Die Würde der MigrantInnen

Vier kleine Mädchen stehen mit dem Rücken zum Betrachter am Rande eines Sandweges, einander die Arme um die Schultern gelegt. Neben ihnen steht ihre Mutter mit drei weiteren Geschwistern. Auch sie schaut wie die anderen die Straße hinunter, an deren Horizont man als kleinen Punkt den Mann und Familienvater erkennen kann. Das Foto Salgados, aufgenommen im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, zeigt eine alltägliche Situation: Gehen die Männer frühmorgens auf die Felder, fürchten Frauen und Kinder, dass sie nie wiederkehren. Ermordungen von Bauern gehören in Chiapas zum Alltag.
Auf allen Kontinenten werden täglich zigtausende Menschen gegen ihren Willen aus ihrer Heimat vertrieben. Andere machen sich voller Hoffnung auf den Weg in eine Stadt oder in ein anderes Land.
Sebastião Salgado widmete sich mit seinem neuesten Projekt den Menschen, die auf der Flucht sind oder auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat verlassen, die vom Land in die Großstädte drängen oder noch weiter bis in die Vereinigten Staaten beziehungsweise nach Europa. Das Ergebnis seiner Arbeit veröffentlichte Salgado in den zwei Fotobänden Migranten und Kinder der Migration und setzte seine Idee um, das Projekt als Ausstellung zeitgleich auf allen Kontinenten zu zeigen. Damit hoffte er, eine weltweite Diskussion über die Situation der Vertriebenen und Flüchtlinge, der Opfer von Krieg, Armut und Naturkatastrophen zu entfachen.

Kinder zwischen Beton

300 Fotos, verteilt auf fünf Themenbereiche, sind ab Oktober im Kronprinzenpalais ausgestellt: „Migranten und Flüchtlinge. Der Überlebensinstinkt“, „Die Afrikanische Tragödie – Kontinent der Entwurzelten“, „Lateinamerika: Landflucht und Chaos in den Städten“, „Asien: das neue urbane Gesicht der Welt“ und „Kinder von heute, Männer und Frauen des neuen Jahrhunderts“.
Im Ausstellungsteil zu Lateinamerika hat Salgado folgende Themen versammelt: die AmazonasindianerInnen, die Landflucht in Ecuador, die Vertriebenen der zapatistischen Gemeinden im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, der Exodus in die Metropolen und die brasilianische Bewegung der Landlosen.
Ein Foto von Sebastião Salgado, aufgenommen in São Paulo, zeigt vor der Kulisse hochaufragender Betonneubauten spielende kleine Kinder auf dem teerigen Flachdach eines Zentrums der Jugendwohlfahrtsstiftung. Sie wurden verlassen in den Straßen der Stadt gefunden oder von den Eltern, die sie nicht mehr ernähren konnten, im Zentrum abgegeben. Diese dreißig auf dem kalten Beton umherkrabbelnden Kinder spiegeln auf erschütternde Weise eine der Folgen des Überlebenskampfes in den Großstädten wieder.
Die Armut in den ländlichen Gebieten führt weltweit zu einer Zuwanderung in die Städte. Auf Fotos aus Ecuador zeigt Salgado die Dörfer im Hochland, in denen nur noch Frauen und Kinder leben, weil die Männer ausgewandert sind. Diese und eine unzählige Masse anderer MigrantInnen überschwemmen die Städte, die mit dem Ansturm hoffnungslos überfordert sind. Viele Städte auf der ganzen Welt sind davon gleichermaßen betroffen: Mexiko-Stadt ist mit 20 Millionen Einwohnern die weltweit größte
Metropole, dicht gefolgt von São Paulo mit mittlerweile 18 Millionen.
Aber auch Salgados Fotos aus Asien zeigen das unkontrollierte urbane Wachstum. Das Bild dieser Großstädte ist, wie Salgados Fotografien eindrücklich dokumentieren, auf der ganzen Welt fast ununterscheidbar: riesige Elendsviertel an den Stadträndern, Scharen von BettlerInnen und Straßenkinder, die Klebstoff schnüffeln.

Zeit des Wartens

Viele Menschen wurden durch Kriege aus ihrer Heimat vertrieben und leben in Flüchtlingslagern, in behelfsmäßigen Hütten aus Plastikplanen oder in alten Güterwagons, wo sie darauf warten, irgendwann in ihre Dörfer zurückkehren zu können.
In dieser Situation des Wartens hat Salgado Menschen auf allen Kontinenten angetroffen und porträtiert, in Chiapas genauso wie in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon oder
Syrien, oder im ehemaligen Jugoslawien.
In Mosambik können nun nach dem Ende des Bürgerkrieges hunderttausende Flüchtlinge aus den Lagern in ihre Heimat zurückkehren. Auf einem Foto, aufgenommen 1994 in Mosambik, sieht man zerschlissene Taschen, Säcke und Strohmatten verstreut auf einem sandigen Platz, dazwischen, auf dem Boden, wartende Menschen. Unter ihnen, als Einzige auf einem Stuhl sitzend, befindet sich eine junge Frau. Sehr gerade, die Hände nebeneinander in den Schoß gelegt, sitzt sie da und schaut ernst in die Kamera. Ruhe und Festigkeit liegen in ihrem Blick. Für das Wiedersehen mit ihren Verwandten hat sie ihr schönstes Kleid angezogen. Man ist beeindruckt von ihrem Stolz inmitten von Staub und Lumpen.
Salgados Fotografien zeigen immer auch die Würde der Dargestellten. Sie enthüllen nicht, um zu verletzen.
Salgado spielt nicht mit ersten Eindrücken, er lernt erst die Leute und die Orte kennen und verbringt Monate damit, die Lebensformen, das Verhalten der Menschen zu studieren, bevor er sie fotografiert. Seine Fotos unterscheiden sich von der makabren, obszönen Zurschaustellung von Katastrophen vieler PressefotografInnen, die in eiligen Besuchen zu den Schauplätzen von Verzweiflung und Gewalt aus einem Helikopter steigen und den Auslöser betätigen. Im Gepäck ein paar Aufnahmen mit blutigen Motiven, kehren sie von ihrem Tagesgeschäft zurück, ohne sich auf die Menschen eingelassen zu haben.

Facetten der Migration

Salgado hingegen verweilte fünfzehn Monate in der Sahel-Wüste für eine Reportage über die dortige Hungersnot, sieben Jahre lang reiste er durch Lateinamerika für ein paar Aufnahmen. Auch für das MigrantInnen-Projekt hat er sich sechseinhalb Jahre Zeit genommen, bevor er eine Auswahl präsentierte. 47 Länder hat er bereist, um ein größtmögliches Spektrum der Formen von Migration zu beobachten.
Einerseits vermittelt Salgado zwar durch die Vielzahl der Länder das globale Ausmaß der Migration, andererseits tritt die Verschiedenartigkeit der einzelnen Konflikte zurück und die heterogenen Ursachen werden nicht deutlich gemacht. Er hält in seinen Fotos nicht die Gründe der Flucht, die Gewalt und die Vertreibung, die Täter fest, sondern konzentriert sich darauf, die Auswirkungen, die Spuren des Leidens in den Gesichtern der Menschen einzufangen. Das setzt ihn der Kritik aus, dass das Leid losgelöst von den Strukturen, die es verursachen, dargestellt wird. Einige KritikerInnen werfen ihm deswegen zum einen die Ästhetisierung des Elends, zum anderen eine unkritische Sicht auf die Welt vor, in der Unglück, Krieg und Armut als schicksalhaft wahrgenommen werden.
Seine Fotos, in strengem Schwarz-Weiß gehalten, zeigen das Grauen, das Elend in bizarrer Schönheit. Gerade dieser Widerspruch macht sie so bewegend, so intensiv, aber eben auch so umstritten.

Die Bildbände zur Ausstellung – Migranten und Kinder der Migration – erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2000, kosten 99,- bzw. 35,- DM.

KASTEN:
Sebastião Salgado

Geboren 1944 in Aimores, im Staat Minas Gerais in Brasilien, studierte Sebastião Salgado Wirtschaft in São Paulo und Paris und arbeitete von 1968 bis 1973 als Ökonom in Brasilien und England. Anfang der 70er Jahre, während eines Afrika-Aufenthaltes als Vertreter der International Coffee Organization, begann er, sich ernsthaft der Fotografie zuzuwenden.
Der Mensch und seine selbst unter den schwierigsten Lebensbedingungen bewahrte Würde stehen im Mittelpunkt seiner Fotografien. Mit seiner erschütternden Reportage der Hungersnot im Sahel, die er 1984/85 in der Wüste aufnahm, während er 15 Monate lang die Arbeit der „Ärzte ohne Grenzen“ begleitete, erlangte Salgado internationale Anerkennung. Es folgte das Projekt „Workers“ (1986-92), eine Dokumentation über den Überlebenskampf der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt, aufgenommen in 26 verschiedenen Ländern.
Von 1980 bis 1996 arbeitete er in Brasilien an einem Projekt über die LandarbeiterInnen und ihren Kampf um die Zurückgewinnung des Bodens, dessen ungerechte Verteilung die Ursache ihres Daseins in Abhängigkeit und Ausbeutung darstellt.
Ab 1993 richtete er seinen Blick auf die Massenwanderungen von Menschen, worauf in den folgenden sechs Jahren eine Fotodokumentation über die MigrantInnen entstand, die nun in Auszügen in der Berliner Ausstellung im Kronprinzenpalais zu sehen sein wird.
1984 wurde Salgado als erster Lateinamerikaner Mitglied der renommierten Fotoagentur Magnum. Salgado gilt als einer der bedeutendsten Dokumentarfotografen der Gegenwart. Sein Werk widmet sich dem Leben der Unterprivilegierten, ein Werk, das zehn Bücher und viele Ausstellungen füllte und für das er mit mehr als 50 internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.

„Wir sind bereit, der Guerilla Nachhilfeunterricht zu geben“

Viele indianische Gemeinschaften in Kolumbien leben mitten im Konfliktgebiet. Wie verhalten sich die bewaffneten Gruppen?

Der Krieg findet auf unserem Territorium statt und die bewaffneten Akteure marschieren ständig hindurch. Die Paramilitärs, die mit der Guerilla aufräumen wollen, suchen die Guerilleros bei uns. Es kommt immer wieder zu Zusammenstößen. Dann beschuldigen die FARC uns wieder, die Paramilitärs zu unterstützen und es kommt zu Vertreibungen.

Was ist die Ursache dieser Anschuldigungen?

Eine bewaffnete Gruppe kommt in das Dorf und bittet um Wasser oder Essen. Wenn du es ihnen verweigerst, dann gehörst du für sie zu den Gegnern. Gibst du es ihnen, dann kommen die anderen und bezichtigen dich der Kollaboration mit dem Feind. Es kommt auch vor, dass die Guerilla einen Indígena bittet, im Dorf einzukaufen. Im Dorf sitzen die Paramilitärs und passen genau auf, wie viel eingekauft wird. Wenn sie der Meinung sind, das ist mehr, als eine Familie braucht, dann nehmen sie den Unglücklichen fest. Wenn er sich weigert, wirft ihm die Guerilla vor, nicht zu kollaborieren. Wir ergreifen nicht Partei. Wenn die FARC einen von uns ermorden, dann protestieren wir öffentlich, wenn die Paramilitärs einen umbringen, genauso. Es gibt viele Tote und von vielen erfährt man gar nichts weil die Dorfgemeinschaft Angst hat und den Mord nicht anzeigt. Wir setzen uns für ein humanitäres Minimalabkommen ein. Mit den FARC hatten wir so ein Übereinkommen seit 1987. Aber das wird nicht mehr eingehalten. Oft werden Leute einfach auf Denunzierung umgebracht. Wenn es Probleme in der Familie gibt oder mit den Nachbarn, dann suchen manche nicht die friedliche Lösung, sondern gehen zur Guerilla oder zu den Paras und verleumden die Person.

Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen FARC und dem Volksbefreiungsheer (ELN)?

In Antioquia ist das ELN kaum präsent. Wir hatten aber einige Gespräche. Bei einem Treffen mit NGOs in Costa Rica bekannte sich das ELN zur indianischen Autonomie. Aber es gibt trotzdem Probleme, wenn das ELN in indianischen Territorien operiert. Zum Beispiel bei den U’was in Arauca, wo es große Ölvorkommen gibt. Dann kamen auch die FARC und jetzt bekämpfen die beiden Guerillagruppen einander.

Im Jahre 1999 wurden drei Indigenisten aus den USA im U’wa-Gebiet von den FARC ermordet. Hängt dieses Verbrechen auch mit dieser Rivalität zusammen?

Ja, es geht um territoriale Herrschaft. Die FARC wollen das Gebiet dominieren, aber das ELN will sich nicht vertreiben lassen. Die Erklärung, die sie für den Mord gaben, war einfach, dass die Leute nicht um Erlaubnis gefragt hätten. Aber wem gehört das Territorium? Den U’was. So werden indianische Rechte und Traditionen mit Füßen getreten.

Bei den U’was geht es um Erdölinteressen. Offenbar haben FARC und ELN unterschiedliche Ansichten zur Erdölausbeutung im Konfliktgebiet.

Wir wollen mit der Guerilla darüber diskutieren, welches Entwicklungsmodell ihnen vorschwebt. Die Regierung sagt zum Beispiel, von 5000 Indios lassen wir nicht den Fortschritt der Nation aufhalten. Die U’was wehren sich gegen die Erdölbohrungen, daher gelten sie als Wirtschaftsfeinde. Welche Position würde die Guerilla vertreten, wenn sie an die Macht käme: würde sie unsere Kosmovision, wonach die Erde unsere Mutter ist, respektieren? Oder würde sie sich genauso verhalten, wie die jetztige Regierung? In der Verfassung von 1991 haben wir viel durchgesetzt: sie erkennt den multiethnischen und plurikulturellen Charakter der Nation an und definiert die indianischen Gebiete als territoriale Einheiten. Es wird auch garantiert, dass Abbau von Naturschätzen nur erlaubt ist, wenn keine indianischen, sozialen oder kulturellen Rechte verletzt werden. FARC und Regierung sprechen jetzt im Friedensdialog von einer neuen Verfassunggebenden Nationalversammlung. Wir wollen Garantien, dass eine neue Verfassung nicht hinter die von 1991, die mit vielen Mobilisierungen erkämpft wurde, zurückfällt.

Gibt es zur Ausbeutung der Ressourcen eine einheitliche Position?

Es gibt mehrere Positionen. Die U’was sagen, ihr Erdöl darf nicht ausgebeutet werden. Andere meinen, man kann sich einigen. Man will ja nicht als Fortschrittsfeind gelten. Aber die Erfahrungen auf der ganzen Welt sprechen für sich. Ich habe einmal den Bergbauminister gefragt, ob er mir ein Beispiel nennen kann, wo die Erdölausbeutung die Würde des Menschen gefördert hat. Die U’was haben erkannt, dass das Vordringen der Ölmultis ihren langsamen Tod besiegeln würde. Wenn ihr uns töten wollt, dann tut es lieber gleich, sagen sie und stellen den kollektiven Selbstmord in den Raum. In Caño Limón, wo die Macahuanes, die Ignú, die Guaibos und Sikuanis lebten, gab die Erdölgeselschaft eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Diese Studie besagte, dass es unmöglich sei, dort nach Erdöl zu bohren, denn der Río Arauca, der die Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela bildet, überschwemmt das Gebiet jedes Jahr. Wenn das Hochwasser zurückgeht, bleiben dann Seen zurück, die das Land fruchtbar machen. Zuerst gibt es Fische, dann kann man anbauen und es gibt dort viel Wild. Die Ölgesellschaft ließ also eine Straße bauen, um diese heiligen Seen trockenzulegen. Die Macahuanes, Guaibos und Sikuanis verloren damit ihre Lebensgrundlage und mussten weg. Heute betteln sie in den Straßen von Arauca, wurden Alkoholiker, nehmen Drogen oder prostituieren sich. Wir sind nicht gegen den Fortschritt aber wir verlangen, dass der Fortschritt unsere Rechte respektiert.
Dieselbe Einstellung herrscht in der Gentechnologie. Da kam ein Gringo nach Panama und nahm einer Indigenen Blut ab. In seinem Labor fand er dann heraus, dass man damit Blutzucker kurieren kann und er ließ das Blut auf seinen Namen patentieren. Die Früchte seiner Entdeckung gehören also ihm, nicht der indigenen Frau oder ihrer Gemeinschaft. Für den weißen Mann heißt Fortschritt persönliche Verbesserung oder Reichtumsmehrung für einige wenige, einen Konzern. Er verwechselt Entdeckung mit Erfindung. Wir kritisieren das. Sollte sich herausstellen, dass mein Blut irgendeine Krankheit heilen könnte, würde ich es mit Freude der ganzen Menschheit zur Verfügung stellen. Niemand sollte dieses Blut als Privateigentum betrachten. Denn wenn mich einer fragt, wie alt ich bin, sage ich, dass ich Tausende von Jahren zähle. Ich bin nicht das Produkt von 40 Jahren sondern von Tausenden Generationen seit der Erschaffung des Universums. Dasselbe trifft auf das Saatgut zu. Die Weißen wollen sich das Saatgut aneignen und im Labor herstellen. Dann darf man seinen Mais nicht mehr selbst reproduzieren sondern muss das Saatgut irgendeinem Konzern abkaufen, der ihn patentiert hat. Ich habe versucht, mich in die Köpfe der Weißen hineinzudenken, aber es gelingt mir nicht. Wir denken kollektiv, nicht individuell. Für uns kann niemand Eigentümer einer Getreidesorte sein, nur die Menschheit. Wir glauben auch an den Fortschritt, aber wir denken, er soll den Menschen nützen und nicht den einen auf Kosten von anderen einen Vorteil verschaffen. Wenn schon nach Erdöl gebohrt werden soll, dann sauber. Ich weiß nicht, ob das geht. Aber man hat mir gesagt, in den USA, da wird viel sauberer gefördert.

Wie ist die Situation in anderen Ländern Lateinamerikas?

Ich war bei den Mapuches in Argentinien und war entsetzt. Die haben Ölbohrtürme auf ihrem Territorium. Das Öl verseucht ihr Wasser. Wenn sie trinken wollen, müssen sie erst das Öl ausfiltern. Sie haben Blei und Quecksilber im Blut. Wenn sich einer verletzt, verheilt die Wunde nicht. Wie ist es möglich, dass in diesem neuen Jahrhundert Menschen so leben müssen und von ihrer Regierung vergessen werden? Dasselbe passiert in Ecuador. Wenn unsere Regierung intelligent wäre, könnte Kolumbien ein Vorbild für Lateinamerika und die ganze Welt werden. Denn wir haben die indianischen Rechte in der Verfassung festgeschrieben.Nur müssen wir uns noch irgendwann hinsetzen und diskutieren: was heißt denn das, eine multiethnische und plurikulturelle Nation? Das fängt natürlich bei der Erziehung an. Wir müssen über die territorialen Abgrenzungen reden, denn die Einteilung der Provinzen entspricht nicht den natürlichen Grenzen. Dann stellt sich die Frage, ob die Großgrundbesitzer bereit sind, einen Teil ihrer Ländereien abzugeben. Das Problem in Kolumbien ist nicht der Krieg oder die Guerilla. Das Problem ist die soziale Lage. Die Regierung ist nicht im Stande, dieses Problem in den Griff zu bekommen und stiehlt. Warum ist denn eine Guerilla entstanden? Weil die Politiker nichts für die Bauern getan haben. Wir brauchen eine Agrarreform. Wir Indigenen sind nur zwei Prozent der Bevölkerung. Aber in Ecuador sind sie fast die Hälfte. Da stellen sie die Machtfrage. In Bolivien auch. In Kolumbien wollen wir nicht die Macht ergreifen, wir wollen gemeinsam mit den Schwarzen, den Bauern, den Frauen dieses Land verändern. Die schwierigste Arbeit ist die Herstellung dieser Einheit.
Vor ein paar Wochen gab es ein Treffen von 150 Anführern aus den Gewerkschaften, den Bauernorganisationen, den Frauen, den Schwarzen, Intellektuellen. Dabei kam zur Sprache, dass wir Kolumbianer keine Identität haben. Man spricht viel von Ethno-Erziehung. Aber darunter wird immer nur der Unterricht in den indianischen Gemeinden verstanden. Wir glauben, dass alle etwas zu lernen hätten. Zum Beispiel die vielen Mythen von der Entstehung der Welt und von den Tieren. Aber unsere Kinder hören noch immer die Märchen der anderen. Nichts gegen Rotkäppchen und Däumeling. Die sind auch wichtig. Aber warum schreibt niemand unsere Märchen auf und die der Schwarzen und bringt sie in allen Schulen in den Unterricht? Auch die mestizischen Campesinos haben ihre Geschichten. Hier geht es um die Schaffung einer Identität. Es ist ja noch immer so, dass der Bösewicht immer der Indio ist. Dieses Denken muss verändert werden. Und da sitzen Regierung und FARC am Verhandlungstisch und lassen diese Wirklichkeit außer Acht.

Du hattest ja schon oft mit Comandantes zu tun. Was sagen die?

Ich habe festgestellt, dass bei der Guerilla keine politische Bildung mehr betrieben wird. Sie haben sich militärisch verbessert aber wissen weniger. Ein Comandante, mit dem ich kürzlich sprechen konnte, der wusste nicht einmal, dass die indianischen Territorien laut Verfassung für ewige Zeiten unverkäuflich, unverletzlich und unpfändbar sind. Sie marschieren ständig hindurch aber wissen nicht, was das bedeutet. Wir sind bereit, der Guerilla in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht zu geben.

Und sie wollen euch in den Krieg hineinziehen?

Einer hat mir gesagt: wir können weiterreden, wenn du mir sagst, wie viele junge Männer du mir zur Verfügung stellst und wie viele Waffen ihr braucht. Ihre Position ist, dass wir im Krieg stehen und daher nicht über Identität, Spiritualität und Territorium reden können, sondern nur davon, wann wir in den Krieg einsteigen. Das habe ich auch immer beim so genannten Realsozialismus kritisiert: sie haben keinen Respekt vor den Unterschieden. Aus diesen Fehlern muss man lernen. Die FARC dürfen nicht dieselben Fehler begehen, wie die Sandinisten in Nicaragua oder die FMLN in El Salvador. Ein ehemaliger FMLN-Comandante hat mir gesagt, dass es jetzt mehr Tote gibt, als im Krieg, denn die soziale Frage wurde nicht gelöst. Wofür sind so viele gestorben? Was ist mit der Autonomie der Miskitos passiert, die sie unter den Sandinisten erkämpft haben? Es gibt sie nicht mehr. Wir indigenen Völker wollen verhandeln. Unsere einzigen Waffen sind die Zunge und die Gedanken. Die ersten politischen Pakte, die in Amerika geschlossen wurden, haben kolumbianische Indígenas mit den Engländern und den Spaniern ausgehandelt. Wir schmiedeten Allianzen mit den englischen Piraten. So kam ich zu meinem Nachnamen Green. Wir müssen doch auch im Stande sein, uns unter Kolumbianern zu verständigen.

Interview: Ralf Leonhard

„Das Wahlsystem ist undemokratisch“

Auf Initiative der CONAIE wurden 1998 soziale und sogar ökologische Rechte in die ecuadorianische Verfassung aufgenommen. Die CONAIE setzte sich aber nicht damit durch, Ecuador verfassungsrechtlich zu einem plurinationalen Staat zu erklären. Was ist darunter zu verstehen?

Vargas: In Ecuador gibt es zwölf verschiedene Nationalitäten mit verschiedenen Sprachen, Identitäten und Territorien, die respektiert werden müssen. Sie haben das Recht, den ecuadorianischen Staat politisch und ökonomisch mit zu verwalten. Deswegen haben wir auf kollektive Rechte der indigenen Völker in der Verfassung bestanden. Die stehen aber vorerst nur auf dem Papier. Einige Beispiele: In den Urwaldregionen des Landes wird Öl gefördert, ohne die dort lebenden Völker zu fragen. In der Verfassung ist das Recht auf eine bilinguale Erziehung verankert, doch der Staat stellt keine Mittel dafür zur Verfügung. Ein großer Teil der öffentlichen Mittel wird zur Zahlung der Auslandsschulden verwendet, jedoch nicht für die Lösung sozialer Probleme.
Bustos: Die neue Verfassung ist die Frucht verschiedener Erhebungen in den letzten zehn Jahren gegen soziale Ungerechtigkeit und korrupte Regierungen. Bevor 1998 die Verfassungsgebende Versammlung zusammentrat, haben wir die Regierung des damaligen Präsidenten Abdalá Bucarám gestürzt. Bis heute profitiert nur ein kleiner Sektor von der Regierungspolitik, in erster Linie die Banken und die Exportwirtschaft. Unser Ziel bleibt daher die verfassungsmäßige Verankerung eines plurinationalen Staates, in dem für eine solche Politik kein Spielraum mehr bleibt.

Die CONAIE lehnt das bestehende System einer parlamentarischen Demokratie ab. Warum?

Bustos: Für uns sind die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen undemokratisch. An die Macht gelangen diejenigen, die von großen Unternehmen unterstützt werden. Die im letzten Jahr gestürzte Regierung Jamil Mahuad erhielt im Wahlkampf 1998 drei Millionen US-Dollar Unterstützung von den Banken. Was kann man von so einer Regierung erwarten? Mahuad unterstützte den Bankensektor politisch und ökonomisch. Er sanierte die Banken mit dem Geld der Armen. Im Wahlkampf kaufen die Parteien das Bewusstsein der Wähler. Mit Getränken, Lebensmitteln, T-Shirts oder anderen nützlichen Dingen. Wirtschaftliche Machtgruppen kaufen die Stimmen. Wir wollen eine direkte Repräsentation der Bevölkerung im Parlament. Die Wahlregeln müssen geändert werden. Alle Sektoren müssen den gleichen Zugang zu den Medien haben und über den gleichen Wahletat verfügen. Gewählte Abgeordnete müssen kontrolliert werden, damit sie ihre Versprechen einhalten.

Herr Vargas, Sie sind nicht nur Präsident der CONAIE, sondern auch Präsident eines Parlaments der Völker Ecuadors. Soll dieses einmal den Kongress ersetzen?

Vargas: Dieses Parlament wurde im Dezember 1999 ins Leben gerufen. Zunächst wollten wir ein Parlament der indigenen Völker schaffen. Dann kamen verschiedene Sektoren der ecuadorianischen Gesellschaft hinzu. Die Aufgabe dieser neuen Institution ist es, für ein neues Ecuador zu kämpfen. Beim Aufstand im Januar 2000 bestand es seine Feuerprobe: Es entschied, den Kongress zu besetzen und nach dem Sturz des Präsidenten Mahuad ein Triumvirat zu bilden. (Diesem Triumvirat, das für zwei Stunden die Macht ausübte, gehörte auch Antonio Vargas an; Anm. d. Red.) Auch im Januar 2001 entschied dieses Parlament, den Aufstand auszurufen. Neben dem Parlament der Völker Ecuadors haben sich regionale Parlamente konstituiert. Deren Abgeordnete werden von verschiedenen Basisorganisationen gewählt. Jedes regionale Parlament schickt sechs Vertreter in das nationale Parlament der Völker. Jeweils drei gehören davon indigenen und sozialen Organisationen an. Dazu entsenden einige nationale Organisationen wie die CONAIE Abgeordnete ins nationale Parlament. Bislang gibt es natürlich noch keine Gesetzesgrundlage für dieses Parlament der Völker. Wir sind dabei, die Effizienz dieses Parlamentes zu verbessern und lernen aus Fehlern. In Zukunft soll dieses Parlament einmal den jetzigen Kongress ersetzen.

Die CONAIE setzt sich für eine partizipative Demokratie ein. Was ist darunter zu verstehen und welche Rolle spielen die regionalen Parlamente und das Parlament der Völker dabei?

Bustos: Ein Bürgermeister oder ein Präsident hat der Bevölkerung zu dienen und nicht partikulare Interessen wahrzunehmen oder gar eigene Unternehmen zu bedienen. Nur die Bevölkerung darf bestimmen, was zu tun ist: Zum Beispiel, ob in einer Gemeinde zuerst die Trinkwasserversorgung sichergestellt oder ein neuer Fußballplatz gebaut wird. Wir haben dieses Prinzip bereits in mehreren Gemeinden umgesetzt. Denn die indigene Bewegung hat eine politische Partei mit dem Namen Pachakutik gegründet, die bereits in 26 Gemeinden den Bürgermeister stellt. Dort versuchen wir, kollektive Praktiken in die Verwaltungsarbeit zu integrieren. Für die regionalen Parlamente gelten die gleichen Prinzipien. Beispielsweise entschieden einige dieser Parlamente, auf verschiedenen Märkten das Tauschprinzip, den trueque, wieder einzuführen, das traditionell von vielen indigenen Völkern praktiziert wurde. Das bedeutet, dass zum Beispiel Mais gegen Früchte aus dem Tiefland wie zum Beispiel Bananen getauscht wird. Dies ist eine Absicherung gegen Geldentwertung und Inflation.

Wird Pachakutik bei den Wahlen im Januar 2003 einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin stellen?

Vargas: Das ist noch nicht entschieden. Wir legen vorerst größeres Gewicht auf kommunale oder regionale Politik. Auf jeden Fall hat es sich als Fehler erwiesen, einen Kandidaten einer anderen Partei oder Gruppierung zu unterstützen.
Bustos: Eine Kandidatur bei Wahlen ist nicht das Wichtigste für uns. Größeres Gewicht haben soziale Mobilisierungen. Pachakutik kann mit 8 von 125 Abgeordneten vorerst nicht viel im Kongress ausrichten. Im obersten Gerichtshof haben wir überhaupt keine Vertreter. Diejenigen, die Gesetze machen oder Recht sprechen, sind bislang immer dieselben: jene, die permanent Menschenrechte verletzen. Wir wollen eine legale und friedliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse und keinen bewaffneten Kampf, auch wenn dieser in unseren Nachbarländern Kolumbien und Peru vielleicht gerechtfertigt war. Wir organisieren Blockaden und friedliche Aktionen und waren niemals für Tote verantwortlich. Aber wir haben Tote zu beklagen. Die Gewalt geht vom Staate aus, von der Armee, der Polizei und Paramilitärs. Wir setzen dieser Gewalt unsere Prinzipien und unser Recht auf Selbstverteidigung entgegen.

Wie ist die Beteiligung der Frauen in der indigenen Bewegung oder in den Volksparlamenten?

Vargas: Bisher gibt es nur bei den Massenmobilisierungen eine große Beteiligung von Frauen. Jedes Volk hat seine eigene Kultur und Identität, das ist das Problem. In der Quechua-Kultur des Hochlandes wächst die Beteiligung der Frauen, in anderen Kulturen sind weiterhin Männer dominant. Die Delegierten des Parlaments der Völker sollen zur Hälfte aus Frauen bestehen, doch das ist ein Anspruch, der bislang noch nicht eingelöst wurde.

Versteht die CONAIE sich als eine linke Organisation?

Vargas: Wir haben eine viel weitere Vision. Die Linke hat ihre eigene Strategie. Die indigene Bewegung integrierte sich in der Linken, aber die Linke wollte die Probleme der indigenen Völker nicht verstehen. Die Linke denkt, wir wären alle Bauern, aber wir sind keine Bauern. Wir sind verschiedene Völker mit jeweils eigener Identität und eigenen Wurzeln. Die Linke ist gescheitert, wir gehen unseren eigenen Weg.

Das Interview führte Rolf Schröder im Februar 2001 in Quito

Weihrauch für die Volksmacht

Zu Jahresbeginn ist regelmäßig was los in Ecuador. Anfang 1997 legten zwei Millionen Menschen das ganze Land lahm und jagten den korrupten Präsidenten Abdalá Bucarám aus dem Land. Und nachdem dessen Nachfolger Fabián Alarcón wegen Veruntreuung von Staatsgeldern ins Gefängnis gewandert war, erwischte es im Januar 2000 den Nächsten: Präsident Jamil Mahuad, der Millionen Sparer um ihr Geld betrogen hatte. Er floh ins Ausland, als eine breite Protestbewegung den Kongress besetzte.
Auch in den ersten Wochen des Jahres 2001 ist die soziale Lage in Ecuador explosiv: Eine von der Regierung verfügte Erhöhung der Benzin- und Gaspreise hat zu Streiks und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den Ordnungskräften geführt. In Quito trifft sich im Haus der Kulturen, dort wo koloniales Zentrum und Neustadt aneinander grenzen, das alternative Parlament der Völker. Einziger Tagesordnungspunkt: die Organisation des Widerstands. Im Auditorium, einem großen, fensterlosen Saal, haben sich bei künstlichem Licht etwa 300 Personen versammelt.
Das Parlament der Völker wurde im Dezember 1999 von verschiedenen indigenen und sozialen Bewegungen ins Leben gerufen. Es ist eine Art Gegenmodell zum ecuadorianischen Kongress, dem von der Verfassung bestimmten Parlament. Die Delegierten des Alternativparlaments gehören verschiedenen Basisorganisationen an: Gewerkschaften, kommunistischen oder sozialistischen Parteien, Frauen- und Studentenorganisationen, Menschenrechtsgruppen oder Interessensverbänden von Kleinhändlern und Mikrounternehmen. Besonders stark sind die indigenen Organisationen des Landes vertreten. Der Großteil der Abgeordneten wurde von regionalen Alternativparlamenten entsandt, die ebenfalls vor kurzem entstanden. Kurz nach seiner Gründung sorgte das Parlament der Völker schon für internationale Schlagzeilen: Es beschloss nicht nur die Besetzung des Kongresses im Januar 2000, sondern auch die Bildung eines Triumvirats zur Nachfolge des aus dem Amt gejagten Präsidenten Mahuad. Folglich stieß auch die Einberufung des Parlaments der Völker im Januar dieses Jahres auf ein breites Medieninteresse.

Die Aufwärmung

In der ersten halben Stunde der auf zehn Uhr angesetzten Sitzung geschieht nichts Aufregendes. Nur auf der Bühne vor dem Podium herrscht reges Treiben: Die Diskussionsleitung ist in lebhafte Debatten verwickelt, ein weiß gekleideter Schamane legt eine bunte Webdecke auf den Holzboden und streut Blumen aus. Dann stellt sich eine Frau mit schnurlosem Mikrofon vor der ersten Reihe der Versammelten auf. Sie sieht aus wie eine Angestellte aus einem Reisebüro, trägt einen Hosenanzug, ein Halstuch und Schuhe mit hohen Absätzen. „Das Volk von Quito?“ fragt sie in die Menge und erhält umgehend aus hundert Kehlen die Antwort: „Anwesend!“ „Das Volk von Pichincha?“ Das ist ebenfalls zugegen. Und so geht es weiter, bis die Dame die Präsenz der verschiedenen Völker Ecuadors abgefragt hat. Die Anwesenheitsüberprüfung wird mit einem gemeinsamen „El pueblo unido jamás será vencido!“ – „Das geeinte Volk wird niemals besiegt werden!“ beendet, bei dem die Dame sich als Einpeitscherin outet und die rechte Faust emporreckt. Nun hat sie sich warm gerufen und läuft zu ihrer eigentlichen Form auf: „Nieder mit der neoliberalen Regierung!“ Wie ein Echo schallt es zurück. „Nieder mit dem Internationalen Währungsfonds!“ Auch diese Aussage wird von allen Anwesenden bestätigt. Die Frau am Mikrofon hat mehrere Dutzend Parolen dieser Art auf Lager, die sie die Versammelten wiederholen lässt. Notfalls auch zwei Mal, wenn nämlich die erste Antwort zu leise ausfällt. In dem Fall legt sie ihre rechte Hand ans Ohr und bedeutet der Versammlung mit einer wild gestikulierenden Linken, dass sie unzufrieden ist.
Die meisten Parolen reimen sich, und einige sind sogar recht lustig. Der Höhepunkt ist aber ein Dialog zwischen der Einpeitscherin und dem Publikum. Wie denn die Regierung gestürzt werden solle, fragt sie. „Indem wir kämpfen und die Volksmacht errichten!“ „Und wie lange, compañeros?“ „Für immer, carajo!“ „Und wie, compañeros?“ „Mit aller Kraft, carajo!“ Die Stimmung wird immer erregter. Als dann noch die Parole „Nieder mit der Boulevardpresse!“ aufkommt, bilden sich auf der Stirn der anwesenden Fotografen Schweißperlen. Die Volksmacht drängt sie aus dem Saal, und sie können am Ende froh sein, ihre Kamera gerettet zu haben – für welche Zeitung sie auch immer arbeiten. Gegen elf Uhr wird die Stimmungsmacherin etwas heiser, doch dafür meldet sich eine kräftige Stimme aus der Mitte des Saales: „Es lebe die Pünktlichkeit!“

Schamanen und Spitzel

Dann beginnt nicht die Debatte, sondern zunächst eine religiöse Zeremonie. Der weißgewandete Schamane streut Mehl auf den Holzboden und legt Maiskolben und Adlerfedern neben die Blumen. In einer Tonschale bereitet er Weihrauch vor. Nun bläst er in eine Tonpfeife: die Versammelten stehen auf und beten mit dem Schamanen. Sie drehen sich mit ihm nach Süden, Osten, Norden, Westen, strecken die Arme aus und führen sie zum Herzen zurück. Eine Geste, mit der sie ihre Brüder und Schwestern grüßen, die in diesen Himmelsrichtungen leben. Dann wenden sie sich dem Himmel und der Erde zu und bedanken sich für Sonne und Sterne, für Mais, Kartoffeln und Öl. Sie ermahnen sich, die Natur zu respektieren.
Erst jetzt folgt die Politik. Antonio Vargas, Präsident der CONAIE, leitet die Debatte und versucht festzustellen, wer stimmberechtigt ist. Darüber entbrennt ein erster Streit. Verschiedene regionale Delegationen sind untereinander uneins, wer von ihnen ein ordentliches Abgeordnetenmandat besitzt und wer nicht. Nach einigem Hin und Her einigt man sich auf die Bildung einer Kommission, die mit der Akkreditierung der Abgeordneten betraut wird. Dann wird der Antrag gestellt, das Parlament möge einem Abgeordneten aus der Provinz Pichincha das Mandat aberkennen. Begründung: Der Mann soll mit Unterstützung der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation US-Aid ein Buch veröffentlicht haben und zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen worden sein. Damit aber, so erläutert der Antragsteller, sei der Abgeordnete als CIA-Spitzel entlarvt. Denn der ehemalige CIA-Agent Philip Agee habe unlängst nachgewiesen, dass es enge Verbindungen zwischen US-Aid und dem US-Geheimdienst gebe. Es folgt erneut eine längere Debatte. Schließlich darf der umstrittene Delegierte bleiben.

Die Marathondebatte

Die mittlerweile registrierten Abgeordneten nehmen nun an der linken vorderen Seite des Saales Platz. Damit sind sie vom Rest der Versammelten räumlich getrennt. Antonio Vargas sitzt mit einer rotschwarzen Motorradjacke in der Mitte des Präsidiums und bekommt die Versammlung nicht recht in den Griff. Vergeblich mahnt er an, die Redezeit von zwei Minuten möge eingehalten werden. Mitunter reden mehrere Abgeordnete gleichzeitig. Derweil sitzt der Schamane, inzwischen als Compañero Jaime bekannt, auf seiner Decke und fächelt mit den Adlerfedern immer wieder den Weihrauch an. Manchmal steigt der duftende Qualm so dicht auf, dass die Männer am Tisch des Präsidiums dahinter verschwinden.
Die Veranstaltung hat überraschend chaotisch begonnen, doch im weiteren Verlauf relativiert sich dieser Eindruck. Nach einer Weile hat sich das Präsidium dazu durchgerungen, den Rednern nach Debattenbeiträgen, die drei Minuten überschreiten, den Strom abzudrehen. Nun wird auch inhaltlich debattiert, und es beteiligen sich erstaunlich viele Frauen, gerade unter den Indígenas. Alle Delegierten sind sich darin einig, nicht mit der Regierung zu verhandeln, bevor diese nicht die verfügte Gas- und Benzinpreiserhöhung zurückgenommen hat. Auch der Plan Kolumbien und die US-Marinebasis in der Hafenstadt Manta werden entschieden abgelehnt. Das Kabinett Noboa wird zum Rücktritt aufgefordert. An dessen Stelle soll eine Regierung der nationalen Rettung treten. Die Ergebnisse der Debatte werden in einer Resolution festgehalten.
Wer eine solche Regierung der nationalen Rettung führen könnte wird deutlich, als mitten in der Debatte plötzlich Rufe laut werden: „Es lebe der künftige Präsident Ecuadors!“ Aus einer Nebentür auf die Bühne getreten ist der Oberst Lucío Gutiérrez: in Kampfstiefeln, Khakihose und olivgrünem Hemd, aber ohne militärische Rangabzeichen. Gutiérrez winkt den Versammelten zu und erhält tosenden Applaus. Sein Verdienst: Er gab den militärischen Wachpos-ten vor dem ecuadorianischen Parlament im Januar 2000 den Befehl, sich zurückzuziehen. Damit standen die Türen des Kongresses für die Demonstranten offen, die gegen die katastrophale Wirtschaftspolitik der Regierung Mahuad protestierten. Gutiérrez und Vargas gehörten schließlich dem Triumvirat an, das nach der Besetzung des Kongresses gebildet wurde und für einige Stunden die Macht übernahm. Auf Befehl von oben wurde Gutiérrez dann allerdings von einem vorgesetzten General ersetzt. Der löste aber umgehend das ganze Triumvirat auf und beauftragte Gustavo Noboa, den Vizepräsidenten Mahuads, mit der Regierungsbildung.
Den Abgeordneten gelingt es im weiteren Verlauf der Debatte nicht, sich auf geeignete Protestformen zu einigen. Inzwischen ist die Sitzung zu einer Marathondebatte geworden, und es bleibt nur eine Lösung: die Aktionsformen sollen auf regionaler Ebene entschieden werden. Die völlig erschöpften Delegierten gehen erst am späten Abend auseinander. In den folgenden Wochen kommt es zwar noch zu einem Aufstand im Land und zu einem Sternmarsch der Indígenas auf Quito, doch die CONAIE und andere indigene Organisationen einigen sich mit der Regierung schließlich auf einen Kompromiss. Das Parlament der Völker Ecuadors hat in diesem Jahr keine Geschichte geschrieben.

Der Anbruch einer harmonischen Zeit

Am Abend des 3. Juni streckte Alejandro Toledo seine Arme zum Sieg aus. „Heute hat Peru gewonnen!“ rief er Tausenden von AnhängerInnen vor dem Sheraton-Hotel in Lima zu. Zum ersten Mal seit 1990 waren Präsidentschaftswahlen ohne Betrug abgeschlossen worden. Doch Toledo wollte auch Trost aussprechen: für die 1:2-Niederlage der peruanischen Fußballelf gegen den Erzrivalen Ecuador am Tag zuvor. Das verlorene Spiel hatte eine nationale Depression ausgelöst, bedeutete es doch das Ende aller Träume von der Teilnahme an der Fußballweltmeisterschaft im nächsten Jahr. Gewonnen hatte an diesem Tag eigentlich nur einer: Alejandro Toledo.
Der Sieger verdankte es der peruanischen Wahlbehörde ONPE, dass er schon am frühen Wahlabend feiern konnte. Deren MitarbeiterInnen hatten, entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten, einige Stunden nach Schließung der Wahllokale bereits 80 Prozent der Stimmen ausgezählt. Mit einer solchen Schnelligkeit hatten selbst kühnste OptimistInnen nicht gerechnet. Denn die Stichwahl zwischen Toledo und seinem Kontrahenten Alan García war um zwei Wochen verschoben worden, weil die ONPE Mitte Mai immer noch nicht die offiziellen Ergebnisse der ersten Wahlrunde vom 8. April präsentieren konnte. Nach dem Kraftakt am Wahlsonntag fielen die MitarbeiterInnen der ONPE allerdings umgehend in ihren gewohnten Trott zurück und brauchten bis Mittwoch, um weitere 18 Prozent der Stimmen auszuzählen. Das bis dato vorläufige Endergebnis: 53,1 Prozent für Alejandro Toledo und 46,9 Prozent für Alan García.

Hohe Wahlbeteiligung

Fast 97 Prozent der knapp 15 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, deutlich mehr als im ersten Wahlgang. Auch der Anteil der Enthaltungen und ungültigen Stimmen, der zwei Wochen vor der Wahl noch auf über 30 Prozent geschätzt wurde, lag mit etwa 12,8 Prozent überraschend niedrig. Immerhin hatten renommierte Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Alvaro Vargas Llosa und Jaime Bayly öffentlich dazu aufgerufen, keinem der beiden Kandidaten die Stimme zu geben. Sie hielten in Übereinstimmung mit vielen WählerInnen weder den einen noch den anderen für geeignet: Toledo hatte sich in eine Reihe von persönlichen Skandalen um Sex, Drogen und eine vermeintlich uneheliche Tochter verstrickt; García war durch die katastrophale Bilanz seiner Regierungszeit von 1985 bis 1990 und etliche Korruptionsaffären vorbelastet.

Vom Schuhputzer zum Präsidenten

Alejandro Toledo war auf seinem Weg nach ganz oben schon zweimal gescheitert. Im Jahre 1995 landete er hinter dem amtierenden Präsidenten Alberto Fujimori und dem ehemaligen UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar abgeschlagen auf dem dritten Platz. Doch beim Urnengang im letzten Jahr konnte ihn die Regierung Fujimori nur mit einem gigantischen Wahlbetrug stoppen. Toledo hatte damals seine AnhängerInnen ebenfalls vor dem Sheraton-Hotel zusammengerufen und schwor, er werde nicht eher ruhen, bis die Demokratie in seinem Land wieder hergestellt sei. Fortan organisierte er den Widerstand gegen die Diktatur und trug nicht unwesentlich dazu bei, dass Präsident Fujimori und sein allmächtiger Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos in den letzten Monaten des Jahres 2000 ins Ausland flüchten mussten. Damit waren die Voraussetzungen für baldige Neuwahlen geschaffen.

Toledo macht Bilderbuchkarriere

Der 55-jährige Toledo stammt aus armen Verhältnissen und hat eine regelrechte Bilderbuchkarriere hinter sich. In jungen Jahren musste er seinen Unterhalt noch als Schuhputzer und Limonadenverkäufer verdienen. Dann gewann er in der Schule einen Poesiewettbewerb und bekam ein Stipendium in den USA. Dort gelangte er bis in die heiligen Hallen der Harvard-Universität. Er promovierte zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften und kehrte zurück nach Peru, wo er in leitender Position bei verschiedenen internationalen Organisationen arbeitete. Toledo ist mit der Belgierin Eliane Karp verheiratet, einer charismatischen Frau mit langjährigen Erfahrungen in der Entwicklungspolitik. Karp hat aktiv am Wahlkampf teilgenommen und wird sich – ähnlich wie Hillary Clinton – kaum auf die traditionelle Rolle einer First Lady beschränken.

García auf Siegeskurs

Toledo galt als haushoher Favorit für diese Wahlen, doch kurz vor dem Ziel wäre er fast noch gescheitert. Seinen ärgsten Rivalen Alan García hatte er ursprünglich nicht einmal auf der Rechnung: Gerade fünf Prozent der WählerInnen wollten Ende Januar laut Meinungsumfragen dem ehemaligen Präsidenten, der soeben aus einem neunjährigen Exil in Kolumbien und Frankreich zurückgekehrt war, ihre Stimme geben. Die Mehrheit der PeruanerInnen hatte nicht vergessen, dass García in seiner Regierungszeit für eine Hyperinflation von 7800 Prozent verantwortlich war. Doch der blendende Rhetoriker García entschuldigte sich für die Fehler seiner Regierungszeit und gewann immer mehr AnhängerInnen. Mit jedem seiner öffentlichen Auftritte stieg er in ihrer Gunst und landete so bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im April überraschend vor der konservativen Konkurrentin Lourdes Flores auf Platz zwei.

Elefantenrunde im Fersehen

García zog in die Stichwahl ein, doch in den ersten Umfragen lag er immer noch über zwanzig Prozentpunkte hinter seinem Gegner Toledo zurück. Dann schlug er vor, dreimal mit Toledo vor laufenden Kameras zu diskutieren. Toledo zierte sich angesichts des Redetalents seines Gegners, doch der öffentliche Druck zwang ihn, sich zu stellen. Seine Berater setzten aber immerhin durch, dass es nur eine Debatte gab, in der die Redebeiträge auf jeweils drei Minuten begrenzt wurden. Am 19. Mai war es schließlich so weit. Millionen FernsehzuschauerInnen verfolgten das Duell der beiden Kandidaten. Hinterher fanden alle Kommentatoren, Toledo hätte sich erstaunlich gut geschlagen. Doch die große Mehrheit der Bevölkerung zeigte sich einmal mehr fasziniert vom geschliffenen Diskurs des Kandidaten García und sah ihn als klaren Sieger. Fortan wurde es eng für Toledo. Eine Woche vor der Wahl sahen die Meinungsforscher die beiden Kandidaten schon fast gleichauf – mit steigender Tendenz für García.
Festzustehen scheint: Toledo verdankt den Sieg der großen Anzahl jener WählerInnen, die ursprünglich keinem der beiden Kandidaten ihre Stimme geben wollten, dann aber aus Angst vor dem aufholenden García ihre Meinung geändert haben. Besonders die UnternehmerInnen und Banker atmeten am Ende auf. Der Kurs des peruanischen Sol und die Brady Bonds der peruanischen Auslandsschulden waren kurz vor der Stichwahl aus Furcht vor einem möglichen Präsidenten García noch kräftig gefallen. Dabei hatte die Fernsehdebatte der beiden Kontrahenten gezeigt, dass es in der Wirtschaftspolitik keine signifikanten Unterschiede in deren Konzepten gibt. García war sogar so weit gegangen, dass er der Ex-Kandidatin Lourdes Flores, die im ersten Wahlgang die Favoritin der UnternehmerInnen war, ein Regierungsbündnis angeboten hatte.

Vorerst stabile Verhältnisse unter Toledo

In einer ersten Stellungnahme nach den Wahlen versprach Toledo denn auch finanzpolitische Disziplin und ein Bündel von Maßnahmen, um die peruanische Wirtschaft wieder zu aktivieren. Die Wirtschaftsbosse waren zufrieden. Sie begrüßten im Einklang mit Vertretern des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vor allem, dass der designierte Wirtschaftsminister des neuen Kabinetts mit Pedro Pablo Kuczynski ein Mann ist, der auf die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft vertraut.
Auch für politische Stabilität wird unter einem Präsidenten Toledo vorerst gesorgt sein. Obwohl seine Partei Perú Posible – Mögliches Peru – nur über 45 von 120 Sitzen im neu gewählten Parlament verfügt, wird er bei Abstimmungen auf eine breite Mehrheit zählen können. Fernando Olivera, einer von Toledos Gegenkandidaten im ersten Wahlgang, und Limas Bürgermeister Alberto Andrade haben die Unterstützung ihrer Fraktionen fest zugesagt.

Der Präsident aller PeruanerInnen

Das Gleiche gilt für die Acción Popular des amtierenden Präsidenten Valentín Paniagua. Toledo nimmt die fremde Hilfe dankbar an, denn er möchte schließlich der Präsident aller PeruanerInnen sein.
Da mag auch Alan García nicht zurückstehen. Der gewiefte Wahltaktiker hatte sich in den vergangenen Wochen stets für eine Regierung der nationalen Einheit ausgesprochen. In diesem Sinne bot er Toledo auch nach seiner Niederlage die Zusammenarbeit an.

Der Favorit für’s nächste Mal: Alan García

Indes ist fraglich, wie lange die harmonischen Zeiten anhalten. Langfristig darf man García sicherlich andere Pläne unterstellen. Der Ex-Präsident, dessen Schicksal nach seiner katastrophalen Regierungszeit als besiegelt galt, hat sich eindrucksvoll ins politische Geschehen zurückgemeldet. Entsprechend wurde er am Wahlsonntag stundenlang von seinen ParteigenossInnen gefeiert. Die sozialdemokratische APRA hat es ihm zu verdanken, dass sie ihr Wahlergebnis im Vergleich zum letzten Jahr verfünffachen konnte und zur zweitstärksten Fraktion im Parlament aufgestiegen ist. In Lima werden jetzt schon Wetten auf den Nachfolger Toledos abgeschlossen: Der Favorit heißt Alan García.

Denk bei Chiquita nicht nur an Banane

Bananen sind ein Grundnahrungsmittel für viele Millionen Menschen in aller Welt Überwiegend werden sie von KleinproduzentInnen für den eigenen oder lokalen Verbrauch angebaut. Etwa ein Fünftel der Weltproduktion, nahezu ausschließlich Obstbananen, gelangt in die Supermärkte des Nordens. Zwar haben andere landwirtschaftliche Erzeugnisse wie etwa Kaffee, Kakao und Zucker einen größeren Anteil am Weltmarkt. Doch nirgendwo gibt es eine ähnlich hohe Konzentration in den Händen weniger marktbeherrschender transnationaler Konzerne. wie dies bei Bananen der Fall ist. Chiquita, Dole und Del Monte kontrollieren etwa 70 Prozent der Produktion und der Vermarktung. Die langjährige Auseinandersetzung zwischen den USA und der EU um die Bananenmarktordnung zeigt, dass der Einfluss der Multis bis in die Politik hineinreicht.
Die internationale Bananenwirtschaft befindet sich seit längerem in einer tief greifenden Strukturkrise, deren gravierende Folgen für KleinproduzentInnen und PlantagenarbeiterInnen in Lateinamerika noch nicht gänzlich abzusehen sind. Ausdruck dieser Krise war der schlagartige Einbruch der Großhandelspreise in den wichtigsten Absatzmärkten Mitte 1999 und der seit langem scheinbar unaufhaltsame Niedergang der Aktienkurse der großen internationalen Bananenkonzerne. Damit einher ging eine Machtverschiebung von den US-Bananenmultis hin zu den US-amerikanischen und europäischen Supermarktketten, die es sich längst erlauben können, Preise und Bedingungen im für sie hoch rentablen Bananengeschäft zu diktieren. Während sich die global player über satte Gewinne und die VerbraucherInnen über billige Bananen freuen, findet in Lateinamerika ein gnadenloses Wettrennen nach unten statt: Konflikte mit Gewerkschaften allerorten, Produktionsverlagerung in gewerkschaftsfreie Zonen, Sozialdumping.
Dabei gab es in der Bananenproduktion noch nie die „paradiesischen” Zustände, die der lateinische Name der Frucht, musa paradisiaca, vermuten lassen könnte. Doch während die Bananen-Multis immer schon in allen Produktionsländern präsent waren, waren die Bananengewerkschaften, sofern überhaupt existent, lediglich auf nationaler Ebene tätig und auch dort häufig genug noch untereinander zersplittert.
Erst 1993 gelang ein entscheidender Schritt: die Gründung der Coordinadora Latinoamericana de Sindicatos Bananeros (COLSIBA). Heute gehören ihr 40 Einzelgewerkschaften in acht bananenproduzierenden Ländern an. Die COLSIBA, der sowohl kleine Betriebsgewerschaften als auch größere, kampferprobte Organisationen aus Honduras und Kolumbien angehören, besteht aus etwa 50.000 ArbeiterInnen, die vor allem auf den Plantagen der transnationalen Konzerne beschäftigt sind. Etliche der Einzelgewerkschaften gehören dem internationalen Dachverband der Agrargewerkschaften (IUF-IUTA-IUL) an. Darüber hinaus unterhält COLSIBA enge Beziehungen zu US-amerikanischen Solidaritätsgruppen und EUROBAN, dem Netzwerk europäischer NGOs, die sich mit der Bananenproblematik beschäftigen.

Miserable Arbeitsbedingungen

Die Bananenplantagen liegen oft weit entfernt von den eigentlichen Siedlungen der Bevölkerung und stellen eine eigene ökonomische Struktur dar. Die ArbeiterInnen wohnen mit ihren Familien, solange sie in der Bananenproduktion beschäftigt sind, meist in Barackensiedlungen am Rande oder mitten auf den Plantagen. Werden sie entlassen, müssen sie die Häuser räumen. Außerdem werden die benötigten ArbeiterInnen sowieso nur jeweils kurzfristig beschäftigt.
In Costa Rica beispielsweise sind nach Angaben der Gewerkschaften mehr als drei Viertel der Arbeitskräfte ohne feste Anstellung. Auf diese Weise sparen die Plantagenbesitzer und multinationalen Bananenkonzerne die Kosten für die Sozialversicherung und verhindern eine gewerkschaftliche Organisierung.
Besonders beklagenswert ist die Situation der weiblichen Beschäftigten, bei denen sexuelle Übergriffe und Belästigungen durch Vorarbeiter und Aufseher an der Tagesordnung stehen. Die Frauen erhalten im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen meist niedrigere Löhne für die gleiche Arbeit. Sie sind außerdem oft nur tage- oder stundenweise in den Wasch- und Verpackstationen beschäftigt, wo sie permanent mit giftigen Chemikalien in Kontakt kommen. COLSIBA hat dieser besonderen Situation der Frauen in der Bananenindustrie frühzeitig durch die Etablierung eines eigenen Frauensekretariats Rechnung getragen. Seither organisiert dieses regelmäßig Arbeitstreffen, Fortbildungsseminare und Konferenzen. Dennoch sind die Frauen in den Einzelgewerkschaften noch stark unterrepräsentiert. Gewerkschaftsarbeit ist auch in den bananeras immer noch weitgehend eine Männerdomäne.
Die Löhne in der Bananenindustrie sind im Vergleich zu anderen Agrarsektoren relativ hoch, entschädigen aber längst nicht für die harte und gefährliche Arbeit. Daher stehen Lohnforderungen meist an erster Stelle bei Arbeitskonflikten. Alle Versuche der ArbeiterInnen sich zu organisieren werden jedoch systematisch behindert und Streiks immer wieder durch bewaffnete Einheiten niedergeschlagen. So zum Beispiel 1993 bei Geest, einem britischen Unternehmen in Costa Rica, wo es 16 Verletzte gab; oder 1995 in Honduras, als Chiquita Bauernfamilien von ihrem Land vertreiben ließ. In anderen Ländern zirkulieren unter den Bananenfirmen „schwarze Listen“, auf denen aktive GewerkschafterInnen erfasst werden und dann keine Arbeit mehr bekommen.

Gewalt gegen Gewerkschaft

Auch in Guatemala gibt es einen langen und schweren Arbeitskampf zwischen der Gewerkschaft SITRABI und Bandegua, der dortigen Tochter des Bananenmultis Del Monte. Hintergrund eines aktuellen Gerichtsverfahrens gegen 24 Personen ist der gewaltsame Angriff auf die SITRABI-Führung im Oktober 1999. Die Auseinandersetzungen begannen im September 1999 mit der Massenentlassung von rund 1.000 Beschäftigten auf drei von 14 Bandegua-Plantagen im Bezirk Morales an der Atlantikküste. Del Monte hatte sich ausgerechnet, dass es billiger sei, die Plantagen an einheimische Unternehmer zu verpachten und diesen die Bananen abzukaufen anstatt sie selbst zu produzieren. Nachdem es SITRABI, der ältesten und stärksten Gewerkschaft im privaten Sektor Guatemalas, nicht gelungen war, die Wiedereinstellung der Entlassenen durchzusetzen, sollten weitere Protestaktionen beschlossen werden.
Am Abend des 13. Oktober umzingelten daraufhin mehr als 200 Schwerbewaffnete das Büro der Gewerkschaft, angeführt von Mitgliedern der örtlichen Handelskammer. Sie nahmen zwei der anwesenden Gewerkschaftsführer als Geiseln und zwangen sie unter Waffengewalt, ihre Kollegen herbeizuholen. Nachdem etwa 20 Mitglieder der Gewerkschaftsführung zusammengetrieben waren, wurden sie unter vorgehaltener Waffe gezwungen, ihren Rücktritt vom SITRABI-Führungsgremium einschließlich der Kündigung ihres Arbeitsplatzes zu unterschreiben. Über den örtlichen Radiosender mussten sie Texte verlesen, die den Protest für beendet erklärten. Begründet wurde die Aktion von den örtlichen Wirtschaftsführern mit der Drohung Del Montes, andernfalls die Region ganz zu verlassen.
Fünf der bedrohten Gewerkschaftsführer, darunter der Präsident von SITRABI, konnten schließlich mit ihren Familien nach Guatemala-Stadt fliehen, wo sie sich unter den Schutz internationaler Organisationen begaben. SITRABI machte den Konflikt sofort öffentlich. Dank einer breiten Kampagne, angeführt vom Internationalen Dachverband der Agrargewerkschaften und weltweiter Beteiligung von vielen entwicklungspolitischen Gruppen und Organisationen, distanzierte sich Del Monte von den gewerkschaftsfeindlichen Gewalttaten und zeigte sich verhandlungsbereit. Am 7. März 2000 schließlich unterzeichneten die IUF und Del Monte eine Rahmenvereinbarung als Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen zur Lösung des Konfliktes. Auch das derzeitige juristische Nachspiel kann als Ergebnis der internationalen Solidaritätskampagne betrachtet werden.

Del Monte schießt den Vogel ab

Die Situation in der costaricanischen Bananenindustrie spitzte sich im Oktober vergangenen Jahres dramatisch zu. Den Vogel schoss dabei Dole ab: der Multi entließ an einem Tag alle seine Beschäftigten, um ihnen unmittelbar darauf die Wiedereinstellung zu bis zu 50 Prozent niedrigeren Löhnen und dem Wegfall bisheriger Sozialleistungen anzubieten. Als Vorwand diente der Hinweis auf den Kostendruck und Absatzprobleme durch die weltweite Überproduktion. Die Bananengewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft erhoben massiven Protest gegen diese Form des Sozialdumping: „Während die Multis in guten Zeiten niemals ihre Gewinne mit ihren Arbeitern teilen, verlangen sie ihnen in Zeiten der Krise auch noch zusätzliche Opfer ab.”
In Zentralamerika spricht man bereits von einer „Ecuadorisierung” der Bananenproduktion. Das südamerikanische Land, weltgrößter Bananenexporteur, zeichnet sich durch extrem niedrige Produktionskosten und nahezu gewerkschaftsfreie Plantagen aus – in den Augen der großen Bananenfirmen allemal ein Wettbewerbsvorteil. Während BananenarbeiterInnen in Zentralamerika zwischen 7und 15 US-Dollar am Tag verdienen, müssen sich ihre ecuadorianischen KollegInnen mit drei US-Dollar und weniger begnügen. Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, dass etwa Dole einen Großteil seiner Produktion aus Zentralamerika abgezogen und nach Ecuador verlagert hat.
„Wir beobachten mit Besorgnis die permanente Verschlechterung der Arbeitssituation, vor allem die Verletzung von elementaren Menschen- und Arbeitsrechten wie des Rechtes auf freie gewerkschaftliche Organisierung und andauernde Konflikte über Tarifverträge“, so Germán Zepeda aus Honduras, der der COLSIBA als Präsident vorsteht, in einem Brief an Chiquita. Der Multi stand zu seinem 100-jährigen Firmenjubiläum 1999 im Kreuzfeuer der Kritik von Solidaritäts- und Menschenrechtsgruppen sowie der betroffenen Gewerkschaften. Vor allem forderte COLSIBA die Anerkennung des Dachverbandes als legitime politische Interessensvertretung seiner Mitglieder.
In der Folge der internationalen Chiquita-Kampagne kam es zu mehreren Treffen zwischen Gewerkschaften und Bananenmulti, die schließlich zur Einrichtung eines „Ständigen Ausschusses” zur Überwachung der Arbeitsbeziehungen führte. An diesem Gremium ist neben Chiquita auch Del Monte beteiligt. Im September 2000 sicherten die beiden Konzerne COLSIBA die Einhaltung der wichtigsten Konventionen der ILO zu. Wie viel diese Zusage zählt, entscheidet sich allerdings nicht am Verhandlungstisch, sondern tagtäglich auf den Plantagen. Und hier haben die Konflikte nicht aufgehört.
Der Banane im deutschen Supermarkt sieht man leider nicht an, unter welchen Bedingungen sie produziert wurde. Zu Recht aber fordern diejenigen, die letztlich den Preis für unsere billigen Bananen bezahlen, die Solidarität auch der KonsumentInnen. Oder wie es Doris Calvo vom Frauensekretariat der costaricanischen Gewerkschaften formuliert: „Ich wünsche mir, dass die Menschen, die eine Banane in die Hand nehmen, daran denken, dass hinter jeder Frucht Schicksale stehen. Und dass wir, die Arbeiterinnen und Arbeiter, es auch verdienen, gut zu leben.“

Herrschaftskritik weichgespült

Im Lateinamerika Jahrbuch Nr. 24 wird das Thema Geschlecht und Macht zunächst historisch angegangen. Ein Rückblick von Gabi Küppers beschreibt die Entwicklung des lateinamerikanischen Feminismus, von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis zu den, teilweise stark von internen Konflikten geprägten feministischen Treffen Ende des 20. Jahrhunderts. Vor allem Konflikte zwischen autonomen und institutionalisierten Feministinnen und die Debatten um Differenz und Anerkennung haben die jüngsten Treffen bestimmt. Letztlich geht es um die Machtverteilung innerhalb der Bewegung und darum, ob die Frauenbewegung überhaupt noch Machtfragen stellt, zumal Frauen-Nichtregierungsorganisationen (NROs) zu Dienstleisterinnen im neoliberalen Staat geworden sind.
Mit der Situation feministischer NROs zwischen Professionalisierung und Basisbewegung beschäftigt sich dann ein ganzer Block von Artikeln. Laut Sonia Alvarez sind
„hybride politische Strategien und Identitäten“ entscheidend dafür, dass feministische NROs Brücken zwischen staatlicher Frauenpolitik und der Frauenbewegung an der Basis bauen können. In Zeiten neoliberaler Entwicklung werden professionelle NROs leicht zum „bequemen Ersatz für die Zivilgesellschaft“ und kostengünstige Ausführungsorgane des Staates oder externer Geber. Gerade deshalb, so Alvarez, liegt die Stärke feministischer NROs darin, sowohl Querverbindungen zwischen Frauenorganisationen als auch vertikale Beziehungen in die nationale und internationale Politik hinein herzustellen.
Genau das haben, so Susanne Schultz, peruanische feministische NROs während der Sterilisationskampagne 1996 bis 1998 nicht gemacht: Während reproduktive Rechte und die Entscheidungsfreiheit vor allem armer und indigener Frauen brutal missachtet wurden, haben lokale – und internationale – NROs geschwiegen oder sich sogar konstruktiv an der Kampagne beteiligt. So wurden bestehende Machtverhältnisse gestützt und kritische Stimmen der Basis über die Menschenrechtsverletzungen unterdrückt. Ein erschreckendes Beispiel für ungleiche Machtverteilung unter Frauen und für die widersprüchlichen Auswirkungen der Beteiligung an der Macht.
Eine gute Erfahrung von Machtgewinn chilenischer NROs hingegen schildern Kathya Araujo, Virginia Guzmán und Amalia Maurol. Gegen anfänglichen Widerstand, auch aus Reihen der Linken, wurde das Thema „häusliche Gewalt“ erfolgreich ins öffentliche Bewusstsein und auf die politische Tagesordnung gebracht, bis hin zur Institutionalisierung im Staatsapparat durch ein Gesetz.

Macht unter den Geschlechtern

Institutionalisierung, so die HerausgeberInnen im Editorial des Jahrbuches, bedeutet aber allzu oft, dass die Analysekategorie Gender „weichgespült und ihres herrschaftskritischen Potentials beraubt“ wird. Das illustriert Claudia von Braunmühl am Beispiel des gender mainstreaming Diskurses. Sie beschreibt, leider in teilweise recht schwer verdaulichem Stil, wie die patriarchale Presse der Bürokratien den herrschaftskritischen Saft aus der nationalen und internationalen Geschlechterpolitik gepresst hat. Deshalb zeichnet auch sie ein hoffnungsvolles Bild von feministischen Organisationen als Mittlerinnen zwischen Bürokratien und Basisbewegungen.
Zweites Hauptthema der Analysen ist der lateinamerikanische Männlichkeitswahn. Anhand der Theorien von Butler, Bourdieu und Connell setzt Martha Zapata Galindo zu einer allgemeinen Diskussion von lateinamerikanischem Machismo und Männlichkeitskonstruktionen an. Leider beschreibt sie dann aber doch nur den Einfluss dieser Theorien auf die noch recht schwache Männer- und Geschlechterforschung, vor allem in Mexiko. Es wird deutlich, dass wichtige Themen noch gar nicht von der Geschlechterforschung aufgegriffen wurden, zum Beispiel Chiapas und die EZLN.
Das war auch früher nicht anders, wie Andreas Goosses’ (übrigens einziger Autor einer Analyse) Artikel über das Männlichkeitsideal nicaraguanischer Guerilleros zeigt. Anhand von Omar Cabezas’ autobiografischem Buch La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (deutsch Die Erde dreht sich zärtlich, Compañera) beschreibt Goosses eindrucksvoll, wie der Mythos vom Mann und Revolutionär konstruiert und inszeniert und auch von den deutschen LeserInnen und AnhängerInnen der Revolution nicht hinterfragt wird.

Sexualpolitik in Kuba

Mit Männlichkeitsbildern beschäftigt sich auch Monika Krause-Fuchs in einem Artikel über Sexualpolitik in Kuba, der von viel persönlicher Erfahrung geprägt ist: Sie war Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung in Havanna. Ihre Erfahrungen und Zitate wie das von der „Jungfrau, die wie ein wunderschönes neues Auto“ ist, fügen sich zu einem düsteren Bild der Schwierigkeiten, Gleichberechtigung in einem vom Männlichkeitskult geprägten sozialistischen Land durchzusetzen.
Kritik an Heterosexualität als Dominanzkultur wird im Artikel über Kuba kurz gestreift. Doch insgesamt verharren leider alle Artikel im Jahrbuch in der simplen Gegenüberstellung von Mann und Frau. Während Gender-Theorie gerade auch gegen diese Dichotomie zu Felde gezogen ist, bleibt das im Jahrbuch formulierte Geschlechterbild letztlich ein wenig einfältig: Männer und Frauen stehen sich im Streit um die Macht gegenüber.

Vielfältige Orte und Formen der Macht

Die LeserInnen des Jahrbuches werden auf unterschiedliche Weise auf „Geschlecht“ als Kategorie gesellschaftlichen Lebens gestoßen, aber nicht in gleichem Maße zum Nachdenken über Macht in all ihren Schattierungen herausgefordert. Das liegt teilweise an dem Übergewicht von NRO-Erfahrungen und der Hoffnung, die die Autorinnen trotz aller Widersprüche mit NROs verbinden. Möglichkeiten und Grenzen offizieller Gleichstellungspolitik und Fragen der Machtverteilung im Feld der „klassischen“ politischen Macht, wie sie durch Parlamente und Regierungen repräsentiert wird, geraten so fast ganz aus dem Blickfeld. Ist die im Editorial erwähnte Quotenpolitik in Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Ecuador, Bolivien und Peru denn auch nur eine Spielart des Weichspülens feministischer Forderungen, und ist parlamentarische Macht nur böses Spiel?
Auch Fragen nach der Aufteilung wirtschaftlicher Macht unter den Geschlechtern bleiben im Jahrbuch leider ausgespart. Dabei haben doch neoliberale Strukturreformen und Globalisierung nicht nur „die Lebensbedingungen für Frauen und Männer“ und deren Rollenverhalten verändert, wie zu Recht im Editorial erwähnt wird. Vielmehr hat feministische Kritik von Wirtschaftstheorie und -politik überzeugend gezeigt, wie sehr die ökonomischen Modelle und Analysen selbst, die solcher Politik zugrunde liegen, von einem „gender bias“ (Diane Elson) geprägt sind. In der Folge sind wirtschaftliche Macht sowie Anteile an gesellschaftlicher Produktion und bestehendem Reichtum weiterhin himmelschreiend ungerecht zwischen den Geschlechtern verteilt.
Die Analysen sollen dieses Jahr zum ersten Mal auch in spanischer Sprache veröffentlicht werden. Kurze Zusammenfassungen der Artikel finden sich schon jetzt in Spanisch und Englisch, jedoch nicht in Deutsch, eine lohnende Innovation. Doch die Lesefreundlichkeit und rein äußerliche Attraktivität des Textes hat durch den erneuten Verlagswechsel nicht gewonnen. Von nun an erscheint das Buch beim Verlag Westfälisches Dampfboot. Hier reiht sich nun Absatz eng an Absatz, Zeile an Zeile in kleiner Schrift, mit einer winzigen Titelzeile darüber. Nicht alle Seitenumbrüche sind gelungen, und manche der Texte lassen redaktionelle Durchgriffe gegen SozialwissenschaftlerInnendeutsch vermissen. Gerade wegen der insgesamt sehr anregenden Lektüre ist das ein Ärgernis beim stolzen Preis von 40 Mark.

Jahrbuch Lateinamerika 24. Geschlecht und Macht. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 243 S.

Zurück ins Land der Großväter

Aus meiner Familie muss irgendjemand Italiener gewesen sein“, erzählt Julio Gómez aus Buenos Aires. „Meine Mutter heißt Santucho mit Nachnamen. Das kommt eigentlich vom italienischen Santucchi. Aber das reicht noch nicht für einen Pass.“ Der 25-Jährige zuckt resigniert die Achseln. Julio ist einer der vielen Argentinier, denen plötzlich die Herkunft ihrer Groß- und Urgroßeltern am Herzen liegt. War sie bisher nur Anekdote und Familiengeschichte, der keine Bedeutung beigemessen wurde, ist sie heute eine Hoffnung. Glücklich schätzt sich, wer nachweisen kann, dass der Opa oder die Oma damals um die Jahrhundertwende aus Europa nach Argentinien kam. Sie flohen vor wirtschaftlicher Misere in dieses viel versprechende südamerikanische Land. Heute erhoffen sich die Enkel ihrerseits wirtschaftlicher Misere zu entrinnen, argentinischer Misere. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. „Rückauswanderung“ nennt sich das Phänomen. Laut Umfragen tragen sich dreissig Prozent der ArgentinierInnen mit Auswanderungsgedanken.
Das Land stagniert politisch und wirtschaftlich. Verpufft ist der Elan und Enthusiasmus des Aufbruchs der achtziger Jahre nach dem Ende einer der grausamsten Diktaturen Lateinamerikas. Hoffnungslosigkeit und Resignation machen sich breit. Die Korruption im Land lässt sich scheinbar nicht ausrotten. Auch die neue Regierung von Fernando de la Rúa verstrickte sich im Oktober 2000 derart in einen Bestechungsskandal, dass die Regierungsallianz nach nicht einmal einem Jahr Amtszeit zu scheitern drohte. Die Kriminalität, hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Und die Arbeitslosigkeit erreicht fast 16 Prozent, nicht eingerechnet die Dunkelziffer derer, die sich mit Strassenhandel und kleinen Geschäften irgendwie über Wasser halten. „An meinen Umsätzen sehe ich, wie schlecht es uns Argentiniern geht“, erzählt Alejandro Carrizo, einer der vierzigtausend Taxifahrer der Hauptstadt, die täglich ums Überleben kämpfen. „Habe ich vor vier Jahren im Schnitt 100 Pesos in zwölf Stunden verdient, komme ich jetzt mit Glück gerade mal auf 70.“ Alejandros Beobachtung wird vom Meinungsforschungsinstitut Gallup Argentina bestätigt. Ihrer Statistik zufolge finden 72 Prozent der ArgentinierInnen, dass sich Ihre wirtschaftliche Situation im letzten Jahr verschlechtert hat, und 65 Prozent der Befragten beurteilen das erste Amtsjahr der Regierung von Fernando de la Rúa als negativ. Jugendliche suchen deshalb ihr Glück ausserhalb Argentiniens. Egal, auf welchem Weg.

Lieber illegal als arbeitslos

Julio Gómez kam lediglich über die Weihnachtsfeiertage zurück nach Buenos Aires. Ursprünglich hatte er vor anderthalb Jahren nur durch Europa reisen wollen. Jetzt ist Spanien seine zweite Heimat geworden, auch ohne Pass. „Ich ziehe die Illegalität dort allemal der Aussichtslosigkeit Argentiniens vor. Hier habe ich trotz Studium keine Chancen, und dort geht es mir selbst als Kellner besser.“ Wie viele ArgentinierInnen ohne Aufenthaltsgenehmigung in Europa leben, ist unbekannt.
Lange Schlangen bilden sich täglich vor allem vor der spanischen und der italienischen Botschaft in Buenos Aires. Ab drei Uhr früh stehen ganze Familien an, um Pässe zu beantragen oder Fragen nach Ausreisemöglichkeiten zu stellen. Die grösste Vertretung Spaniens in der Welt steht kurz vor dem Kollaps. Mehr als 1000 Personen kommen jeden Tag in der Hoffnung auf Hilfe, Hunderte senden ihre Anliegen per E-Mail. In nur zwei Jahren hat sich die Zahl der ausgestellten Pässe auf 20 000 im Jahr nahezu verdoppelt. 253 000 ArgentinierInnen konnten ihre spanische Abstammung mittlerweile nachweisen und besitzen das begehrte Dokument. Schätzungsweise 250 000 hätten nach Angaben des Konsulats noch ein Anrecht darauf. Ähnliches ist aus der italienischen Botschaft zu hören. Auch hier wurden in der letzten Zeit deutlich mehr Pässe ausgegeben als noch Mitte der neunziger Jahre. Tendenz weiter steigend. Schon das erste Halbjahr 2000 übertraf mit insgesamt 6835 Pässen fast das gesamte Jahr 1999. Die Einreisevisa in die USA stiegen ebenfalls um 42 Prozent, auch wenn das Land längst nicht mehr als Wunschland Nummer Eins gilt. Europa hat ihm den Rang abgelaufen, nicht zuletzt weil der Pass eines europäischen Landes Schlüssel zur Europäische Union ist.

Geschäft mit der Hoffnung

Der sehnliche Wunsch, der Tristesse Argentiniens zu entkommen, hat bereits auch diejenigen auf den Plan gerufen, die mit Hoffnungen ihr Geschäft machen. Im Oktober wurde eine eigenartige Fluchtwelle aus der Provinz Mendoza nach Kanada bekannt. Nach Angaben der argentinischen Tageszeitung „Página/12“ suchten in nur drei Monaten 2500 Argentinier in Kanada Asyl. Sie katapultierten damit Argentinien noch vor Sri Lanka auf Platz eins in der kanadischen Liste der politischen Asylantragsteller. Die Ursache für dieses Phänomen liegt in der kanadischen Verfassung. Sie gewährt jedem Flüchtling ein Jahr Aufenthalt zur Prüfung des Asylantrags. Zudem hatte Kanada in den letzten Jahren einigen Argentiniern als Opfer polizeilicher Übergriffe und Willkür politisches Asyl zugesprochen. Diese Umstände machten sich jetzt Menschenschmuggler zu Nutze, um verzweifelten ArgentinierInnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Bis zu 5000 US-Dollar Vermittlungsgebühr zahlten die Ausreisewilligen und verkauften zumeist alles, was sie besaßen. Doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Asylanträge durchkommen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht vor politischer Verfolgung aus Argentinien flohen.

Spanisch-argentinische Dörfer

Andere hatten mehr Glück. Sie wurden sogar gezielt angeworben. So suchte der Bürgermeister des spanischen Dörfchens Aguaviva in Aragón im Sommer 2000 dringend Einwanderer aus Argentinien, um seine völlig überalterte Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren. Wie die Madrider Tageszeitung „El País“ berichtete, wandte sich Luis Bricio mit einem Aufruf an einen argentinischen Radiosender. Er versprach Arbeit in der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, in einer Schinkenräucherei und einer Textilfabrik. Interessierte sollten zunächst einen Dreimonatsvertrag erhalten, um sich im Ort umsehen zu können. Wer dann bleiben wolle, könne seine Familie nachholen und mit verbilligten Krediten ein Haus kaufen. Die Bedingungen: Die Bewerber müssen Nachkommen von Spaniern und jünger als vierzig Jahre alt sein sowie zwei Kinder im Schulalter und eine Berufsausbildung haben. Sie müssen sich zu dem verpflichten, mindestens fünf Jahre in Aguaviva zu leben. Das Dorf schiesst die Reisekosten vor, die dann vom Gehalt zurückgezahlt werden können. Aus ganz Argentinien bewarben sich mehr als 5000 Personen, vierundzwanzig Familien wurden ausgewählt.
Die Ausreisewelle ist inzwischen in ganz Argentinien zu spüren. „Jeder hat jemanden in der Familie oder im Bekanntenkreis oder weiß von Leuten, die weggegangen sind“, sagt Oscar Suárez, ein Studienkollege von Julio Gómez und einer der wenigen aus seinem Jahrgang, der Arbeit gefunden hat. Und Julio selbst wird von all seinen Freunden über seine Erfahrungen in Europa befragt. Denn es sind vor allem die Jüngeren mit einem Universitätsabschluss, die gehen. „Ich habe nicht studiert, um als Taxifahrer zu enden“, erklärt Gabriel Walerko, der sich gerade nach einem Aufbaustudium in Spanien umsieht – mit spanischem Pass, dem Grossvater sei Dank. Claudia Lucca, die zusammen mit Julio, Oscar und Gabriel Tourismus studiert hat, lebt mehr schlecht als recht von ihrem Job in einem Reisebüro. An sechs Tagen in der Woche arbeitet sie zehn Stunden täglich. Aber die Kaufkraft der Kunden lässt immer mehr nach. Damit schwinden die Provisionen, die ihr mageres Gehalt von 500 Pesos ein wenig aufbesserten. Sie möchte nicht fort aus Argentinien, sie hängt am Land und an ihrer Familie. „Doch wenn mein Chef, der selbst italienische Vorfahren hat, es sich anders überlegt und das Reisebüro zumacht, um nach Europa zu gehen, dann werde wohl auch ich darüber nachdenken müssen“, sagt sie. Denn in der Tourismusbranche eine Arbeit zu finden, ist wie in fast jedem Bereich nahezu aussichtlos. „Wer hier arbeitslos wird“, erklärt Claudia, „wird nur in Ausnahmefällen noch einmal einen ähnlich guten Job finden. Meist beginnt dann der Abstieg.“
Fernando de la Rúa beklagt, nicht ganz zu Unrecht, die Rezession sei ein Resultat der Politik seines Vorgängers Carlos Menem. Die „Wanderungsbewegung“ aber, so De la Rúa, sei nichts anderes als ein Ausdruck der Bewegungsfreiheit in der Welt, normal im Zeitalter der Globalisierung und Flexibilität.

Einwanderung nach Argentinien

Trotz Rückwanderung hat Argentinien seinen Reiz als Einwandererland auch heute noch nicht verloren. Allerdings zieht es schon lange nicht mehr die EuropäerInnen nach Südamerika. Dafür kommen die NachbarInnen aus Peru, Bolivien, Paraguay und Ecuador. Oder sie kommen aus Korea, Russland und der Ukraine. Im Vergleich zur Armut und Hoffnungslosigkeit in diesen Ländern weckt Argentinien trotz Rezession Hoffnung. Die Pesos, die sie hier zu verdienen hoffen, sind dem Dollar gleichgestellt. Aber die neu Einwandernden sind nicht gerne gesehen. Viele ArgentinierInnen, suchen bei den ImmigrantInnen die „Schuldigen“ für ihre eigene Misere. Eine erste Welle des Fremdenhasses überzog das Land Anfang 1999, als die damalige Regierung von Carlos Menem, der selbst aus einer syrischen Einwandererfamilie stammt, mitten im Wahlkampf um den Präsidentenstuhl einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Neue Kontrollen an den Grenzen sollten vor illegalen Einwanderern schützen, denen 60 Prozent aller in Argentinien begangenen Delikte zugeschoben wurden. Die Medien griffen diese Polemik sofort auf und untermalten sie mit täglichen Bildern von Schiessereien, Raubüberfällen und Razzien. Die Polizei kontrollierte mit Vorliebe indigen aussehende Passanten. An dieser Situation hat sich nicht allzu viel geändert. Immer mehr in Argentinien lebende AusländerInnen suchen inzwischen einen Weg, ihrerseits wieder dem Land zu entrinnen. Vor allem in der mexikanischen Botschaft in Buenos Aires gehen verstärkt Visaanträge von KoreanerInnen, BolivianerInnen oder PeruanerInnen ein, die hoffen, über Mexiko in die USA zu gelangen.

Aufstand bis zur letzten Konsequenz

Jeden Samstag ist Markt in der kleinen Andenstadt Pelileo am Fuße des Vulkans Tungurahua. Nur am ersten Februarwochenende dieses Jahres nicht. Die indigenen Bewegungen Ecuadors haben zum landesweiten Streik aufgerufen und blockieren die Verkehrswege. Die wenigen Händler, die an diesem Tag dennoch den Weg zum Markt gefunden haben, bereuen ihr Kommen schnell. Protestierende Indígenas nähern sich mit lautem Geschrei den Ständen. Bananen fliegen durch die Luft; Früchte, Gemüse oder Kräuter werden aufgehäuft und beschlagnahmt.
Die Straße nach Ambato, die 30 km entfernte Provinzhauptstadt, ist an diesem Tag durch eine Barrikade aus Gerümpel und brennenden Autoreifen gesperrt. Besitzer kleinerer Autos erkundigen sich bei Einheimischen, ob sie auf Nebenstrecken die Blockaden umgehen können. Doch sogar auf holprigen Feldwegen, die sich durch die Berge und Schluchten der Umgebung schlängeln, erwarten die Reisenden Hindernisse: gefällte Eukalyptusbäume, Felsblöcke oder quer über die Piste ausgehobene Gräben. An manchen Sperren hocken Indígenas mit Macheten oder Holzknüppeln. Feine Glasscherben auf der Straße, die ohne Zweifel von einer Windschutzscheibe stammen, oder Rufe wie „Macht ihnen die Reifen platt“ mahnen Autofahrer zur Vorsicht. Chancen auf ein Durchkommen haben nur Reisende, die sich als Ärzte ausgeben oder eine Krankheit simulieren.

Bereit zu sterben

Die Indígenas waren nicht nur in der Provinz Tungurahua aktiv. Zehntausende besetzten Straßen, Plätze oder Kirchen im ganzen Land. Antonio Vargas, Präsident der ecuadorianischen Dachorganisation indigener Völker, CONAIE, hatte bereits Mitte Januar den Aufstand im Namen verschiedener sozialer und indigener Bewegungen ausgerufen. Bis dahin waren kleinere Proteste gegen eine von der Regierung verfügte Benzin- und Gaspreiserhöhung ohne Erfolg geblieben. „Der Aufstand wird bis zur letzten Konsequenz ausgetragen, bis die Regierung ihre Maßnahmen zurücknimmt,“ kündigte Vargas an. Auf Drohungen der Armeeführung, notfalls mit Gewalt die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, antwortete der CONAIE-Präsident: „Wir sind bereit zu sterben!“
Es gab tatsächlich Tote. Die Regierung rief kurz nach dem Beginn der Blockadeaktionen den Notstand aus und ließ Armee und Polizei mit Schusswaffen und Tränengas gegen die Demonstranten vorgehen. Die Bilanz: Drei Indígenas wurden beim Blockieren einer Straße von der Armee erschossen, etwa 80 Rebellierende erlitten zum Teil schwere Verletzungen. Die Polizei registrierte rund 500 Festnahmen. Auch CONAIE-Chef Vargas und Luís Villacis, der Vorsitzende der Patriotischen Front – einem Zusammenschluss von linken Studentenorganisationen und Gewerkschaften –, wanderten ohne Angabe von Gründen für drei Tage ins Gefängnis. Doch die Indígenas ließen sich von der Repression nicht einschüchtern und hielten zwei lange Wochen durch. Wurden sie an einem Ort auseinandergetrieben, so versammelten sie sich an einer anderen Stelle erneut. Die Panamericana, die wichtigste Verkehrsader des Landes, blieb durchgehend an mehreren Stellen blockiert. Der Güterverkehr im Hochland lag weit gehend lahm, auf den Indígena-Märkten lief nichts mehr. Neben den Provinzen Imbabura, Chimborazo oder Bolívar zählte auch die Region um den Vulkan Tungurahua zu den Hochburgen des Widerstands. 300 Millionen Dollar soll der Aufstand das Land gekostet haben.
In Quito versammelten sich für etwa zehn Tage knapp 13.000 Indígenas aus ganz Ecuador. Sie richteten ihre Schlafquartiere und Volksküchen auf dem Campus der katholischen Universität UPS ein, deren Tore Pater Eduardo Delgado, der Rektor der Hochschule, für sie öffnen ließ. Die Sicherheitsorgane verhinderten die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten, um die Demonstranten zur Rückkehr in ihre Dörfer zu zwingen. Auch die Wasserversorgung und die Telefonanschlüsse der Universität wurden gekappt. Jeder Versuch einer Demonstration wurde sofort mit Tränengas und Knüppeln unterbunden. Fünfzig Indígenas traten daraufhin in einen Hungerstreik. Die Regierung wollte unter allen Umständen eine Wiederholung der Ereignisse des letzten Jahres verhindern. Am 21. Januar 2000 hatten es protestierende Indígenas geschafft, das Parlament zu besetzen und den amtierenden Präsidenten Jamil Mahuad zu stürzen. Damals übernahm für drei Stunden ein Triumvirat die Macht , dem auch CONAIE-Chef Vargas angehörte. Am Ende sorgte dann die Armeespitze dafür, dass Gustavo Noboa, der Stellvertreter Mahuads, das Präsidentenamt übernahm. Im Jahre 1997 hatten die Indígenas bereits den Präsidenten Abdalá Bucarám in die Flucht geschlagen.

Umverteilung von unten nach oben

Die Indígenas, die etwa vierzig Prozent der Bevölkerung stellen, haben außer ihrem Leben nicht viel zu verlieren. Denn die Anzahl der Armen hat sich seit 1998 um 50 Prozent erhöht. Im Jahre 1999 mussten die Ecuadorianer ohnmächtig zuschauen, wie ihre Währung, der Sucre, auf zwanzig Prozent seines ursprünglichen Wertes zusammenschmolz und ihre Bankguthaben eingefroren wurden. Die betrogenen Sparer haben bis heute erst einen Teil ihrer Einlagen zurückerhalten. Die Produktion stagniert, die Arbeitslosenzahlen steigen, und die Inflation erreichte im Jahre 2000 mit 92 Prozent einen Rekordwert der republikanischen Geschichte. Logische Folge dieses Desasters: 20.000 Ecuadorianer verlassen jeden Monat das Land, um sich Beschäftigung im Ausland zu suchen. Die im letzten Jahr als Heilmittel verkündete Ablösung des Sucre als Landeswährung durch den Dollar hat bisher nichts bewirkt.
Hinzu kommt, dass die Staatskassen leer sind. Die Regierung brachte 1998 die Hälfte ihres Haushalts zur Zahlung von Auslandsschulden auf. Außerdem gab sie seit Ende 1998 fast vier Milliarden Dollar für die Sanierung von Privatbanken aus, die zum Teil von korrupten Bankiers in den Ruin getrieben worden waren. Die fehlenden Mittel wollte Präsident Noboa sich ausgerechnet bei der geschröpften Bevölkerung holen: mit einer sechzigprozentigen Benzin- und einer hundertprozentigen Gaspreiserhöhung. Zuvor hatten die zur Privatisierung anstehenden staatlichen Telefon- und Stromgesellschaften ihre Tarife schon kräftig angehoben. Ergänzend sollte eine Steuerreform sicherstellen, dass auch wirklich nur die Armen zahlen. So treten demnächst eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte und eine Absenkung der Einkommensteuer von 25 auf 20 Prozent in Kraft. Mit letzterer Maßnahme werden die Unternehmer und EinkommensempfängerInnen für die höheren Preise entschädigt.
Angesichts dieser Lage forderten die rebellischen indigenen und sozialen Bewegungen auch eine Konfiszierung des Besitzes korrupter Bankiers und eine Wiedereinführung des Sucre als Landeswährung. Doch sie blieben nicht bei rein wirtschaftlichen Forderungen. Sie verlangten außerdem von der Regierung, den USA die bestehende Marinebasis in der ecuadorianischen Hafenstadt Manta zu verweigern und den Plan Colombia abzulehnen, der Ecuador in den inneren Konflikt seines Nachbarlandes hineinzuziehen droht.
Nach zehn Tagen Aufstand begannen die Kräfte der protestierenden Indígenas zu schwinden. Die CONAIE und einige kleinere indigene Organisationen ließen sich schließlich trotz des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte auf Verhandlungen mit der Regierung ein. Ein entscheidender Punkt: Die Mehrheit der Bevölkerung brachte Meinungsumfragen zufolge zwar Verständnis für die Proteste der Indianer auf, doch sie war ebenso deutlich für ein Ende der Blockademaßnahmen. Die CON entschied sich, nicht mehr bis zur letzten Konsequenz zu kämpfen. Und so kam ein Kompromiss mit der Regierung zu Stande.
Präsident Noboa, der CONAIE-Chef Vargas und andere indigene Führer unterzeichneten am 7. Februar ein Abkommen, mit dem das Ende des Aufstands besiegelt wurde. Auch wenn die Regierung letztlich die Erhöhung der Benzinpreise nicht zurücknahm und die Gaspreise nur um 20 Prozent senkte, setzte die Indígena-Bewegung einige Veränderungen durch (siehe Kasten). Die in der Universität UPS versammelten DemonstrantInnenen feierten jedenfalls den Kompromiss und verließen jubelnd den Campus. Alle Inhaftierten kamen wieder frei, Familien mit Toten oder Verletzten erhielten eine Entschädigung, und der Ausnahmezustand wurde aufgehoben. Die Indígena-Bewegung hat einmal mehr ihre Stärke unter Beweis gestellt. Auch in Zukunft wird keine Regierung sie als politische Kraft ignorieren können.
Die Patriotische Front mit Luís Villacis an der Spitze wollte indes den Aufstand bis zur letzten Konsequenz weiter führen. Daher rief sie am Tag der Unterzeichnung des Abkommens noch einmal zu landesweiten Streik- und Protestaktionen auf. Doch abgesehen von einigen kleineren Demonstrationen in Quito tat sich nichts. Die Linke in Ecuador muss einsehen: Ohne die Indígena-Bewegung als Bündnisgenossin kann sie zur Zeit nichts bewegen.

KASTEN

Die wichtigsten Punkte aus dem Abkommen zwischen Regierung und Indígenas
Der Benzinpreis bleibt ein Jahr eingefroren. Dafür erhalten Kinder, Studenten und alte Leute in öffentlichen Transportunternehmen 50 Prozent Ermäßigung.
Eine Flasche Gas, deren Preis die Regierung von einem Dollar auf zwei Dollar erhöht hatte, verbilligt sich wieder auf 1,60 Dollar. Dieser Preis bleibt so lange eingefroren, bis über indigene, soziale und kirchliche Organisationen ein Verteilungssystem für die Bedürftigen eingerichtet ist.
Die Regierung stellt 10 Millionen Dollar Kredite für Mikrounternehmen und Kleinbauern zur Verfügung.
Indigene Einrichtungen erhalten mehr Geld aus der Staatskasse.
Land- und Wasserkonflikte zwischen indigenen Gemeinden und dem Staat werden gelöst.
Justizverfahren gegen korrupte Banker sollen beschleunigt werden.
Eingefrorene Bankguthaben sind so weit wie möglich zurückzuzahlen.
Ecuador beteiligt sich nicht am Plan Colombia.
Es wird eine Verhandlungskommission gebildet, um die Details der verschiedenen Punkte zu konkretisieren.

Bankensanierung mit dem Geld der Armen

Auslöser der letzten sozialen Auseinandersetzungen in Ecuador war eine im Dezember von der Regierung diktierte Erhöhung der Gas- und Benzinpreise. Die LN sprachen mit dem ecuadorianischen Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta über die Hintergründe der Krise. Acosta wird demnächst während einer Anhörung des Deutschen Bundestages über die Verschuldung in Lateinamerika sprechen.

Ecuador erlebt seit zwei Jahren eine soziale, wirtschaftliche und politische Dauerkrise. Wie ist es dazu gekommen?

Im Jahre 1999 ist das Bruttoinlandsprodukt um acht Prozent gefallen. Als Gründe lassen sich nennen: die Unwetterkatastrophe wegen des Klimaphänomens Niño, die Auswirkungen der asiatischen Wirtschaftskrise und der Fall der Ölpreise, der die ecuadorianischen Ölexporte dramatisch zurückgehen ließ. Wichtig sind aber auch interne Gründe: vor allem Korruption und permanente Regierungswechsel. In den letzten vier Jahren regierten fünf verschiedene Präsidenten das Land.

Als eine der Ursachen für den gegenwärtigen Konflikt gilt eine Bankenkrise. Die indigene Dachorganisation CONAIE fordert unter anderem die Konfiszierung des Besitzes korrupter Bankenbesitzer.

Der vor einem Jahr von der indigenen Bewegung gestürzte Präsident Jamil Mahuad ließ sich 1998 seinen Wahlkampf zum großen Teil von Banken
finanzieren. Der Bankensektor ist mit anderen Unternehmen verfilzt, insbesondere mit großen Zeitungsverlagen, Radio- oder Fernsehkanälen. Nach seiner Wahl beseitigte Mahuad eine Reihe von Kontrollmechanismen im Bankensektor. Die Banker konnten so ihren eigenen Unternehmen günstige Kredite verschaffen und Millionenbeträge in ihren Firmen oder im Ausland verschwinden lassen. Als ein Schlag ins Kontor erwies sich die Maßnahme der Mahuad-Regierung, die Einkommenssteuer abzuschaffen und stattdessen eine einprozentige Kapitalverkehrssteuer für jede Überweisung sowie für jede Ein- und Auszahlung von einem Konto zu erheben. Die Banken standen nun vor dem Bankrott, denn die Sparer begannen, ihre Guthaben abzuheben, zumal die Inflationsrate über den gezahlten Zinsen lag.

Wie viel Geld verloren die Sparer und wo ist es geblieben?

Wer nicht schnell genug sein Guthaben abhob, wurde betrogen. Denn der Sucre verlor in atemberaubender Geschwindigkeit an Wert. Ein Sparer, der Ende 1998 ein Guthaben in Sucres von umgerechnet 10.000 US-Dollar auf der Bank besaß, bekam ein Jahr später lediglich 2.000 US-Dollar zurück. Und es kam noch schlimmer: Um die Banken zu retten, fror die Regierung die verbliebenen Bankguthaben im Wert von 3,8 Milliarden US-Dollar Ende 1999 ein. Bis heute erhielten die Sparer erst etwas mehr als die Hälfte davon zurück. Der größte Teil des verschwundenen Geldes befindet sich in den Unternehmen korrupter Banker und außerhalb des Landes. Allein im Jahre 1999 wurden 2,5 Milliarden US-Dollar ins Ausland geschafft. Dafür hat der Staat in den letzten beiden Jahren etwa vier Milliarden US-Dollar in die Sanierung der Banken gesteckt.

Als Lösung der wirtschaftlichen Probleme wurde im letzten Jahr die Dollarisierung der Wirtschaft verkündet. Der Sucre wurde als Währung abgeschafft und durch den US-Dollar ersetzt. War diese Maßnahme erfolgreich?

Die Dollarisierung wurde als eine wirkungsvolle Maßnahme zur Bekämpfung der Inflation und zur Reaktivierung der Wirtschaft verkauft. Doch die Inflation erreichte im ersten Jahr der Dollarisierung, also im Jahre 2000, mit 92 Prozent eine Rekordmarke in der Geschichte der Republik Ecuador. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im letzten Jahr zwar wieder um 1,9 Prozent, doch die Produktion stagniert weiter.
Das Wachstum ist drei glücklichen Umständen zu verdanken: Erstens konnten auf Grund der höheren Ölpreise 800 Millionen US-Dollar an zusätzlichen Einnahmen verbucht werden. Zweitens finanziert Ecuador seine Wirtschaft durch den Export von Armen. So wurde im letzten Jahr der Rekordbetrag von 1,2 Milliarden US-Dollar von ecuadorianischen ArbeitsemigrantInnen aus dem Ausland überwiesen, mehr als die Exporterlöse aus Bananen, Kakao, Krabben und Kaffee zusammen. Und drittens ist Ecuador seit der Dollarisierung ein großer Waschsalon für Drogengelder geworden. Denn früher mussten größere Geldmengen an Sucres, die in US-Dollars eingetauscht wurden, von den Banken registriert und an die US-amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde DEA gemeldet werden. Diese Kontrolle ist weggefallen.

Was macht ein dollarisiertes Land wie Ecuador im Falle einer negativen Zahlungsbilanz? Ohne das Regulativ einer eigenen Währung würde sich in diesem Falle die Dollarmenge im Inland verknappen.

Das ist in der Tat eine große Gefahr, denn Ecuadors Wirtschaft ist wenig konkurrenzfähig. Wie kann Ecuador seine Konkurrenzfähigkeit verbessern, wenn die Geldpolitik als Steuerungsinstrument entfällt? Ganz einfach. Ecuador muss mehr Rohstoffe exportieren: Holz, Bodenschätze, Früchte, Blumen, Öl. Und die Arbeitskraft muss mehr ausgebeutet werden. Die Dollarisierung ist extrem umweltschädlich und trägt zur Verschlechterung der sozialen Verhältnisse bei.

Momentaner Streitpunkt ist vor allem die Erhöhung der Gas- und Benzinpreise durch die Regierung. In den Nachbarländern Peru und Kolumbien sind die Preise immer noch fast doppelt so hoch. Das fördert den Schmuggel von Gas und Benzin in diese Staaten. Stimuliert die Regierung nicht den Schmuggel, wenn sie die Preise einfrieren beziehungsweise weiter subventionieren würde?

Das Gas wird subventioniert. Die Produktionskosten des Benzins liegen dagegen nicht höher als der Verkaufspreis. Die staatlichen Raffinerien werden also nicht subventioniert. Durch den Schmuggel gingen allein beim Gas im vergangenen Jahr etwa 180 Millionen Dollar verloren. Außerdem heizen auch die Reichen ihren Swimmingpool oder ihre Saunas mit subventioniertem Gas auf. Der Staat könnte natürlich die Mehreinnahmen durch die Preiserhöhungen in soziale Projekte stecken. Das Problem bliebe aber, dass ein Großteil der Bevölkerung das Gas dann nicht mehr bezahlen kann. Dann würde mit Brennholz gekocht werden und in Quito verschwänden die letzten Bäume.

Wie könnte man das Problem mit dem Schmuggel lösen?

Das subventionierte Gas könnte über kirchliche und soziale Einrichtungen an Bedürftige verkauft werden. So lange die Einkommensprobleme der Bevölkerung nicht gelöst sind und die Produktion nicht wieder in Gang gekommen ist, bleibt kaum eine andere Lösung. Für das Benzin sind ähnliche Vorschläge denkbar. Wenn solche Alternativen scheitern, dann bleibt immer noch die Möglichkeit, die Mehreinnahmen aus einer Preiserhöhung zum Wohle des Volkes zu verwenden. Die Regierung schröpft hingegen die Armen und saniert die Banken. Das ist Diebstahl.

“Neuer Horizont“ für die Stadt der Flüchtlinge

Die Sekretärinnen von William Sánchez sitzen gelangweilt hinter ihren Schreibtischen. Es ist kurz vor zwölf, bei der Hitze arbeitet man gewöhnlich auf Sparflamme. Zumal, wenn nur im Büro des Chefs die Klimaanlage surrt. Und viel zu tun gibt es offensichtlich auch nicht. Die Stühle im Gang sind unbesetzt.
Es handelt sich um die personería, die Institution, die in Kolumbien die Rechte der Bevölkerung vertritt. Und Rechtsverletzungen gibt es in diesem Land zuhauf, nur hat man schon lange aufgehört, ihnen ernsthaft nachzugehen. Dass es sein Büro trotzdem gibt, scheint nicht Sanchez´ Schuld zu sein, auch wenn es so aussieht, als wolle er sich mit seinem permanenten Grinsen dafür entschuldigen.
Während der Mann mit dem Goldkettchen und Flohmarktutensilien auf dem Schreibtisch zu sprechen beginnt, zeigt er auf die bewohnten Hügel hinter seinem Fenster. „Nun, täglich kommen hier fünf Familien an, die vom Land geflüchtet sind. Ach was, acht!“, korrigiert er sich. „Sehen sie dort, die ganzen Viertel sind in den letzten 15 Jahren entstanden. Die ganze Stadt besteht aus Flüchtlingen.“
Er beginnt sich warm zu reden. Schließlich sitzt noch ein Vertreter der Katastrophenhilfe der deutschen Diakonie im Raum, die Flüchtlingsprojekte plant. „Ganze Stadtteile sind illegal. Wir haben hier prozentual die meisten Flüchtlinge in Kolumbien. Das liegt am Koka und der Gewalt.“

Grünes Koka statt braune Bohnen

Die Stadt heißt Florencia. Sie liegt irgendwo zwischen bergiger Zivilisation der Andenregion und der grünen Ewigkeit der flachen Llanos, wo keiner richtig weiß, wer das Sagen hat. Das macht diese nur 150.000-Einwohner zählende Stadt zu einem strategisch wichtigen Punkt. Für alle, die in der Tragik des Landes eine Rolle spielen. Von der Guerilla bis zum Militär, vom einfachen Kokabauern bis zum großen Drogendealer.
Dabei war und ist der Drogenanbau der Herzschrittmacher, der den Rhythmus dieser Stadt diktiert. Italienische Designerläden im verkommenen Zentrum zeigen, dass, entgegen dem ersten Eindruck, Geld in der Stadt vorhanden sein muss. Offenbar so viel, um Menschen aus hunderten von Kilometern Entfernung hierher zu verschlagen.
So sollen 1999 nach dem schweren Erdbeben im Kaffeegebiet um Armenia viele Betroffene nach Florencia gekommen sein, obwohl größere Städte und erschlossenere Zonen näher lagen. Dass sie keine braunen Bohnen anbauen wollen, liegt am Ruf der Gegend. Vielmehr will man an dem Kokaanbau mitwirken, der mehr Geld abwirft als jegliche anderen Agrarprodukte.
Daher nutzen die meisten die Stadt als Sprungbrett, um ihr Glück herauszufordern. Man kommt und geht. Obwohl die Stadt erst 90 Jahre alt ist, wirkt sie abgenutzt. Viele von diesen Goldsuchern kommen jedoch nicht weit und stranden wieder in Florencia. Denn wer es mit dem Koka versucht, muss sich mit den örtlichen Machthabern arrangieren. Diese sind im Gebiet des Caquetá und weiter südlich gewöhnlich die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und mittlerweile auch in zunehmenden Maße die Paramilitärs. Viele der Bauern wollen nicht mit einer Seite kooperieren. Wer dies doch tut, wird von der anderen bedroht und sucht den Weg in die relative Sicherheit der Stadt.

Low-intensity-war auf zweitem Blick

Einige nationale und internationale Organisationen versuchen nun, in dem die Stadt umgebenden Hüttengürtel etwas aufzubauen, was die Menschen zum Bleiben bewegt. Das Internationale Rote Kreuz (IRK) und Ärzte ohne Grenzen sind präsent und arbeiten medizinisch wie logistisch in Florencia. Allerdings lautlos und unauffällig, da man den „unsichtbaren Mächten“ nicht auf die Füße treten will.
„Was hier herrscht, ist ein low-intensity-war. Auf den ersten Blick scheint alles friedlich, aber mit der Zeit merkt man, dass hier Krieg herrscht,“ beschreibt Jan Schütt vom IRK die permanente Spannung in der Stadt, die sich hin und wieder entlädt.
Im Dezember etwa explodierten in Häusern zwei Bomben, die dem Konflikt zwischen Guerilla und Paramilitärs zugeschrieben wurden. Pro Woche wurden im Schnitt sechs Menschen erschossen, aufgrund der gleichen Rivalität. Zwei Lokal-Journalisten wurde ihr Beruf zum Verhängnis, weil sie zu viel über die Situation in der Stadt berichtet hatten. Ende Januar soll es jedoch ungewöhnlich still geworden sein. Nach Ansicht vieler deshalb, weil die Paramilitärs nun die Stadt komplett kontrollieren. Wer weiß, wie lange.
Das IRK-Büro in Florencia besitzt momentan eine Schlüsselstellung. Gut hundert Kilometer östlich beginnt die entmilitarisierte Zone, in der die FARC seit zwei Jahren mit der Regierung verhandeln. Geplant ist nun eine umfangreiche Geiselfreilassung und ein Gefangenenaustausch, an deren Verhandlungen Schütt und das IRK maßgeblich beteiligt waren. „Das Geschenk wird nun wohl mein Nachfolger entgegennehmen“, sagt er etwas wehmütig.
Nach 14 Monaten wird Schütt seine Arbeit als Koordinator des IRK an seinen französischen Nachfolger abgeben müssen. Das verlangen die IRK-Regeln. Doch wirklich nachtrauern tut er seinem Job in Florencia nicht. Schließlich muss man permanent auf Tuchfühlung sein mit den Konfliktparteien. Und dass diese nicht immer die Regeln beachten, beweisen zwei Vorfälle vom Herbst letzten Jahres. Im Chocó, im Nordwesten Kolumbiens, überfielen Paramilitärs einen Krankentransport des IRK, der eine verletzte 17-jährige Guerillera ins Hospital bringen sollte. Sie wurde vor den Augen der Rotkreuz-Mitarbeiter erschossen. Kurze Zeit danach rächten sich die FARC im südlichen Putumayo und taten das Gleiche mit einem Paramilitär.
Seitdem die „Paras“ vor einigen Monaten begannen, großflächige Gebiete im Süden zu besetzen und die Guerilla zurückzudrängen, finden die internationalen Institutionen hin und wieder Leichen an Straßenrändern. Dabei handelt es sich meist um angebliche Guerillasympathisanten, mit denen die Paras von Ort zu Ort selektiv aufräumen, sofern sie nicht schon vorher geflüchtet sind.
Das plötzliche und massive Auftauchen dieser Ultrarechten hat verschiedene Gründe: Einerseits wollen sie die Kontrolle erlangen, um die 15.000 Hektar Kokafelder im Caquetá für ihren Drogenhandel zu nutzen. Andererseits haben sie sich zum Ziel gesetzt, die Guerilla zu vertreiben. Dass sie das Hand in Hand mit der Armee tun, bezweifelt schon lange niemand mehr.

Schweigepflicht für NGO

Joan Carles López ist seit letztem Oktober offizieller Administrator von Ärzte ohne Grenzen in Florencia. Der Katalane arbeitete vorher in Bosnien und Tschetschenien und ist nun für die Koordination der zehn Angestellten zuständig, die im Caquetá operieren.
Bevor er über die Arbeit zu sprechen beginnt, versucht er, seinen Vorgesetzten in Bogotá wegen einer Erlaubnis zu erreichen. Vor einigen Monaten wurde allen Mitgliedern eine Schweigepflicht auferlegt. Ein französischer Mitarbeiter hatte sich im Umgang mit dem Konflikt zu blauäugig verhalten, eckte bei der ERG-Guerilla an und war für sechs Monate lang entführt worden.
Über den Krieg hier mag er nicht reden, aber hin und wieder braust es in ihm auf. Über den scheinbar ausweglosen Konflikt, die vertriebenen Bauern, die nach Florencia kommen, die Toten, die die Stadt und das Land hinterlassen. „Wer weiß schon, wie viele Flüchtlinge in die Stadt kommen. Es gibt genug, die sich nicht bei den Behörden melden. Aus Angst, dass diejenigen sie ausfindig machen, die sie auf dem Land bedroht haben,.“
Ärzte ohne Grenzen sind zwar nicht so stark vertreten wie das IRK, aber sie gehen mit ihrer Arbeit am weitesten. Ein Team ist gerade an der Südgrenze der Provinz mit Mauleseln unterwegs, um drei Tage entlegene Dörfer zu erreichen. Denn von medizinischer Versorgung ist dort weit und breit keine Spur. Morgen wird López sie in dem Ort Solito abholen. Was ihn auf der dreistündigen Fahrt erwartet, weiß er nicht. Er hat nur gehört, dass vor zwei Tagen die Paramilitärs in das Dorf gekommen sind und sich Scharmützel mit der Guerilla geliefert haben.
Zuvor jedoch schaut er noch einmal in Nueva Colombia (Neues Kolumbien) vorbei, wo gerade ein ambulantes Team von Ärzten ohne Grenzen löchrige Kinderzähne behandelt und Gesundheitskontrollen durchführt. Der Stadtteil ist der größte Florencias und gleichzeitig einer der unerschlossensten, was die Infrastruktur betrifft. 1.200 Familien leben in an Hänge gekrallten Holzhütten. In einigen Sektoren gibt es kein Wasser, Strom wird von den Oberleitungen illegal abgezapft.
Alfonso hat 67 Jahre auf dem Buckel und glaubt eigentlich nicht, dass sich hier irgendetwas ändern wird. Jedenfalls nicht, solange er lebt. Über den Namen seines Viertel kann er nur spöttisch lachen. Vor zwölf Jahren kam er mit seiner 17 Jahre jüngeren Frau nach Florencia, die kurz danach noch ein Kind bekam. „Ich habe in Rosales gewohnt und gearbeitet. Dann kam die Guerilla in den Ort. Ich wollte damit nichts zu tun haben, sie wissen ja, was hier passieren kann,“ erklärt er sich in seiner von Ritzen durchzogenen Hütte. So strandete er hier und muss nun auch noch Miete zahlen für knappe 20 Quadratmeter.

Gifteinsätze ohne Einschränkung

Dass man in Florencia offensichtlich gegen Windmühlen ankämpfen wird, verspricht die Zukunft. Daran ändert auch das gestiegene Engagement der NROs nichts. Denn man leistet hier bereits vor der angekündigten Katastrophe humanitäre Hilfe, nicht danach. Während sich europäische Länder verstärkt sozial engagieren, planen kolumbianische und US-amerikanische Militärs in der nahe gelegenen Basis Narania den Krieg. Mitte Januar sind die letzten der 33 Huey-Hubschrauber aus den USA auf den Basen angekommen, die den Antiguerillakrieg und die Besprühungen der Kokafelder intensivieren sollen. Dabei sprengen letztere bereits jetzt jeden Rahmen. Laut den offiziellen Verlautbarungen finden die Giftflüge selektiv statt. Bauern und Indígenas berichten allerdings Gegenteiliges: Demnach werden die Gebiete großflächig mit Pestiziden besprüht. Viele tausend Hektar werden so pro Jahr vergiftet. Zwischen Mais- oder Kokafeld macht man keinen Unterschied. Die indigenen Cofanes bekamen dies im Dezember zu spüren. Die Flüsse und Felder, die zu einer offiziell unterstützten Kooperative gehörten, wurden auf lange Zeit verseucht, obwohl sie mit Koka nichts zu tun hatten.
Einziger Ausweg für die Bewohner ist die Flucht. Viele Bauern sind bereits aus diesem Grund in Florencia, sie werden allerdings nicht als desplazados anerkannt. Giftbesprühungen gelten nicht als Fluchtgrund.

„Neuer Horizont“ verspricht Massenflucht

Zudem ist das Training neuer Spezialeinheiten beinahe abgeschlossen, so dass sich solche verheerenden Operationen in den nächsten Wochen auch auf dem Boden verstärken werden.
Untrügliches Anzeichen dafür ist die Präsenz der US-Amerikaner. Laut dem hoch dekorierten General Arias Vivas, der gerne gegenüber der Presse plaudert, sollen sich allein in seiner Basis nahe Florencia 450 US-Piloten und Ausbilder befinden. Die gleiche Anzahl befindet sich nochmals in Tres Esquinas. Offiziell arbeiten aber weiterhin nur 300 „Berater“ im Land.
Deren Masterplan für den Süden, vorwiegend für die Provinzen Putumayo und eben Caquetá, heißt zynischerweise „Neuer Horizont“. Er ist das Prunkstück der militärischen Komponente im Plan Kolumbien, den die USA mit 1,3 Milliarden US-Dollar finanzieren. Wie dieser für die Bevölkerung aussieht, malte kürzlich die Menschenrechtsorganisation CODHES aus. Man rechnet im Putumayo mit bis zu 190.000 Flüchtlingen, mehr als die Hälfte der dortigen Bevölkerung. Entweder ziehen sie über die Grenze nach Ecuador, oder Richtung Norden. Und die erste größere Stadt, auf die sie dann treffen werden, ist Florencia.

Zweites Loch im kolumbianischen Käse

Zur Abwechslung kamen die Weihnachtsmänner diesmal in Grün. Kurz vor der Bescherung am 23. Dezember ließ die ELN (Nationale Befreiungsarmee) 42 Geiseln aus dem Sack. Polizisten und Soldaten, die seit Monaten gefangen gehalten wurden. Als Geste des guten Willens und um ihre Bereitschaft zu bekunden, dass man es ernst meint mit dem Friedensprozess. Zuvor trafen sich auf Kuba Vertreter der Guerillagruppe und der Hochkommissar für den Frieden, Camilo Gómez, um an dem Abkommen für eine Nationalkonvention zu feilen (siehe LN 291/292; 312). Dieses wurde bereits im Frühjahr letzten Jahres ausgehandelt, endete jedoch permanent in einer Sackgasse, da paramilitärische Offensiven oder Meinungsverschiedenheiten mit der Regierungskommission die Beziehungen belasteten.
Geplant ist eine Spezialzone in den Landkreisen Cantagallo und San Pablo im Süden des Departments Bolívar, aus denen sich das Militär für neun Monate zurückziehen soll, um die „Volksversammlung” mit der ELN zu ermöglichen. Allerdings hält diese dem Vergleich mit der bereits seit zwei Jahren existierenden FARC-Zone kaum stand. Während diese zehn Mal so groß ist und zurecht „Farclandia” genannt wird, muss die ELN mit Staatsvertretern in unklarer Mission leben. So soll dem kolumbianischen Geheimdienst DAS der Zugang nicht verwehrt werden. Eine zivile Sonderpolizei soll deutlich machen, dass man dieses Gebiet nicht der Guerilla preisgibt und die öffentlichen Staatsautoritäten handlungsfähig bleiben. Schließlich ist die funktionierende FARC-Justiz in San Vicente den staatlichen Gesetzeshütern schon seit langem ein Dorn im Auge.
Ein weitaus größeres Problem stellt sich der ELN in Gestalt der Paramilitärs dar, die bereits seit Jahren in dieser Gegend wüten und scheinbar unabhängige Organisationen gegen eine Verhandlungszone mobilisieren. Seit Bekanntwerden der Pläne mit der ELN haben die Truppen um Carlos Castaño,Chef der Paramilitärs, eine groß angelegte Offensive in den nördlichen Landesteilen gestartet, die seit Wochen eine verheerende Gewaltwelle in Gang setzt. Um jeden Preis wollen die AUC (Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens) verhindern, dass die Zone und folgende Verhandlungen zustandekommen.

Brennende Ölmetropole

Blutiger Mittelpunkt dieses Krieges ist seit Dezember die Erdölmetropole Barrancabermeja, die zentral am Magdalena-Fluss liegt. Einige Kilometer stromabwärts an der anderen Uferseite soll die Konventionszone entstehen. Castaño kündigte zuvor an, Ende 2000 einen Kaffee im Nordosten der Stadt trinken zu wollen, nachdem er die Guerilla, die traditionell in den Arbeitervierteln verwurzelt ist, dort vertrieben hat.
Gesagt, getan. Am 22. Dezember überquerten mehr als 100 Paramilitärs mit Booten den Fluss. „Wir sind jetzt da, ihr kleinen Guerilleros. Jetzt werden wir mit euch abrechnen”, riefen die Paras den verschlossenen Häuserfronten der Stadtteile „1. Mai” und „Simon Bolívar” entgegen, an denen Bilder von Che Guevara, Camilo Torres und José Martí prangen.
Seit diesem Tag fanden unablässig Scharmützel in den Straßen statt. Die Paras besetzten Häuser und vertrieben die Eigentümer. Die Guerilla rief die Bewohner auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Denn wenn die Paras aufkreuzten, machten sie kurzen Prozess. Allein in der ersten Januarwoche starben in der 400.000-Einwohnerstadt 24 Menschen.
Dass es die Paramilitärs offensichtlich sehr einfach haben, sich in der militarisierten Stadt zu bewegen, verstärkt die mehrfach belegten Verbindungen mit Armee und Polizei. Noch am 14. Januar meinte der zuständige Polizeikommandeur, ihm sei nicht bekannt, dass sich Bewaffnete in der Stadt befänden. Unterdessen kletterte die Zahl der Toten auf über 30.
Kurz darauf kündigte das Militär an, um die ELN-Zone einen Sicherheitsring von drei Bataillonen zu legen, damit, so die Argumentation, die Nationalkonvention vor paramilitärischen Übergriffen geschützt werde. Dass sich diese ereignen könnten, lässt sich bei deren Stärke nicht ausschließen.
Viel wahrscheinlicher ist aber ein anderes Szenario: Sollte sich kein Erfolg einstellen, wäre die ELN mit einer militärischen und paramilitärischen Offensive konfrontiert und läge diesmal womöglich in ihren letzten Zügen. Denn diese sitzt dann in einem Kessel, der sich die nächsten Monate zuziehen könnte. Bisher gibt man sich aber in der Serranía San Lucas noch optimistisch und lässt guten Willens die letzten Geiseln frei, die man noch in der Gewalt hat.

Anno 1886

Verbale Schützenhilfe für die Paramilitärs kommt aus rechtskonservativen Kreisen in Politik und Wirtschaft, die die bisherige Friedenspolitik ad absurdum führen wollen. Bei einem Treffen der Vereinigung der Viehzüchter (Fedegán) im November nutzten die Großgrundbesitzer ihren Einfluss, um eine Forderung aufzustellen, die einen klaren Rechtsruck in der Politik einführen und das Ende der Friedensgespräche einläuten sollten. In einer hetzerischen Rede drosch deren Präsident Jorge Visbal Martelo auf die FARC und den bisher erfolglosen Friedensprozess ein, geißelte eine mögliche ELN-Zone und forderte allen Ernstes eine Legalisierung von Nationalmilizen.
Diese Form der Landsicherung durch bewaffnete Milizen war bereits in der alten Verfassung von 1886 festgeschrieben, wurde in der neuen Anfang der neunziger Jahre allerdings getilgt, da sich diese Gruppen den Paramilitärs wie ein Ei dem anderen ähnelten. Ein Unterschied liegt lediglich darin, dass die Nationalmilizen offiziell von der Armee trainiert und unterstützt wurden.
„Diese Deklaration der Fedegán ist die Ansicht vieler hoffnungsloser Kolumbianer. Mit Grund. Schließlich fehlen Ergebnisse (im Friedensprozess)”, sagte der Kongress-Präsident Mario Uribe Escobar, der an dem Treffen teilnahm. Dabei griff er tatsächlich die pessimistische Stimmung in der Bevölkerung auf. Allerdings schürt er damit die sich verbreitende Ansicht, dass man dem Konflikt nur noch mit harter Waffengewalt begegnen könne.
An seine Seite gesellten sich ähnlich hochkarätige Personen wie der Verteidigungsminister Luis Fernando Ramírez und Ex-Gouverneur und Rechtsaußen-Präsidentschaftskandidat Mario Uribe Vélez. „Die FARC-Zone ist das reinste Desaster”, äußerte Letzterer. Auf keinen Fall dürfe man den gleichen Fehler mit der ELN machen.
Dieser Vorstoß ist kein Zufall. Viele Kongressabgeordnete bemühen sich seit geraumer Zeit, dem allgemeinen Rechtsruck im Land weiter Vorschub zu leisten, den Paramilitärs in den Verhandlungen die Türen zu öffnen und ihnen den heiß ersehnten politischen Status zu gewähren. Ein Punkt, den die Guerilla vehement ablehnt, da diese Gruppen außer bezahlter Massaker und Vertreibungen keine politischen Ziele verfolgen.

Flaute in San Vicente

Zudem scheint das paramilitärische Projekt reibungslos zu funktionieren. Sie sind mit 5-8.000 Kämpfern so stark wie nie zuvor, machen mittlerweile in fast allen Landesteilen mobil und sind den Rechten der gewünschte Stein im Getriebe des Friedensprozesses, der den schleppenden Verlauf vollends zum Stehen bringen könnte.
Doch nicht nur im Sur de Bolívar nehmen die Paramilitärs das Schikksal des Friedensprozesses in die Hand. Während dort nun geschäftiges Treiben auf allen Seiten herrscht, ist seit dem 14. November in der FARC-Zone im Süden des Landes Ruhe eingekehrt, nachdem die Verhandlungen ausgesetzt worden sind. Beinahe das Einzige, was dort seit zwei Jahren mit Regelmäßigkeit zelebriert wird. Die Guerilla forderte nach den genannten politischen Annäherungsversuchen an die Paramilitärs ein entschiedenes Vorgehen gegen diese. Solange die Pastrana-Regierung nichts handfestes unternimmt, gebe es keine Verhandlungen mehr.
Von September bis Dezember bekam die Bevölkerung zudem einen Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn der Plan Colombia richtig entfaltet wird. Im Department Putumayo an der Grenze zu Ecuador, wo mit 56.000 Hektar allein über die Hälfte des Koka angebaut wird, vollzogen die FARC eine 83 Tage währende bewaffnete Blockade. Ziel war die Vertreibung der sich dort festsetzenden Paramilitärs, die seit Bekanntwerden des so genannten Antidrogenplans offenbar ertragreiche Pläne für das Land schmieden, sobald die Kokabauern vertrieben sind. Denn vermutet werden umfangreiche Ölvorkommen, die laut einem ehemaligen US-Armeeausbilder in Kolumbien die Hauptmotivation für die Einmischung der USA in dieser unerschlossenen Zone sind.
Während der Blockade waren die BewohnerInnen der Dörfer eingeschlossen. Lebensmittel mussten mit Transport-Flugzeugen der Armee in die Orte gebracht werden. Als die Situation auszuufern drohte, schickte die Regierung Armeeverstärkung in den Putumayo – was auch geplant war.
Im Januar machten daraufhin die Gouverneure der südlichen Provinzen Druck auf die Regierung. Die Situation sei unhaltbar und man fordere eine Änderung der Drogenbekämpfungspläne. Und von ihnen ging nun ein neuer Impuls für die Verhandlungen mit der FARC aus. Bisher fand der Dialog ausschließlich zwischen der Zentralregierung und der Guerilla statt, ohne die betroffenen Departments einzubeziehen. Jetzt wollen sie, sofern der Prozess wieder aufgenommen wird, daran mitwirken.
Und danach sieht es aus, nachdem der Prozess bereits als tot galt. Noch vor Ende Januar wollen FARC und Regierung einen Gefangenenaustausch durchführen. Zudem kündigte die Guerillagruppe an, eine unbestimmte Anzahl weiterer Geiseln freizulassen. In einem Schreiben an die Regierung stellte FARC-Chef Manuel Marulanda Mitte Januar allerdings elf Punkte auf, die teils Zugeständnisse, teils Forderungen sind. Demnach wären die FARC bereit, internationale Beobachter der Zone zuzulassen.
Desweiteren wird in dem Schreiben eine Kommission zur Bekämpfung des Paramilitarismus gefordert, die die tatsächlichen staatlichen Anstrengungen beobachtet und leitet. Selbst in diesem Punkt scheint sich die Regierung jetzt langsam zu bewegen, nachdem sie dieses Thema jahrelang ignorierte. Ob außer politischen Lippenbekenntnissen mehr herauskommt, wird sich zeigen.
Doch zunächst steht die bisher wichtigste Entscheidung noch aus: Wird die FARC-Zone nach dem 30. Januar weiter verlängert oder nicht? Sollte der Friedensprozess vorher wiederbelebt werden, steht dies wohl nicht mehr zur Debatte, und die Rechte im Land würde vorerst die Initiative verlieren – bis zur nächsten Krise. Wenn diese Verlängerung aber nicht verabschiedet wird, käme das einer offenen Kriegserklärung gleich.

Kasten: Panorama der Gewalt

Nach dem schweren Erdbeben in El Salvador bestellte Präsident Francisco Flores 3.000 Särge. Nicht etwa aus einem der nahe liegenden Länder wie Guatemala oder Mexiko, sondern aus Kolumbien. Vielleicht ist es einfach nur die Qualität oder die Gewissheit, dass dort genug dieser Holzkästen zur Verfügung stehen. Die Funerarias sind derzeit wohl die zufriedensten Einzelhändler in Kolumbien.
Denn an Kunden mangelt es nicht: Laut Polizeiangaben starben in dem 40-Millionen-Einwohnerland im letzten Jahr 26.250 Menschen durch Mord. Das sind acht Prozent mehr als 1999. 85 Prozent dieser Todesfälle geschehen durch Schusswaffen, wobei jedes fünfte Opfer ein Kind ist. Im Schnitt wird alle 20 Minuten jemand ermordet. Glück hatten nur weitere 238.277 Menschen, die einem „unnatürlichem Tod” verletzt entkommen konnten.
Die höchste Steigerung in dieser Quote erfuhren die Massaker. Offiziell wurden 205 verübt, bei denen 1.226 Menschen starben. 32 Prozent mehr als 1999.
Unter „nur” zehn Prozent verbucht die Polizei den Anteil an politischen Morden. Darunter befinden sich neben Bürgermeistern und Journalisten über 90 Gewerkschafter, die durch sicarios mundtot gemacht wurden.
Auch an lebenden Opfern mangelt es nicht: 3.029 Menschen wurden entführt, 432 gelten aus politischen Gründen als vermisst. Kolumbien verzeichnet außerdem knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge. Laut der Menschenrechtsorganisation CODHES verließen letztes Jahr 228.000 Menschen ihr Land oder wurden vertrieben. 93.216 aus klar politischen Gründen. Sollte in Zukunft die militärische Operation „Neuer Horizont_, stark verwurzelt mit dem Plan Colombia, im Department Putumayo zur Drogenbekämpfung beginnen, rechnet die Organisation mit 190.000 Flüchtlingen allein aus dieser Provinz. Das ist mehr als die Hälfte der ganzen dortigen Bevölkerung.
Wer es gar nicht mehr aushält, sucht den Weg ins Ausland. Laut einer Zeitungsumfrage wollen 41 Prozent der Bevölkerung Kolumbien verlassen. Wegen der anhaltend hohen Gewalt und der prekären wirtschaftlichen Situation: Kolumbien hat mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 21 Prozent die höchste auf dem ganzen Kontinent. Knapp 250.000 Menschen haben das Land dieses Jahr verlassen, in den letzten fünf Jahren über eine Million.
Der wohl Einzige, der das Jahr 2000 als „ein gutes Jahr” gesehen hat, war Präsident Pastrana.

Die goldenen Jahre der Mafia

Diego Armando Maradona war sauer. Der Dribbelkünstler im Ruhestand musste zu Hause in Buenos Aires bleiben, während die Elf seines geliebten Fußballclubs Boca Juniors nach Tokio zum Endspiel um den Weltcup gegen Real Madrid reiste. „Sogar Leute wie Fujimori sind in Japan, und mich lassen sie nicht einreisen, um ein Fußballspiel zu sehen“, empörte er sich. Die japanische Regierung hatte Maradona das Einreisevisum verweigert, weil er wegen Drogenkonsum vorbestraft ist. Der ehemalige peruanische Präsident Alberto Fujimori, Kopf einer Mafia, die unter anderem Schutzgelder von Drogenhändlern erpresste, durfte dagegen auf der Flucht vor der Justiz nach Japan einreisen und sich dort niederlassen.
Im fernen Japan verfängt sich der Flüchtling in einem Netz aus Lügen, das er selbst gesponnen hat: „Ich laufe nicht davon, ich fliehe nicht wie andere“, hatte Fujimori noch Ende Oktober getönt, als sein Vizepräsident Francisco Tudela den Rücktritt einreichte. Nicht einmal 30 Tage später schlich er sich wie ein Dieb davon. Der Präsident, der stets Sparsamkeit predigte und sich nach eigenen Angaben nur ein Gehalt von 2.000 Soles – etwa 600 US-Dollar – im Monat genehmigte, durfte nun aus Tokio verfolgen, wie sein letzter Premierminister Federico Salas zugab, 30.000 US-Dollar verdient zu haben, also mehr als fünfzig Mal so viel wie sein Chef. Die dreisteste Lüge Fujimoris aber ist, dass er nicht wusste, was seine vermeintliche rechte Hand tat. Die mafiaähnlichen Strukturen, die sein Berater Vladimiro Montesinos systematisch in staatlichen Behörden und Institutionen aufbaute, will der Präsident glatt übersehen haben.

Die Drogenrepublik Peru

Vielleicht war der Präsident auch die rechte Hand seines Beraters. Diese Vermutung wird durch Aussagen des Ex-Premiers Federico Salas bekräftigt, der kürzlich von einer parlamentarischen Untersuchungskommission vernommen wurde (siehe Kasten). Doch eine Hand wäscht die andere, und so haben der Präsident und sein Berater zehn Jahre lang zum gegenseitigen Nutzen gut zusammengearbeitet. Am Anfang standen die Drogengelder. Roberto Escobar, der Bruder des 1993 erschossenen Chefs des Medellín-Kartells Pablo Escobar, eröffnete der kolumbianischen Zeitung El Cambio, sein Bruder hätte im Jahre 1990 eine Million US-Dollar für die Finanzierung von Fujimoris Wahlkampf zur Verfügung gestellt. Vermittler des Deals, von dem sich das Medellín-Kartell die problemlose Landung seiner Transportflugzeuge in Peru erhoffte, war Escobar zufolge ein altbekannter Geschäftsfreund seiner Familie: Vladimiro Montesinos. Einmal an der Macht, unterhielt Montesinos auch mit der Konkurrenz rege Geschäftsbeziehungen. Der Berater Fujimoris ließ sich nach Aussagen von Boris Foguel, dem in Panama einsitzenden Ex-Chef der Drogenbande die „Kamele“, für jedes exportierte Kilo Kokain eine Provision von 700 US-Dollar auszahlen. Wer sich weigerte, die fälligen Schutzgelder an Montesinos zu überweisen, wurde laut Foguel gnadenlos von den peruanischen Behörden verfolgt. Mehrere Transportmaschinen sollen im Flug abgeschossen worden sein. Die „Kamele“ zahlten und durften dafür unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen. Die peruanische Luftwaffe stellte ihnen sogar Flugzeuge zur Verfügung, mit denen sie die Kokapaste über die Anden in die Kokainlabors an der peruanischen Küste transportieren durften. Demetrio Chávez, der für das Cali-Kartell pro Monat fünf Tonnen Kokapaste nach Kolumbien flog, handelte mit Montesinos einen Mengenrabatt aus. Er kam mit 50.000 US-Dollar pro Monat davon. Doch er ließ sich in Kolumbien schnappen und wurde ausgeliefert. Sein Geständnis, insgesamt 1,5 Millionen US-Dollar Schutzgelder an Montesinos und 300.000 US-Dollar an führende Armeegeneräle gezahlt zu haben, musste er mit Isolationshaft im berüchtigten Marinegefängnis zu Callao bezahlen, in dem auch Abimael Guzmán, der ehemalige Führer des Sendero Luminoso, und Victor Polay, der Gründer der Guerilla MRTA, sitzen.
Die Justiz kooperierte nicht nur im Fall Chávez mit Montesinos. Als der Zollfahnder Fernando Ruíz im Lastwagen eines Fischmehlunternehmens einige Säcke Kokain entdeckte, wurde ein gewisser Eudocio Martínez verhaftet. Ruíz zufolge soll Montesinos über einen Vermittler drei Millionen US-Dollar für Martínez’ Freilassung verlangt haben. Die sollten für Fujimoris Wahlkampf im Jahre 1995 verwendet werden. Als Martínez zahlte, öffneten sich für ihn prompt die Gefängnistore. Dafür kamen Ruíz und der Anwalt einer Zollagentur hinter Gitter.

Goldene Kriegszeiten

Jene 48 Millionen US-Dollar, die auf Montesinos Konten in der Schweiz gefunden wurden, sind vermutlich gewaschene Drogengelder. Ende November entdeckten die Schweizer Behörden weitere 22 Millionen US-Dollar auf anderen Konten des Ex-Geheimdienstchefs, die er als Provision für Waffenkäufe der peruanischen Regierung in Russland erhalten haben soll. Zusammen mit anderen Geschäftspartnern – unter anderem aus der Armeespitze – kontrollierte Montesinos ein Geflecht von Firmen, die mit dem Waffenkauf für die peruanischen Streitkräfte beauftragt wurden. Die Vorgaben für die Auftraggeber im Innen- und Verteidigungsministerium kamen ebenfalls von Montesinos. Allein in den Jahren 1995 bis 1998, vom Beginn des Konfliktes mit dem Nachbarland Ecuador bis zum vorläufigen Friedensvertrag, wurden nach Auskünften der Regierung vier Milliarden US-Dollar für Waffenkäufe ausgegeben. Ein besonderer Skandal war der Kauf von 18 MIG-29 Abfangjägern und 14 Sukhoi-25-Jagdbombern in Weißrussland. Das Geschäft wurde abgeschlossen, obwohl bessere Angebote aus der Ukraine und Russland vorlagen. Dafür gingen 760 Millionen US-Dollar Provisionen an eine peruanische Firma, die mit Montesinos’ Vermögensverwalter, dem Unternehmer Víctor Alberto Venero, in Verbindung steht.
Gelegentlich sind von der peruanischen Regierung erworbene Waffen mit Gewinn weiterverkauft oder gegen Drogen getauscht worden. Im Interesse des Geschäfts verschwammen sogar ideologische Gegensätze – wie zum Beispiel beim Verkauf von 10.000 Gewehren russischer Bauart an die kolumbianische FARC. Ein Deal, der den Zorn der US-Regierung hervorrief und daher vermutlich den Anfang vom Ende des Montesinos-Fujimori-Regimes markierte.

Staatliche Unternehmensberatung

Ein weiteres Instrument bei der Schutzgelderpressung war die Steuerbehörde SUNAT. Sie organisierte Betriebsprüfungen und stellte bei manchen Unternehmen Nachforderungen in Millionenhöhe. Bei Zahlungsunfähigkeit konnten die betroffenen Firmen zum Teil direkt mit Montesinos über mögliche Problemlösungen verhandeln. Direkte Zahlungen an den Präsidentenberater wurden als Honorare für Unternehmensberatung getarnt. Es ist noch längst nicht bekannt, wie viele Millionen US-Dollar Montesinos auf diese Weise einstrich. Allein die Modeschmuck-Unternehmerin Matilde Pinchi zahlte ihm zuletzt 90.000 US-Dollar monatlich für seine Beratungsdienste. Zeitungsverlage und Fernsehkanäle kamen auch mit folgsamer Programmgestaltung davon.
Zu Montesinos Diensten war auch die Zollbehörde SUNAD. Überführte Firmen, die Schmuggelware aus dem Ausland auf den peruanischen Markt brachten, durften ihren Geschäften bei regelmäßiger Schutzgeldzahlung in Ruhe weiter nachgehen. Jaime Mufarech, ehemaliger Regierungsbeamter, denunzierte Regierungsmitglieder, ihre schützende Hand über Schmuggeldelikte gelegt zu haben. Der ehemalige Wirtschaftsminister Victor Joy Way soll selbst Mitglied einer Mafia gewesen sein, die illegale Importe organisiert hat.
Montesinos, dessen Vermögen von der spanischen Zeitung El País auf eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird, mag derjenige gewesen sein, der am meisten geraubt hat. Kenner der Szene schätzen aber, dass sich etwa 50 Funktionäre des korrupten Regimes schamlos bereichert haben: die Führungsspitze der Armee und der Polizei, Richter, Staatsanwälte, hohe Beamte, Abgeordnete, Minister und nicht zuletzt der Präsident selbst. Zum Beispiel spülte die hemmungslose Privatisierungswut der neoliberalen Regierung 9,2 Milliarden US-Dollar in die öffentlichen Kassen. Doch die Unternehmen wurden in vielen Fällen angeblich wegen mangelnder Rentabilität unter Wert verkauft. Dabei sollen Abermillionen an Provisionen geflossen sein.

Kleingeld aus der Schwarzgeldkasse

Auch die vielen Wasserträger des Regimes und die Mitwisser wollten bezahlt werden. Der Mafiaboss Montesinos brauchte daher Kleingeld, um seine Anweisungen auf allen Ebenen von Armee, Justiz und Wahlbehörden umzusetzen. Oder um Abgeordnete, Verleger, Bürgermeister und Journalisten zu bestechen. Schätzungsweise kamen etwa 500 Personen, Zivilisten und Militärs, in den Genuss von regelmäßigen Zuwendungen. Montesinos verfügte zu diesem Zwecke über Schwarzgeld von schätzungsweise 100 Millionen US-Dollar jährlich, Geld aus der Staatskasse, von dem zumindest Fujimori und der Wirtschaftsminister wussten. Die Mittel stammen aus dem Verteidigungshaushalt, dessen genaue Aufteilung – dem an der Grenze lauernden Feind geschuldet – Staatsgeheimnis bleibt. Montesinos konnte mit diesem Geld agieren, wie es ihm beliebte, doch der Präsident war letztlich der Nutznießer: Seine Mehrheit im Kongress hatte er dem Kauf von Abgeordneten zu verdanken, seine Wahlerfolge einer gleichgeschalteten Justiz, der Hofberichterstattung in den Medien und den Manipulationen der zuständigen Behörden. Ohne eine zufriedene Armeespitze hätte er nicht zehn Jahre an der Macht überlebt.
Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen auch gegen Fujimori Ermittlungen aufgenommen. Unter anderem, weil er kurz vor seiner Flucht eine Wohnung des schon abgetauchten Montesinos durchkämmen und dessen Hab und Gut beschlagnahmen ließ. Ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl und ohne Staatsanwalt. Damit demonstrierte der Präsident öffentlich, worum es ihm bei der Jagd auf seinen Partner wirklich ging: um die Vernichtung von Beweisen. Bevor er sich in Japan niederließ soll er – der peruanischen Zeitung Liberación zufolge – bei einem Zwischenstopp in Singapur 18 Millionen US-Dollar auf japanische Banken transferiert haben.
„Ehrlichkeit, Technologie, Arbeit“ – so lautete die Botschaft, die Alberto Fujimori im Jahre 1990 den Präsidentensessel sicherte. Zehn Jahre später ist die Arbeitslosenquote in Peru höher denn je. Der Mann, den viele seiner Landsleute einst für „den besten peruanischen Präsidenten aller Zeiten“ hielten, institutionalisierte die Lüge und stand dem korruptesten Regime der peruanischen Geschichte vor. Die Illusionen des peruanischen Volkes nahm er in seinen Koffern mit ins hoch technisierte Japan.

KASTEN:
Dreitausend bewaffnete Männer

Der letzte Ministerpräsident des gestürzten Regimes, Federico Salas, sagte in der ersten Dezemberwoche vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission aus. Seinen Ausführungen zufolge traute sich Präsident Fujimori Ende September nicht, nach der Veröffentlichung des Videos, das Montesinos bei der Bestechung eines Abgeordneten zeigt, seinen allmächtigen Berater zu entlassen. Salas erzählte, auf Anweisung des Präsidenten habe er selbst Montesinos angerufen und diesem den Rücktritt nahe gelegt. „Kein Präsident und schon lange kein kleiner Ministerpräsident wie du besitzt die Macht mich abzusetzen“ soll Montesinos ihm damals geantwortet und damit gedroht haben, dass er über dreitausend bewaffnete Männer verfüge und einen Staatsstreich organisieren könne, wann immer er wolle. „Wenn du weiter insistierst, wirst du nicht einmal mehr bis zum Gitter des Präsidentenpalastes kommen“, waren laut Salas die letzten Worte Montesinos. Der Ex-Premier gab zu, völlig verängstigt gewesen zu sein. Montesinos Antwort soll der Grund dafür gewesen sein, dass Fujimori sich selbst zum Rücktritt entschlossen hat.

¡Vamos a la playa!

Chilenen sind nicht hoch an-
gesehen in Bolivien. Denn Chile ist schuld. Im so genannten Pazifikkrieg verlor Bolivien 1879 das Departement Litoral um die Hafenstadt Antofagasta an Chile. Peru musste im Laufe des Krieges den heutigen chilenischen Norden um die Städte Arica und Iquique abgeben. Wirtschaftliche Interessen ferner Mächte, namentlich Englands und der USA, an den Bodenschätzen der Atacamawüste spielten in dem Konflikt eine nicht unerhebliche Rolle, aber wen interessiert das heute noch?
Die Bilder von den militärischen Auseinandersetzungen an der peruanisch-ecuatorianischen Grenze vor wenigen Jahren sind noch in Erinnerung, und die Reden so mancher bolivianischer Politiker klingen nicht weniger martialisch als seinerzeit in Peru und Ecuador. Droht von daher ein weiterer Konfliktherd? Für Bolivien allerdings verbietet sich ein Waffengang schon aus militärischen Gründen: Gegen die chilenische
Armee haben die Bolivianer keine Chance.
Bolivianische Landkarten zeigen in aller Regel das heutige Territorium des Landes, während in Ecuador ausnahmslos jede Karte das Amazonastiefland bis zum peruanischen Iquitos mit einbezieht. Der Verlust des „Litoral“ an Chile ist letztlich als historischer Fakt akzeptiert, genauso wie die anderen territorialen Verluste im Lauf der Geschichte Boliviens: Urwaldprovinz Acre an Brasilien, der Chaco an Paraguay.

Die Historie ist kaum
mehr als ein Symbol
Bleibt die Frage, wozu die nationalistischen Reden von den uralten bolivianischen Rechten am Zugang zum Meer dienen. Zum einen ist das Thema immer tauglich, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Zum anderen könnte im Hintergrund das Bestreben stehen, durch das Aufrechterhalten der Maximalposition „Rückkehr zur Küste“ in Verhandlungen um Häfen und Handelskorridore eine bessere Ausgangsposition zu haben. Ein legitimes Anliegen, da doch die Bildung einer südamerikanischen Freihandelszone auf dem politischen Programm steht. Aber eines ist sicher: Chile wird Bolivien kein Territorium abtreten, einen Pazifikhafen unter voller bolivianischer Souveränität wird es nicht geben.
Ohnehin lässt sich mehr erreichen, wenn Bolivien mit einer Alternative droht. Als Anfang der 90er Jahre die Präsidenten Fujimori und Paz Zamora das peruanische Ilo als zukünftigen bolivianischen Freihafen präsentierten, da sorgte man sich in Arica und Iquique um das Geschäft mit den Bolivianern.
Das politische Ritual um die „historischen Rechte Boliviens“ hat eine Eigendynamik. Fast jeder bolivianische Politiker dürfte genau wissen – und akzeptiert haben, dass in Antofagasta heute Chilenen leben und dass die Stadt chilenisch bleiben wird. Gleichzeitig kann dies aber keiner von ihnen offen aussprechen, ohne dass sofort folgte der Schrei der Opposition: „Verrat!“ folgt. So wird es wohl weitergehen wie bisher. Die Fiktion lebt fort, die großen Reden von den bolivianischen Rechten auf seine Küste werden gehalten, von manchen mehr, von manchen weniger.
Währenddessen freut man sich hier wie dort, dass es endlich eine asphaltierte Straße von La Paz an die chilenische Küste gibt. Wer das nötige Kleingeld hat, fährt aus La Paz für ein Wochenende an den Strand, wer das Kleingeld erst noch erwirtschaften muss, handelt mit allem, was sich aus den Häfen nach La Paz transportieren lässt: ein ganz normaler kleiner Grenzverkehr, mit dem es sich leben lässt.
Ulrich Goedeking

Für ein paar Dollar mehr

Federico Salas hat nicht viel mit einem Westernheld gemein. Dennoch zeigt sich der ehemalige Präsidentschaftskandidat gern hoch zu Ross. Mit kariertem Hemd, Jeans und Cowboyhut. So ritt er als Herausforderer Fujimoris während des Wahlkampfes noch vor wenigen Monaten durch die Armenviertel Limas. Der damalige Bürgermeister der Provinzhauptstadt Huancavélica wollte seine Verbundenheit mit der ländlichen Bevölkerung demonstrieren und sich als Anwalt der Armen profilieren. Er gab sich als aufrechter Streiter für die Demokratie, nannte Fujimori einen Diktator und schoss mit verbaler Munition gegen die Regierung. Angesichts der staatlich inszenierten Diffamierungskampagne gegen den erfolgreichsten Oppositionskandidaten Alejandro Toledo witzelte Salas: „Mir können sie höchstens nachweisen, dass mein Pferd schwul ist.“ In der Wahlnacht des 9. April stand der Reitersmann neben Toledo und den anderen Präsidentschaftskandidaten der Opposition auf der Terrasse des Sheraton-Hotels in Lima, um vor Tausenden seinen Protest gegen den Wahlbetrug der Regierung zu artikulieren.
Inzwischen hat Salas Cowboyhut und Reiterstiefel an den Nagel gehängt. Den schwulen Hengst hat er gegen eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben eingetauscht. Der Anwalt der Armen ist seit dem 28. Juli Ministerpräsident der Republik Peru. Als solcher darf er nun seinen Landsleuten aus Huancavélica selbst erklären, warum es sich für die Regierung nicht lohnt, in ihrer Region – der ärmsten des Landes – die Infrastruktur zu verbessern.
Die peruanische Geschichte hat leider zahlreiche Figuren vom Schlage eines Federico Salas hervorgebracht. Er steht auch jetzt nicht allein. Pünktlich zur ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments fanden achtzehn (!) Abgeordnete der Opposition an der Regierungspolitik Gefallen und wechselten für ein paar Dollar mehr die Reihen (siehe LN 313/314). Fujimoris Parlamentsgruppe Peru 2000, die bei den Wahlen nur 52 von 120 Sitzen erhielt, verfügt urplötzlich über eine komfortable Mehrheit.

Chronik eines angekündigten Todes

Ministerpräsident Salas bekam unmittelbar bei Dienstantritt Gelegenheit, seine neue Argumentation zu schleifen. Just an dem Tag, als er seine Hand zum Schwur hob, streifte sich nämlich sein Chef zum dritten Mal die Präsidentenschärpe über. Unter den Augen der Gesinnungsgenossen Banzer aus Bolivien und Naboa aus Ecuador, die als einzige der geladenen lateinamerikanischen Präsidenten den Weg nach Lima gefunden hatten. Hunderttausende protestierten gegen den Wahlbetrüger. Wie die Demonstration endete, lief über die Ticker der Nachrichtenagenturen in aller Welt: sechs Tote, Dutzende von Verschwundenen, Hunderte von Verletzten und über zweihundert Festnahmen. Die Verantwortlichen waren von Salas und seinen neuen Freunden im Handumdrehen ausgemacht: die OppositionsführerInnen Alejandro Toledo, Jorge del Castillo und Anel Townsend. Sie hatten die Demonstration angemeldet.
Die vom Geheimdienst SIN finanzierte Boulevardpresse war bei der Suche nach den Schuldigen noch schneller. Sie sah bereits voraus, was unter wessen Verantwortung geschehen würde. So warnte sie Toledo schon Tage vor dem Ereignis, mit der Mobilisierung zur Demonstration Gewalt in Kauf zu nehmen und für eventuelle Tote verantwortlich zu sein. In einer Sendung des gleichgeschalteten Fernsehkanals 4 wurde Toledo beschuldigt, die Beschaffung von Brandbomben und Sprengstoff veranlasst zu haben. Konsequenterweise war Toledo nach dem Gewaltausbruch für die Schmutzpresse ein Mörder. Abgeordnete von Fujimoris Bewegung Peru 2000 zeigten Toledo, del Castillo und Townsend an: wegen Anstiftung zur Gewalt. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf.
Was war wirklich geschehen am 28. Juli? Schon einen Tag zuvor hatten sich zur Marcha de los Cuatro Suyos, so genannt nach den vier Regionen des alten Inkareiches, Hunderttausende aus allen Regionen des Landes im Zentrum der Hauptstadt getroffen und friedlich demonstriert. Nicht ein einziger Zwischenfall war registriert worden. Am Morgen des 28. Juli wurden dann ein Bankgebäude, das Erziehungsministerium und der Sitz der obersten Wahlbehörde JNE in Brand gesteckt. Sechs Wachmänner, die sich im Inneren des Bankgebäudes aufhielten, starben bei dem Versuch, den Flammen zu entkommen. Polizei und Militär hatten sich zu diesem Zeitpunkt seltsamerweise von der Bewachung dieser Gebäude zurückgezogen und waren damit beschäftigt, auf die Demonstranten einzuknüppeln und sie mit Tränengas in die Flucht zu jagen. Zeugen beobachteten, wie bewaffnete Zivilisten Feuerwehrwagen an der Abfahrt hinderten, als die Brände gemeldet wurden. Unter den Demonstranten wurden von Privatpersonen zahlreiche Agenten des Geheimdienstes SIN und der Polizei gefilmt. Und eine Kamera, die gegenüber dem abgebrannten Bankgebäude installiert war, machte sogar Aufnahmen von den Tätern. Doch die Staatsanwaltschaft weigert sich, das Beweismaterial öffentlich zu machen.
Alles in allem drängt sich daher der Verdacht auf, Regierungsagenten könnten den Brand selbst gelegt haben. Zumal in der Wahlbehörde JNE das Beweismaterial für den Wahlbetrug den Flammen zum Opfer fiel.
Viele der Festgenommenen sind bis heute nicht wieder auf freiem Fuß. Ein Großteil von ihnen wurde von der Polizei gefoltert. Roberto Gómez war eines der Opfer. Der inzwischen freigelassene Student zeigte den Direktor der nationalen Polizeibehörde PNP, Fernando Dianderas, wegen der Folterungen an. Gómez erhielt prompt die Quittung: als er in einem Auto Lima durchquerte, wurde ein Attentat auf ihn verübt. An einer Tankstelle wurde aus einem anderen Wagen auf ihn geschossen. Gómez hatte Glück. Er konnte rechtzeitig in Deckung gehen, und die Kugeln prallten an seiner Autotür ab.

Nach dem Sturm lauer Wind

Inzwischen ist es wieder ruhiger geworden in Lima. Und es ist unwahrscheinlich, dass die Regierung es wirklich wagt, Toledo und anderen Oppositonsführern wegen der Ereignisse vom 28. Juli den Prozess zu machen. Oder sie gar ins Gefängnis zu werfen. Das Tandem Fujimori und Montesinos ist eher auf Schadensbegrenzung orientiert, und auf eine Normalisierung des Verhältnisses zu den USA, deren Regierung nach dem Wahlbetrug unverhohlen mit Sanktionen drohte. Die beschränken sich allerdings bislang darauf, dass Madeleine Albright bei ihrer Abschiedstournee durch Lateinamerika einen Bogen um Peru machte.
Um ihre Kompromissbereitschaft zu zeigen, hat sich die Regierung unter Vermittlung und auf Druck der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auf Verhandlungen mit der Opposition eingelassen. Während fanatische Regierungsanhänger Gefängnisstrafen für Toledo und andere Oppositionelle fordern, kann sich der Präsident moderat geben. Dabei deutet sich an, dass Fujimori und Montesinos sogar zu Zugeständnissen bereit sind. Wichtige Punkte in den Verhandlungen sind:
– die Rückgabe des Fernsehkanals 2 an den Unternehmer Baruch Ivcher, der nach kritischen Berichten über Montesinos Geheimdienst vor drei Jahren kriminalisiert und ins Exil getrieben wurde
– die Wiedereinsetzung des obersten Verfassungsgerichtes, das wegen Unterbesetzung nicht mehr zusammentritt, seit drei der fünf Richter in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurden, weil sie Fujimoris dritte Kandidatur als das bezeichneten, was sie ist: verfassungswidrig
– die erneute Anerkennung der Kompetenz des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José, Costa Rica, dessen Urteile die Regierung seit Juli 1999 nicht mehr akzeptiert, weil gegen Peru die meisten Verfahren anhängig sind.
Dass künftig ein lauerer Wind in Lima weht, möchte die Regierung auch mit einem anderen Coup demonstrieren: die von einem Militärgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte ehemalige MRTA-Aktivistin Lori Berenson soll einen neuen Prozess vor einem Zivilgericht bekommen. Berenson hat Glück, dass sie US-Bürgerin ist und Außenministerin Albright kürzlich in einem Brief an Fujimori auf die Klärung ihres Falles drängte. An den Fällen Tausender anderer Gefangener des MRTA und des Sendero Luminoso, die ebenfalls von der Militärjustiz in Scheinprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt wurden, wird indes nicht gerührt.

Zehntausend Kalaschnikows

In einem weiteren Punkt bewegt sich die Regierung keinen Millimeter. Opposition und OAS hatten den Kopf von Vladimiro Montesinos gefordert, des Architekten der Fujimori-Diktatur. In der letzten Augustwoche luden der Präsident und der ansonsten das Licht der Öffentlichkeit meidende Geheimdienstchef zu einer Pressekonferenz. Montesinos persönlich gab bekannt, dass ein Ring peruanischer Waffenschieber ausgehoben worden sei, der 10.000 Kalaschnikow-Gewehre in Jordanien gekauft und diese an die kolumbianische FARC-Guerilla weitergeliefert habe. Die Verantwortlichen, ehemalige Offiziere der peruanischen Streitkräfte, hätten Verträge mit der jordanischen Regierung gefälscht und seien nun zur Rechenschaft gezogen worden. Die Armee werde unter seiner, Montesinos Führung, die nötigen Maßnahmen ergreifen, um den Waffenhandel an der peruanisch-kolumbianischen Grenze künftig zu unterbinden. Ziel der Pressekonferenz war es, dem Ausland die Unentbehrlichkeit eines Mannes wie Montesinos zu demonstrieren. Die USA äußerten sich prompt anerkennend.
Etwas unglücklich war nur, dass Jordanien umgehend eine Protestnote einreichte. Die Waffen seien offiziell von der peruanischen Regierung gekauft worden und hochrangige peruanische Offiziere hätten den Vertrag unterzeichnet. Eine Fälschung sei völlig unmöglich. Sollte diese Version stimmen, dann müsste Montesinos selbst von den Waffenlieferungen gewusst haben, denn ohne seine Zustimmung läuft beim peruanischen Militär gar nichts. Überraschend wäre es nicht, wenn der skrupellose Geheimdienstchef, der als Anstifter zahlreicher Morde gilt und offensichtlich in Drogengeschäfte verwickelt ist, sich auch als Waffenschieber betätigte. Nur mag ihm niemand Lieferungen direkt an die FARC so Recht zutrauen.
Derweil feilt Alejandro Toledo daran, der Protestbewegung Struktur zu geben. Wie schwer es jedoch ist, eine starke Opposition um eine Partei herum aufzubauen, hat zuvor schon Limas Bürgermeister Alberto Andrade erfahren. Der hatte zunächst mit seinem Wahlbündnis Somos Perú bei diversen Kommunalwahlen Erfolg: Bis ihnen die Mafia um Montesinos und Fujimori den Etat kürzte. Schließlich gaben viele von ihnen entnervt auf oder wechselten wie die anderen Abgeordneten ins Regierungslager. Sicherlich für ein paar Dollar mehr.

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