarám vor rund zwei Jahren, dem eine Konstellation aus vehementen Massenprotesten und einem Kongreß, der die Gunst der Stunde für eigene Interessen zu nutzen wußte, zum Verhängnis geworden war.
Doch auch das rechte Spektrum hat Präsident Mahuad, der Christdemokrat und ehemals beliebte Bürgermeister der Hauptstadt Quito, geschlossen gegen sich. Eine noch größere Gefahr politischer Destabilisierung geht ohne Zweifel von seinen in Guayaquil unter der Federführung von Ex-Präsident León Febres-Cordero und Ex-Präsidentschaftskandidat Jaime Nebot zusammengeschlossenen wohlhabenden Gegnern aus. Angesichts unterschwelliger Mutmaßungen über einen möglichen Staatsstreich Ende Juli nahm Mahuad die von dieser Gruppe am schärfsten kritisierten Maßnahmen zumindest zum Teil zurück, nämlich die Erhebung einer einprozentigen Steuer auf alle Finanztransfers und vor allem das Einfrieren aller Dollar-Konten. Der landesweite Transportstreik führte dazu, daß auch die Benzinpreiserhöhung von 13 Prozent zurückgenommen wurde und das Niveau bis Dezember konstant bleiben soll.

Haushaltsentwurf trägt die Handschrift des IWF

Gleichzeitig bittet Mahuad jedoch die ecuadorianische Bevölkerung um Verständnis für noch einschneidendere Maßnahmen: Anfang September legte der inzwischen wie dieses Jahr schon mehrere seiner Amtsvorgänger zurückgetretene Wirtschaftsminister Guillermo Lasso dem Kongreß einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2000 vor, der die Senkung der Inflationsrate von derzeit rund 60 Prozent auf 25 bis 30 Prozent vorsieht, das Negativwachstum des Bruttoinlandsproduktes umkehren will und sogar ein Wachstum von 2,5 bis 3 Prozent anstrebt. Außerdem soll das Haushaltsdefizit von 7 auf 2,5 Prozent gesenkt werden. Tragende Säule dieses ehrgeizigen Entwurfes ist eine grundlegende Steuerreform, die vor allem leicht erhebbare Steuern, wie etwa die Mehrwertsteuer, ausweiten und die Erhebung anderer, wie etwa der Einkommenssteuer, rigoroser durchsetzen will. Experten schätzen, daß derzeit über 60 Prozent der zu zahlenden Einkommensteuern de facto nicht erhoben beziehungsweise ihre Zahlung nicht durchgesetzt wird.
Von diesen strengen Auflagen ist wiederum eine endgültige Einigung mit dem IWF abhängig, der einen Standby-Kredit in Höhe von 400 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt hat, dem eine weitere Milliarde US-Dollar von anderen Gläubigern folgen würde. Doch darin, daß sie diesem Vorschlag auf gar keinen Fall zustimmen werden, sind sich die drei großen Oppositionsparteien im Kongreß einig, so daß die Möglichkeit der Umschuldung noch in den Sternen steht. Die regierende christdemokratische DP verfügt über keine Mehrheit im Kongreß und ist somit seit jeher auf vorübergehende Bündnisse – vor allem mit der neoliberalen PSC – angewiesen. Die für das nächste Jahr anstehenden Parlamentswahlen werfen jedoch schon jetzt ihre Schatten voraus: Da Mahuads Vertrauensbonus seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres drastisch zusammengeschmolzen ist, distanzieren sich nun selbst Abgeordnete aus den eigenen Reihen, um ihre Wiederwahl nicht zu gefährden. Für die Bedienung der Auslandsschulden sind im derzeit diskutierten Haushaltsentwurf nunmehr 38 Prozent des Budgets vorgesehen.

Hartes Durchgreifen gegen einen Präzedenzfall

Obwohl die 98 Millionen US-Dollar, um die es derzeit geht, vergleichsweise gering sind, reagierte die internationale Finanzwelt mit äußerster Härte auf die Ankündigungen Ecuadors. Zum einen handelt es sich bei den Haltern der Brady-Bonds nicht, wie es Ende der achtziger Jahre der Fall war, in erster Linie um Geschäftsbanken, die säumige Kredite abschreiben können, zum anderen besteht vor allem die Sorge, daß andere größere Schuldner der Region sich auf einen Präzedenzfall berufen könnten. Schließlich hat von den drei größten lateinamerikanischen Schuldnern Argentinien, Brasilien und Mexiko nur letzterer seine Schuldenquote, das heißt das Verhältnis von Auslandsschulden zu den Exporterlösen, seit Ende der achtziger Jahre zumindest von 151 auf 119 Prozent senken können. Das für November angesetzte Gipfeltreffen der lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs in Havanna zur Finanzlage Lateinamerikas in einer globalisierten Wirtschaft hat in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen in Ecuador erheblich an Brisanz gewonnen.
Zynisch betrachtet hat Ecuadors wirtschaftlicher Kollaps, der sich immer deutlicher abzeichnet, ja auch einen handfesten Vorteil: Beim Wirtschaftsgipfel in Köln war Ecuador bei Erwägungen zum Schuldenerlaß ausgeklammert worden, da es den Indikatoren nach nicht zur Kategorie der ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder der Welt zählte. Diesem Ziel immerhin dürfte es in den letzten Monaten einen gewaltigen Schritt näher gekommen sein.

Populismus am Ende des Jahrtausends

Der Brasilianer Fernando Collor setzte sich hinter den Schaltknüppel eines Düsenjägers, der Argentinier Carlos Menem versuchte sich als Mittelstürmer auf dem Fußballplatz, und in Ecuador rockte Abdalá „El Loco“ Bucaram solange über sämtliche Bühnen des Landes, bis es die Bürger satt hatten und ihren Präsidenten davonjagten. Der Venezolaner Hugo Chávez als bisher letzter in der Reihe konnte sich also an zahlreichen Vorbildern orientieren, als er jüngst die halbe Flugzeug-Flotille der Regierung für wohltätige Zwecke versteigern ließ und bei dieser Gelegenheit höchstselbst auf den Tragflächen der Maschinen herumturnte. Immer mehr Staatsoberhäupter zwischen Río Bravo und Feuerland entwickeln einen ausgeprägten Sinn für Show-Effekte, scheint es. Ein Gespenst geht wieder einmal um in Lateinamerika: das Gespenst des Populismus.
Diverse Politiker auf dem Kontinent haben sich in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert vorhalten lassen müssen, ihre WählerInnen mit wunderbaren, perfiderweise aber völlig unrealistischen Versprechen geködert zu haben. Gelegentlich richtete sich der Vorwurf freilich auch gegen bedeutende Reformer wie Juan Domingo Perón oder Omar Torrijos und wurde am lautesten von jenen vorgetragen, denen die in der Tat populären Politikmuster der neuen Machthaber als unzulässiger Eingriff in ihre angestammten Privilegien erschienen. Vorsicht ist also geboten, wenn man sich auf das (Tot-) Schlagwort vom Populismus einläßt – schon gar in einer Zeit, in der andere Regierungen jede Kritik an unpopulären Entscheidungen unisono mit einem kräftigen „Weiter so!“ zu beantworten pflegen und die Frage nach Alternativen an Hochverrat grenzt.
Hört man jedoch über den denunziatorischen Beiklang des Wortes hinweg, werden durchaus Parallelen zwischen dem Populismus der 40er und 50er und jenem der 90er Jahre sichtbar, die zu verfolgen sich lohnt. Perón, schon damals „Idealtyp“ eines lateinamerikanischen Populisten, hätte seinem Land kaum einen so enormen Modernisierungsschub verleihen können, hätte nicht die vorausgegangene Weltwirtschaftskrise das soziale Gefüge Argentiniens vollends durcheinander gebracht und neue Akteure auf die politische Bühne gespült, die von den Parteien, Gewerkschaften und Verbänden des Ancien régime nicht mehr integriert werden konnten. Sie waren es, die nun zum Fußvolk des Peronismus wurden.
Annähernd gleiches wiederholt sich derzeit in Lateinamerika, wo die 80er Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“ empfunden wurden. Wieder sind für Abermillionen von Menschen die gewohnten Lebenszusammenhänge weggebrochen, ehemals wohlhabende Mittelschichten verelendeten, frühere Bauernfamilien strömten in die Slums der Großstädte. Sie begegnen den alten Institutionen im besten Fall mit Desinteresse, nicht selten aber auch mit offener Ablehnung. Für die Heilsversprechungen eines Lino Oviedo in Paraguay hingegen oder eine autoritäre Politik à la Alberto Fujimori in Peru sind sie durchaus empfänglich. Auf der anderen Seite haben sich neureiche Eliten herausgebildet, die ebenfalls nach neuen Führern verlangen und sie in Gestalten wie Carlos Menem auch finden.
Hugo Chávez mit seinem national-revolutionären Anspruch ragt aus dieser Gilde zwar heraus, doch ob er den Vorschußlorbeer wirklich verdient, muß er erst noch nachweisen. Charisma, Entschlußkraft und eine gewisse Dosis an demagogischem Talent sind zwar notwendige, aber noch lange nicht hinreichende Bedingungen für den Erfolg. Nachdenklich stimmt auch, daß die früheren „populistischen“ Regimes – vom Sonderfall Kuba einmal abgesehen – in der Regel nicht lange vorhielten; schnell schlug das Pendel wieder zurück. Zur Erinnerung: Perón wurde 1955 nach neunjähriger Herrschaft von seinen eigenen Waffengefährten gestürzt und ins Exil abgeschoben. Für den bolivianischen General und Reformer-Präsidenten Juan José Torres war 1969 schon nach zehn Monaten die Zeit abgelaufen. Was jeweils folgte, ist bekannt.

Militärintervention in Kolumbien?

Die beunruhigendste Nach-
richt im Zusammenhang mit dem kolumbianischen Konflikt wurde Anfang September nicht aus dem südamerikanischen Land selbst, sondern aus dem brasilianischen Manaos vermeldet. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez traf sich dort mit seinem brasilianischen Kollegen Cardoso, um diesen zu einer klaren Stellungnahme gegen die mögliche Militärintervention zu bewegen. Eine solche Operation wäre verhängnisvoll, erklärte Chávez, und würde auch Venezuela in den Konflikt hineinziehen.

Venezolanische
Reisediplomatie
Für wie ernst die venezolanische Regierung die Interventionsgerüchte hält, zeigt sich am Ausmaß ihrer Reisediplomatie. Obwohl die innenpolitischen Konflikte in Venezuela nicht gerade unbedeutend sind, seit die Verfassungsgebende Versammlung das Parlament in Caracas faktisch ausgeschaltet hat, entwickelt die Regierung Chávez derzeit zahlreiche außenpolitische Initiativen. So reiste Außenminister José Rangel ebenfalls Anfang September nach Buenos Aires, um gegenüber Menem die venezolanische Position zu bekräftigen – immerhin gilt der argentinische Präsident neben seinem peruanischen Amtskollegen Fujimori als wichtigster Allierter der US-Militärs. Außerdem kündigte Chávez an, sich Ende September mit den Generalsekretären der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und dem Papst zu treffen, um über Friedensinitiativen für Kolumbien zu beraten. Chávez schwebt nach eigenen Angaben eine internationale Konferenz unter UN-Mandat vor, die er eventuell schon bei der Generalkonferenz der UNESCO im Oktober öffentlich vorstellen will.
Die venezolanische Reisediplomatie hat handfeste Ursachen. Ende August war der US-Drogenbekämpfer Barry McCaffrey allein deswegen nach Argentinien gereist, um mit Menem über eine Militäroperation in Kolumbien zu sprechen. Auch aus Peru und Ecuador wird berichtet, daß US-Gesandte bereits detaillierte Absprachen mit den jeweiligen Regierungen getroffen haben.
Tatsächlich sind bereits seit 1996 – als die FARC-Guerilla in Südkolumbien zum Bewegungskrieg überging und der Armee mehrere schwere Niederlagen zufügte – hochrangige US-Delegationen in der Region aktiv und haben unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ eine schleichende Intervention eingeleitet. So ist Kolumbien im vergangenen Jahr zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe aufgestiegen. Ex-General Barry McCaffrey, Mitglied des US-Sicherheitsrats, verkündete zudem, die von Kolumbien angeforderten 500 Millionen US-Dollar seien in Anbetracht der katastrophalen Lage vor Ort nicht genug. Inzwischen ist von bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich die Rede.

Konkrete Pläne für
eine Eingreiftruppe
Bei ihren Besuchen haben Barry McCaffrey, der Chef des US-Kommandos „Süd“ Charles E. Wilhelm sowie der Clinton-Vertraute Thomas Pickering angeblich auch konkrete Pläne für eine multinationale Eingreiftruppe vorgelegt. McCaffrey erklärte bei seinem Besuch in Buenos Aires gegenüber der Tageszeitung Clarín recht deutlich, „die FARC hätten kein Interesse an einer friedlichen Lösung“ und die US-Regierung „müsse bis Weihnachten eine Entscheidung getroffen haben“.
Um nicht in eine Situation wie in Vietnam hineinzurutschen, versucht sich die Clinton-Administration allerdings in verschiedene Richtungen abzusichern. So erklärte McCaffrey, eine direkte US-Intervention sei „selbstmörderisch“. Man bevorzugt stattdessen die Entsendung einer peruanisch-argentinisch-ecuadorianisch-brasilianischen Eingreiftruppe, die diskret von US-Sicherheitsspezialisten und Militärberatern geleitet und von Flugzeugträgern der US-Navy unterstützt werden könnte. Um vor Regierungswechseln gefeit zu sein, sprach Barry McCaffrey in Argentinien auch mit Menems potentiellen Nachfolgern: Eduardo Duhalde von den Peronisten und Fernando De la Rúa von der Radikalen Partei.

Neuformierung der
US-Truppenpräsenz
In der kolumbianischen Tageszeitung El Colombiano wurde unterdessen sogar schon ein Termin für die Militäroperation genannt. Anfang 2000 könne die Regierung Pastrana ihre Gespräche mit der Guerilla abbrechen und dann internationale Hilfe anfordern, hieß es Anfang September. Der im schwedischen Exil ansässige kolumbianische Nachrichtendienst Anncol zitierte zudem den peruanischen Geheimdienstchef Montesinos, den Drahtzieher Fujimoris. Ihm zufolge sei an den Einsatz von 120.000 Soldaten gedacht, die 45 bis 60 Tage lang die Guerilla-Camps in der Grenzregion angreifen und von der kolumbianischen Armee eroberte Gebiete sichern könnten.
Schon jetzt gibt es eine umfassende Neuformierung der US-Truppenpräsenz in der Region, die sich nur noch schlecht unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ verbergen läßt. Die US-Armee erklärte, daß die heute in Panama stationierten Truppen nach der Übergabe der Kanalzone an Panama auf keinen Fall nach Norden zurückverlegt würden. Sie sollten vielmehr innerhalb der Karibik auf verschiedene Stützpunkte verteilt werden. Der neuen panamenischen Präsidentin Moscoso zufolge werden 3300 US-Soldaten „zum Minenräumen“ im Land bleiben, die die panamenische Polizei in Anti-Guerilla-Taktiken ausbilden sollen (Panama besitzt seit der US-Invasion 1990 keine eigene Armee mehr).
Weitere 1830 US-Infanteristen aus der Kanalzone sowie 2700 Angehörige von Spezialeinheiten werden auf den Karibikinseln Aruba und Curacao unweit der kolumbianischen Küste stationiert, wo im Moment neue Armee-Flugplätze gebaut werden. Etwa 1.000 Soldaten plus Hubschrauber kommen auf den hondurenischen Stützpunkt Soto de Caño, von dem aus sowohl die Unruhegebiete in Mexiko als auch Kolumbien erreicht werden können. Der Rest soll nach Puerto Rico verlegt werden.
Zur wichtigsten Basis für die Anti-Guerilla-Operationen in Kolumbien werden jedoch das Amazonasbecken sowie diverse Stützpunkte im Land selbst. Die in den vergangenen sechs Monaten ausgebauten Militärbasen in Riverine (Peru) und El Coca (Ecuador) werden vollständig vom US-Verteidigungsministerium finanziert und haben eine starke Präsenz von US-amerikanischen Special Operation Forces, die dort auch brasilianische Militärs im Dschungelkampf ausbilden. Ebenfalls mit US-Hilfe modernisiert wurden die kolumbianischen Stützpunkte Puerto Leguízamo (an der peruanischen Grenze) und Tres Esquinas (Departement Guaviare) sowie die zentrale kolumbianische Militärbasis in Tolemaida – die pikanterweise in diversen kolumbianischen Gerichtsakten als wichtiger Ausbildungsort der Paramilitärs auftaucht. Die US-Präsenz wird allein in den zwei wichtigsten Stützpunkten im Augenblick mit 160 Militärs sowie 30 zivilen Spezialisten beziffert, die dort mit der Ausbildung sogenannter Batallones Anti-Narcóticos beschäftigt sind. Diese Einheiten dienen zwar formal der Drogenbekämpfung, werden aber vor allem in Anti-Guerilla-Taktiken ausgebildet. Insgesamt sollen nach Wunsch von General Wilhelm etwa 2.000 Militärberater nach Kolumbien entsandt werden.
Auch die zivil-militärische Präsenz der USA wächst beträchtlich. In der im reichen Norden Bogotás neugebauten US-Botschaft, die einem Bunker gleicht, ist das Personal im vergangenen Jahr von 282 auf 360 Angestellte aufgestockt worden, davon 120 Personen mit „Spezialaufgaben“. Die US-Berater sind längst nicht mehr nur in der Armee und Polizei, sondern auch im Justiz- und Gefängniswesen tätig. Der Schlüsselbereich ist allerdings die Luftunterstützung. Seit neuestem dürfen US-Flugzeuge offiziell „zur logistischen Unterstützung“ in Kämpfe in Kolumbien eingreifen. Bei den letzten Gefechten mit der größten kolumbianischen Guerillagruppe FARC im Juli diesen Jahres lieferte sie den kolumbianischen Piloten die Informationen für ihre Bombardierungen.

Vom Autor erscheint im Oktober 1999 das Buch „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“, ISP-Verlag, 248 Seiten, ca. 30,- DM (ca. 15 Euro)

Doppeltes Präsidentensolo

Ich bin angetreten, um das Land vor dem Sinken zu bewahren.“ Die Dimension seines feierlichen Versprechens zum Amtsantritt am 10. August dürfte Ecuadors neuem Präsidenten Jamil Mahuad inzwischen deutlich geworden sein. Nach der Verabschiedung eines Maßnahmenpaketes zur Stabilisierung der stark angeschlagenen Wirtschaft schlug die abwartende Haltung der Bevölkerung um: Ende September und Anfang Oktober fanden mehrere Protestmärsche der Gewerkschaften, Studierenden und der indigenen Bewegung statt, bei denen es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Vier Tote und über hundert Festnahmen sind neben erheblichem Sachschaden die traurige Bilanz.
Dabei hatte der 49jährige Christdemokrat die Sympathien zunächst auf seiner Seite: Nach den chaotischen Verhältnissen der letzten Jahre unter Präsident Abdalá „el loco“ Bucarám, nach dessen Amtsenthebung wegen „geistiger Unfähigkeit“ und der Interimspräsidentschaft von Fabián Alarcón schien der Harvardabsolvent Mahuad der lang ersehnte Garant für Stabilität zu sein. Der ehemalige Bürgermeister von Quito war am 12. Juli mit der absoluten Mehrheit der Stimmen als Sieger aus der Stichwahl hervorgegangen.

Ein „richtiger“ Präsident und richtige Probleme

Doch die weitverbreitete Meinung, mit Mahuad endlich wieder einen „richtigen“ Präsidenten zu haben, täuscht nicht über die katastrophale wirtschaftliche Situation des Landes hinweg. Nicht nur den „klassischen“ Problemen wie hoher Inflation (über 40 Prozent), hoher Auslandsverschuldung und wachsendemn Haushaltsdefizit muß getrotz werden, sondern in der durch das Klimaphänomen El Niño verwüsteten Küstenregion stehen zusätzlich dringend benötigte Infrastrukturinvestitionen und die Wiederherstellung der sanitären Grundversorgung der Bevölkerung an.
Das von Mahuad angepeilte Wirtschaftswachstum von 5 Prozent muß nicht nur im Zeichen niedriger Weltmarktpreise für das Hauptexportprodukt Erdöl mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. Die Asienkrise hat in Ecuador empfindliche Spuren hinterlassen, wurden doch auch die beiden anderen Hauptexportprodukte Shrimps und Bananen insbesondere von Ländern aus dem asiatischen Raum abgenommen. Mit der Förderung ausländischer Investitionen, einer rigoroseren Steuerpolitik und deutlich geminderten Staatsausgaben als zentralen Ansätzen im Kampf gegen Armut und die weitverbreitete Korruption bewegt sich Mahuad noch konsequenter auf neoliberalem Terrain als seine Vorgänger, die ihren Kurs mit den unterschiedlichsten Etiketten zu verschleiern suchten.

Konsequent neoliberal

„Schmerzhaft, aber notwendig“, verteidigte Mahuad seine Verordnungen und kündigte hartes Durchgreifen an. Der Abbau von staatlichen Subventionen bei Elektrizität, Gas und Diesel führte unter anderem zum Anstieg der Treibstoffpreise um 400 Prozent und zog eine Preiserhöhung der wichtigsten Grundnahrungsmittel und des öffentlichen Transports nach sich. Die geplante finanzielle Unterstützung in Höhe von 15 US-Dollar für Familien mit einem Monatseinkommen von unter 160 US-Dollar mutet vor diesem Hintergrund recht kläglich an und wurde von Sprechern der Dachgewerkschaft Frente Unitario de Trabajadores (FUT) als Farce gebrandmarkt. Mahuads Image als integrer und effizienter Politiker ist zweifelsohne eine nicht zu unterschätzende Starthilfe, letztendlich aber wurden durchgreifende wirtschaftspolitische Maßnahmen auch dem Populisten Bucarám zum Verhängnis. Ein Generalstreik gegen Mahuads Austeritätspolitik unter Federführung der indigenen Dachorganisation CONAIE ist nach Aussagen ihres Präsidenten Antonio Vargas Huatatoca nur eine Frage der Zeit.
Aber – so der Kommentar des Journalisten Jorge Ortiz in der Tageszeitung HOY Anfang Oktober – die Zeiten, in denen mit einer neuen Regierung auch die Hoffnung auf Linderung der drängendsten Probleme verbunden war, sind in Ecuador lange vorbei. Vorherrschend ist heute die Hoffnung, die neue Regierung möge zumindest nicht auch noch die letzten Perspektiven zerschlagen.

Friedensvertrag als Chefsache

Ein anderer Schwerpunkt in Mahuads Wahlprogramm – das Friedensabkommen in dem seit über 170 Jahren schwelenden Grenzkonflikt mit Peru – stand zunächst ebenfalls unter einem schlechten Stern: Der peruanische Präsident Alberto Fujimori hatte seinen Besuch zum Amtsantritt Mahuads kurzfristig abgesagt, nachdem es Anfang August erneut zu Zwischenfällen an der Grenze im Amazonastiefland gekommen war. Inzwischen aber haben beide Mandatsträger den Friedensvertrag zur Chefsache erklärt – und zwar ausschließlich! Nachdem Fujimori und Mahuad bereits Ende September bei ihrer Zusammenkunft auf dem Landsitz des brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso bei Brasilia ihre Außenminister zu Hause gelassen hatten, deutet auch ihr weiteres Vorgehen auf einen Alleingang in Sachen Frieden hin.

Fujimori – einer gegen alle

Der peruanische Außenminister Eduardo Ferrero reagierte auf dieses Präsidentensolo mit seinem Rücktritt. Seinem Beispiel folgte nicht nur sein Stellvertreter, sondern eine ganze Reihe namhafter Politiker in Schlüsselpositionen im Umfeld der für die Grenzverhandlungen zuständigen Kommission. Ferrero gilt als Vertreter der „harten Linie“, und die hinter seinem Rücktritt vermuteten Differenzen mit Fujimori über die Verhandlungsstrategie dürften auch das peruanische Militär interessieren. Während die ecuadorianische Presse die Angelegenheit als hoffnungsvolles Signal bewertete, herrschte in der öffentlichen Meinung in Peru Mißtrauen vor.
Fujimori geht nämlich nicht nur mit seinem politischen Umfeld und immer wieder auch dem Militär auf Konfrontationskurs, sondern hat außerdem den Volkszorn gegen sich: Ein nationaler Streik der LehrerInnengewerkschaft, Bauarbeiter und Studierenden am 30. September unter dem Motto „No a la dictadura“ war nur der Auftakt einer Reihe von Protestaktionen gegen Fujimori und seine Pläne einer erneuten Kandidatur. Fujimori stellte aus freiwerdenden Ressourcen des Militäretats 200 Millionen US-Dollar jährlich für soziale Projekte in Aussicht – außer einem handfesten Argument für den Frieden auch ein deutlicher Versuch, die Wogen zu glätten.

Politisches Prestige im Ausland

Entscheidender Faktor in dieser unerwarteten Friedensdynamik ist jedoch zweifelsohne das außenpolitische Prestige, was beide Präsidenten sich versprechen. US-Präsident Clinton höchstpersönlich hatte die zügige Beendigung der Unstimmigkeiten am 30. September angemahnt. Der Konflikt ist nicht nur für größere Investitionsprojekte sondern auch für raumwirtschaftliche Integrationsvorhaben wie die Andine Gemeinschaft oder Clintons Vision einer panamerikanischen Freihandelszone ein bedeutendes Hemmnis. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es sich in den USA viel gemütlicher plaudert als auf dem heimischen Sofa: Fujimori reiste seinem ecuadorianischen Amtskollegen kurzentschlossen nach New York hinterher, wo dieser am 3. Oktober vor den Vereinten Nationen und der Weltbank sein Regierungsvorhaben erörterte.

Freier Zugang zum Amazonas

Aber die Verhandlungen sind alles andere als nur Fassade: Mit der Unterzeichnung eines Abkommens über freien Handel und Schiffsverkehr wurde Ecuador in Cardosos Landsitz der Zugang zum Amazonas garantiert, der von ecuadorianischer Seite als zentrale Forderung in die 1996 wieder aufgenommenen Verhandlungen eingebracht worden war. Der Friedensvertrag aus dem Jahre 1942 – das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro – wurde von Ecuador unter anderem all die Jahrzehnte grundsätzlich in Frage gestellt, da der in Artikel VI verankerte freie Zugang zum Amazonas nur auf dem Papier bestand. Ecuador hatte damals mit dem Vertrag de amistad y límites über 200.000 Quadratkilometer – rund die Hälfte des nationalen Territoriums – an Peru verloren. Das Zugeständnis von freiem Handel und Schiffsverkehr auf dem Amazonas ist insofern ein entscheidender Durchbruch, da Ecuador, das sich als pais amazónico versteht, damit die Möglichkeit einer „würdigen“ Lösung des Konfliktes eingeräumt wird.

„Sicherheitsabstand“ oder Nationalpark?

Tatsächlich ist der Abschluß eines Friedensvertrages noch vor Jahresende geplant. Bei einer endgültigen Demarkierung der 78 Kilometer des umstrittenen Grenzverlaufs in der Cordillera del Cóndor allerdings haben nicht die Präsidenten das Sagen sondern die Karthographen – und die sind nicht nur in Ecuador in erster Linie Angehörige des Militärs. Die multinationale Beobachtertruppe MOMEP aus Vertretern der vier Garantenstaaten des Rio-Protokolls Argentinien, Brasilien, Chile und den USA, plädierte deshalb für einen entmilitarisierten „Sicherheitsabstand“ von rund 60 Kilometern. Im Gespräch ist ebenso ein „grenzenloses“ binationales Naturreservat, das jedoch angesichts des Ressourcen- und Infrastrukturpotentials der Region wohl Wunschdenken bleibt.
Die Vertretung der Amazonasethnie Shuar, deren Untergruppen sowohl auf ecuadorianischem wie auf peruanischem Staatsgebiet leben, machte unterdessen deutlich, daß sie in dieser Angelegenheit auch ein Wörtchen mitzureden habe und Kolonisierungsvorhaben grundsätzlich ablehne.

Minen müssen geräumt werden

Zumindest wird bereits über die Entschärfung der im Grenzgebiet ausgelegten Minen diskutiert – zwischen 60.000 und 100.000 Stück schätzen peruanische Experten auf ecuadorianischem Gebiet. Die gemeinsame Räumung – vor allem die gemeinsame Übernahme der Kosten – könnte somit zum Prüfstein einer politisch tragfähigen Lösung werden. Die USA signalisierten bereits Unterstützung, wie auch im wirtschaftlichen Bereich mit „Unterstützung“ zu rechnen ist, sobald das Abkommen unter Dach und Fach ist.
So üben sich Mahuad und Fujimori im öffentlichen Schulterschluß: In einer gemeinsamen Pressekonferenz in Brasilia betonten sie die „fruchtbare und herzliche“ Atmosphäre und bemühten das vielstrapazierte Bild vom gemeinsamen Boot, in dem sie den „Hafen des Friedens“ erreichen wollen. Alberto Fujimori beschwerte sich scherzhaft über die schlechten Telefonleitungen des nördlichen Nachbarstaates: „Jedesmal, wenn ich mit Präsident Mahuad telefoniere, bricht die Leitung zusammen. Aber Jamil hat mir versprochen, die Telekommunikation zu privatisieren.“
Doch trotz der Nähe, in die ein endgültiges Friedensabkommen gerückt zu sein scheint: Hinter einer politischen Einigung auf höchster Ebene stehen Jahrzehnte der Konfrontation und des gegenseitigen Mißtrauens, die vor allem in Ecuador im politischen Diskurs eine zentrale Rolle spielen und fest im gesellschaftlichen Bewußtsein verankert sind. Dem Nachbarn Peru heimliche Aufrüstung vorzuwerfen, ist nur eines der fest etablierten Rituale im ecuadorianischen Polit-Alltag.
Aber diese binationalen Empfindlichkeiten vergißt auch Fujimori gelegentlich: So insistierte er auf besagter Pressekonferenz in derselben ausgelassenen Stimmung, auch Jamil Mahuad solle die Einsparungen des Militärhaushaltes in einem Friedensabkommen verbindlich festlegen. Dessen trockene Anwort ließ ihm sein Lächeln zur Grimasse erstarren: „Im Gegensatz zu euch, gibt es bei uns ja kaum etwas einzusparen“.

Die Anmaßung der Tattergreise

María Luísa Cuculiza ist eine Frauenministerin, die auf Machos steht. Ihr Chef, der peruanische Präsident Alberto Fujimori, zählt für sie zu den besonders konsequenten Vertretern dieser Kategorie Männer. Dafür applaudiert sie ihm. Denn Frau Cuculiza schreibt es gerade dem Machismo Fujimoris zu, daß er ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte energisch zurückgewiesen hat. Der Gerichtshof bestreitet die Rechtmäßigkeit einer bereits 1993 erfolgten Verurteilung vier chilenischer MRTA-Mitglieder durch ein peruanisches Militärgericht und fordert die Wiederholung ihres Prozesses vor einer Zivilkammer. María Luísa Cuculiza empfindet das als Anmaßung. Sie bleibt mit markigen Worten nicht hinter Fujimori zurück. Die ausländischen Richter sind für sie „Tattergreise“ und nicht genügend mit den peruanischen Verhältnissen vertraut.
Der Interamerikanische Gerichtshof hat seinen Sitz in San José, Costa Rica, und arbeitet eng mit der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) zusammen, die in Washington residiert. Im Jahre 1978 verpflichtete sich die damalige peruanische Regierung mit der Ratifizierung des Vertrages von San José, eine festgelegte Menschenrechtscharta zu respektieren. Die Einhaltung des Vertrages wird von der CIDH und dem Gerichtshof überwacht. Alle unterzeichnenden Nationen des amerikanischen Kontinents kamen überein, den Auflagen des Gerichtshofes Folge zu leisten. Doch wollte sich Fujimori wirklich den Urteilen des Gerichtshofes beugen, wehte ihm der Wind im letzten Jahr vor der Präsidentschaftswahl frontal ins Gesicht. Denn Peru hält nicht nur bis heute den Rekord bei der Anzahl von Anklagen in San José. Auch in den nächsten Monaten werden VertreterInnen des Andenstaates mehrmals auf der Anklagebank Platz nehmen müssen. Die peruanische Regierung drohte daher Anfang Juli offiziell, Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes künftig nicht mehr anzuerkennen.

Die Terroristenprozesse

Die vier Chilenen in den Reihen des MRTA waren 1993 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden, obwohl die damalige peruanische Verfassung die Zuständigkeit der Militärgerichte auf Armeeangehörige begrenzte. Das ist auch das tragende Argument in der Urteilsbegründung des Interamerikanischen Gerichtshofes. Doch im gleichen Jahr sicherte die Fujimori-Regierung die Zuständigkeit der Militärjustiz in Fällen von „Terrorismus“ oder „Vaterlandsverrat“ verfassungsmäßig ab. Als Vaterlandsverräter zählen dabei nicht nur Spitzel, die den Erbfeind Ecuador in militärische Geheimnisse einweihen. Gemeint sind vor allem Führungskader des Leuchtenden Pfads und des MRTA. Um welche Tätergruppe es bei den Terroristen geht, zeigte ein Prozeß, in dem sechs Armeeangehörige und ein Zivilist angeklagt waren. Diese hatten zugegeben, 1996 an einem Bombenanschlag gegen einen oppositionellen Fernsehsender in Puno beteiligt gewesen zu sein. Das Gericht wies den Fall zurück und erklärte, aktive Soldaten könnten prinzipiell keine Terroristen sein.
In einer Art Ermächtigungsgesetz stattete der peruanische Kongreß 1993 die Regierung mit allen Vollmachten aus, um ohne parlamentarische Mehrheiten die Strafgesetzgebung in Fällen von Terrorismus ändern zu können. Bis 1997 durften die Militärrichter anonym bleiben. Lautet die Anklage auf Vaterlandsverrat, sind die Verhandlungen entgegen allen gesetzlichen Bestimmungen bis heute geheim. Zackig, wie die Militärs sind, dürfen sie „kurzen Prozeß“ machen. Das Urteil muß binnen zehn Tagen gefällt werden, und das Berufungsverfahren erfordert weitere zehn Tage. Die letzte Instanz, das oberste Militärgericht, benötigt nur fünf Tage, um den Fall abzuschließen. Die Anwälte der Beschuldigten bekommen nur beschränkten Zugriff auf die Anklageschrift. In vielen Fällen sind die Richter keine ausgebildeten Juristen und verfügen über wenig Gerichtserfahrung. Dafür fallen die Strafen oft deftig aus. Die US-Amerikanerin Lori Berenson wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl ihr außer einer MRTA-Mitgliedschaft keine weiteren Straftaten nachgewiesen werden konnten.
Sind die Angeklagten selbst Armeeangehörige, urteilen die Offiziere in Robe in der Regel nicht so streng. Die Mörder und Entführer der Studenten von der Universität „La Cantuta“ wurden zu maximal zehn Jahren Gefängnis verurteilt und wegen guter Führung nach zwei Jahren begnadigt. Höhere Offiziere waren in dieses Verbrechen selbstverständlich nicht verwickelt und wurden gar nicht erst angeklagt. Die brutalen Folterer einer ehemaligen Agentin des militärischen Geheimdienstes, die gegenüber der Presse zu viel geplaudert hatte, wurden sogar freigesprochen.

Willkürliche Festnahmen

Seit 1992 konnten über 8.000 verurteilte Mitstreiter Senderos oder des MRTA, die im Gegenzug Namen ihrer Genossen preisgaben, wieder das Gefängnis verlassen. Als Folge gerieten viele Unbeteiligte in die Mühlen der Justiz. Allein seit 1995 mußten mehr als 1.600 wegen Terrorismus oder Vaterlandsverrat verurteilte Gefangene wieder begnadigt werden, da sie mit den ihnen zur Last gelegten Delikten nichts zu tun hatten. Unzählige Unschuldige sitzen nach wie vor ein. Unter anderem wurden neun Anwälte vor einem Militärgericht angeklagt, die zuvor in Terroristenprozessen die Verteidigung übernommen hatten. Die Beweise waren so spärlich, daß sich inzwischen auch die CIDH mit den Fällen befaßt.
Sogar Versicherungsagenten kann es erwischen. Im Jahre 1997 wurde Adolfo Cesti von einem Militärgericht verurteilt. Er hatte zuvor in einem vermeintlichen Versicherungsbetrug bei der Anschaffung von Hubschraubern für die Streitkräfte ermittelt. Die Richter eines Zivilgerichtes, die Cesti anschließend freisprachen, wurden von der wütenden Militärjustiz wegen Anmaßung von Machtbefugnissen ebenfalls auf die Anklagebank verbannt. Auch in diesem Fall ermittelt der Interamerikanische Gerichtshof.
In den sogenannten Notstandszonen, in denen etwa 23 Prozent der peruanischen Bevölkerung leben, sind die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben. Die Gebiete werden vollständig von der Armee kontrolliert. Als Vorwand dienen angebliche Aktivitäten des Sendero Luminoso, der allerdings in vielen dieser Zonen schon seit Jahren nicht mehr aufgetaucht ist. Willkürliche Festnahmen ohne Haftbefehle sind an der Tagesordnung. Wer in Terrorismusverdacht gerät, bekommt in den ersten sechs Wochen seiner Untersuchungshaft keinerlei Kontakt zu Angehörigen oder Verwandten. Der Anwalt darf die Verdächtigen nur sehen, wenn sie dem Staatsanwalt gegenübergestellt werden.

Die Gefängnisse

Die Haftbedingungen in den peruanischen Gefängnissen spotten jeder Beschreibung. Korruption, Drogenkonsum, Waffengebrauch, katastrophale hygienische Verhältnisse, Überbelegung, sexueller Mißbrauch, Krankheiten wie Tuberkulose oder Aids auf fast epidemischem Niveau sind keine Besonderheit. Für die tägliche Verpflegung eines Häftlings wird ein Betrag von sage und schreibe einer Mark veranschlagt. In vielen Gefängnissen des Landes gibt es nicht einmal einen Arzt, Krankenpfleger oder Psychologen. Das Gefängnis Challapalca befindet sich auf einer Höhe von 4.700 Meter Der nächste größere Ort mit einem Krankenhaus und einer Busstation ist eine Tagesreise entfernt. Die CIDH forderte bei ihrem letzten Besuch in diesem Gefängnis dessen Schließung. Das Hochsicherheitsgefängnis Yanamayo, in dem die vier chilenischen MRTA-Angehörigen sitzen, liegt mit 4.400 Meter nicht viel niedriger. Temperaturen um den Gefrierpunkt lassen die Häftinge besonders leiden.
Für jene Gefangenen, die wegen Terrorismus verurteilt wurden, gelten besondere Bedingungen. Nach der Geiselnahme in der Residenz des japanischen Botschafters im Dezember 1996 durfte ein Jahr lang kein Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes mehr Gefangenenbesuche abstatten. Die Gefangenen der Marinebasis von Callao vegetieren in strenger Einzelhaft in einer dunklen Zelle dahin. Sie bekommen eine Stunde Hofgang pro Tag und haben auch während dieser Zeit keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen. Nur einmal pro Monat dürfen sie für eine Stunde Besuch von ihren Angehörigen hinter einer Glasscheibe empfangen. Sie sind von sämtlichen Kommunikationsmedien abgeschnitten.
Für María Luísa Cuculiza sind die Militärjustiz und die Isolierung der Gefangenen eine logische Antwort auf den Terror, den vor allem der Sendero Luminoso in den achtziger und frühen neunziger Jahren säte. Besonders die Zivilbevölkerung hat in diesen Jahren gelitten. Frau Cuculiza bildet da keine Ausnahme, denn auch ihr Mann wurde vom Sendero ermordet. Die Regierung rechnet es sich als ihr Verdienst an, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen seitdem stetig zurückgegangen sind. Im letzten Jahr war der Leuchtende Pfad fast nur in der Region des Alto Huallaga aktiv. Der MRTA ist seit der Besetzung der Residenz des japanischen Botschafters kaum noch in Erscheinung getreten und keine relevante Größe mehr. Dennoch hat die Regierung die Notstandszonen im letzten Jahr ausgedehnt und setzt weiterhin unbeirrt auf die Militärjustiz. Und sollte die Regierung gar ihre Drohung wahrmachen und die Kompetenz des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte künftig nicht mehr anerkennen, kann Fujimori auch die weitgehend von ihm kontrollierte Ziviljustiz (vgl. LN 298) künftig einsetzen, wie es ihm beliebt. Die Menschenrechte blieben dann sogar offiziell auf der Strecke.

„Good guy“ Schmidbauer?

Das politische Panorama in Kolumbien wird immer komplizierter: Während die Pastrana-Administration Mitte Juli in der Gemeinde La Uribe/Meta nun offiziell Verhandlungen mit der größten Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) eröffnen will, sind die Beziehungen zur ELN (Ejército de Liberación Nacional) auf einem Tiefpunkt angelangt. Daß das so ist, hat vor allem der Präsident zu verantworten. Monatelang hatten Regierungsquellen die ELN als besiegt bezeichnet und alles unternommen, um die im Juni 1998 unter Schirmherrschaft der deutschen Bischofskonferenz vereinbarte Nationalkonvention (ein Treffen von politischen und sozialen Gruppen mit der Guerilla) zu verhindern. Armee und Paramilitärs konzentrierten ihre Aktivitäten auf jene Gebiete, die als möglicher Sitz der Nationalkonvention in Frage kamen, die Bauernbevölkerung der betreffenden Regionen wurde brutal angegriffen und die in Haft sitzenden politischen Sprecher der Guerillaorganisation bedroht.
Vor diesem Hintergrund führte die ELN von April bis Juni eine Reihe spektakulärer Aktionen durch, darunter eine unblutig verlaufene Flugzeugentführung, eine (gemeinsam mit den FARC durchgeführte) Offensive auf das paramilitärische Kerngebiet in Córdoba sowie die Gefangennahme von etwa 70 Oberschichtsangehörigen aus einer Kirche im Süden Calis. Vor allem die zuletzt durchgeführte Aktion Anfang Juni sorgte für Aufregung.
Eine bedenkliche Entwicklung für die ELN dürfte sein, daß Zehntausende im ganzen Land gegen die Entführungen demonstrierten. Die Medien präsentierten die Aktion als Angriff auf die Kirche, unterschlugen allerdings, daß die meisten Geiseln zu der wirtschaftlichen Elite des Landes zählen. Auch auf internationalem Terrain steht die ELN auf einmal als „bad guy“ da. Obwohl die ELN-Kommandanten Nicolás Bautista und Antonio García in einer schon länger geplanten diplomatischen Rundreise durch Europa um Schadensbegrenzung bemüht waren, blieb die Atmosphäre vergiftet. Besondere Empörung rief hervor, daß Nicolás Bautista bei seinem Besuch im Vatikan politische oder wirtschaftliche Gegenleistungen für eine Freilassung der Geiseln forderte. Wie diese aussehen sollen, ist bisher offen, doch es dürfte entweder um die von der ELN geforderte Demilitarisierung eines Gebietes für die Nationalkonvention oder aber um Geldzahlungen gehen.

Rot-grün spielt nicht mit

Diese kompromißlose Haltung hat die im Ausland befindlichen Guerilleros selbst zu Geiseln gemacht. Der Druck auf die sich in Europa (wahrscheinlich Deutschland) aufhaltenden ELN-Führer wächst. Interessanterweise ist es vor allem die ELN selbst, die deutsche Politiker als Vermittler ins Gespräch gebracht hat. Offensichtlich setzt die Organisation, die nach dem Ende des kalten Kriegs neue Hegemonialkämpfe zwischen Euro-Deutschland und den USA heraufziehen sieht, darauf, einen Gegenpol zu den US-Interessen in der Region ins Spiel zu bringen. Dabei hegt die ELN nach eigenen Aussagen keine Illusionen darüber, daß eine europäische Außenpolitik demokratischer wäre als die der USA. Vielmehr gehe es darum, sich überhaupt Spielräume zu eröffnen.
Unter der Regierung Kohl ging dieses Kalkül lange Zeit auf. Ex-Kanzleramtsminister Schmidbauer und das Agentenehepaar Mauss werteten die Guerilla als Gesprächspartner auf und bezogen eine neutrale Position im kolumbianischen Konflikt. Unter Rot-grün hat sich dies nun grundlegend verändert. Volmer und Fischer wollen von den Kolumbien-Kontakten nichts mehr wissen. Die SPD-Abgeordneten Kortmann und Hempel lehnten es Anfang Juni sogar ab, an einer rein humanitären Delegation teilzunehmen, die die Freilassung von 30 Geiseln kontrollieren sollte. Man werde das Spiel der ELN nicht mitspielen, hieß es in einer in der Tageszeitung El Espectador abgedruckten Erklärung aus den Reihen der SPD-Fraktion.
Nachdem ein anderer wichtiger deutscher Vermittler, der in Ecuador ansässige progressive Bischof Emil Stehle, von den kolumbianischen Behörden im Juni Einreiseverbot erhielt, sind nun letztlich nur noch Schmidbauer und die Agenten Mauss übriggeblieben. Diese haben sich im Juni erneut hervorgetan: Der CDU-Abgeordnete Schmidbauer war in Bogotá als Überbringer von ELN-Verhandlungsvorschlägen unterwegs und überwachte die Freilassung von einem Teil der in Cali genommenen Geiseln. Michaela Mauss ging noch einen Schritt weiter und kritisierte die Reaktion der Medien auf die Geiselnahme von Cali. Man habe die Entführung dramatisiert, obwohl den Oberschichtsangehörigen keine ernste Gefahr drohe, gleichzeitig jedoch blieben die Morde an Dutzenden von Bauern im Nordosten Kolumbiens völlig unbeachtet.
Aus was für Interessen handeln Schmidbauer und Mauss? Man darf annehmen, daß Mauss und Schmidbauer auf ihre alten Tage keineswegs zu linken Humanisten werden. Der Grund für ihr Engagement dürfte eher mit den deutschen Investitionserwartungen in dem an Erdöl und Kohle reichen Land zu tun haben, das lange das stabilste Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent besaß. Schon ein Teilabkommen mit der ELN könnte für deutsche Unternehmen interessant werden. Erfahrungen diesbezüglich gibt es bereits, schließlich handelte das Duo 1984 für die Mannesmann AG einen Pipeline-Bau durch ELN-Gebiet aus. Der Konzern verpflichtete sich zu Sozialausgaben in der Region und konnte unbehelligt seine Rohre verlegen. Bewaffnete Wohlfahrtspolitik sozusagen. Aus linker Sicht in Deutschland müssen diese Verbindungen als dubios erscheinen, aus kolumbianischer Sicht gibt es gute Argumente dafür.

Militärische Ambitionen der USA

Die USA streben immer deutlicher eine militärische Lösung an. Beim letzten OAS-Treffen im Mai 1999 schlug die Clinton-Regierung mit Blick auf Kolumbien vor, eine kontinentale Eingreiftruppe zur „Verteidigung der lateinamerikanischen Demokratien“ zu gründen. Die Rechtsregierungen in Peru und Argentinien forcieren ihrerseits eine derartige Intervention, die in gewisser Weise das fortsetzen würde, was man in Jugoslawien vorexerziert hat: militärische Einsätze mit „humanitärer“ Legitimation.
Auf dem OAS-Gipfel wurde das Anliegen noch abgelehnt, doch der Chef des US-Kommandos in Panama Charles William hat bereits angekündigt, daß der im Torrijos-Carter-Vertrag für dieses Jahr vereinbarte Rückzug der US-Truppen möglicherweise ausgesetzt werden muß. Die panamenischen Truppen seien allein nicht in der Lage, die Grenze zu Kolumbien dauerhaft zu sichern. Seit einigen Monaten gibt es dort ständig Überfälle auf Polizeiposten, die im Namen der FARC verübt werden. Die Guerillaorganisation hat jedoch erklärt, nichts mit den Angriffen zu tun zu haben. Warum auch? Mit der panamenischen Polizei haben die FARC keinen Ärger. Da weder die Pastrana-Regierung noch die Paramilitärs ein klares Interesse an einer US-Intervention im Land haben dürften (dafür herrscht zu große Unklarheit über die weiteren Pläne Washingtons), gibt es eigentlich nur einen Beteiligten, der mit den Überfällen gewinnt: die US-Armee selbst, die damit ihre Truppenpräsenz in Panama verlängern möchte. Verwunderlich wäre eine solche Operation nach allem, was man aus Zentralamerika weiß, nicht. Daß die ELN versucht, hiergegen ein politisches Gegengewicht ins Spiel zu bringen, ist vor diesem Hintergrund einigermaßen verständlich – selbst wenn die betreffenden Personen Schmidbauer oder Mauss heißen. Paradox angehendes 21. Jahrhundert: Die guten alten Hegemonialpolitiker stehen für eine „humanere“ Außenpolitik als die Interventionsexperten von Rot-grün.

Der Erfolg ist woanders

Sie treffen sich mal wieder, die sogenannten „Herren der Welt“. Diesmal in Köln. Unschwer zu erraten, daß es sich um die Staats- und Regierungschefs der Gruppe der 7, der bedeutendsten Industrieländer handelt. Auch Rußland darf inzwischen am Tisch sitzen, wenn insbesondere globale Wirtschafts- und Währungsfragen verhandelt werden. Daß Gipfeltreffen in erster Linie symbolischer Natur sind, wird in Köln bestätigt werden. Die Initiative der deutschen Entwicklungshilfeministerin Heidi Wieczorek-Zeul zur Schuldenentlastung scheint gar nicht erst zur Abstimmung zu kommen und droht damit ebenso zu scheitern wie ihre Vorläuferin. Denn vor einem Jahr scheiterte eine Schuldeninitiative Frankreichs und Großbritanniens – damals am Widerstand Deutschlands und Japans.

Loch soll den Gipfeln nicht jegliche Wirkung abgesprochen werden: Sie eignen sich nach wie vor als Kristallisationspunkt für widerständige Kräfte, seien es die regen Aktivitäten im Rahmen der Kampagne „kölngehen“, sei es der Wirtschaftsschwerpunkt dieser Jubiläumsausgabe 300 bei den Lateinamerika Nachrichten.
Lateinamerika im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Regionalisierung lautet das Thema. Im Spannungsfeld also jener zweier weltwirtschaftlichen Entwicklungen, die miteinander in Konkurrenz zu stehen scheinen, aber durchaus als zwei Seiten einer Medaille zu interpretieren sind. Dabei ist die kapitalistische Globalisierung ein vielschichtiger Prozeß, der ökonomische, kulturelle, politische und ideologische Prozesse umfaßt. Aus ökonomischer Sicht ist das schnelle Wachstum grenzüberschreitender Transaktionen von besonderer Bedeutung, zieht es doch eine verstärkte Verflechtung der nationale Wirtschaften nach sich. Diese Verflechtung wiederum läßt neue Abhängigkeitsverhältnisse entstehen und verschärft bestehende. Dennoch werden längst nicht alle Wirtschaftsräume einbezogen, denn Globalisierung ist nicht nur ein Prozeß ökonomischer Inklusion, sondern eben auch der Exklusion.

Trotz der stürmischen globalen Liberalisierungsbemühungen der Welthandelsorganisation WTO und ihres Vorgängers, dem GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) haben sich seit 1948 rund 80 regionale Freihandelszonen und Zollunionen gegründet, mehr als die Hälte davon in den neunziger Jahren, darunter der Gemeinsame Markt des Conosur (Mercosur) und das Abkommen zur nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA). Die Beiträge zu diesen beiden Integrationsprojekten zeigen sowohl die zunehmende Verflechtung einschließlich der daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse auf, als auch die Inklusion und Exklusion von Bevölkerungsgruppen und/oder Regionen. Offensichtlich präferieren die Nationalstaaten, gerade wenn die institutionellen weltwirtschaftlichen Regelungen auf weitreichende Liberalisierung ausgerichtet werden, politische Grenzziehungen. Die gehen zwar über die nationalen Räume hinaus, bieten aber dennoch Chancen, sich binnenökonomische wie binnenpolitische Vorteile zu verschaffen.
Widersprüchlich fällt die wirtschaftliche Bilanz Lateianamerikas in den neunziger Jahren aus. Den wenigen, deren Hoffnungen sich durch die Globalisierung erfüllt haben, stehen die vielen gegenüber, an denen der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Dekade vorüberging.

Die Vielschichtigkeit der Globalisierung spiegelt sich in den unterschiedlichen Beiträgen in dieser Ausgabe: In Brasilien konnten jene die Geld hatten, mit der Währungskrise noch sehr viel mehr Geld machen, während die Verluste wieder einmal sozialisiert werden, und daß Krabbenfischer zu den Globalisierungsgewinnern gehören – wenn auch auf bedeutend niedrigerem Niveau, zeigt die Reportage aus Ecuador. Allen wiederkehrenden Erfolgsmeldungen zum Trotz kann jedoch nur ein nüchternes Fazit gezogen werden: „Der Erfolg ist woanders“, wie die argentinische Tageszeitung Clarín jüngst zur Jahrestagung 1999 der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) titelte.

Krebsen am Existenzminimum

In das arme Fischerdorf Valdivia an der ecuadorianischen Küste verirren sich nur selten TouristInnen. Aber man kennt die Venus. Die Venus von Valdivia gilt als eine der ältesten Darstellungen einer Frau auf der Welt. Circa 3200 Jahre vor Christus formten die EinwohnerInnen diese Figur aus Ton mit den spitzen Beinen und Brüsten. Seit Archäologen ihren Wert entdeckten, formen sie die Venus wieder. Bis vor einigen Jahren gaben sie ihre nachgemachten Figuren als fünftausend Jahre alte Fundstücke aus, und wer auf den Schwindel hereinfiel, fühlte sich betrogen. Mittlerweile sind die EinwohnerInnen stolz auf ihre nachgemachten Figuren. EthnologInnen haben ihre Fertigkeit, die alte Kultur zu kopieren, als „künstlerisch wertvoll“ anerkannt. Nun geben KunsthandwerkerInnen aus der Gegend sogar Kurse im Formen der Venus. Dazu benutzen sie den gleichen Ton wie ihre Vorfahren, die gleichen Vorlagen, die gleichen Glasuren, und die gleichen Brenntechniken. Das einzig Neue ist: Sie müssen alt aussehen. Dafür werden sie mit einer speziellen Asche behandelt.
Das alles lernt Gloria Aguirre gerade. Sie hat Formen angefertigt für die Venus, für ebenso alte Urnen und für ein paar neue Motive. „Sie gehen beim Brennen leicht kaputt“, sagt sie. Deshalb hat sie erstmal mit kleinen Figuren angefangen. „Vielleicht kann ich in ein paar Monaten ein bißchen Geld damit verdienen“, so ihre Hoffnung. Gloria Aguirre ist 24 Jahre alt.
Wenn sie mit ihrem Freund durchs Dorf geht, erntet das Paar viele Blicke. Man runzelt die Stirn darüber, daß sie in ihrem Alter noch nicht verheiratet sind und keine Kinder haben. „Aber wir besitzen überhaupt nichts“, sagt Gloria Aguirre. „Nichts“ heißt bei ihr: wirklich wenig. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einem Raum einer verfallenen Hütte ohne Wasser und Strom. Sie haben kein Erspartes, keine regelmäßigen Einkünfte, oft nur das Nötigste zu Essen.
Aussichten auf einen Job gibt es in dem kleinen Fischerort nicht. Genau wie alle anderen muß sie sich ihre Möglichkeiten, an Geld zu kommen, selbst erschließen. So wie die Töpferei. Weil das aber nicht reicht, fertigt sie noch Schnittmuster an, die sie an Schneiderinnen, die so Kleidung herstellen, die noch billiger ist, als die importierte Massenware. So bleiben für die Schnittmuster nur ein paar Pfennige übrig. Das hat aber den Vorteil, daß es nur wenige gibt, die auf diese Branche setzen. Glorias Freund produziert massenweise Masken aus Papier. Masken für Carneval, Masken für Kindergeburtstage, Masken für Dorffeste.
„Wenn alles richtig läuft, dann können wir in ein oder zwei Jahren heiraten“, sagt Gloria Aguirre. Ihre Zukunft hängt an neuen alten Töpferarbeiten, an Schnittmustern und an Papiermasken. Oder auch nicht, denn wie alle Leute in den Fischerdörfern an der armen Pazifikküste mußte sie lernen, sich ständig etwas Neues einfallen zu lassen, um zu überleben. Und sie mußte lernen, sich mit wenig zufriedenzugeben. Aber darin, daß sie mit dem Heiraten und Kinderkriegen lieber noch wartet, solange sie keine eigene Hütte beziehen kann, darin unterscheidet sich Gloria von vielen anderen.
Dabei verdienen die meisten Leute in Valdivia genau wie Gloria ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht. Sie bauen Bananen, Wassermelonen und Yucca an, sie stellen Schuhe her, sie verkaufen Eis und bauen Tische und Schränke. Manche Männer fahren wie eh und je aufs Meer und fischen. Aber es gibt nur eines, was wirklich etwas einbringt: Die Garnelen.

Zurück aufs Meer

Glorias Schwager Nolasco Pérez ist deswegen vor fünf Jahren auf die Fischerei umgestiegen. Vorher war er ein paar Jahre lang Busfahrer. Jetzt hat er sich ein bongo, ein kleines, wendiges Boot gebaut. Darin fährt er mit seinem Bruder und seinem Sohn aufs Meer. Immer, wenn es Erfolg verspricht. „Das sehen wir daran, wie sich das Meer bewegt, oder wie ruhig es ist“, erklärt Nolasco. Seine Frau, Glorias Schwester Rosa, flickt die Netze. Eine Sorte ist für die traditionellen „weißen“ Fische. Die essen sie selber oder verkaufen sie im Dorf. Die Netze für die Garnelen sind länger und schmaler. Und dann sind da noch die knallroten Netze, die zwischen zwei Stäben hängen und malerisch vor beinahe jedem Haus an der gesamten Küste der Halbinsel Santa Elena lehnen, so daß jeder, der zum ersten Mal die Küste entlang fährt, sich sofort in eine andere Szenerie und eine andere Zeit versetzt fühlt: Als ob überall die eingerollten roten Fahnen auf den nächsten Marsch der rebellischen Landbevölkerung warteten.
Das sind die Netze für die Krabbenlarven. „Damit habe ich auch angefangen,“ sagt Nolasco. Vor etwas über zehn Jahren wurden hier an der südlichen ecuadorianischen Küste große Krabbenzuchtbecken angelegt. Da hatten sie sich bereits in den Mangrovensümpfen um Guayaquil, der größten Stadt des Landes, etabliert. Als klar wurde, welche Profite dieses „nicht-traditionelle Exportprodukt“ einbrachte, fanden sich soviele investitionsfreudige nationale und ausländische Unternehmer, daß sich die Krabbenzucht in den Mangrovensümpfen im Norden Ecuadors und auch hier auf der Halbinsel Santa Elena ausbreitete. Heute sind beinahe alle freien Stellen zwischen den Fischerdörfern der Halbinsel mit den riesigen Becken bedeckt. Die Krabben haben die Bananen als zweitwichtigstes Exportprodukt nach dem Öl verdrängt. Und Ecuador wurde nach China, Indonesien und Thailand zum viertgrößten Krabbenexporteur der Welt.
Um die Krabbenlarven zu fangen, braucht man nicht aufs Meer zu fahren. Immer wenn die Flut steigt, schieben Männer und Frauen und Kinder die feinmaschigen roten Netze wie große Segel langsam durchs Wasser vor sich her. Sie wechseln sich ab. Der Rest der Familie sitzt auf dem Strand und bewacht die Eimer, die sich mit winzigen, durchsichtigen Larven füllen. Wenn es Nacht wird, brennen dann viele kleine Lagerfeuer an der Küste. Kurz vor Ende der Flut fahren die Händler mit ihren Pick-Ups vor, kaufen die Ausbeute auf und transportieren sie zu den Zuchtbecken weiter.
Zunächst brachten die Larven mehr ein als alles andere. Deshalb stellten auch viele Fischer auf Krabben um. Dazu kam, daß die Fischbestände durch das Abfischen von Larven und Minifischen zurückgingen. Aber als bald jede Familie sich an der Larvenfischerei beteiligte, gingen die Preise zurück. Und dann kam das Wetterphänomen „El Niño“. Im vergangenen Jahr wurde die Küste monatelang durch Stürme und Überschwemmungen verwüstet. Dabei wurden auch die Zuchtbecken für Krabben und damit die wichtigste Einnahmequelle vieler Küstenleute zerstört. „Davon haben wir uns immer noch nicht erholt“, klagt Nolasco. Die Bauern, die Handwerker, die Händler, alle hätten weniger verkauft, weil niemand mehr Geld hatte. Er erinnert sich auch an die erste Gelegenheit, die Krabben zu probieren, deren Larven er im Meer gefangen hatte: „Wenn die Zuchtbecken überschwemmt wurden, schwammen die Krabben auf den überfluteten Straßen herum, und wir machten uns einen Spaß daraus, sie zu fangen“. Aber geschmeckt hätten sie nicht, die mit Kraftfutter hochgezüchteten Tiere. „Die Krabben, die wir im Meer fangen“, sagt er, „sind kleiner und besser“.
Zum Glück hatte er schon im Jahr vor El Niño sein bongo gebaut. Damit fährt er mit seinem Bruder und seinem Sohn Fausto aufs Meer und fischt nach trächtigen Garnelenweibchen. Diesen Schatz machen die Laboratorios mit Namen „La Larva feliz“ oder „Larvioro“, die an der Küste aus dem Boden sprießen, zu Gold. In den Laboratorios legen die Weibchen ihre Brut ab. Jetzt, wo überall Zuchtbecken wieder neu aufgebaut werden müssen, bringt ein Garnelenweibchen umgerechnet zwölf Mark. Gehen vier davon in einem Monat ins Netz, verdient die Familie Pérez mehr, als die meisten im Dorf.
„Aber jetzt waren wir zweimal draußen und haben nichts gefangen“, erzählt Nolasco. Das sei besonders ärgerlich, weil die Boote der Zwischenhändler wie wild zwischen den Fischern herumgeschossen seien, um sich die Weibchen zu sichern. „Sie hatten zwar vor, den Preis zu drücken“, lacht Nolasco. „Draußen am Strand hatten sie sich auf zehn Mark pro Tier geeinigt. Aber sobald einem von uns eines ins Netz ging, überboten sie sich gegenseitig. Es gab sogar eine Prügelei auf dem Meer.“ Wenn die Zwischenhändler keinen Nachschub liefern, bringen sie ihre Verträge mit den Laboratorios in Gefahr. Diese Exklusivverträge verhindern es, daß Nolasco seinen Fang direkt an ein Laboratorio verkauft. Dabei steht eines mitten in Valdivia, neben seinem Haus. Es hat hohe Mauern und keine Fenster. Nolasco kennt weder den Besitzer, noch weiß er, wieviel sie dort für die Garnelen bezahlen.

Die Mangroven bleiben auf der Strecke

In den Laboratorios wird auch das Futter für die Larven in den Becken entwickelt. Immer neue, effizientere Algensorten, Wachstumshormone und Chemie gegen Schädlinge und Krankheiten. Wo ein Becken aufgegeben wurde, sieht man mit einer weißen Kruste überzogene, aufgerissene Erde. Das sind versalzene Böden, auf denen jahrelang nichts wächst. Das interessiert aber niemanden. Nolasco glaubt nicht daran, daß die Erde oder das Meer oder die Fische einmal ausgehen könnten. „Sie waren doch immer da.“ Eine Frau, die im Nachbardorf von Valdivia eine kleine Umweltorganisation vertritt, erklärt, daß es nur dort Proteste gibt, wo für Zuchtbecken Mangroven gerodet würden: um Guayaquil herum und an der nördlichen Küste.
Die Hälfte der ecuatorianischen Mangrovenwälder sind bereits verschwunden, manche Quellen behaupten sogar, zwei Drittel. Um internationalen Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, verbot die Regierung 1994 die Rodungen für fünf Jahre und bemüht sich um ein umweltfreundliches Image. Im Umweltministerium wurde sogar eine eigene Abteilung eingerichtet, um die Garnelenindustrie zu überwachen. Doch seither haben sich die Zuchtanlagen weiter ausgebreitet. Die Umweltorganisation Greenpeace drohte Anfang des Jahres mit einem weltweiten Boykott von ecuadorianischen Krabben, falls die Regierung den Schutz der Mangroven nicht garantiere. Die Proteste kamen vor allem aus Spanien, dem zweitgrößten Abnehmerland nach den USA. Doch als Ecuador im März in eine akute Finanzkrise geriet, in der der Staat sogar die Banken schließen mußte, um eine Bankrotterklärung zu vermeiden, habe die Regierung unter der Hand Mangrovenwälder an Garnelenzüchter verkauft, behauptete die Zeitung El Universo.
In Valdivia würde wohl kaum jemand die Proteste gegen die Garnelenzüchter verstehen. Die Krabbenlarven und die Garnelenweibchen sind für die meisten die einzige gute Einnahmequelle. Wie tief sich die Garnelen in das Denken gefressen haben, zeigt Nolascos Sohn Fausto. Er geht wieder zur Schule, seit es in der Oberstufe eine Spezialisierung auf Biochemie gibt. „Das ist mein Traum“, sagt er, „Ich möchte in einem Laboratorio arbeiten.“ Sein Vater Nolasco kann ihm die Schule bezahlen, solange die Preise für Garnelen weiter gut sind. Aber er sieht seinen Sohn nicht im weißen Kittel in einem der respektablen Laboratorios: „Fausto ist zu sanft und ein bißchen langsam“, sagt er. „Doch es kann ja nicht schaden, zur Schule zu gehen.“ Wahrscheinlich wird Fausto also genau wie sein Vater Nolasco und seine Tante Gloria immer wieder seine eigene Mischung finden müssen, um etwas Geld zu verdienen: Mal Bananen anbauen, mal Bus fahren, mal Papiermasken basteln oder Fischen gehen.

Reformen ja, aber in welche Richtung?

Vertrauen ist in diesen Tagen ein vielzitiertes Wort in den Ministerien der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Verlorenes Vertrauen und potentielle Anleger möchte man wiedergewinnen und die Wirtschaft für das nächste Jahrtausend fit machen. Kein leichtes Unterfangen, denn Venezuela ist wie kein anderes Land der Region von den Erdöldollars abhängig und hat sich Strukturreformen in den vergangenen Dekaden hartnäckig verweigert. Das soll nun anders werden, wenn es nach dem ehemaligen Oberstleutnant und Putschisten geht, der Venezuela seit gut drei Monaten regiert und dem Establishment einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nicht nur der überbordenden Korruption will er entgegentreten, sondern auch den Staatssektor verschlanken und damit dem weit verbreiteten Klientelismus und der Ämterpatronage entgegentreten.
Dagegen regen sich natürlich Widerstände, und der 44jährige Chávez hatte denn auch alle Hände voll zu tun, um die gewünschten Sondervollmachten im Parlament durchzusetzen. Dort herrscht die Opposition, die dem militärisch zackigen Chávez nicht so ohne weiteres freie Hand lassen will. Dessen Ermächtigungsgesetz läßt ihm einen Gestaltungsfreiraum, der den ParlamentarierInnen zu weit geht. Langfristige Änderungen in der Sozialgesetzgebung oder der öffentlichen Verwaltung will man doch lieber selbst im Parlament verabschieden, statt dem Oberstleutnant a.D. seinen Willen zu lassen.
Der allerdings setzte sich durch, indem er in einer spektakulären Fernsehansprache Anfang April die Bevölkerung bat, ihn bei seinem Kampf gegen die reformunwilligen ParlamentarierInnen zu unterstützen. Seitdem hat Chávez die gewünschten Sondervollmachten, um die Zukunft des Landes zu gestalten und der sozialen Krise Herr zu werden. Sechs Monate hat der ehemalige Oberst nun Zeit, das überbordende Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder gute 15 Milliarden Mark ist das Loch in den öffentlichen Kassen angewachsen, das Chàvez nun schnellstmöglich auf ein erträgliches Maß senken will.
Wie schnell es gehen kann, wenn die Basisindikatoren wie Haushaltsdefizit oder Verschuldung in eine Schieflage geraten, hatten sowohl Brasilien als auch Ecuador in jüngster Zeit erleben müssen. Ähnlich wie in Ecuador ist in Venezuela die Währung bereits mächtig unter Druck geraten. Das Land stöhnt derzeit unter einer Inflationsrate von 26,1 Prozent und liegt damit gleich hinter Ecuador (73,8 Prozent) auf Platz zwei der lateinamerikanischen Rangliste. Um nicht das gleiche Schicksal wie das Nachbarland zu erleiden, das von der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 70 Jahren gebeutelt wird, will Chávez das Haushaltsdefizit auf drei bis fünf Prozent reduzieren. Eine Banktransaktionssteuer von 0,5 Prozent soll 1,1 Milliarden US-Dollar in die leeren Kassen bringen, und auch von der Umwandlung der Umsatzsteuer in eine variable Mehrwertsteuer erhofft sich die Regierung weitere Mittel.

Chávez für Privatisierungen

Doch es soll nicht allein bei Korrekturen zur Sanierung der Staatsfinanzen bleiben. Chávez hat sich zur Überraschung vieler auch der Reorganisierung der staatlichen Verwaltung, die mit Entlassungen einhergehen wird, verschrieben und sich für Privatisierungen ausgesprochen. Besonders letztere Maßnahme wird im Ausland aufhorchen lassen, denn noch im Wahlkampf hatte Chávez zum Entsetzen der USA gegen die Veräußerung der nationalen Besitztümer polemisiert. Daß der 44jährige nun genau den gegensätzlichen Kurs einschlägt und die Veräußerung verlustbringender Aluminiumwerke genauso anvisiert wie den Rückzug des Staates aus dem Elektrizitäts- und Tourismussektor, dürfte bei Investoren und beim IWF mit Wohlwollen notiert werden. Genau dieses Wohlwollen benötigt Chávez allerdings auch, denn selbst wenn es ihm wie geplant gelingen sollte, das Defizit auf fünf Milliarden US-Dollar zu drücken, ist er darauf angewiesen, Kredite zur Deckung dieses Finanzlochs an Land zu ziehen. Dies dürfte denn auch der Grund dafür sein, daß sich Mitte Mai ein Spezialistenteam des IWF eingehend mit den Finanzen des Landes beschäftigte.
Auch für die von Chávez angepeilte Restrukturierung eines Teils der Auslandsschulden in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar wird für die Empfehlung des IWF entscheidene Bedeutung haben, und so kann die Einladung an den IWF dann doch nicht sonderlich überraschen.
Venezuela lebt und atmet mit dem Ölpreis und die einseitige Abhängigkeit von den Petrodollars macht das Land extrem verletzbar gegegüber dem Preisverfall auf den internationalen Märkten, sagt Santiago Montenegro von der kolumbianischen Universität der Anden, der sich mit den Modernisierungskonzepten in den Nachbarländern im Vergleich zu Kolumbien beschäftigt.
Mit dem Einbruch des Erdölpreises auf dem Weltmarkt, der im letzten Jahr um rund 25 Prozent pro Barrel (159 l) fiel, wurde dem Land wieder einmal die einseitige Abhängigkeit vom schwarzem Gold vor Augen geführt. Der Motor der venezolanischen Wirtschaft kam mehr als ins Stottern, denn nicht weniger als 78 Prozent der Export- und 61 Prozent der Regierungseinnahmen entfielen 1996 auf den Erdölsektor, in dem 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet werden. Die dritte Krise binnen fünf Jahren war perfekt und hatte viel dazu beigetragen, daß der radikale Töne anschlagende Chávez in den Präsidentenpalast einziehen und den greisen Caldera ablösen konnte.

80 Prozent leben in Armut

Chávez setzte auf die populistische Karte und wettert erfolgreich gegen das „korrupte Establishment“ des Landes. Diese Wahlstrategie hat ihm Unterstützung bei den verarmten Massen eingebracht, nicht aber die Akzeptanz des wichtigsten venezolanischen Handelspartners – den USA – und des Establishments. Allgemein wird dem wenig diplomatischen Chávez zwar zugute gehalten, daß er den Umbau des Staates im Gegensatz zu seinen Vorgängern ernsthaft betreibe und durchaus auch gewillt sei, die Situation der Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Rund 80 Prozent der VenezolanerInnen leben laut Weltbankstatistiken in Armut, und dort findet sich denn auch Chávez wichtigste Klientel, die er bisher spielend für sich mobilisieren konnte. Doch über kurz oder lang wird die Bevölkerung den populistischen Präsidenten an seinen Erfolgen messen. Sein Kabinett genießt allerdings wesentlich weniger Vertrauen als er selbst, da echte Fachleute auf der Regierungsbank rar sind und Minister in benachbarten Ressorts unterschiedliche Denkrichtungen vertreten.
Zudem hat Chávez viele Militärs in den Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt, die zum Teil für ihren neuen Job wenig qualifiziert sind. Damit einher gingen Spekulationen, daß der Oberstleutnant außer Dienst einen autokratischen Weg einschlagen könnte. Zwar hat sich dies bisher nicht bewahrheitet, aber die Rehabilitierung sämtlicher am Putsch von 1992 beteiligter Uniformträger hinterläßt doch einen schalen Beigeschmack, zumal eben niemand außer Hugo Chávez Friás weiß, wolang es gehen wird.

Opfer der Öffnung

Wenn Frau Adelfa Valencia am Abend nach Hause kommt, bringt sie gerade genug Reis mit, damit die Kinder nicht mit knurrenden Mägen ins Bett müssen. Die Zwiebeln, die sie auf dem Markt von Altos de Cazuká anbietet, finden kaum Käufer. Denn hier, am äußersten Südrand von Bogotá, wo vor allem Vertriebene aus anderen Landesteilen siedeln, sind alle arm. Man kauft gerade das Nötigste. Aber die Krise ist nicht nur in den Elendsvierteln spürbar. Jaime Benavides, ein Ingenieur, der mit seinen Brüdern in einem Familienbetrieb Maschinenersatzteile und Qualitätswerkzeug für die Industrie herstellt, klagt über die Absatzflaute: „Wir machen nicht einmal die Hälfte des Umsatzes von vor zwei Jahren. Die Produktion stagniert landesweit.“ Selbst die Allergrößten machen sich Sorgen. So wurde ein Mitglied der mächtigen Santodomingo-Gruppe – eines der größten Wirtschaftsimperien des Landes – in einem Billig-Supermarkt mit dem Einkaufswägelchen gesehen. Man müsse heute beim Geldausgeben aufpassen, erklärte er einem erstaunten Journalisten.
1998 verzeichnete Kolumbiens Wirtschaft ein prekäres Wachstum von 0,2 Prozent. Das waren, wie die Statistiker meldeten, die schlechtesten Werte seit der großen Depression der 30er Jahre. Doch es sollte noch dicker kommen: im ersten Quartal 1999 wurde erstmals ein Negativwachstum gemessen, stolze -4,0 Prozent im Vergleich zum ersten Vierteljahr 1998. Kolumbien, das trotz Guerilla und Drogenkrieg selbst in den 80er Jahren, im „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas, ein robustes Wachstum vorweisen konnte, befindet sich auf einer wirtschaftlichen Talfahrt, deren Ende, allen Beschwichtigungsversuchen der Wirtschaftsverantwortlichen zum Trotz, noch nicht abzusehen ist. Die Arbeitslosigkeit, derzeit auf einem Rekordhoch von offiziell 19,5 Prozent, dürfte sich kaum vermindern, solange die Betriebe massenweise zusammenbrechen. Und der Konjunkturmotor Privatkonsum wird sich schwerlich einstellen, wenn immer mehr KolumbianerInnen kein Einkommen haben.
Externe Ursachen wie die Asienkrise, der russische Wirtschaftskollaps und die Erschütterungen im benachbarten Brasilien reichen als Erklärung nicht aus. Auch die Zerschlagung der Kokainkartelle von Medellín und Cali haben sich auf die Gesamtwirtschaft nur marginal ausgewirkt, denn die Drogenbarone hatten ihre Millionen in erster Linie in Immobilien und Luxusgüter investiert. Allenfalls die Baubranche wurde durch die Festnahme der Spitzen des Cali-Kartells geschädigt. Die Verringerung der Bautätigkeit kann vor allem in Cali, aber auch in Bogotá visuell wahrgenommen werden.

Fehler vergangener Wirtschaftspolitik

Für den Wirtschaftsprofessor Jorge Iván Rodríguez liegen die Wurzeln für den wirtschaftlichen Niedergang in der falschen Politik der Regierung von César Gaviria (1990-1994). Noch im Jahre 1987 hatte die Zentralbank eine äußerst positive Bilanz über 20 Jahre Wechselkurskontrolle gezogen. Die Einnahmen aus dem Kaffeeboom konnten zum Beispiel dank der Devisenkontrollen für ganz Kolumbien genutzt werden. Ohne sachliches Argument, einzig als Gebot der neoliberalen Mode, wurde dann 1991 der Wechselkurs freigegeben. Dazu Rodríguez: „Plötzlich strömten aus ganz Lateinamerika Dollars ins Land, denen die Wirtschaft nicht gewachsen war. Ziel war es, die Inflation zu dämpfen. Doch gleichzeitig wurde der Peso aufgewertet.“ Die starke Währung wiederum ermunterte zu Importen im großen Stil, während die Exporte schwieriger wurden. Noch 1991 hatte die Außenhandelsbilanz einen positiven Saldo von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 1995 gab es bereits ein Defizit in derselben Höhe. Ein Verlust von elf Prozentpunkten in nur vier Jahren ließ die Alarmglocken schrillen. Tatsächlich hatte der folgende Präsident Ernesto Samper mit seiner Sozialpolitik im Sinne, den Wirtschaftsliberalismus abzumildern. Im November 1994 zog sein Wirtschaftsminister Guillermo Perry allerdings in einem Disput mit der Zentralbank den Kürzeren, als er die Abwertung des Peso forderte. Wenige Monate später war die Regierung durch den Skandal um die Drogengelder im Wahlkampf handlungsunfähig. Den Rest seiner Amtszeit war Samper mit Schadensbegrenzung beschäftigt und konnte keine visionären Projekte mehr angehen.
Also wurde das Land weiterhin mit Dollars überflutet, die aus spekulativen Gründen kurzfristig angelegt wurden. Für die Spekulanten ein sicheres Geschäft: drei Jahre lang wurde die Parität von US-Dollar und Peso von 1:1000 gehalten, während die Inflationsrate sich mit rund 20 Prozent in kontrollierbaren Grenzen hielt. Die Banken boten damals bis zu 45 Prozent Nominalzinsen. Das entsprach real immerhin 15-17 Prozent – mehr als das Doppelte dessen, was auf dem internationalen Kapitalmarkt verzinst wurde. Da die kolumbianischen Banken keine Kredite in Fremdwährung vergeben dürfen, konnten sie die überschüssigen Dollars nur zu den gängigen Bedingungen im Ausland veranlagen.

Importe bestimmen die Ökonomie

Die mit Hartwährungspolitik gekoppelte Öffnung hat die kolumbianische Wirtschaft nachhaltig geprägt. Produkte, die früher im Lande veredelt wurden, können jetzt billiger aus dem Ausland importiert werden. Autoersatzteile oder pharmazeutische Produkte, die früher ganz oder teilweise in Kolumbien hergestellt wurden, sind jetzt im Originalwerk in Europa oder den USA preiswerter zu haben. So wurden industrielle Betriebe nach und nach zu Importhäusern.
Daß ein so fruchtbares Land wie Kolumbien zwei Drittel seiner Grundnahrungsmittel importieren muß, ist skandalös. Schuld am Niedergang der Agrarproduktion ist einerseits die politische Gewalt, die mehr als eine Million Bäuerinnen und Bauern von ihrem Boden vertrieben hat, andererseits die ausländische Konkurrenz, die die Waren billiger auf den Markt werfen kann. Vor allem die Nachbarländer Ecuador und Venezuela, die aus ihren weichen Währungen Kapital zu schlagen verstehen, sind zu den wichtigsten Handelspartnern nach den USA geworden.
Warum die kolumbianischen Unternehmer sich diese Politik gefallen ließen, erklärt Jorge Iván Rodríguez damit, daß die großen Konsortien sich vor allem auf Produkte spezialisierten, die kaum von ausländischer Konkurrenz betroffen sind, etwa Bier und Erfrischungsgetränke oder Zement. Die Großen steckten ihr Kapital außerdem in Banken, Bauunternehmen und Telekommunikation.
Ihre Kredite nahmen die großen Konzerne wie Santodomingo oder Ardila Lulle in den USA in Dollars auf. Das war billiger, als sich im Inland zu verschulden. Deswegen sind sie auch jetzt gegen eine Abwertung, weil damit ihre Schulden steigen würden.

Der Trend wird fortgesetzt

Unter der neuen Regierung, die seit August im Amt ist, gebe es weniger Korruption, meint der Maschinenfabrikant Jaime Benavides. Aber sein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik ist beschränkt. Präsident Andrés Pastrana, der in der Konservativen Partei groß geworden und gewohnt ist, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, hat sein Wirtschaftskabinett mit Leuten bestückt, die schon unter Gaviria die Liberalisierung betrieben haben. Daß sie ihre eigene Politik verurteilen und den Rückwärtsgang einlegen würden, war nicht zu erwarten. Im Gegenteil: bei der Privatisierung wurden ein paar Gänge zugelegt. Nicht einmal der Gesundheits- und der Erziehungsbereich sind davon ausgenommen. Außerdem sind auch die angeblich so sauberen Technokraten nicht vor den Versuchungen des Kapitalismus gefeit. So werden Staatsbetriebe vor der Privatisierung gezielt entkapitalisiert und dann unter dem Wert verkauft. Die Streiks im öffentlichen Dienst, die Ende April Bogotá und andere Großstädte für einen Tag lahmlegten, dürften nur der Beginn größerer sozialer Auseinandersetzungen gewesen sein.
Als einziger Rettungsanker in der Depression wird derzeit die Erdölindustrie betrachtet, die dank des steigenden Ölpreises deutlich mehr abwerfen wird als prognostiziert. Erdöl hat den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt längst überholt. Einen stetigen Zuwachs verzeichnen auch die Schnittblumenexporte, ein Wirtschaftszweig, der die Savanne von Bogotá in ein riesiges Treibhaus verwandelt hat. Allerdings ist auch in der Blumenindustrie bald der Zenit erreicht, denn trotz Sozialdumping können die Produzenten nicht mit den Produktionskosten der ecuadorianischen Konkurrenz mithalten.

Der Blick des Anderen

Im Jahre 1804 trafen in einem vornehmen Pariser Salon zwei Menschen zusammen, denen bis heute eine entscheidende Rolle in den nationalen Mythen beinahe aller lateinamerikanischer Staaten zukommt. Der eine, Alexander von Humboldt, war gerade von einer fünfjährigen Forschungsexpedition zurückgekehrt aus den „Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents“, so seine etwas umständlich anmutende Umschreibung für die heutigen Länder Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba. Der andere, Simón Bolívar, sollte nach einer umfassenden Ausbildung im Geiste des französischen Jakobinismus in diese Gegenden zurückkehren und zum Anführer der kreolischen Freiheitsbewegung werden. Der Respekt und die Bewunderung, die der „Befreier“ dem Forscher entgegenbrachte – er bezeichnete ihn als den „zweiten, den wahren Entdecker Amerikas“ – beruhte zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht auf Gegenseitigkeit. Nachdem Humboldt an einer baldigen Unabhängigkeit Lateinamerikas aufgrund der mangelnden Selbständigkeit seiner Völker Zweifel angemeldet hatte, rief der 21jährige Bolívar: „Die Völker sind in den Augenblicken, da sie die Notwendigkeit empfinden, frei zu sein, so stark wie Gott.“ Humboldt bezeichnete den jungen Mann hierauf als „Brausekopf“. Erst Jahre später, als das Unternehmen Unabhängigkeit langsam konkretere Formen annahm, entwickelte sich zwischen den beiden ein reger Briefwechsel.
Humboldt ist auch heute noch der bekannteste Deutsche in Lateinamerika und wird beinahe so verehrt wie der große „Libertador“. Kaum ein Ort zwischen Tijuana und Ushuaia, in dem es nicht mindestens eine Calle Humboldt gibt, kaum ein Land ohne einen Fluß oder Berg, der seinen Namen trägt. Als Ende Januar ein Schiff zu Ehren Humboldts in Venezuela eintraf, ließ es sich Präsident Chávez nicht nehmen, die Besatzung persönlich in Empfang zu nehmen. Die Vorsitzende der neu eingerichteten venezolanischen Comisión Presidencial del Bicentenario de la llegada de Humboldt (Präsidentialkomission für das zweihundertjährige Jubiläum der Ankunft Humboldts) stellte ihn gar als „Nationalhelden“ dar. Gleichzeitig diente das Ereignis der gegenseitigen Versicherung, Deutschland und Venezuela müßten jetzt über eine Verbesserung ihrer Beziehungen nachdenken. Auch die Granma, Organ der Kommunistischen Partei Kubas, bildete unter der Schlagzeile „Ein Schiff der guten Hoffnung“ keine Ausnahme von der Regel der ausschließlich positiven Rezeption der Reise.
Hintergrund der ganzen Aufregung sind neben den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die der Forscher ans Licht der europäischen Öffentlichkeit brachte, in zunehmendem Maße die politischen Essays, in denen er keinen Hehl daraus machte, daß der Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung schon damals nichts zu lachen hatte. Seine harsche Kritik am spanischen Kolonialsystem, an der Sklaverei und an der Ausbeutung der Indios durch die Missionare bilden die Hauptbezugspunkte für die Vereinnahmung seiner Person in den Geschichtsbüchern. Es ging bei der Schelte der Unterdrückung aber oftmals nicht nur um den humanistischen Aspekt, sondern auch um die wirtschaftliche Effizienz, die zwangsläufig Schaden nahm, wenn in den Bergwerken jeden Tag unzählige Indios unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zugrunde gingen.

Ein Kind der Aufklärung

Er war ein Kind der Aufklärung, die die ideologische Grundlage für die Entwicklung von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus bot. Weil er die Modernisierung nach europäischen Maßstäben predigte, für die eine Überwindung des Kolonialstatus unerläßlich war, paßten seine Parolen dann auch hervorragend zu den wissenschaftsgläubigen Parolen à la Ordem e Progreso (Ordnung und Fortschritt), die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts von den lateinamerikanischen Staatsmännern ausgegeben werden. Auch wenn die Begeisterung für eine fünfjährige Forschungsreise also auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag: Sie gehört zu dem Bild, in das sich ein Präsident wie Chávez stellen möchte, wenn er sich immer wieder als Nachfolger Bolívars preist.

Humboldt für alle

Bislang interessierte man sich hauptsächlich für Humboldt als Naturwissenschaftler, während die Bedeutung dieses kulturhistorischen Teils des Werks weniger beachtet wurde. Im Rahmen der Ausstellung und der begleitenden Vorträge wird versucht, Licht ins Dunkel dieses Bereichs zu bringen, der heute mehr denn je umstritten ist. Humboldt hat die für ihn fremde Welt stets mit dem Blick des Anderen, des Außenstehenden, betrachtet und beschrieben, so die Meinung des Veranstalters. Und tatsächlich besteht eine Spannung zwischen der vorgefundenen Welt und Humboldts Versuch, sie in ein europäisches, im Kielwasser der Französischen Revolution entstandenes Weltbild zu pressen. Bei dem Gesamtheitsanspruch, auf dem sein Wissenschaftsverständnis beruhte und seinem stetigen Bekunden seines Interesses an der „Wahrheit“, kann es nicht erstaunen, daß er sich allzu oft seiner eigenen Wurzeln nicht bewußt gewesen zu sein scheint. Dankenswerterweise beschäftigen sich mehrere Vorträge sowie einer der zwölf Themenräume, in die die Ausstellung unterteilt ist, mit seiner Berliner Umgebung. Denn diese aufklärerischen Kreise vermittelten ihm die Ansichten, die später bestimmend für seine Wahrnehmung wurden. Daß er nämlich „kein Revolutionär“, sondern „ein Mann der Kompromisse mit der Wirklichkeit und der Macht“ war, bemerkt nicht nur Manfred Kossok von der Universität Leipzig. Die Einschätzung dürfte von den meisten TeilnehmerInnen des Symposiums, das aus so illustren Namen wie Beatriz Sarlo und Jaime Labastida Ochoa besteht, geteilt werden.
Es geht jedoch nur nebenbei um die Frage, wessen Geistes Kind der Mensch Humboldt „wirklich“ war oder ob es tatsächlich stimmt, daß er ohne irgendeinen Auftrag von offizieller europäischer Seite gereist ist. Viel wichtiger erscheint die grundsätzliche Problematik, einen fremden Kontinent mit den eigenen, europäischen Begrifflichkeiten erklären oder gar verbessern zu wollen. Denn es steht ohnehin fest, daß sein Name bis heute für die Legitimierung des Machtanspruchs der kreolischen Oberschichten instrumentalisiert wird und seine Entdeckungen auch den Boden für die zweite, die kapitalistische Eroberung Lateinamerikas bereiteten. Und auch das Jubiläumsjahr wird nicht klären, ob sich Humboldt tatsächlich im Grabe herumdrehen würde, könnte er hören, wie manch ein lateinamerikanischer oder europäischer Politiker stolzbrüstig mit seinem Namen hausieren geht.

Proteste gegen die Regierung

“Wir sind hier Zeugen eines wirtschaftlichen Flächenbrandes“, kommentierte ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei Ecuadors in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País die wirtschaftliche Krise in dem Andenstaat. Ein Statement, das in den letzten Wochen von vielen Seiten zu hören war, und nun hat die tiefe Finanzkrise der lateinamerikanischen Märkte nach Brasilien und Peru Anfang Februar auch Ecuador erfaßt. Die Subventionen der internationalen Finanziers für die betroffenen Staaten des Subkontinentes wirken dabei wie ein Tropfen auf den heißen Stein, haben doch selbst die milliardenschweren IWF- und Weltbankhilfen an Brasilien kaum Abhilfe schaffen können. So auch im Fall Ecuadors.
Erst im Oktober 1998 waren von der Beilegung des langjährigen Grenzkonfliktes zwischen Ecuador und Peru positive Impulse zur Stabilisierung der ecuadorianischen Wirtschaft ausgegangen, zumal die Vereinigten Staaten, internationale Kreditinstitute und die wirtschaftlich führenden Staaten Lateinamerikas massiven Druck auf die beiden Präsidenten Jamil Mahuad und Alberto Fujimori ausgeübt hatten, den Friedensvertrag nun endlich zu unterzeichnen. Schließlich stand dieser Konflikt der Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone „von Feuerland bis Kanada“, so wie sie sich US-Präsident Clinton wünscht, grundlegend entgegen. Mit der jüngsten ecuadorianischen Krise ist dieser Traum für Clinton jedoch wohl noch weiter in die Ferne gerückt.

Kein Centavo für Waffen

Noch Anfang Februar hatte Clinton 40 Millionen Dollar für „gemeinsame grenzüberschreitende Projekte“ in Ecuador und Peru bewilligt. „Die Gelder“, so erklärte der US-Präsident nach einer Unterredung mit Mahuad und Fujimori im Weißen Haus, „sollen zur Ansiedlung von Kleinbetrieben im Grenzgebiet, zur Unterstützung lokaler Gemeinden und einem Friedenspark dienen.“ Zudem seien Gesundheitsprojekte angedacht. Am Rande des Treffens in Washington versprachen Mahuad und Fujimori der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB), die Rüstungsausgaben beidseitig zu reduzieren. „Kein einziger Centavo“, erklärte Mahuad willig, „soll in den nächsten Jahren für Waffen ausgegeben werden.“ Zuletzt griffen Peru und Ecuador 1995 zu den Waffen. Als Gegenleistung für die Unterzeichnung des Friedensabkommens wurde ihnen auch von verschiedenen Geberorganisation Finanzhilfe in Aussicht gestellt. Neben einem rund drei Milliarden Dollar schweren Entwicklungsprogramm für das ehemalige Kriegsgebiet will die US-amerikanische Regierung in den kommenden zehn Jahren weitere 500 Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB) und der Anden-Entwicklungsgesellschaft (ADC) wurden den beiden Staaten ebenfalls Zusagen über jeweils rund 500 Millionen Dollar gemacht, und auch die Weltbank, die Europäische Union und Japan haben ihre Beteiligung angekündigt.
Dieses Ambiente der Zuversicht wurde nur einen Tag danach, am siebten Februar, durch die Nachricht von gewaltsamen Demonstrationen gegen die Wirtschaftspolitik in Ecuador jäh erschüttert. Der Protest gegen Mahuads umfassende Maßnahmen zur Sanierung des Staatshaushaltes hatte seit seinem Amtsantritt im August letzten Jahres stetig zugenommen und gipfelte Ende der ersten Februarwoche schließlich in gewaltsamen Protesten. Die Gewerkschaften drohten für den 20. Februar mit dem Generalstreik, falls der Präsident die Sparmaßnahmen bis dahin nicht zurücknehme, machten ihre Drohung aber erst Ende der ersten Märzwoche war. Vor allem die Einstellung staatlicher Subventionen für die Strom- und Gaspreise, die zu einem kurzzeitigen Preisanstieg von bis zu 400 Prozent geführt hatten, waren Anlaß der Proteste. Der Ölpreisverfall an den internationalen Märkten hatte die Finanzkrise Ecuadors massiv verschärft: Öl ist das wichtigste Exportgut. Außerdem leidet das Land noch immer unter den Milliardenschäden, die das Klimaphänomen El Niño verursachte. Neben diesen Maßnahmen wurden die Gehälter öffentlicher Bediensteter eingefroren und eine zuvor bewilligte Gehaltserhöhung für Lehrer zurückgenommen. Es seien „schmerzliche, aber notwendige Maßnahmen“, rechtfertigte Jamil Mahuad die Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung. Ziel sei, das 1,5 Milliarden Dollar umfassende Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Inflationsrate zu senken. Zuletzt erreichte die Inflation 43 Prozent und stand damit in Lateinamerika an der Spitze.

Der Sucre im freien Fall

Ob die Unterstützung der internationalen Finanziers nun „zu spät“ kam, wie ein Sprecher der IaDB äußerte, oder „im Umfang zu gering“ waren, wie es Jamil Mahuad bemängelte, änderte am Resultat nichts. Als die ecuadorianische Zentralbank Mitte Februar den Kurs der Landeswährung freigab, stürzte der Sucre innerhalb weniger Stunden um mehr als ein Zehntel ab. Im Devisenhandel der Hauptstadt Quito rutschte der Sucre von 7380 je Dollar auf einen Wert von 10000 Währungseinheiten je Dollar. Am Abend des Tages wurde ein „relativ stabiler Wert“ von 8200 Sucres für einen Dollar bekanntgegeben. Das entspricht einer de-facto-Abwertung von 11 Prozent. Erst einen Tag zuvor hatte Jamil Mahuad den Rücktritt des Finanzministers Fidel Jaramillo bekanntgegeben, der für die von Mahuad eingeleiteten Wirtschaftsreformen verantwortlich gemacht wurde.

Mord auf offener Straße

Doch nicht nur die wirtschaftliche Misere heizte in diesen Tagen die Stimmung in der Bevölkerung an. Am 17. Februar wurden in der Nähe des Parlamentsgebäudes in Quito zwei der führenden linken Oppositionspolitiker erschossen. Jaime Hurtado und Pablo Tapia von der Demokratischen Volksbewegung (MPD) waren zu Fuß unterwegs, als ein Unbekannter das Feuer auf sie eröffnete und unerkannt entkommen konnte. Noch am Morgen des Tages hatte der 62jährige Hurtado, dreifacher Familienvater und Vorsitzender der MPD, die Sparmaßnahmen der Regierung öffentlich kritisiert. Im Anschluß an die Tat kam es in der Nähe des Parlamentes zu Unruhen, die von der Polizei äußerst brutal mit Schlagstöcken und Tränengas zerschlagen wurden. Innenminister Vladimiro Alvarez beeilte sich, die Morde zu verurteilen und kündigte „umfassende Untersuchungen“ an. Besonders in der Hauptstadt Quito schlug die Stimmung nach dem Mordanschlag gefährlich um, weshalb verschiedene Menschenrechtsorganisationen eine Woche später zu einem „Marsch für das Leben“ gegen den sich abzeichnenden Gewaltausbruch aufriefen. Die Bevölkerung müsse sich bewußt werden, warnte ein Sprecher der lateinamerikanischen Menschenrechtsvereinigung ALDHU, daß das Land Gefahr laufe, eine ähnliche Eskalation wie in Kolumbien oder Peru zu erleben.
Elsie Monje von der Ökumenischen Menschenrechtskommission CEDHU erklärte: „Sollte es sich bewahrheiten, daß Hurtado und seine zwei Begleiter gezielt ermordet wurden, dann wäre das ein Zeichen für eine beunruhigende Zunahme der Gewalt.“ Wie der im November ermordete Gewerkschaftsführer Saul Cenar habe auch der Parlamentsabgeordnete und vormalige Präsidentschaftskandidat Hurtado sich besonders für die Interessen der Bevölkerung eingesetzt. Mitglieder der MPD äußerten offen Beschuldigungen gegen die christdemokratische Regierung Mahuads. Wenige Tage später wurde ein Kolumbianer festgenommen, der einer kolumbianischen paramilitärischen Vereinigung angehören soll und sich an Hurtado habe rächen wollen, weil dieser die Guerilla im Nachbarstaat unterstützt hatte. Beweisen konnte man dies letztlich jedoch nicht.
Noch während sich die Lage auf den ecuadorianischen Straßen zu beruhigen schien, kam die Hiobsbotschaft. Der Sucre erlitt am dritten März erneut einen empfindlichen Kursverlust. Ein Dollar entsprach nun bereits 16000 Sucres – eine Realabwertung von 55 Prozent. Am ersten März hatte der brasilianische Real bereits deutlich an Wert verloren und mehrere lateinamerikanische Währungen mit sich in den Strudel gezogen. Um eine weitere Flucht aus der Währung zu verhindern wurde die Hälfte der nationalen Dollarguthaben für die Dauer von einem Jahr eingefroren und die Banken kurzerhand für zunächst einige Tage geschlossen, was aber mit Hilfe von neu eingeführten „Bankfeiertagen“ noch ausgeweitet wurde, da sich noch immer keine Stabilisierung der monetären Fluktuationen abzeichnete.

Verhängung des Ausnahmezustands

Angesichts der schweren Finanzkrise und der immer noch aufrechterhaltenen Drohung der Gewerkschaften, den Generalstreik auszurufen, reagierte Präsident Mahuad panisch und verhängte eine Woche später, am zehnten März, den Ausnahmezustand. Für 60 Tage wurde die Versammlungsfreiheit per Dekret eingeschränkt. Streikende wurden aufgefordert, zu ihren Arbeitsplätzen zurückzukehren, bei andauernden Arbeitsniederlegungen wurde der Armee das militärische Interventionsrecht gewährt. Innenminister Alvarez erklärte, die Regierung habe auf „illegale Arbeitsniederlegungen“ reagieren müssen, weil diese eine „schwere destabilisierende Wirkung“ gehabt hätten. Das Militär, so fuhr er fort, habe vor allem die Aufgabe, die Ölfördereinrichtungen und Elektrizitätswerke zu sichern. Die Regierung kündigte an, einen „Plan zur Bewältigung der Krise“ vorzustellen. Kritiker warfen dem Präsidenten verständlicherweise fehlende Sensibilität im Umgang mit den Ängsten in der Bevölkerung vor. Bereits Mitte der ersten Märzwoche war es zu Panikreaktionen in der Bevölkerung gekommen, als ein Regierungsvertreter äußerte, daß ein Zwangsumtausch der vorhandenen Dollarguthaben in die Landeswährung möglich sei.

Der Caipirinha-Effekt wirkt bis in die Anden

Nach Einschätzung des Präsidenten der ecuadorianischen Vereinigung der Privatbanken verlor die Regierung im Augenblick der Bankenschließung die Kontrolle über das Land. Wenn sie nicht grundlegende Probleme anpacke, dann steuere Ecuador auf eine Katastrophe zu. Die Gewerkschaften ließen sich nicht beirren. Sie riefen für den neunten und zehnten März den Generalstreik aus. Der Protest richtete sich nach wie vor gegen die Erhöhung des Treibstoffpreises, der durch die Streichung der staatlichen Subventionen für Öl und Gas verursacht wurde.

Opfer auch in Führungskreisen

Während des zweitägigen Generalstreiks kam es vor allem in den Städten zu massiven Zusammenstößen zwischen DemonstrantInnen und Polizei bzw. Armee. Nach Polizeiangaben wurden an den beiden Tagen insgesamt 324 Personen festgenommen. Geschäfte und Schulen blieben geschlossen. Parallel zu den Protesten erklärten vier der fünf Mitglieder des Direktoriums der Zentralbank von Ecuador aus Protest gegen das Sparpaket ihren Rücktritt. Ungeachtet der Konsequenzen verkündete Mahuad unbeeindruckt in einer Fernseh- und Radioansprache, er werde an den Sparmaßnahmen festhalten und weitete diese sogar noch aus. Die Mehrwertsteuer soll von zehn auf fünfzehn Prozent erhöht, die öffentlichen Ausgaben um mindestens 300 Millionen Dollar gekürzt werden. Gegen Steuerhinterzieher seien drastische Maßnahmen geplant.
Nach Beendigung des Generalstreikes stellten wiederum die Erdölarbeiter aus Protest gegen die angekündigte Privatisierung der staatlichen Erdölunternehmen die Beförderung von 325.000 Barrel Rohöl durch die einzige Pipeline des Landes ein. Die Taxifahrer in Quito schlossen sich an und versperrten in der Hauptstadt aus Protest gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise die Straßen. Obwohl die Polizei gegen eine Straßensperre in der Nähe des Regierungspalastes mit Tränengas vorging, konnte sie die Straße nicht räumen. Zum ersten Mal trafen sich Regierungsvertreter mit Sprechern der DemonstrantInnen. Innenminister Alvarez sagte, die Regierung sei gesprächsbereit, lasse sich aber nicht erpressen. Und doch lenkte sie wenige Tage später ein. Am 18. März hob Mahuad nicht nur den Ausnahmezustand, sondern auch die Erhöhung der Treibstoffpreise auf. Amtlichen Angaben zufolge hatte er sich kurz zuvor mit dem Kongreß darauf verständigt, „zur Bewältigung der derzeitigen Finanzkrise“ die Steuereinnahmen um 520 Millionen Dollar zu erhöhen. Mit 59 Für- und 41 Gegenstimmen bei fünf Enthaltungen verabschiedete der Kongreß den Maßnahmenkatalog, der darüber hinaus Zoll- und Mehrwertsteuerbefreiungen aufhebt, eine Steuer auf Luxusautos einführt, den Erdölpreis um zwei Dollar pro Barrel erhöht und zugleich Steuern auf Wechselkursgewinne und Kapitalerträge vorsieht. Zugleich wurden den Lehrern die zuvor gestrichenen Gehaltserhöhungen zugesagt.

Der Präsident appelliert an die Bevölkerung

Für das Paket stimmte neben der Regierungspartei auch ein breites Mitte-Links-Bündnis. Mahuad äußerte sich „sehr zufrieden“ über die Beilegung des Konflikts. Er rechtfertigte sein ursprüngliches Sparprogramm und wies jegliche Schuldzuweisungen von sich. Er sei „gezwungen worden, die Preise für Benzin zu erhöhen, nicht, weil ich den Menschen Probleme verursachen wollte , sondern weil Ecuadors Krise so groß ist, daß wir Einnahmen brauchen, um unseren Schuldendienst zu leisten“. „Hiermit rufe ich das Land auf, zu Frieden und Normalität zurückzukehren“, sagte er in einer erneuten Ansprache an die Bevölkerung. Mit dem neuen Reformpaket wurden die „schwersten Proteste des Landes seit mehreren Jahrzehnten“ zwar vorerst beendet, nicht aber die Krise. Kaum waren die Menschen wieder zur „Normalität“ zurückgekehrt, trat der Handelskammerpräsident Javier Espinoza bereits mit der Forderung an die Öffentlichkeit, man müsse die Privatisierungen nun vorantreiben, um die Wirtschaft zu modernisieren.
Nach letzten Meldungen wird Ecuador von einem neuen Bankenkrach erschüttert. Mit der Banco de Progreso hat am 23. März innerhalb von nur vier Monaten nun das achte Geldinstitut seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Der Konkurs dieses wie auch der anderen sieben Kreditinstitute konnte nur durch eine Übernahme aller Schulden durch einen staatlichen Einlagensicherungsfonds (AGD) abgewendet werden. Der Präsident der Banco de Progreso beschuldigte die Regierung zuvor, die Bank durch den Abzug staatlicher Einlagen „absichtlich in den Ruin getrieben“ zu haben.

Die Regionalisierung des Konflikts

Die Töne aus dem Norden werden deutlicher: Mitte März bezeichnete die US-amerikanische Heritage Foundation die Gespräche Pastranas mit der Guerilla als „Kapitulation“ und forderte ein Ende des Dialogs. Die us-amerikanische Rechte will eine militärische Lösung des Konflikts.
Doch auch wenn die Signale klarer werden, kommen sie nicht überraschend. Unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung unternehmen die USA schon seit Ende der achtziger Jahre enorme Anstrengungen, um ein Vorrücken der kolumbianischen Opposition (was sich ausdrücklich nicht auf die Guerilla beschränkt) in Kolumbien zu verhindern. Im 1988 zum Amtsantritt der Regierung Bush veröffentlichten Santa Fe II-Dokument wurde Kolumbien als „das El Salvador der neunziger Jahre“ bezeichnet, und tatsächlich ist das südamerikanische Land mit dem stabilsten Wirtschaftswachstum auf dem Subkontinent zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe in der Welt aufgestiegen. Die USA unterhalten in Kolumbien mehrere Dutzend Militärstützpunkte, eine unbekannte Anzahl Militärberater und Geheimdienstagenten sowie umfangreiche Kommunikationsstrukturen. Seit Mitte 1996 wird die US-Präsenz weiter ausgebaut.
Der Hintergrund für die US-Bemühungen sind die Erfolge der Guerillaorganisation FARC, die 1996 im dünn besiedelten Süden Kolumbiens vom Guerilla- zum Bewegungskrieg überging und große Militäreinheiten anzugreifen begann. Mindestens ein halbes Dutzend schwerer Niederlagen hat die Guerilla der Armee auf diese Weise in den vergangenen zwei Jahren zugefügt, mehr als 300 Polizisten und Soldaten befinden sich in den Händen der Aufständischen. Eine wahrscheinlich bewußt übertreibende Studie aus dem US-Verteidigungsministerium sagte letztes Jahr sogar einen möglichen Sieg der Guerilla innerhalb der nächsten fünf Jahre voraus, wenn das US-Engagement nicht verstärkt werde.

The empire strikes back

Kein Wunder also, daß zuletzt hochrangige Funktionäre aller US-Sicherheitsdienste in Kolumbien gewesen sind. Verteidigungsminister William Cohen, der Boß der Drogenbekämpfungsagentur DEA Thomas Constantine, FBI-Direktor Louis Freeh, der selbsternannte Anti-Drogen-Zar Barry McCaffrey, mehrere CIA-Delegationen sowie der Chef des Kommandos Süd der US-Armee, Charles E. Wilhelm, haben sich in Bogotá die Klinke in die Hand gegeben. Im Dezember 1998 – just als Außenministerin Madeleine Albright die Verfehlungen in der US-amerikanischen Chile-Politik der siebziger Jahre eingestand – unterzeichnete ihr Amtskollege, Verteidigungsminister Cohen, ein weitreichendes Militärabkommen. So wird die kolumbianische Armee 1999 nicht nur 400 Millionen US-Dollar Militärhilfe erhalten, sondern auch tatkräftig mit Hochtechnologie ausgerüstet und in Geheimdienstpraktiken ausgebildet werden. Mehr als 300 US-Berater werden im Verlauf des Jahres zusätzlich nach Kolumbien kommen und den Krieg zum Teil direkt mitdirigieren. Schon jetzt überwachen US-Spionageflugzeuge und -satelliten Bodenbewegungen in den Guerillagebieten und lassen ihre Erkenntnisse der Armeespitze in Bogotá zukommen (siehe LN 296). Neu kommt außerdem dazu, daß ein aus Berufssoldaten zusammengesetztes Elitebataillon der kolumbianischen Armee, das sogenannte Batallón Anti-Narcótico, unmittelbar einem US-Militärberater unterstehen wird.
Mit dem verstärkten Engagement der USA ist vor allem die Medienpolitik der Regierung spürbar professioneller geworden. Militärische Kampagnen werden nun von großen politischen Kundgebungen begleitet, wie zuletzt in der nordkolumbianischen Stadt Santa Rosa. Die Stadt am Fuß der Serranía de San Lucas, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen konzentriert sind, steht seit Mitte letzten Jahres unter massivem Druck von Paramilitärs und Armee. Nachdem ein Teil der Bevölkerung mit Massakern und Drohungen aus der Region vertrieben wurde, organisierte die Pastrana-Regierung eine Demonstration gegen die Demilitarisierung der Region. Die Guerillaorganisation ELN hatte dies als Sicherheitsgarantie für die geplanten Gespräche zwischen Gesellschaft und ELN gefordert. Nach der Ablehnung der Regierung mußte der Beginn der schon organisierten Gespräche auf unbefristete Zeit verschoben werden. Offensichtlich setzt man in der kolumbianischen Regierung immer mehr darauf, die Öffentlichkeit politisch für den Krieg zu mobilisieren.

Die Grenzen werden militarisiert…

Vieles deutet darauf hin, daß auf das gesamte im Kalten Krieg entwickelte Repertoire des low intensity warfare (Kriegführung geringer Intensität) zurückgegriffen werden soll. Der „Krieg geringer Intensität“ ist keine Erfindung der Linken, sondern ein offizieller Begriff der internationalen Sicherheitspolitik. Im erst vor kurzem gegründeten bilateralen Verteidigungsausschuß USA-Kolumbien wird die nordamerikanische Großmacht beispielsweise durch einen – so die hochoffizielle Bezeichnung – „Staatssekretär des State Department für Low-Intensity-Konflikte“ vertreten.
Die Mobilmachung gegen die kolumbianische Aufstandsbewegung erfaßt inzwischen die ganze Region. Nach Angaben der liberalen Bogotaner Tageszeitung El Espectador hält das US-Verteidigungsministerium Kolumbien für den „größten Instabilitätsfaktor Lateinamerikas“ und verlangt ein konzertiertes Vorgehen. Besonders die engsten Verbündeten Washingtons in der Region sind aktiv geworden. Bereits letztes Jahr rief der argentinische Präsident Carlos Menem zur Bildung einer multinationalen Eingreiftruppe für Kolumbien auf – offiziell natürlich zur effizienteren Drogenbekämpfung. Seit dem interamerikanischen Militärgipfel im Dezember 1998 im kolumbianischen Cartagena machen nun auch die direkten Nachbarstaaten an ihren Grenzen mobil. Der peruanische Präsident Fujimori – wahrscheinlich der treueste Statthalter der USA in der Region – erklärte unmittelbar nach einer Dienstreise nach Washington, daß seine Regierung alle kolumbianischen Guerilleros, die peruanisches Territorium betreten, verfolgen und mit lebenslanger Haft bestrafen werde. Kurz darauf verlegte Fujimori 5.000 Soldaten an die Grenze im Amazonasgebiet. Die Tageszeitung El Espectador wies weiterhin darauf hin, daß Washington im vergangenen Jahr die Regierungen von Ecuador und Peru unter anderem deswegen zur Beilegung des Grenzkonflikts bewegt habe, um Truppen für die Kontrolle der kolumbianischen Grenzen freizusetzen. Und auch in Brasilien, Panama und Ecuador habe die Clinton-Administration Druck ausgeübt, damit die betreffenden Armeen die Versorgungswege der Guerilla unterbreche.

…und der Paramilitarismus erreicht die Nachbarstaaten

Die Internationalisierung des Konflikts beginnt allmählich auch die innenpolitische Situation in den Nachbarstaaten grundlegend zu verändern. So ermordete ein kolumbianisches Kommando im Februar den linken ecuadorianischen Abgeordneten Jaime Hurtado (siehe LN 297). Der Anwalt und wichtigste schwarze Politiker seines Landes war zweimal Präsidentschaftskandidat der Volksdemokratischen Bewegung MPD gewesen und gehörte zu den Unterstützern der kolumbianischen Opposition.
Offiziell wurde die Verantwortung für die Aktion zwar dem kolumbianischen Paramilitär-Chef Carlos Castaño zugeschoben, doch ist kaum davon auszugehen, daß die Todesschwadrone eine derartige Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarländer ohne Zustimmung der Armeespitze getroffen haben. Gegen Castaño existiert in Kolumbien zwar ein Haftbefehl, aber er unterhält dennoch beste Verbindungen zum Generalstab und stimmt in allen Krisenregionen sein Vorgehen mit der Armee ab.
Daß der Mord an Hurtado abgesprochen war, wäre nicht weiter verwunderlich. Immerhin nutzt der Tod des linken Abgeordneten den Regierenden in Quito, Bogotá und Washington gleichermaßen: Die ecuadorianische Regierung hat einen unangenehmen Kritiker weniger, die ausländische Solidaritätsbewegung mit der kolumbianischen Linken wird weiter eingeschüchtert, und Washington hat ein weiteres gewichtiges Argument zur Militarisierung der Grenzen. In der Presse argumentierte man, die kolumbianische Armee habe die Extremisten von Rechts und Links nicht mehr unter Kontrolle, weswegen der Einsatz ecuadorianischer Truppen immer dringlicher werde.
Das einzige Land, das sich dieser Strategie im Augenblick grundsätzlich widersetzt, ist Venezuela. Der Ende 1998 ins Amt gewählte Offizier Hugo Chávez hat den Plänen des Pentagons eine klare Absage erteilt und den kolumbianischen RebellInnen sogar die Möglichkeit des politischen Asyls zugesichert, wenn sie unbewaffnet in venezolanisches Territorium gelangen. So halten sich mit Zustimmung Chávez’ seit einigen Wochen denn auch hochrangige Delegationen von ELN und FARC in Venezuela auf. Die Anerkennung der Guerillas geht so weit, daß ELN-Kommandant Antonio García, der im Februar und März in Maracaibo Gespräche mit kolumbianischen und venezolanischen PolitikerInnen führte, von einer Leibwächtergruppe begleitet wurde, die gleichermaßen aus ELN-Guerilleros und venezolanischen Polizisten zusammengesetzt war.
Noch ist die Pastrana-Administration zwar um einen freundschaftlichen Ton gegenüber dem hochpopulären Chávez bemüht, doch hinter den Kulissen wird der Ton schärfer. Völlig unvermittelt sagte die kolumbianische Regierung Anfäng März wegen der venezolanischen Kontakte zu FARC und ELN ein Treffen zwischen den Präsidenten beider Länder wieder ab. Wenig später kündigte der Paramilitärchef Carlos Castaño an, daß die Todesschwadrone ihren Aktionsradius auf Venezuela ausweiten werden. Regierungsmitglieder in Caracas erwiderten darauf, daß sie die Paramilitärs bedingungslos verfolgen würden, sobald sie die Grenze überschritten, und der Friedensberater Hugo Chávez’, Ex-General Alberto Muller Rojas, ging sogar noch weiter, als er Mitte März erklärte, die Paramilitärs seien Teil der kolumbianischen Staatsmacht.
Viele BeobachterInnen fürchten nun sogar, daß Chávez sein Engagement im kolumbianischen Konflikt den Kopf kosten könnte. Anfang März hieß es in der venezolanischen Presse, daß es einen Komplott gegen die neue Regierung gebe. Chávez könne ein ähnliches Schicksal widerfahren wie dem panamenischen Staatspräsidenten Omar Torrijos, der in den siebziger Jahren die SandinistInnen in Nicaragua unterstützte. Torrijos, der auch politisch einiges mit Chávez gemein hat, kam 1981 unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Hinter dem Anschlag steckte damals der in den USA ausgebildete Offizier und zeitweilige CIA-Agent Noriega, der wegen seiner Drogengeschäfte zehn Jahre später schließlich selbst zum Opfer einer US-Militärintervention werden sollte.

Ein Desaster für die FARC

Paradoxerweise ist der schwerwiegendste Vorfall im kolumbianisch-venezolanischen Grenzgebiet jedoch von der Guerilla selbst zu verantworten. Anfang März wurden die drei nordamerikanischen Indígenas Terence Freitas, Ingrid Wahinawatok und Larry Gay Lahe’ena’e auf der venezolanischen Seite des Arauca-Flusses tot aufgefunden. Als die Morde bekannt wurden, deutete zunächst alles in Richtung rechter Todesschwadrone. Selbst die Tageszeitung Washington Post zweifelte die offizielle Version des State Department an, wonach die Guerilla die drei native americans ermordet habe. Immerhin waren Freitas, Wahinawatok und Lahe’ena’e nach Kolumbien gereist, um die U’wa-Indigenas in ihrem Kampf gegen den Erdölmulti OXY zu unterstützen, der auf dem Territorium der U’was nach Öl bohren will.
Doch obwohl es keinen vernünftigen Grund für eine Täterschaft der Guerilla gab, stellten sich die von den Medien präsentierten Anschuldigungen gegen die FARC schließlich als wahr heraus. Nach einer Woche Recherche trat FARC-Sprecher Raúl Reyes sichtlich schockiert vor die Presse und gestand die Verantwortung seiner Organisation für die Morde ein. Ein Kommandant der 10. FARC-Front mit dem Decknamen „Gildardo“ habe die drei US-Amerikaner im Gebiet der U’was als „unbekannte Ausländer“ festgenommen und ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten erschossen. Reyes, der gleichzeitig Verhandlungsführer der FARC bei den Gesprächen mit der Regierung ist, beeilte sich klarzustellen, daß das Vorgehen nicht der Politik seiner Organisation entspreche und kündigte die Bestrafung der Verantwortlichen an. Trotzdem wird der angerichtete Schaden kaum gutzumachen sein.
Die drei Morde bedeuten für die Guerilla ein politisches Desaster. Erst im Januar hatten die FARC die Gespräche mit der Regierung Pastrana wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen für drei Monate eingefroren und ein gut recherchiertes Papier über die Hintermänner des schmutzigen Kriegs vorgelegt. Doch nach den letzten Ereignissen wird von den systematischen Kriegsverbrechen der Armee und der zivilen Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik kaum noch die Rede sein. Die internationale Debatte wird sich auf den Tod der NordamerikanerInnen konzentrieren.
Dabei wäre internationale Öffentlichkeit im Augenblick so nötig wie nie. Praktisch kein Landesteil ist mehr vor paramilitärischen Überfällen sicher. 25 Prozent der ländlichen Bevölkerung befinden sich auf der Flucht, ganze Stadtteile sind in den letzten Monaten zu paramilitärischen Angriffszielen erklärt worden, und selbst die bescheidenste Menschenrechtsarbeit ist unmöglich geworden. Neben der kirchlichen Untersuchungskommission Justicia y Paz haben nun auch die Solidaritätskomitees mit den politischen Gefangenen CSPP sowie diverse Medelliner Büros des Gewerkschaftsdachverbandes CUT ihre Büros wegen Drohungen von Armee und Paramilitärs schließen müssen.
Das Problem ist dabei nicht nur, daß die Täter mit Straffreiheit rechnen können, sondern auch, daß von der kolumbianischen Rechten zunehmend Menschenrechtsorganisationen gegründet werden (wie z.B. die vom Santos-Clan kontrollierte Anti-Entführungsgruppe Pais Libre), die sich als neutrale Nichtregierungsorganisationen präsentieren und den Staat als Opfer von Rechts und Links darzustellen versuchen. So existiert anders als bei den zentralamerikanischen Bürgerkriegen der achtziger Jahre praktisch keine kritische Öffentlichkeit mehr, die den Terror gegen die Land- und Slumbevölkerung öffentlich machen würde.

Eine politische Lösung rückt in weite Ferne

Vor diesem Hintergrund wird eine politische Lösung des Konflikts immer unwahrscheinlicher. Einiges spricht sogar dafür, daß es Präsident Pastrana mit seinen Gesprächsbemühungen in den letzten Monaten vor allem um einen Zeitgewinn ging. Nach den militärischen Erfolgen der Guerilla galt der Zustand der Armee als desolat. Interessanterweise hat Pastrana von den fünf Zusagen, die er im August vergangenen Jahres bei seinem Gipfeltreffen mit Guerilla-Kommandant Marulanda machte, nur eine einzige wirklich eingelöst. Zwar wurde ein 40.000 Quadratkilometer großes Gebiet um San Vicente de Caguán geräumt, aber sonst bleibt alles beim alten: Der Paramilitarismus wächst, die legale Opposition wird weiter kriminalisiert, Streiks werden brutal niedergeschlagen.
Gegenüber der unauffälligeren, aber kaum kleineren ELN setzt Pastrana inzwischen offen auf eine militärische Lösung. Fast täglich sind in den kolumbianischen Tageszeitungen Artikel über die Krise der guevaristisch-basischristlichen Guerillaorganisation zu lesen. Offensichtlich soll der Eindruck eines nahen Sieges vermittelt werden, damit keine weiteren Zugeständnisse mehr gemacht werden müssen.
Antonio García, militärischer Kommandant der ELN, erklärte daraufhin im venezolanischen Maracaibo, daß man die geplanten Gespräche mit der Gesellschaft nun ohne Beteiligung der Regierung im Ausland organisieren werde.
Doch auch auf diesem Feld bemüht sich Präsident Pastrana geschickt, den Spielraum der Aufständischen einzuengen. Seit seinem Amtsantritt ist der Konservative darum bemüht, die Beziehungen zu den EU-Staaten zu verbessern, die sich zuletzt als Fürsprecher von Verhandlungen hervorgetan und der Guerilla gewisse Spielräume eingeräumt hatten.

Brasilien nach dem Währungscrash

Die abrupte Abwertung einer Währung hat einige voraussehbare und an vielen Beispielen dokumentierte Konsequenzen. Die Verteuerung der Importe und die damit verbundene Reduktion der Importkapazität hat prompte und drastisch rezessive Auswirkungen. Diese werden durch die mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vereinbarten Sparmaßnahmen verschärft. Das Regierungsinstitut IPEA erwartet für 1999 einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um etwa 4 Prozent. Der zweite Effekt ist ein Ansteigen der Inflation, hier liegen die Erwartungen bei etwa 15 Prozent.

Bezahlt wird jetzt!

Das alles sind erstmal abstrakte Zahlen, die sich aber schon im alltäglichen Leben auszuwirken beginnen. Die BrasilianerInnen machen nun einen Schnellkurs in Sachen globalisierter Ökonomie mit. Als erstes stiegen die Preise für Brötchen, deren Stabilität bei 10-12 Centavos ein Symbol des Plano Real war. Wieso – die kommen doch nicht aus den USA, sondern die produziert der Bäcker an der Ecke? Ja, aber, so erfahren die KosumentInnen, der Weizen wird zu fast 80 Prozent aus Argentinien importiert, dessen Peso bekanntlich an den US-Dollar gekoppelt ist. Also, 20 Prozent mehr für die Brötchen. Nun schmecken die pappigen Dinger entschieden besser mit Kaffee, aber auch der ist plötzlich um über 20 Prozent teurer geworden. Hier weiß nun der gewitzte Konsument, daß der aber garantiert nicht importiert ist, sondern auf brasilianischen Sträuchern wächst. Trotzdem Pech gehabt, denn der brasilianische Kaffee wird eifrig exportiert. Da nun der Exporteur auf dem Weltmarkt Dollar kassiert, die mehr Real entsprechen als vor der Abwertung, verlangt er auch auf dem Binnenmarkt höhere Preise in Real.
Nach dem Frühstücksschock setzt auch zum Mittagessen keine Beruhigung ein. Die Preise fürs beliebte Hähnchen haben angezogen. Nein, keine fiese Spekulation, wir erfahren, daß Brasilien in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Hühnerexporteur aufgestiegen ist, Hauptabnehmer sind die arabischen Staaten. Da die leidgeplagten brasilianischen KonsumentInnen in unmittelbarer Abnehmerkonkurrenz zum Ölscheich stehen, müssen sie auch für den Flattermann ein paar Centavos mehr hinlegen. Und weil dem Scheich nun andererseits mehr Real für sein Öl zu zahlen sind, werden die Benzinpreise gleich gründlich erhöht – und dann gibt es kein Halten mehr, weil die Energiepreise sich ja bekanntlich überall niederschlagen…

Alles wird teurer

So also fühlen sich die BrasilianerInnen beim Gang in den Supermarkt an alte und keineswegs gute Zeiten erinnert. Die Preise erhöhen sich unaufhaltsam und der Effekt ist bereits meßbar: Die Inflationsrate stieg im Februar auf über 3 Prozent, im Monat versteht sich. Nun kommen in solcher Lage die unverbesserlichen politischen Neandertaler (Gewerkschaften) auf die absurde Idee, eine Lohnanpassung entsprechend der Inflationsrate zu fordern. Diese Hohlköpfe haben nun wirklich nichts von Marktwirtschaft und modernen Zeiten verstanden. Jetzt Inflationsausgleich – das bedeute ja Indexierung (automatische Lohnanpassung), und das heißt, daß die Inflationsspirale in Gang gesetzt und nicht mehr aufzuhalten sein wird. Auch der Einwand, daß doch zum Beispiel alle Mietverträge nach wie vor eine jährliche automatische Anpassung an die Inflationsrate vorsehen, zieht nicht. Hier werde schließlich Rechtssicherheit und Berechenbarkeit für Vertragsparteien geschaffen.

Konsumverzicht für das Volk

Nun, die alten Römer hatten solche Logik auf eine einfache Formel gebracht: Quod licet Iovi non licet bovi – Was für Iuppiter erlaubt ist, gehört sich noch lange nicht für jedes Rindvieh. Das Volk soll also erstmal Lohnverzicht üben, denn bei der breiten Masse bringt’s immer am meisten. Im Mai steht allerdings die jährliche Anpassung des Mindestlohnes an. Der beträgt 130 Reais (ein Real entspricht zur Zeit ziemlich genau einer Mark). Entsprechend den Vorstellungen der Regierung soll er lediglich um die Inflation der vergangenen 12 Monate angepasst werden, um etwa 7 Prozent. Da die sprunghaft ansteigende Inflation von 1999 sich in diesem Anpassungszeitraum nur schwach widerspiegelt, wird dies ganz einfach Kaufkraftverlust in den nächsten Monaten bedeuten – sprich die Armen werden wieder einmal ärmer.
Sie sollen also die Rechnung bezahlen für eine unverantwortliche Wirtschaftspolitik, deren Scherbenhaufen nun besichtigt werden kann. Die jahrelang durchgehaltene Kombination von Hochzinspolitik und Überbewertung des Reals haben ein wirtschaftspolitisches Desaster erzeugt. In vier Jahren hat sich die interne Verschuldung etwa verfünffacht. Brasilien, das bis 1994 immer große Außenhandelsüberschüsse zu verzeichnen hatte, importiert inzwischen mehr als es exportiert und wies 1998 ein Außenhandelsbilanzdefizit von 35 Milliarden US-Dollar auf. Dieses Defizit wurde in kürzester Zeit unfinanzierbar, als nach der Rußlandkrise im August vergangenen Jahres eine abrupte Kapitalflucht einsetzte, mithin die zur Defizitdeckung erforderlichen Kapitalimporte ausblieben.
Drastische Haushaltskürzungen, die die ohnehin nur zögerlich in Angriff genommene Agrarreform besonders hart treffen, Abwertung und Rezession sind nun einerseits die Folge der gescheiterten Wirtschaftspolitik, andererseits sollen sie aber auch zugleich das Heilmittel sein – die berühmte bittere Medizin. Die Handelsbilanz wird sich verbessern, die Exporte werden durch den billigen Real wieder wettbewerbsfähiger und die Zahlungsbilanz wird weniger durch kaufwütige BrasilianerInnen in Miami belastet. Diese Erleichterungen werden allerdings zum großen Teil in den Schuldendienst fließen, der durch die Abwertung natürlich teurer wird. Die Kombination von Abwertung und Rezession wird jedenfalls dazu dienen, die Inflation unter Kontrolle zu halten und die Ungleichgewichte der ersten Phase des Plano Reals zu korrigieren – jetzt aber mit extrem hohen sozialen Kosten.
Während die Regierung also alles tut, um das internationale Kapital, das ja bekanntlich ein scheues Reh ist, bei der Stange zu halten, wird die eigene Bevölkerung, die nicht so beweglich ist wie das Finanzkapital, zur Kasse gebeten. Präsident Cardoso hat bei Ausbruch der Krise nicht gezögert, sich in die Hände des IWF zu begeben. Die neue Stabilisierungspolitik ist bis aufs Detail mit dem IWF ausgehandelt. Für viele BrasilianerInnen war es äußerst befremdlich zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Weltbankdirektor Stanley Fisher die neue brasilianische Wirtschaftspolitik auf einer Pressekonferenz vorstellte und Wirtschaftsminister Malan wie einen Vasallen aussehen ließ, der auch noch die ganze Zeit nur englisch sprach. Der Schriftsteller João Ubaldo Ribeiro kommentierte die Szene mit harschen Worten: „Habt ihr Minister Malan und den Chef der Besatzungstruppen im Fernsehen gesehen? In dem Augenblick, ich gebe zu, es ist eine gewisse Übertreibung, habe ich mich an den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck eines Franzosen erinnert, angesichts des Aufmarsches der deutschen Truppen unter dem Triumphbogen. Sie brauchen sich schon gar nicht mehr zu verstellen, die Auslieferung ist total.“ (A Tarde, 142.1999).
Der zweite Akt von großer Symbolik war die Ernennung von Armínio Fraga zum neuen Zentralbankchef. Fraga wechselte vom Megaspekulanten Soros zur Zentralbank, alles im Namen des Vertrauens der Finanzmärkte.

Zwei verlorene Jahrzehnte?

„Ich bin überzeugt, daß die Bevölkerung weiß, daß Brasilien 1998 besser ist als das Brasilien von 1994, sie weiß, das im heutigen Brasilien die Armen nicht mehr die Rechnung für ökonomische Irrtümer zahlen.“ Dies sind Worte von Fernando Henrique Cardoso, gesprochen im Juli 1998. Nur wenige Monate und eine Wahl später, dementieren die Zahlen den präsidentialen Optimismus.
Nach Berechnungen von Gilberto Dupas (Folha de São Paulo vom 12.3. 1999) gab es im berühmten „verlorenen Jahrzehnt“, den achtziger Jahren, einen unbedeutenden Anstieg des Bruttosozialprodukts (BSP) pro Kopf von 5 151 auf 5 347 Reais (1989), eine Steigerung von 0,3 Prozent pro Jahr. Falls das BSP 1999 nur um 3 Prozent sinken sollte (eine optimistische Annahme!) würde das pro Kopf 5 296 Reais bedeuten, ein Wert also, der unter dem von 1989 liegt und nur ganz knapp über dem von 1980: In zwanzig Jahren eine Steigerung um 2,8 Prozent.
In der offiziellen Regierungspropaganda ist der Plano Real als die größte Umverteilung von oben nach unten in der Geschichte Brasiliens angepriesen worden. Tatsächlich ist unumstritten, daß das drastische Sinken der Inflationsrate 94/95 und die Anhebung des Mindestlohnes 1995 (von 70 auf 100 Real) einen deutlichen Kaufkraftgewinn, gerade für die ärmsten Teile der Bevölkerung, gebracht hat. 1992 galten 42 Prozent der Erwerbstätigen als arm, diese Zahl sank bis 1996 auf 31,3 Prozent. Nach Berechnungen von Marcio Pochman (Unicamp) wird die Zahl bis Ende 1999 wieder auf 43,8 Prozent ansteigen, wenn das BSP um 3,5 Prozent sinkt (nach Folha de São Paulo vom 28.2.1999).
Auch die soziale Ungleichheit wird wieder auf das Niveau der Zeiten vor dem Real ansteigen. Die Auswirkungen des Plano Real auf die Einkommensverteilung war ohnehin gering. Nach den letzten verfügbaren Daten des Weltentwicklungsberichts der Weltbank (1998/99) lag Brasilien auch 1995 mit einem Gini-Koeffizienten (Maßstab für die Einkommensverteilung) von 60,1 in der absoluten Spitzenklasse. Nach Sierra Leone bedeutet dies die höchste Einkommenskonzentration der Welt!
Fünf Jahre Stabilisierungspolitik haben also, primär als Folge der Inflationseindämmung, zwar zunächst einen gewissen Kaufkraftschub gebracht, sie haben aber weder nennenswertes wirtschaftliches Wachstum produziert noch einen nachhaltigen Beitrag zur Veränderung der Sozialstruktur Brasiliens geleistet – das allerdings mit hohen sozialen Kosten für einen Teil der Bevölkerung: Die offizielle Arbeitslosenquote erreichte 1999 eine Quote von 7,73 Prozent, die höchste seit 1983, dem Beginn der Statistik. Die vom IBGE ermittelten Zahlen dürften dabei kaum die reale Situation widerspiegeln, sind aber als Vergleich wichtig. IBGE schließt jeden aus seiner Statistik aus, der auch nur der geringfügsten Beschäftigung nachgegangen ist. Das Gewerkschaftsinstitut DIESSE zusammen mit SEADE, einer Art statistischem Landesamt, kommen mit einer realistischeren Methode zu ganz anderen Zahlen: danach liegt die Arbeitslosenquote in São Paulo bei 17,8 Prozent, im Großraum São Paulo, dem traditionellen Industriegürtel, gar bei 20 Prozent.
Diese Zahlen sind auch ein Hinweis dafür, warum es den Gewerkschaften und linken Parteien so schwer fällt, eine soziale Mobilisierung gegen die Regierungspolitik zu Stande zu bringen. Und anders als in Ecuador ist das Finanzsystem nicht zusammengebrochen. Der Regierung gelingt es immer noch, einen großen Teil der Bevölkerung, ihre Politik als einzig mögliche, als Vollzug der ehernen Notwendigkeiten der Marktgesetze zu verkaufen. Auch wenn die diffuse Unzufriedenheit wächst und die Popularität des Präsidenten in den Umfragen drastisch sinkt, ist es der Opposition bisher nicht gelungen, gegen den „ökonomischen Terror“ mobil zu machen.

ELN: „Keine Gespräche mehr mit Pastrana“

Der Friedensbeauftragte von Präsident Pastrana, Victor Ricardo, und die Nummer 2 der ELN, Antonio García, hatten sich im Februar in Venezuela getroffen, um Sicherheitsgarantien für die geplante Nationalkonvention zu vereinbaren. Auch ein direktes Gespräch zwischen Präsident Pastrana und dem ELN-Chef Nicolas Bautista sollte ausgemacht werden. Doch bei den Gesprächen platzten alle Pläne. Die Regierung wies die Forderung der Guerillaorganisation nach Räumung der vier Gemeinden Morales, Simití, Santa Rosa und San Pablo im Süden der Provinz Bolívar kategorisch zurück. Die ELN bekräftigte hingegen, daß sie die Sicherheit der Konvention, die eigentlich schon am 15. Februar hatte beginnen sollen, nur in einem von der Armee geräumten Gebiet garantieren könne.
Die Durchführung der Nationalkonvention, an der 400 Delegierte verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen teilnehmen sollen, war im vergangenen Juli zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und dem ELN in Mainz vereinbart worden. Ein demokratisches Forum sollte entstehen, das vor allem den Unterschichten ein Sprachrohr bieten könnte. Der Haken an dem Projekt ist jedoch, daß Bauernverbände, Basisorganisationen und Gewerkschaften in Kolumbien von den Todesschwadronen so massiv unter Druck gesetzt werden, daß sich kaum jemand traut, öffentlich Stellung zu beziehen. Nur wenn paramilitärische Angriffe wirklich ausgeschlossen sind, könnte eine derartige Konvention funktionieren. Das ist der Grund, warum der Sicherheitsfrage eine so große Bedeutung zukommt.

Die „Santa Ana“-Methode

Die Regierung Pastrana, die schon für die Übergabe von Gebieten im Süden des Landes an die revolutionären FARC massive Schelte aus den USA bezogen hatte, wollte sich auf eine neuerliche Räumung nicht einlassen. Stattdessen schlug sie die sogenannte „Santa Ana“-Methode vor, die vor zwei Jahren bei der Übergabe von entführten OAS-Mitarbeitern angewandt worden war. Danach soll die Armee in der Nähe des Konferenzortes bleiben und nur für die Dauer des Treffens ihre Operationen einstellen. Armeekommandant Tapias Stahelin bekräftigte, daß seine Truppen die Konvention zu schützen bereit seien.
Zahlreiche potentielle Konventionsteilnehmer dürften allerdings genau das befürchten. Erst im vergangenen September hatte Präsident Pastrana 10.000 protestierenden Bauern aus der Provinz Bolívar ganz ähnliche Zusagen gemacht. Kaum war ein Abkommen unterzeichnet, verstärkte die Armee ihre Präsenz in der betroffenen Region und massakrierte in Kooperation mit Paramilitärs mindestens 100 Bauern. In San Pablo, das als Konventionsort im Gespräch war, erschossen Uniformierte Anfang des Jahres unter den Augen der Soldaten 14 Jugendliche in einem Billardsalon.
Ähnlich sind die Erfahrungen auch in San Carlos im Departement Antioquia, wo im Oktober ein Vortreffen für die Nationalkonvention stattfand. Wenige Tage nach dem feierlichen Akt besetzten Paramilitärs ebenfalls mit Rückendeckung der örtlichen Armeeeinheit die Stadt und töteten 50 Personen. Und schließlich kam es sogar bei der zitierten Übergabe in Santa Ana 1997 zu einem schweren Zwischenfall. Ein Armee-Hubschrauber simulierte damals einen Angriff und löste fast eine bewaffnete Konfrontation aus. „Die Santa Ana-Methode ist für die Konvention keine brauchbare Lösung“, sagte ein deutlich verstimmter Antonio García nach den Gesprächen in Venezuela.
Den Meinungsverschiedenheiten vorausgegangen waren Militäroperationen gegen das ELN in den Departements Bolívar und Antioquia und Medienberichte über eine Schwächung der Guerilla. Die konzertierte Aktion von Paramilitärs und Armee habe den ELN wenigstens teilweise aus einer ihrer Hochburgen, der Serranía San Lucas, vertrieben, hieß es. Offensichtlich war die Regierung Pastrana nach den Zeitungsartikeln davon überzeugt, der Organisation weniger Zugeständnisse machen zu müssen als den FARC, deren militärische Macht so groß wie noch nie scheint.

Wenig Bereitschaft zu Kompromissen

Nach dem Abbruch der Gespräche wurden beide Seiten wegen ihres Verhaltens öffentlich kritisiert. Generalstaatsanwalt Bernal, der in Mainz Sprecher der Vorbereitungsgruppe war, wies darauf hin, daß eine Räumung von Gebieten nicht vereinbart worden sei und deshalb nun vom ELN nicht als Vorbedingung genannt werden könne. Demgegenüber erklärte eine Gruppe Abgeordneter aus der Provinz Santander ebenso wie der vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez benannte Vermittler Muller, daß die kolumbianische Regierung mehr Kompromißbereitschaft hätte zeigen müssen. Es sei nicht begreiflich warum man dem ELN etwas verweigere, was man den FARC zugestehe.
Allem Anschein nach wird die geplante Konvention nun im Ausland stattfinden müssen. Im Gespräch dafür sind Schweden, Norwegen, Spanien, Deutschland, Puerto Rico und Venezuela. ELN-Chef Nicolas Bautista stellte jedoch klar, daß die Regierung zu dieser Konvention nicht eingeladen sein werde. Ungeklärt ist auch, wie die Teilnahme von Basisorganisationen gewährleistet werden kann.
Auch der Friedensprozeß mit den FARC steckt in einer schweren Krise. Die Anfang Januar in San Vicente de Caguán aufgenommenen Gespräche sind bis April auf Eis gelegt. Die FARC verlangten beim letzten Zusammentreffen mit Victor Ricardo von der Regierung entschlossene Maßnahmen gegen die Paramilitärs und legten eine Liste von aktiven Paramilitärs vor. Unter diesen sind auch zehn hochrangige Offiziere, die nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen beste Verbindungen zum Drogenhändler und Paramilitärkommandanten Carlos Castaño besitzen sollen. Ob die Räumung der Gebiete im Süden des Landes bis über den Mai hinaus fortbestehen wird, steht in den Sternen. Es ist jedoch ziemlich wahrscheinlich, daß die angekündigte Re-Militarisierung ein Ende der Gespräche bedeuten würde.

Internationalisierter Konflikt

Als ob diese Entwicklung nicht beunruhigend genug wäre, geht an den kolumbianischen Grenzen das Säbelrasseln weiter. Unmittelbar nach einer Reise nach Washington ließ der peruanische Präsident Fujimori Armeeeinheiten ins Amazonasgebiet verlegen, um der kolumbianischen Guerilla Versorgungswege abzuschneiden. Nach Angaben der liberalen Tageszeitung El Espectador hat die Clinton-Administration auch auf Panama, Ecuador und Brasilien Druck ausgeübt, um – wie es in einer Pentagon-Studie heißt – „auf die von Kolumbien ausgehende wachsende Instabilität in der Region zu reagieren“. Die Beilegung der Grenzstreitigkeiten zwischen Ecuador und Peru sei, so El Espectador, von Washington forciert worden, um Truppen beider für den Einsatz an der kolumbianischen Grenze frei zu bekommen.
Der kolumbianische Verteidigungsminister Rodrigo Lloreda zeigte für die Maßnahmen des südlichen Nachbarn jedoch vollstes Verstädnis. „Wenn ich Fujimori wäre, würde ich das gleiche tun“, sagte Lloreda in einem Interview mit El Espectador und wies darauf hin, daß auf dem amerikanischen Militärgipfel im vergangenen Dezember in Cartagena ein derartiges Vorgehen besprochen worden sei. Immer wieder betonte Lloreda in den letzten Tagen die Existenz eines „Plans B“, der in Kraft trete, wenn die Verhandlungen scheiterten.
Was das bedeutet, ist nicht schwer auszumalen: Im Augenblick wird ein neues Bataillon mit 1000 Berufssoldaten aufgebaut, das von US-Offizieren mitkommandiert wird und bis Mitte des Jahres in den Provinzen Guaviare und Meta einsatzfähig sein soll. Die Elite-Einheit soll offiziell den Drogenanbau bekämpfen, wird aber in Wirklichkeit eher dazu dienen, das Hauptquartier der FARC in die Zange zu nehmen. Alle Zeichen stehen auf Sturm.

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