Risse in der neoliberalen Käseglocke

Es war einmal eine Macht im Norden, die lange ihr treue Diktaturen unterstützte. Dann drängte sie auf Demokratie und zog die neoliberalen Daumenschrauben an, auf dass jede gewählte Regierung ihr genehm sei. Und nun laufen die Wähler auf einmal aus dem Ruder. Undankbares Pack! Wählen einen Hugo Chávez in Venezuela. Wählen Lula in Brasilien. Wählen einen gewissen Lucio Gutiérrez in Ecuador. Und lassen, nicht zu vergessen, einen Schwerkriminellen wie den Cocabauernführer Evo Morales in Bolivien zwar zum Oppositionsführer, aber doch zum eigentlichen Wahlsieger werden. Was ist los auf dem Subkontinent?

Lo popular“, dieser unübersetzbare Begriff. „Das Volk“, nicht das ganze Volk, sondern die Benachteiligten, die gesellschaftlichen Mehrheiten haben gegen die Wunschkandidaten des Weißen Hauses gestimmt. Sie setzen ihre Hoffnungen diesmal nicht in den Markt, sondern in die Verheißung einer Politik, die für Respekt steht, für Rechte und für soziale Sensibilität.

Mehr oder weniger vorsichtige Distanz zu den USA und der Rekurs auf „el pueblo“, damit sind die Gemeinsamkeiten der Genannten allerdings auch schon erschöpft.

Der Wichtigste ist Lula, denn Brasilien setzt kraft seines übermächtigen ökonomischen Gewichtes die Maßstäbe. Er kann an die Tradition der brasilianischen Außenpolitik anknüpfen, den USA gegenüber die europäische Karte immer in der Hinterhand zu behalten. Der gemeinsame amerikanische Markt ALCA ist noch längst nicht besiegelt, und Brasilien ist dabei das größte Fragezeichen.

Der Ärgerlichste für die USA – weil rhetorisch Radikalste – ist Hugo Chávez. Im Gegensatz zu Lula sind seine demokratischen Qualitäten allerdings äußerst umstritten. Gegen ihn demonstrieren nicht nur wohlgeschminkte Damen der Mittelschicht, sondern auch ArbeiterInnnen.

Lucio Gutiérrez wird ein kleines und international weniger wichtiges Land regieren, aber der Blick auf Ecuador wird sich lohnen. Noch nie ist ein Präsident mit so großer Unterstützung indigener Organisationen gewählt worden. Ecuador wagt ein Experiment – oder hat jedenfalls die Hoffnung mit der multikulturellen Demokratie ernst zu machen. Eben diese Frage stellt sich auch Evo Morales in Bolivien, nur dass er in der Opposition verblieben ist.

Der Mainstream der lateinamerikanischen Politik verschiebt sich. Nicht weil es einen Block der „linken“ Regierungen gäbe, dazu sind sie zu verschieden. Sondern weil das Monopol des ungebremsten Neoliberalismus auf die politische Lufthoheit beendet ist. Gut möglich, dass auch das fürchterliche Scheitern neoliberaler Politik in Argentinien einiges dazu beigetragen hat, die Zweifel zu nähren.

Jahrelang war die Rede vom „Modell Chile“, und in der chilenischen Politik ist bis heute die Überzeugung spürbar, mit der völligen Orientierung am Markt auf dem richtigen Weg zu sein. Vielleicht wird es für die Regierenden in Chile ein böses Erwachen geben, wenn sie merken, dass Chile nicht mehr den politischen Mittelpunkt bildet, sondern plötzlich am Rand des Spektrums steht.

Man sollte sich die Freude gönnen über diese Öffnung, über die frische Luft, die eindringt durch große Risse in der neoliberalen Käseglocke. Aber die Erwartungen sind hoch. Was passiert, wenn der politische Alltag einkehrt in Lulas Brasilien, in Ecuador unter Gutiérrez? Am nötigsten haben diese neuen Regierungen Geduld, sowohl ihrer Wähler und Wählerinnen als auch ihrer Freunde und Sympathisanten im Ausland.

Wahl zwischen „Arm und Reich“

Die Überraschungen machen im südamerikanischen Superwahljahr auch vor Ecuador nicht halt. Bei 34 Prozent Wahlenthaltung – Rekord unter den Ländern, in denen Wahlpflicht herrscht – gewann am 20. Oktober der 45-jährige Ex-Oberst Lucio Gutiérrez in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 20,5 Prozent der Stimmen. Eine Woche vor der Stichwahl am 24. November hatte er beste Chancen, seinen Siegeszug fortzusetzen. Umfragen sahen ihn mit rund 18 Prozent vor seinem Kontrahenten Alvaro Noboa, dem wahrscheinlich reichsten Mann des Landes.
Mit exzessiven Kampagnenausgaben, die derzeit von der Wahlkommission überprüft werden, kaufte sich der Bananenmulti Noboa regelrecht den zweiten Platz. Auf 1,2 Milliarden US-Dollar wird dessen Vermögen geschätzt, wovon er im Wahlkampf gönnerhaft einen Bruchteil unter die arme Bevölkerung verteilt hatte. Noboa ist Besitzer von 170 Firmen, unter ihnen der riesige Bananenkonzern Bonita. Ihm gehört eine Bank, eine Fluglinie und 34 Frachtschiffe. Dennoch wisse er zu unterscheiden, was seine Firmen sind und was dem Staat gehöre, erklärte der Bananenmulti gewissenhaft in Interviews. Recht glauben will ihm das niemand. Für den Einzug in die Stichwahl ließ sich Noboa von Anhängern und Angestellten in einer seiner Firmen feiern. Politik lässt sich halt nicht immer vom Geschäft trennen. Für Noboa ist Politik Geschäft. Dass auf seinen Bananenplantagen Kinder schuften müssen und er laut einem Bankkunden nicht Präsident aller EcuadorianerInnen sein könne, wenn seine eigene Banco del Litoral Kredite mit 19 Prozent Zinsen verleihe, sei nach Noboa eine Frage von Angebot und Nachfrage.

“Arm gegen Reich“

Mit Noboa und Gutiérrez treffen zwei Personen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein können: Noboa ist die Hoffnung der Eliten und Gewinner der Dollarisierung. Gutiérrez vertritt die Armen und stellt die sozialen Belange in den Vordergrund. Analysten proklamierten die Stichwahl daher nicht zu Unrecht als Urnengang von „Arm gegen Reich“. Wer die Mehrheit bildet, steht außer Frage. Von zwölf Millionen EcuadorianerInnen leben 71 Prozent unter der Armutsgrenze. Nur Bo-livien und Nicaragua stehen im kontinentalen Vergleich schlechter da. Ein verarmtes Potenzial, dass Gutiérrez als deren Hoffnungsträger nicht nur im Oktober nutzen konnte, sondern bereits vor zwei Jahren.
Aufmüpfige Militärs unter Führung von Gutiérrez und Indígenas des mächtigen Dachverbandes CONAIE zettelten am 21. Januar 2000 eine Rebellion gegen die Politik der Ausgrenzung und des Sparkurses bei Sozialausgaben an, die jedoch in einem Armeekomplott mündete (siehe LN 308). Zwar konnte der damalige Präsident Jamil Mahuad aus dem Amt gedrängt werden, doch sein Vizepräsident Gustavo Noboa wurde mit Hilfe einer elitetreuen Militärspitze in den Präsidentenpalast gehievt. Gutiérrez landete wegen Anstiftung zur Rebellion für mehrere Monate im Knast. Erst eine Amnestie ermöglichte ihm den Beginn seiner politischen Laufbahn. Umso bemerkenswerter war nun sein Etappenerfolg auf institutionellem Weg in so kurzer Zeit.

Wundermittel US-Dollar

Ecuador gilt laut einer Studie des Instituts „Internationale Transparenz“ nach Paraguay als das Land, das auf dem Subkontinent am stärksten unter der Korruption zu leiden hat. Rund zwei Milliarden US-Dollar verschwinden jährlich in den Kanälen staatlicher Institutionen. Bei einem Bruttosozialprodukt von rund 13,9 Milliarden US-Dollar laut Analysten genug, um den unterfinanzierten Haushalt bei Bildung und Gesundheit zu sanieren.
Als einzig probates Mittel zur Bekämpfung der seit 1998 anhaltenden Wirtschaftskrise, das vehement durch den Internationalen Währungsfond IWF gefordert wurde, galt die Einführung des US-Dollar. Dieser kursiert seit März 2000 als offizielles Zahlungsmittel in Ecuador. Die Rebellion unter Gutiérrez konnte ihn nicht verhindern. Wirtschaftsstrategen erhofften sich mit dem US-Dollar neue Anreize für Investoren, ein Stoppen der Hyperinflation und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum durch Finanzmarktstabilität.
Von Erholung ist jedoch kaum etwas zu spüren: Zwar kann sich das Land auf ein statistisches Wachstum von knapp fünf Prozent berufen, doch die erdrückenden und steigenden Auslandsschulden von 14,3 Milliarden US-Dollar lassen keinen Raum für staatliche Investitionspolitik. Über 31 Prozent der Exporteinnahmen müssen für den Schuldendienst abgestellt werden. Das Land exportiert alle Rohstoffe, die es zu bieten hat, auf Kosten der Umwelt und Bewohner, um Devisen ins Land zu bekommen. Besonders Erdöl.
Die Inflation konnte gedrosselt werden, trotz Dollareinführung ist sie dennoch weit höher als in den USA. Mitte 2002 lag sie bei 10 Prozent. Die Folge: mehr Armut durch rasant steigende Preise, Abbau von Subventionen, keine Absatzmöglichkeiten für inländische Firmen im Ausland und weitere Verschuldung des Staates, um die Gehälter im öffentlichen Dienst zahlen zu können. Die Preise haben sich in den letzten zwei Jahren teils verfünffacht, die Lebenshaltungskosten entsprechen in bestimmten Sektoren bereits US-Niveau.
„Wir wollen, dass diejenigen, welche die wirtschaftliche Macht haben, verstehen. Wenn es keinen sozialen Ausgleich gibt, wird das Land wie ein sinkendes Schiff untergehen. Dann versinkt alles, davor werden sich auch die Reichen nicht retten können“, sagte vor gut einem Jahr Gutiérrez kämpferisch. Die Bevölkerung ergreift die Flucht. Monatlich, so wird geschätzt, kehren rund 20.000 EcuadorianerInnen ihrem Land den Rücken in Richtung Europa oder den USA. Rund 12 Millionen Menschen leben in Ecuador, auf rund zwei Millionen Menschen soll die Auslandsgemeinde, die sich mit Billigjobs durchschlägt, bereits angewachsen sein.
Dennoch gehört diese Gemeinde zum größten Wirtschaftszweig: Jährlich überweisen die AussiedlerInnen über 1,5 Milliarden US-Dollar ins Land, um ihre Familien etwas zu unterstützen. Für Gutiérrez ein soziales Desaster: „Kinder müssen ohne ihre Väter aufwachsen, weil sie im Ausland wie Sklaven schuften müssen. Die Familien werden zerstört. Dank der Ungerechtigkeiten, Korruption und fehlender Beschäftigung.“

Kontinentalbündnis gegen Auslandsverschuldung

Seine Ziele stellt Gutiérrez in einen internationalen Kontext. Denn die Probleme Ecuadors sind nicht hausgemacht, eher Folge internationaler Wirtschaftspoltik. Eine Lösung will er deswegen nicht nur im nationalen Rahmen suchen, sondern in einer kontinentalen Kraftanstrengung herbeiführen. Auf dem Ersten Weltsozialforum in Porto Alegre versuchte er Ideen zu sammeln, in Mexiko beobachtete er den Marsch der Zapatistas in die Hauptstadt. Gutiérrez setzt sich für ein kontinentales Bündnis ein, „das einen globalen Vorschlag gegen die Auslandsschulden der lateinamerikanischen Länder umfasst“. Dies würde Neuverhandlungen unter besseren Gesichtspunkten ermöglichen, so seine Anschauungen. Unterstützung wurde ihm aus Kolumbien zuteil. Die dortige linke parlamentarische Bewegung Polo Democrático forderte Gutiérrez, Lula und Chávez in einem Brief Anfang November auf, eine Schuldenbank einzurichten, welche die Zahlungs-modalitäten der drei Länder neu definieren soll. Auf rund 751 Milliarden US-Dollar werden die Schulden Lateinamerikas veranschlagt, knapp die Hälfte davon tragen Brasilien, Ecuador und Venezuela.
Obwohl er inzwischen hoffähig ist, deuten die politischen Aussagen und Ziele des ehemaligen Militärs Gutiérrez auf Konfrontation hin. Was unter den ärgsten Feinden bereits jetzt das Bild eines kubatreuen Kommunisten heraufbeschwört. Alvaro Noboa konzentrierte seinen Wahlkampf auf diese Angst: „Die Menschen haben die Wahl zwischen einem gefährlichen Kommunisten und mir, der Arbeitsplätze und Stabilität verspricht“, so der Multimillionär. Eine Schmutzkampagne sollte im November folgen: Der Sprecher von Noboa bezichtigte Gutiérrez der Misshandlung seiner Frau. Gutiérrez selber wies diese Anschuldigungen ab und klagte Noboa des Versuchs an, Dokumente zu fälschen, um ihn als Oberst des illegalen Waffenhandels mit der kolumbianischen FARC-Guerilla zu überführen.
Gutiérrez ruft mit einem „entpolitisierten Programm“, dessen Inhalt bisher reichlich wenig definiert ist, zwar zur Einheit auf, doch Konfliktpunkte kristallisieren sich heraus. Er gilt als klarer Gegner des Plan Colombia, der zur ernsten Gefahr für Ecuador werden könnte. „Ein großes Morden“ sieht er hinter den Militärplänen, die im Nachbarland Kolumbien mit US-Unterstützung durchgeführt werden. Eine Bekämpfung des Drogenanbaus kann er darin nicht erkennen, sondern allein eine Methode zur Erhaltung der US-Hegemonie. Die Folgen für sein Land seien weitreichend: „Neben den Tausenden Vertriebenen, welche durch die Besprühungen ihr Land Richtung Ecuador verlassen, kommen auch die Drogenhändler.
Wenn in Kolumbien die Bedingungen für Kokafelder und Labore nicht mehr gegeben sind, werden sie hier weiter machen. Deswegen bringt die Strategie der Drogenbekämpfung nichts als Tote und weitere soziale Verschärfung“, so Gutiérrez, der eine Einbindung seines Landes in den benachbarten Krieg strikt ablehnt. Die Gründe für den kolumbianischen Konflikt haben nach seiner Sicht einen sozialen Hintergrund, was ihm langfristig den Groll aus Washington im Falle eines Wahlsieges einbringen könnte. Dort gilt die Guerilla als terroristische Vereinigung.
Dennoch zeigte sich die US-Regierung nach dem Überraschungserfolg von Gutiérrez ungewohnt sprachlos, obwohl er auch die US-Militärbasis Manta, an der nördlichen Pazifikküste gelegen, in Frage stellt. Dort sind mehrere hundert US-Soldaten und private US-Söldner ansässig, die den Luftraum der Region überwachen und von dort Sprüheinsätze zur Kokafeldervernichtung an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze fliegen. „Die Basis wurde unter nicht verfassungskonformen Bedingungen vereinbart. Weder der Präsident mit seiner Unterschrift noch das Parlament mit einer Abstimmung haben die Stationierung von US-Truppen legitimiert. Wir wurden damit in einen Krieg involviert, der nicht unserer ist“, so Gutiérrez.

Kredit oder Konfrontation

Ob er die Stärke besitzt, die USA im Falle der Militärbasis zu Neuverhandlungen zu zwingen oder sie gar schließen zu lassen, bleibt abzuwarten. Denn von den Beziehungen zu den USA, die den IWF und die Weltbank politisch dominieren, hängt das Schicksal Ecuadors ab. Das Land braucht dringend Geld, wenn es seinen Schuldenzahlungen und der Haushaltskonsolidierung nachkommen will. Der Rahmen für Gutiérrez in Sachen politischer Neuausrichtung ist daher äußerst eng. Anfang Oktober ließ der IWF Verhandlungen für einen neuen Kredit platzen, nachdem immer unsicherer wurde, wer die Wahlen gewinnen würde. Der Fonds erlaubte sich die Dreistheit zu fordern, mit allen Kandidaten Vorgespräche über wirtschaftliche Programme zu führen. Ein Wahltipp des IWF blieb aber aus, nachdem der bis dato treue Präsident Gustavo Noboa dem Ansinnen eine Abfuhr erteilte. Der IWF zog sich zurück, ein Kredit von 240 Millionen US-Dollar kam nicht zustande.
Für Gutiérrez bleiben nur wenige Alternativen. „Keine weitere Verschuldung“, ließ er allerdings nach dem Wahlsieg verlauten. So bliebe ihm jedoch nur ein Schuldenmoratorium, womit die bisher geleisteten Kredite nicht zurück gezahlt würden. Eine Konfrontation mit der internationalen Finanzwelt, an der Ecuador Ende der neunziger Jahre wirtschaftlich zerbrochen war, wäre vorprogrammiert.
Will er neue internationale Kredite, kommen die USA ohne Zweifel ins Spiel. Gutiérrez wird sich im Falle der US-Basis Manta und der Unterstützung des Plan Colombia die Zähne ziehen lassen müssen. Und dieses Szenario erscheint wahrscheinlicher, nachdem auch Gutiérrez eingestanden hat, dass in dem fragilen Moment des Landes an der Dollarisierung nicht gerüttelt werden dürfe. Es bedürfe ausländischer Investoren, deren US-Dollar und niedriger Produktionskosten im Land, meint Gutiérrez. Solange diese jedoch nicht kommen, müsste wohl auch er auf Anleihen zurück greifen. Bei einem Besuch in Washington und Miami Anfang November versuchte er, Vertrauen zu gewinnen. Er sei kein Kommunist, auch kein Chavist. Diese Bedenken wolle er ausräumen. Ob er auf einen Konfrontationskurs in Sachen US-Basis geht, ist daher ungewiss. Doch mit Lula in Brasilien, Chávez in Venezuela und Gutiérrez in Ecuador könnte eine neue Epoche beginnen, welche der permanenten Schuldenfalle lateinamerikanischer Länder einen Ausweg zeigt.

Das stille Sterben im Tal der Hundertjährigen

Märchenhafte Sagen über die Existenz eines Jungbrunnens, der ewiges Leben verleiht, hat schon viele Menschen beflügelt. Wissenschaftler machten sich auf, die Gründe für das Altwerden zu erforschen und Orte zu finden, die dem Menschen ein längeres Leben verleihen. Vor gut dreißig Jahren fragte der kränkelnde Multimillionär John Smith während einer Behandlung, ob es nicht einen solchen Ort gebe. Sein Hausarzt erinnerte sich zufällig an die Reisebeschreibung eines US-Amerikaners, der im 19. Jahrhundert Südamerika bereiste. Danach habe dieser ein Tal in Ecuador gefunden, in dem ungewöhnlich viele Alte lebten.

Mister Smith fing Feuer und finanzierte umgehend zwei Expeditionen in diese Gegend. Und siehe da: in dem 3000-Seelendorf Vilcabamba, gelegen in einem milden Tal, tummeln sich die Hundertjährigen. So habe es einen Bauern namens Gabriel Erazo gegeben, der 130 Jahre alt gewesen sein soll und noch ungewöhnlich agil auf seinem Feld arbeitete.

Ein Ansturm von Medienvertretern, Ärzten und Hippies setzte in den Siebzigern auf das Tal ein. Während Letztere sich einem langen, geruhsamen und ausgeflippten Leben hingaben, versuchten die Anderen hinter das Geheimnis des hohen Alters zu kommen. Zunächst stießen die Forscher jedoch auf Probleme, dieses zu bestimmen. In Ecuador wurde die Registrierung der Bevölkerung erst Anfang des letzten Jahrhunderts eingeführt. Wie alt die Alten tatsächlich waren, konnte nicht nachgewiesen werden. Dennoch wurden die Wissenschaftler auf einen Umstand aufmerksam. So seien die meisten Betagten biologisch rund 20 bis 30 Jahre jünger, als es dem weltweiten Durchschnitt ihrer Altersgenossen entspreche. Die Quelle dieser Entdeckung ließ sich schnell finden: wegen des mineralhaltigen Wassers litten die Menschen nicht an Durchblutungsstörungen oder Arterienverkalkung. Ihre einfache, ballastreiche Nahrung aus Mais- und Kartoffelprodukten tat ihr Übriges und das beständige, warme Klima belastete nicht den Kreislauf. Krankheiten waren damals so selten wie ausländische Touristen.

Platz für Touristen, nicht für Alte

Das hat sich bis heute geändert. Vilcabamba ist zu einem beliebten Touristenort geworden. Ausländische Reisende verbringen ruhige Tage in dem Dorf. Am Kirchplatz haben sich kleine Souvenirläden neben internationalen Restaurants angesiedelt. Gepflegte tropische Kleingärten, die zu heimeligen Familienhotels gehören, zeigen, dass sich der Tourismus hier lohnt. Er ist die einzige Einnahmequelle.
Allerdings nicht für die Alten. In den Nebenstraßen reihen sich im Verfall befindliche Lehmhäuser aneinander, auf deren Terrassen mehrere Alte sitzen. Sie verfolgen den Tag über die Schatten, die die hoch stehende Sonne vor ihren Füßen wandern lässt. Mehr nicht.

”Früher arbeiteten die Alten noch auf ihren Feldern”, meint Victor, ein leutseliger Mittvierziger, der im kleinen Krankenhaus die Medikamente verteilt. Doch damit sei es nun weitgehend vorbei. Warum? Seit die Touristen in das Dorf gekommen sind und der Ruf des Dorfes in die Welt getragen wurde, seien die Bodenpreise explodiert. Ausländer oder bemittelte Einheimische kauften das Land auf, um sich hier vielleicht später einmal anzusiedeln. Victor erzählt von einem Gerücht, wonach sich irgendwo in der Nähe der Vizechef von Microsoft ein Stück Land gekauft habe, um sich später einmal hier niederzulassen.
Mit dem Einzug der Moderne haben die alten Einwohner Vilcabambas ihren Lebensrhythmus verloren. Über Jahrhunderte bildete die Gemeinde eine geschlossene Talgesellschaft, die sich auf ihren Feldern selbst versorgte. Bis zu fünf Generationen einer Familie lebten noch bis vor wenigen Jahren gemeinsam von der Landwirtschaft, die nun zusammengebrochen ist.

Der vielleicht folgenreichste Einschnitt für die Alten des Tals und Vilcabambas stellt die Auflösung der Familienbande dar. Die Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter flüchten in die Städte Ecuadors, um etwas Geld zu verdienen. Vom Tourismus profitieren die Wenigsten in dem Dorf. Wer kann, geht ins Ausland. Es gibt fast keine Familie mehr, die nicht ein Mitglied im europäischen Ausland hat. Die Zurückgebliebenen sind abhängig von deren Geldzuwendungen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Die Einführung des US-Dollars vor zwei Jahren, der die einheimische Währung Sucre nach einer verheerenden Wirtschaftskrise als offizielle Währung ablöste, hat vielen wirtschaftlich das Genick gebrochen. Denn die Preise schießen seitdem unaufhörlich in die Höhe. Wer einige Dollar besitzt, steckt sie sofort in “Immobilien” oder kauft sich ein Auto. Das nächste Jahr wird schließlich teurer werden.

Segundo Cruzero sitzt in vor Schmutz starrender Kleidung vor seiner Hütte. Autos, die über die asphaltierte Straße nur zwei Meter vor seinen Füßen vorbeirauschen, verfolgt er nicht mehr. Er sitzt jeden Tag hier. Seine Schwiegertochter meint später, er sei ”um die hundert Jahre alt”. Während er eine dünne Suppe schlürft, erzählt er schwer verständlich. Es macht ihm Spaß, zu reden. Seine Augen leuchten. Er arbeite noch auf der anderen Seite der Straße im Feld, um sich etwas zum Überleben zu verdienen. Offenbar nicht viel. Aber es ist eine Existenzberechtigung vor sich selbst und seiner Familie, meint er.
Nur zehn Meter oberhalb der Hütte bauen sich seine Angehörigen das Haus aus. Cruzeros Hütte dient zum Lagern der Ziegelsteine. Hinein geht man lieber nicht, ein beißender Geruch nach Urin strömt aus dem Dunkel, das nur eine Pritsche beherbergt. Es gäbe ziemlich viele Flöhe hier, meint Cruzero verlegen. Er ist nur noch Ballast für die Familie, daran besteht kein Zweifel. Auf die Frage, wie lange er noch leben möchte, kann er nicht antworten. Er versteht sie nicht. Seine erloschenen Augen schauen wieder auf die Straße.

Eine vergessene Vergangenheit

”Zum Teufel mit diesem Land”, schießt es aus Rosa Pérez heraus, nachdem sie die verzogene Tür ihres noch verzogeneren Hauses öffnet. ”Nächstes Jahr werden die Strom- und Wasserkosten wieder teurer. Wie sollen wir das bezahlen?”, flucht die 55jährige frei von der Leber weg. ”Wir”, das sind ihre Tochter und ihr 98jähriger Vater Levi Pérez. ”Wir”, das hätten auch sieben Kinder des alten Pérez, 40 Enkel bis hin zu zwei Ururenkeln sein können. Doch diese sind nicht mehr im Dorf. Rosa ist die Einzige, die noch auf ihren Vater aufpasst. Sie ist verbittert, denn ihre Perspektiven sind aussichtslos. Sie müssen von einen Tag in den anderen leben, ohne zu wissen, wovon. Dennoch ist sie eine der Wenigen im Dorf, die sich um ihren Vater kümmern.

Das Einzige, was das Haus zu bieten hat, ist Spärlichkeit. Aber Levi Pérez wirkt gepflegt. Bis vor zwei Jahren arbeitete der Vater noch auf einer kleinen Parzelle in der Nähe. Doch nachdem er vor dem Haus hingefallen sei, habe er bleibende Schäden davon getragen, sagt Rosa. Er höre kaum noch, sein körperlicher Zustand sei labil.

Mit Stolz erzählt sie von ihrem Vater, wie er damals vor gut 70 Jahren begonnen habe, die Bauern gewerkschaftlich zu organisieren. Auch er fängt plötzlich Feuer, erzählt vom schrecklichen Patrón Francisco Igurén, der sie damals wie Sklaven gehalten habe. Als Kind konnte er sich noch erinnern, dass einigen Bauern ein Siegel auf die Wange gebrannt wurde. Wie Vieh seien sie vom Grundbesitzer auf der eine Stunde entfernt gelegenen Hacienda Palmira behandelt worden.

Anfang der vierziger Jahre sei es dann zur Konfrontation gekommen, sagt Pérez. ”Carajo! Hätte ich damals eine Waffe gehabt, hätte ich mich diesem Hurensohn persönlich gestellt!”, regt sich Pérez wild gestikulierend auf. 50 Polizisten seien damals gekommen, um ihn zu töten. Sein Sohn wurde angeschossen, ein Freund umgebracht. Er musste mit Hilfe seiner Freunde und samt Familie in die Berge flüchten. Hunger hätten sie gelitten. Und kalt war es auch. Aber die Bauern hätten ihnen geholfen, sagt er.

Winzige Häuser

Der Landkampf in der Region weitete sich so weit aus, dass selbst die Nationalregierung aufmerksam wurde. Levi Pérez wurde als örtlicher Bauernführer bekannt und flog in den fünfziger Jahren das erste und einzige Mal mit dem Flugzeug nach Quito. ”Mann! Waren die Häuser vielleicht winzig von da oben!”, sagt Pérez und kichert dabei. Er sprach mit dem Landwirtschaftsminister, der ihm und weiteren Bauern Parzellen versprach. Pérez siedelte mit seiner Familie nach Vilcabamba um, bekam ein paar Hektar Land zum Kauf auf Raten angeboten, von denen er und seine Familie die folgenden Jahrzehnte leben konnten.
Das hat seit zwei Jahren ein Ende. Pérez sitzt nun ebenfalls jeden Tag unter dem morschen Vorbau seines Hauses und verfolgt den Lauf der Sonne. Für seine Geschichten interessiert sich hier niemand. Ohne seine Tochter wäre er verloren.

Verantwortung zum Überleben

”Hier gibt es keinen Terrorismus”, meint der politische Verantwortliche des Dorfes Victor Quaicha auf eine Frage, die nie gestellt wurde. Hinter der dicken Brille versprühen seine Augen Verantwortung. Er ist faktisch der Bürgermeister des Ortes, praktisch hat er aber nichts zu sagen. Seine vielleicht einzige Aufgabe besteht darin, den Tourismus für die Hotelbesitzer zu fördern. ”Nein, wirklich. Hier gibt es keine Probleme. Ach ja, die Alten. Da gibt es viele von”, fällt ihm ein. Etwa 50 gebe es noch, die über hundert seien. Wo sie leben, weiß auch er nicht. ”Irgendwo auf dem Land um das Dorf herum. In Champé gibt es eine 120jährige”, habe er gehört. Aber nachweisen könne er dies nicht. Einer 106jährigen aus Vilcabamba wurde kürzlich eine Medaille als älteste Frau des Dorfes verliehen, Doña Barbarita hieße sie. Wenn es schon keine Unterstützung gibt, so wenigstens Anerkennung auf Blech gepresst.

Seit geraumer Zeit versucht eine Gruppe älterer Frauen, ein eigenes Kulturzentrum aufzubauen. Denn nur dann, wenn man aktiv bleibe, habe man den Willen weiterzuleben, sagen alle. Um sich einige US-Dollar zu verdienen, drehen die Frauen zwischen 70 und 90 Jahren Zigaretten, die sie versuchen, an die Touristen weiterzuverkaufen. Denn Rente vom Staat gibt es nicht. Und Gelder für das Zentrum erst recht nicht. Dennoch freuen sich die Frauen. Lachend sitzen sie um einen Tisch herum, schneiden den Tabak und erzählen sich Witze. Sie wirken erstaunlich jung, zumindest noch einmal die Woche, wenn sie sich hier treffen. Zwar gebe es weiter oben im Dorf eine Sozialstation der Fürsorge, wo es kostenloses Mittagessen für die Alten gibt. Doch da gehen sie nicht hin. Es würde sie alt machen, sagt eine. Was sie wollen, ist Verantwortung, ein Platz im sozialen Leben. Ohne diesen sterben sie. So wie viele Andere in den letzten Jahren.

Ein Leben für das bolivianische Buch

Sie bekamen 1987 den Orden „Condor de los Andes“, Ihr Portrait ziert auch eine Briefmarke der bolivianischen Post, die 1998 herausgekommen ist. Sie haben viel Ehrung erfahren als Buchhändler und Verleger, würden Sie sich selbst als einen erfolgreichen Mann bezeichnen?

Da fällt mir eine Antwort schwer. Erfolgreich in der Hinsicht, dass man mich irgendwie anerkannt hat in meinem Leben – ja! Aber als Buchhändler bin ich erst mal von etwas anderem ausgegangen, und auch als kleiner Junge habe ich von etwas anderem geträumt. Ich wollte mit dem Verkauf und später mit dem Verlegen von Büchern dazu beitragen, wenigstens dieses eine Land, Bolivien zu verbessern. Das ist mir nicht ganz so geglückt, und das wird auch nicht mehr glücken. Innerhalb einer Generation lassen sich Veränderungen offensichtlich nicht erreichen, und ein Einzelner kann erst recht nichts bewirken. Ich fühle mich vom Land, von Bolivien akzeptiert, das schon. Sogar das Land, das mich früher ausgestoßen hat, Deutschland, hat mir einen Orden verliehen. Ich war auch x-mal auf der Frankfurter Buchmesse eingeladen und habe dort bolivianische Literatur vorgestellt.
Aber wenn man älter wird und sich fragt, was man eigentlich getan hat, dann entspricht das wohl nie dem, was man eigentlich mal wollte.

Aber Sie haben doch einiges für die bolivianische Literatur getan. Sie erstellten zum Beispiel über Jahre hinweg eine Bibliografie neu erschienener bolivianischer Literatur und brachten außerdem eine Enzyklopädie heraus. Insofern leisteten Sie für den Erhalt und die Entwicklung bolivianischer Literatur einen wichtigen Beitrag!

Ich habe auch 30 Jahre lang einen Literatur-Preis gestiftet, um neue bolivianische SchriftstellerInnen dabei zu unterstützen, ihre Bücher heraus zu bringen. Einige von ihnen spielen heute eine wichtige Rolle in der Literaturszene des Landes.
Am Anfang war das schwer, weil ich eigentlich gar kein Geld dafür hatte. Das führte zu absurden Situationen. Als ich den Preis zum ersten Mal im Rahmen eines feierlichen Aktes in La Paz stiftete, übergab der Erziehungsminister dem Autor einen Umschlag mit meinem Scheck. Ich flüsterte hinterher dem Autor zu: „Lös den Scheck noch nicht ein, er ist noch nicht gedeckt!“ Manchmal habe ich den Preis vergeben und dann ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr lang kein Geld gehabt, um das Buch des Preisträgers herauszubringen.

Ist es nicht überhaupt ein mutiges Unterfangen, in einem Land, in dem wenig gelesen wird, eine ganze Kette von Buchhandlungen aufzubauen?

Da bin ich anderer Meinung. Ich denke, dass Bolivien ziemlich viele Schriftsteller hat. Die Bibliografie ist vor allem deshalb entstanden, weil wir der Welt beweisen wollten, dass es hunderte, vielleicht tausende Bolivianer gibt, die schreiben: über Musik, über Medizin, einen Roman oder sonst was. 38 Jahre lang haben wir unter den unmöglichsten Bedingungen, auch in Zeiten der Diktatur, jedes Jahr eine Bibliografie aller Neuerscheinungen herausgegeben. Am Anfang war das noch einfach, da gab es vielleicht 200 Bücher, heute gibt es 1500. Und die bekomme ich ja nicht alle, und die kann ich auch nicht alle kaufen. Heute ist das viel komplizierter geworden, und man benötigt einen ganzen Apparat, um diese Arbeit zu leisten. Aber wir arbeiten immer noch ganz altmodisch, nicht mal mit Computer. Trotzdem hoffen wir, auch noch den vierzigsten Band herausgeben zu können.

Ist das ein alter Wunsch, ein Kinderwunsch von Ihnen gewesen, Buchhändler zu werden?

Ich wollte nicht Buchhändler werden. Das Wort Buchhandel hat mir nicht gefallen, ich wollte nicht verkaufen. Ich wollte Bibliothekar werden, etwas mit Büchern zu tun haben. Aber als ich aus meinem ersten Exil, aus Holland, mit dem Schiff abfuhr, hatte ich nur ein Buch bei mir: „Der Idiot“ von Dostojewski.

Sie sind 1920 in Breslau geboren. Haben Sie noch Erinnerungen an die Stadt, an Schlesien in den 20er und 30er Jahren?

Ich erinnere mich an viele Freunde, von denen viele umgekommen sind. Ich habe zum Beispiel einen Freund gehabt, der emigrieren musste. Er ging nach Russland, wurde nach dem Hitler-Stalin-Pakt den Deutschen übergeben und dann sofort ermordet. Mit einigen hatte ich auch später noch Kontakt, obwohl sie mittlerweile über die ganze Welt verstreut sind. Jetzt sind natürlich viele tot.
Heute möchte ich nicht mehr in Breslau leben, ebenso wenig in Deutschland. Obwohl ich immer gern zur Frankfurter Buchmesse gefahren bin und dort viele Freunde gefunden habe. Aber ich habe auch unangenehme Erfahrungen gemacht. Einmal bin ich mit meinem Schwager ins Schlesier-Heim, das zwischen Köln und Bonn liegt, gegangen. Da haben wir guten, typisch schlesischen Kuchen gegessen. Ein paar Herren, ebenfalls Schlesier und in meinem Alter, waren auch da. Die habe ich mir dann angeschaut und gedacht: Wenn der oder der bei der SS gewesen wäre, der hätte mich doch möglicherweise umgebracht! Da hatte ich dann ein Gefühl der völligen Unsicherheit. Außerdem leben heute so viele Neonazis in Deutschland, dass mich das zusätzlich verunsichert. Auch wenn ich mir deren Existenz erklären kann.

Das heißt, Sie fühlen sich jetzt in Bolivien zu Hause?

Vollkommen.

Sie waren als Jugendlicher in einer Organisation, die „Freie Deutsch-Jüdische Jugend“. Was war das für eine Organisation?

Das war eine Organisation, die nach der Wandervogel-Bewegung entstand. Es gab auch jüdische Wandervögel, aber als die große Krise kam, da lösten sich die jüdischen Wandervögel langsam auf, und es bildeten sich daraus neue, politische Gruppen. Es gab zum Beispiel eine prozionistische Gruppe, die nach Israel auswandern wollte. Manche sagten: Wir sind Deutsche, wir sind keine Juden. Die „Freie Deutsch-Jüdische Jugend“ war eine linksgerichtete Bewegung, in die ich eher zufällig geraten bin. Das war eine antistalinistische Bewegung, irgendwo zwischen der SAP und SPD. Eine Bewegung, die mir intellektuell alles gegeben hat: Sie hat mich erzogen, mir Kultur gegeben, mir die Musik näher gebracht – mit Musik kam ich zu Hause wenig in Berührung. Vielleicht wurde für mich in der „Freien Deutsch-Jüdischen Jugend“ auch die Grundlage geschaffen, von der aus ich dann in den Buchhandel gegangen bin.

War auch Ihr Elternhaus linksgerichtet?

Nein, überhaupt nicht. Meine Eltern waren vollkommene Kleinbürger.

Strenggläubige Juden?

Nein. Nur an Feiertagen. Meine Mutter hat ihren Gottesglauben am Freitagabend zum Ausdruck gebracht, aber auch nur zu Hause. Ansonsten waren meine Eltern typische, assimilierte, deutsche Juden.

Würden Sie sich heute auch noch als „links“ bezeichnen?

Ich bezeichne mich heute immer noch als Sozialist. Obwohl das Wort „Sozialismus“ viele Varianten hat und auch viel negatives geschehen ist mit diesem Begriff. Die Nazis bezeichneten sich zum Beispiel ja auch als Nationalsozialisten.
Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Zukunft nicht im Kapitalismus liegt. Dass der Kapitalismus sich langsam ändern wird und muss, damit eine sozialere Gesellschaft entstehen kann. Sonst wird die Weltkugel die Menschen bald nicht mehr ertragen.

1939 sind Sie in Bolivien angekommen. Wie ist Ihnen die Flucht gelungen?

Ich konnte 1937 zum Glück Deutschland verlassen. Über Luxemburg kam ich nach Holland, in ein Lager für jüdische Jugendliche, die dort ein Handwerk lernen konnten. Ich bin Schlosser geworden und habe dort auch gearbeitet. Unterdessen hat meine Mutter meinen Vater aus dem KZ Buchenwald rausholen können und ein Visum für beide nach Bolivien ergattert. Meine Eltern sind über Italien nach Bolivien ausgewandert, und meine Mutter hat mir von dort mein Visum nach Holland geschickt. Ich bin dann mit einem der letzten Schiffe nach Bolivien gefahren, die noch auslaufen konnten, bevor die Deutschen Holland besetzten.

Ihre Mutter war also die rettende Kraft für Sie und Ihren Vater.

Das war sie. Ich habe sie später nicht ausführlich genug befragt, wie ihr das gelingen konnte. Ich weiß es nicht. Während mein Vater im KZ war, hat sie sich ganz kleinbürgerlich durchgewurschtelt. Wir hatten kein Geld, also hat sie Zimmer vermietet.
Sie hat mir erzählt, dass sie für mich vor dem bolivianischen Präsidentenpalast anstand, um ein Visum zu erhalten. Dort mussten damals alle für ein Visum anstehen. Meine Mutter ist aus der Schlange herausgetreten und einfach hineingegangen. Sie sprach einen der Offiziere in einem Zimmer an. Dieser Mann war – wie sich herausstellte – kein Offizier, sondern der damalige Präsident Busch. Meine Mutter konnte damals noch kein Spanisch, also sagte sie auf Deutsch: „Für meinen Sohn!“ Und Busch hat dem nächststehenden Offizier die Anweisung gegeben, ein Visum auszustellen.
Später wurde auf Einfluss deutscher, nazistischer Kreise die Grenze für Juden dichtgemacht. Ich konnte nach meiner Ankunft in Bolivien weder für meinen engsten Freund noch für andere ein Visum beschaffen. Viele aus dem Jugendlager in Holland hatten mir Papiere mitgegeben, weil ich ein Visum für sie besorgen sollte. Aber ich habe es nicht geschafft. Legal gab es damals keine Visa mehr für Juden, und Geld und Beziehungen für illegale Visa hatte ich nicht. Mein bester Freund ist später umgekommen. Das war sehr schlimm für mich.

Welche Vorstellung hatten Sie damals von Bolivien?

Gar keine. Nichts. Null. Das Einzige, was ich wusste, war, dass es da einen Chaco-Krieg gegeben hatte. Ich kam übrigens in kurzen Hosen an, das war damals unmöglich in Bolivien. Damit konnte man sich nicht auf die Straße trauen. Mein Vater musste mir sofort neue Hosen kaufen. Ich habe mich dann aber schnell ins bolivianische Leben eingefunden. Ich arbeitete die ersten fünf Jahre in Minen, bis ich die Gelegenheit bekam, Buchhändler zu werden.

Sind Sie in diesen ersten Jahren in Bolivien auch politisch tätig geworden?

Ich war Anti-Faschist. Die wenigen Emigranten der kommunistischen und sozialdemokratischen Partei, die es damals in Bolivien gab, und die jüdische Jugend haben zusammen kleine Aktionen unternommen. Aktionen, die ich heute lächerlich finde. Wir hingen Plakate auf oder verklebten die Schlösser an den Geschäften deutscher Nazis oder vergifteten deren Hunde. Aber ins politische Leben direkt eingegriffen haben wir eigentlich nicht. Es waren idiotische Aktionen, sie waren ein Ausdruck der Hilflosigkeit dem großen politischen Geschehen gegenüber. Wir wollten dem Feind etwas entgegensetzen. Übrigens gab es auch faschistische Bolivianer. Es gab einen Versuch, Juden ins Chapare zu verschleppen und dort umzubringen. Deutsche hatten die Lastwagen dafür schon zur Verfügung gestellt. Denn die Masse der Deutschen in Bolivien, rund um die deutsche Schule und das Konsulat, war faschistisch. Aber natürlich lebten auch andere hier, Freimaurer zum Beispiel.

1945 haben Sie ihre erste Buchhandlung in Cochabamba eröffnet. War es leicht, Buchhändler zu werden?

Nein, leicht nicht. Aber mir wurde geholfen. Angefangen habe ich mit einer Leihbücherei für deutschsprachige Literatur. Damals gab es vier deutsche Leihbüchereien in Bolivien, zwei in La Paz und zwei in Cochabamba. Alle vier Betreiber konnten davon leben, so viele Leute haben Deutsch gelesen! Heute ist es fast unmöglich, ein deutsches Buch zu verkaufen. Wenn ich die letzten fünfzig Jahre anschaue, muss ich sagen: Es gab tausend Schwierigkeiten. Während einer Diktatur wurden auf der plaza meine Bücher öffentlich verbrannt, und ich bin ins Gefängnis gekommen. Dort riefen junge Leute, die mich bewachten: „Wir sind Gestapo!“ Bei so vielen Schwierigkeiten, wie dieses Land sie hatte und immer noch hat, kann man das leider gar nicht anders erwarten.

Warum sind Sie ins Gefängnis gekommen?

Weil ich Bücher herausgegeben habe, die der Regierung nicht gefallen haben. Ich bin aber auch vorher x-mal angezeigt worden. Das kann man nicht ändern in einem Land, in dem die Politik nah an der Kultur ist und man mit Büchern deutlich machen kann, dass man nachdenken muss. Hier ist Denken gefährlich.

Diese ganz schwierige Phase war unter Banzers Militärdiktatur?

Auch die Zeit während der Revolution 1952 war gefährlich. Damals kam ein Teil der siegenden Partei MNR, die Nationalistische Revolutionäre Bewegung, aus der ganz rechten Ecke. Die MNR hat noch Anfang der 40er Jahre eine ganz wüste, antisemitische Zeitschrift herausgebracht, die sich gegen die jüdische Immigration stellte und sich mehr oder weniger für Hitler aussprach. Viele, die damals jung in die Partei eintraten, wurden in den 50ern wichtige Leute. Das hat schon weitergewirkt.

Wie kam es, dass Sie trotz ihrer politisch unbequemen Haltung doch noch viel Ehrung erfahren haben?

Man hat den Idealisten in mir anerkannt, anders kann ich mir das nicht erklären.

Haben Sie versucht, bolivianische Literatur auch in anderen südamerikanischen Ländern bekannt zu machen?

Ich habe es versucht, aber das ist nicht so einfach. Ich organisierte Literaturausstellungen in Argentinien und Mexiko, versuchte auf diese Weise, unsere Bücher dort zu verkaufen. In Ecuador zum Beispiel gibt es einen guten Verlag, der nur Klassiker herausbringt, weil sich nur die auch in Peru und Bolivien verkaufen lassen. Moderne ecuadorianische Literatur würde der außerhalb des eigenen Landes nicht loswerden. Natürlich lässt sich Vargas Llosa überall verkaufen, aber darum geht es nicht.

In Zeiten der Diktatur kann ein Buch gefährlich sein, wie ist das heute in Bolivien. Ist ein Buch noch wichtig?

Im bolivianischen Parlament zum Beispiel muss jeder Abgeordnete 50 Pesos im Monat in einen Fond einzahlen, mit Hilfe dessen Bücher gedruckt werden. Das war früher so, und das ist auch heute noch so. Natürlich werden nur Bücher von Parlamentariern gedruckt, aber es sind ganz unterschiedliche Bücher, politische Bücher aber auch Gedichtbände. Können Sie sich vorstellen, dass in Deutschland die Abgeordneten 50 Euro monatlich in einen Literaturfond zahlen? Ich kann mir das in Deutschland nicht vorstellen. Hier aber ist das so, daran sehen Sie, dass man dem Buch noch einiges zutraut in Bolivien.

Interview: Ellinor Krogmann

„Revolutionen fanden aus Verzweiflung statt“

Die verschiedenen Kolonialmächte betrieben in Lateinamerika unterschiedliche Formen der Sklaverei. Wie würden sie diese Formen charakterisieren und welche Auswirkungen hatten sie auf die afroamerikanischen Kulturen?

Die afroamerikanische Kultur nimmt ihren Anfang mit der Middle Passage. So bezeichnet man die Verschiffung von gefangenen afrikanischen Sklaven nach Amerika. Man kann drei Ursprünge afroamerikanischer Kultur unterscheiden, nämlich den iberischen Sklavereitypus, den Plantagentypus, und den Typus, der auf Sklaven beruht, die niemals Sklaven waren, also beispielsweise vom Schiff entflohen. Das Wesentliche an einer Unterscheidung zwischen einem iberischen und einem nichtiberischen Typus ist der historische Stellenwert der Sklaverei in den jeweiligen Gesellschaften. In Spanien war die Sklaverei außerordentlich etabliert und durch Gesetze geregelt. In England und Frankreich dagegen fällt die Sklaverei in die Zeit der Aufklärung. In einer aufgeklärten Gesellschaft war es eigentlich unmöglich, die Sklaverei zu akzeptieren. Also wurde sie zunächst außerhalb jeder Gesetzmäßigkeit angesiedelt.
Beim Sklavereitypus der Spanier handelt es sich um eine geschichtliche Verlängerung der Leibeigenschaft. Davon ist sie gar nicht richtig abgrenzbar. König Alfons der Weise legte im 13. Jahrhundert in einem Gesetz die Sklaverei als einen unnormalen Zustand fest. Normalerweise war der Mensch frei, aber er konnte auf Grund historischer Umstände in die Sklaverei geraten. Es sollte angestrebt werden, dass jeder Mensch noch im Laufe seines Lebens wieder aus der Sklaverei entlassen wird. Der Sklavenstatus war nicht ethnisch, also nur auf Schwarze festgelegt. Auch Spanier konnten Sklaven werden, wenn sie sich verschuldeten. Der iberische Sklavereitypus charakterisiert sich auch durch eine relativ starke Anpassungskapazität. In Kolumbien oder in Peru zum Beispiel war die Zahl der Sklaven nicht besonders hoch und sie wurden nicht auf Plantagen eingesetzt, sondern als Handwerker oder Bedienstete. Spanien entwickelte in seinen Kolonien nur sehr geringfügig Plantagenwirtschaft. Mit den ersten Seefahrern gelangten nach der „Entdeckung“ Amerikas nicht nur schwarze Sklaven, sondern auch die spanische Form der Sklaverei nach Amerika. Bis 1789 erlaubten die Spanier zwar die Sklaverei, aber nicht den Sklavenhandel. Wer Sklaven wollte, musste diese bei den Portugiesen einkaufen.

Portugal war schon relativ früh stark auf Handel ausgerichtet. Ab dem 15. Jahrhundert hatten die Portugiesen den Sklavenhandel total in der Hand. Portugal lässt sich schlecht in einen der beiden Sklavereitypen einordnen. Das zeigt sich zum Beispiel in Brasilien, das eine Art Zwischenstellung einnimmt. Auf der einen Seite gab es im ganzen Nordosten Brasiliens riesige Plantagenkolonien. Dort wurde das Freilassen von Sklaven hoch besteuert, denn die Kolonialregierungen wollten verhindern, dass Sklaven freigelassen wurden. Andererseits war der Südosten des Landes stark iberisch geprägt und das Freilassen von Sklaven wurde unterstützt. Dadurch ergab sich eine relativ starke Vermischung mit der herrschenden weißen Bevölkerung und eine breite Schicht von Mulatten entstand. Überall wo solch eine Vermischung stattfand, gab es weniger Diskriminierung als in den Kolonien, in denen ganz deutlich getrennt wurde, wie beispielsweise in der Karibik oder auch in den USA. Dort wurde die color-line ganz deutlich gezogen. Die strikte Trennung begründete man mit der Minderwertigkeit der Afrikaner.

Worauf beruht nun der nichtiberische Sklavereitypus?

Der nichtiberische Sklavereitypus geht eigentlich auf die meisten der westeuropäischen Nationen zurück. Auf die Franzosen, Engländer, Holländer, Dänen und Schweden. Sogar die Brandenburger hatten eine ganz kleine Kolonie auf einer Insel bei Saint Croix mit einem eigenen Stützpunkt in Westafrika, von dem aus sie Sklaven nach Amerika schafften. In den Kolonien wurden systematisch Kolonialprodukte angebaut, für die eine Nachfrage in Europa entstanden war: Tabak, Indigo, Kakao, vor allem aber Zucker. Spanien hatte sich Amerika fast vollständig unter den Nagel gerissen. Aber gleichzeitig blieb das Land feudalistisch und entwickelte sich nicht weiter. Die westeuropäischen Nationen dagegen modernisierten sich und bauten einen quasi kapitalistischen Handel auf, der auf den Zuckerrohrplantagen basierte. Auf São Tomé und in Brasilien errichtete man die ersten großen Zuckerrohrplantagen. Und die Portugiesen beschafften die Sklaven für deren Bewirtschaftung, deren Handel sie ohnehin in der Hand hielten. Anbau in kleinerem Stil lohnte sich nicht, weil die Errichtung von Zuckermühlen sehr teuer war. Mit großen Investitionen erzielte man große Gewinne.

Das Zuckerrohr setzte sich durch, der kapitalistische Sklavenhandel entwickelte sich und die Lebenserwartung der Sklaven sank drastisch. Normalerweise überlebte ein Sklave in der Kolonie keine fünf Jahre. Das hatte kulturelle Folgen. Die Sklaven konnten sich, selbst wenn sie gewollt hätten, gar nicht assimilieren. Sie starben vorher und wurden durch neue Sklaven ersetzt, die aus Afrika gebracht wurden. Es entstand eine deutliche Trennung zwischen den so genannten kreolischen Sklaven, also denen die in der Kolonie geboren wurden und stärker an die Kultur der Kolonialherren angepasst waren, da sie deren Sprache sprachen. Und den Feldsklaven, die eine geringere Lebenserwartung hatten und sich fast nie auf die kulturellen Verhältnisse der Kolonie einlassen konnten. Die katastrophalen Umstände und die menschenunwürdigen Bedingungen auf den Plantagen trieben viele der Sklaven in den Selbstmord oder die Sklaven brachten sich gegenseitig um. Diese geringe Lebenserwartung der Sklaven war ganz charakteristisch für die Sklaverei der Engländer und Franzosen in der Karibik, zum Teil auch in Nordamerika und für die Sklaverei in Brasilien. Außerdem gab es ein großes Ungleichgewicht von Männern und Frauen, weil kein Interesse daran bestand, Sklaven aufzuziehen. Das war zu teuer. In den Kolonien gab es zahlenmäßig eine ganz große Disproportion zwischen freier weißer Bevölkerung und versklavter schwarzer Bevölkerung. Je größer diese Disproportion war, um so gefährlicher wurde die Situation für die Kolonialherren, da von der Überzahl der Sklaven die ständige Gefahr von Aufständen ausging. Es gab viele Aufstände, vor allem auf Jamaica. Schließlich kam die Revolution auf Haiti im Jahre 1789, in deren Verlauf die erste schwarze Republik ausgerufen wurde. Dieser Sklavereitypus, der gleichzeitig der bekannteste ist, war also letztlich auch für die „Herrenbevölkerung“ zu gefährlich.
Desweiteren gab es viele Fälle der Flucht von den Plantagen. Die Lebensform der cimarronaje entwickelte sich zu einer organisierten Flucht der Sklaven (cimarrones) von den Plantagen in entlegene, unzugängliche Berg- oder Urwaldgebiete. Dort bildeten die ehemaligen Sklaven eigene Gemeinschaften, die strikt hierarchisch organisiert waren, eigene Gesetze hatten und in die immer weitere Sklaven „nachflüchten“ konnten oder aus den Plantagen entführt wurden. Sie gründeten Familien und versuchten sich ein „normales“ Leben aufzubauen.

Und wie sah der dritte Typus aus?

Die dritte Gruppe von afroamerikanischer Bevölkerung, waren Menschen, die zur Sklaverei nach Amerika verschleppt wurden, aber letztlich nie oder nur zeitweise in die Sklaverei gerieten. Das waren zum Beispiel die cimarrones oder geflüchtete Sklaven von untergegangenen Sklavenschiffen. Die sich an Land rettenden Sklaven gründeten in unzugänglichen Gebieten ihre eigenen Gemeinden. Zum Beispiel in Ecuador die Gemeinde Esmeraldas. Ein weiteres Beispiel ist die schwarze Bevölkerung, die von der Karibik aus an die Atlantikküste Mittelamerikas gebracht wurde, um etwa den Panama-Kanal zu bauen. Von dort gab es dann eine Ausbreitung der schwarzen Bevölkerung, die nichts mehr mit der Sklaverei zu tun hatte. Ein anderer Fall sind die „Buschneger“ in Surinam. Oder die Garífuna, Sklaven die sich nach St. Vincent und Grenada flüchteten und sich dort mit den Kariben vermischt haben. Die Miskito in Nicaragua gehören auch dazu. Beim dritten Typus haben die Afroamerikaner ihre eigenen Gesellschaften aufgebaut, entweder mit stark afrikanischer Prägung oder es wurden indianische Kulturen übernommen. In jedem Fall entwickelte sich eine ethnische Kultur.

Sie haben bereits den Begriff der Kreolisierung genannt. Was genau versteht man darunter?

Der Begriff wird zunächst ganz konkret verwendet auf Sprachen und Kultur. Kreolisierung bedeutet immer ein Kontaktphänomen. Zwei Kulturen kommen miteinander in Kontakt und eine Vermischung findet statt. In Bezug auf die Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden, ist Kreolisierung eine Kulturmischung aus afrikanischen und europäischen Bestandteilen . Indianische Elemente spielen eine relativ geringe Rolle, da die indigene Bevölkerung in den Plantagengebieten schon früh vernichtet worden war. Kreolisierung im Fall der Afroamerikaner ist ein Ausbalancieren zwischen zwei auffälligen Kulturschwerpunkten. Auf der einen Seite die afrikanischen Kulturen und auf der anderen Seite die dominante weiße Kolonialkultur. In einer großen Plantagenkolonie war die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versklavt und nur ein ganz kleiner Teil europäisch und frei. Von der Assimilierung der Sklaven zu sprechen ist also problematisch, denn sie konnten sich gar nicht assimilieren, weil sie kaum Zugang zu den Lebensbereichen der Weißen hatten. In den Kolonien versuchten die Sklaven sich in irgendeiner Form zu reorganisieren. Und zwar nicht über die dominante Kolonialkultur, sondern in den alten afrikanischen Kulturmustern. Zum großen Teil lief das über die synkretistischen Kulte, sowie über die afrikanischen Religionen und Ahnenkulte ab.

In diesen spannungsreichen Gesellschaften entstand ein ganz komplexes Wechselspiel von Anpassung und Widerstand. Angepasst waren zum Beispiel die Haussklaven, denn diese hatten die Chance aufzusteigen, indem sie zum Beispiel die Sprache der Kolonialherren erlernten. Bei der großen Mehrheit jedoch fand keine ausschließliche Anpassung statt. Die Sklaven schätzten in jedem Moment ihres Lebens neu ab, ob sie sich anpassen oder Widerstand leisten sollten. Sich zu widersetzen war lebensgefährlich, aber in manchen Situationen konnte man nicht anders, als Widerstand zu leisten. Eine Form war zum Beispiel Capoeira. Widerstand stand immer in engem Zusammenhang mit der afrikanischen Kultur. Die Alternative dazu war die Übernahme europäischer Kulturmuster.

Das Besondere an der Kreolisierung ist, das beide Möglichkeiten nebeneinander herlaufen. Man könnte das als eine institutionalisierte Ambivalenz bezeichnen. Die Sklaven sind doppelt orientiert, sie sind in der Lage, sich angepasst zu zeigen und fünf Minuten später verhalten sie sich vollkommen anders. Das spiegelt sich auch in den synkretistischen Kulten wider, wo die Götter, Riten und Heiligen sowohl einen europäischen als auch einen afrikanischen Namen tragen. Der Gläubige oder der Priester ist in der Lage zwischen beidem hin- und her zu wechseln. In den Kulten gibt es dann je nach Bedarf katholische oder aber afrikanische Elemente. Die Priester haben zum Beispiel zwei Hände, eine katholische und eine magisch-afrikanische. Auch die Altäre haben zwei Seiten, mit katholischen und afrikanischen Elementen direkt nebeneinander. Diese Ambivalenz ist eine Form des Überlebens. Nicht zu verwechseln ist die Kreolisierung mit mestizaje. Mestizaje bedeutet, dass sich eine neue ethnische Gruppe konstituiert. Man kann das an einem Vergleich verdeutlichen. Wenn man Wasser und Wein zusammengießt, vermischen sie sich und ergeben eine neue Flüssigkeit. Wasser und Öl dagegen kann man zwar schütteln, aber es trennt sich sofort wieder. Das ist Kreolisierung.

Im Gegensatz zu den Völkern, die aus der Völkerwanderung hervorgegangen sind, mit all ihren Gründungsmythen, können die Afroamerikaner eigentlich nie sagen, sie seien ein Volk. Im Grunde sind sie Teil einer Nation, an deren Gründung sie keinen Anteil hatten. Sie sind immer entweder aufstiegsorientiert oder nachbarschafts- bzw. solidaritätsorientiert. Entweder nehmen sie die Mainstreamkultur an und distanzieren sich von ihren eigenen Leuten. Oder sie ziehen sich zurück in eine Subkultur, die sich deutlich von der Mainstreamkultur absetzt. Auch in den kreolischen Sprachen findet man diese doppelte Orientierung. Einerseits die Orientierung an der dominanten Kolonialsprache, auf der anderen Seite an einem undefinierbaren afrikanischen Substrat.

Afroamerikaner, die kreolisch sprechen, sprechen es immer mehr oder weniger. Entweder absichtlich „weniger“ kreolisch, wenn es angesichts der dominanten Gesellschaft ratsam ist. Das ist wichtig, wenn die Menschen zum Beispiel zum Arzt gehen, denn eine Kreolsprache zu sprechen ist sozial stigmatisiert. Oder es wird andererseits bei bestimmten Gelegenheiten das afrikanische Element stärker betont. Wenn sich zum Beispiel Freunde treffen oder bei bestimmten Festen.

Im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitskämpfen in den Kolonien entstand die Négritude-Bewegung. Was versteht man unter Négritude und worin unterscheiden sich die karibische und die afrikanische Variante?

Um 1930 gab es eine große Migration farbiger Studenten in die europäischen Metropolen. Das war eine geplante und gezielte Bewegung. Man wollte eine schwarze, gebildete Oberschicht für die Kolonien heranziehen. So trafen sich in Paris afrikanische und karibische Studenten und bildeten zunächst einmal eine Schicksalsgemeinschaft, in dem Sinne, dass sie sich gleichermaßen diskriminiert fühlten. Wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft wurden sie als Franzosen zweiter Klasse behandelt. Hinzu kam die Frage der Unabhängigkeit der Kolonien. Diskutiert wurden diese Fragen in einer Zeitschrift, die von Aimé Césaire aus Martinique und Leopold Senghor aus dem Senegal herausgegeben wurde. Dabei vertrat der Afrikaner Senghor eine Form der Négritude, die eher auf die Bewahrung afrikanischer Identität und Unabhängigkeit abzielte. Man spricht deshalb auch von der „Négritude der Wurzel“. Im Grunde war das ein essenzialistischer Ansatz, der das Afrikanische mit dem Gefühl verband und sich von der europäischen Ratio abgrenzte.

Césaire hingegen war bezogen auf die Karibik der Ansicht, die Menschen in den Kolonien hätten ihre Identität bereits durch die Sklaverei verloren. Somit war die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf die Wurzeln obsolet. Césaires Négritude war auf die Zukunft gerichtet und äußerte sich in einer Bewegung die Veränderung anstrebte und war somit deutlich revolutionärer. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Senghor die Unabhängigkeit des Senegals erringen konnte, während Césaires Martinique französische Kolonie geblieben ist.

Eine amerikanische Dreiecksbeziehung

Im April fand in Genf die alljährliche Konferenz der UN-Menschenrechtskommission statt. Die spannendste Frage war wie immer, ob es zu einer offiziellen Anprangerung Kubas wegen Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Da die USA auf Grund mangelnder internationaler Unterstützung nicht mehr in dem Gremium vertreten sind, mussten sie sich bereits im letzen Jahr nach einem Land umschauen, welches den entsprechenden Antrag zur Verurteilung Kubas einbringen würde. Diese Aufgabe wurde damals von der Tschechischen Republik übernommen, die aber dieses Jahr signalisiert hatte, dass sie dafür nicht noch einmal zur Verfügung stehen würde. Die Bemühungen der USA konzentrierten sich daher voll und ganz auf die lateinamerikanischen Vertreter in der Menschenrechtskommission, da man sich der ideologischen Tragweite einer Verurteilung auf Initiative eines der “Bruderländer” vollkommen bewusst war.

Uruguay springt ein

Peru hatte sich, nachdem ein bilaterales Wirtschaftsabkommen mit den USA in Aussicht gestellt worden war, bereit erklärt, den Job zu übernehmen. Ein Tag vor Ablauf der Frist zur Antragannahme sah sich der peruanische Präsident Toledo jedoch gezwungen der eingegangenen Verpflichtung eine Absage zu erteilen, da das Parlament für eine “souveräne und autonome” Entscheidung in der Kuba-Frage gestimmt hatte. 15 Minuten vor Ablauf der Frist am 10. April reichte dann schließlich Uruguay den kontroversen Antrag ein und löste damit die schwerste Krise zwischen den beiden Ländern seit Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1985 aus. Am 19. April kam es daraufhin zur Abstimmung, bei der der Antrag Uruguays zur internationalen Ächtung der sozialistischen Insel mit 23 Stimmen dafür, 21 Stimmen dagegen und acht Enthaltungen knapp angenommen wurde. Bis auf Kuba und Venezuela, die erwartungsgemäß gegen den Antrag stimmten, sowie Brasilien und Ecuador die sich enthielten, wurde er von den sieben anderen vertretenen lateinamerikanischen Ländern unterstützt. In dem verabschiedeten Text werden einerseits “die kubanischen Bemühungen im Bereich der sozialen Rechte angesichts der unvorteilhaften internationalen Lage” honoriert, andererseits wird aber eine einjährige Untersuchung der Menschenrechtslage durch einen Vertreter der UNO empfohlen. Dabei handelt es sich um eine alte Forderung der USA, die, da sie die Annahme schwerer Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, von Kuba als “Einmischung in nationale Angelegenheiten” zurückgewiesen wird.

Markt oder Ehre?

Die kubanischen Reaktionen auf das Verhalten Uruguays in Genf waren äußerst heftig. Der Außenminister Kubas, Felipe Pérez Roque, bezeichnete die Bereiterklärung Uruguays, den Antrag zur Verurteilung Kubas zu stellen, als einen “unterwürfigen Kniefall vor den Interessen des US-Imperialismus”. Er beschuldigte den Präsidenten Jorge Batlle, dass ihm die Märkte wichtiger als die Ehre seien. Bei ihrem letzten Zusammentreffen auf dem Gipfel der amerikanischen Staaten in Mexiko hatte US-Präsident Bush ein Freihandelsabkommen und vorteilhafte Einfuhrbedingungen für uruguayisches Fleisch versprochen, falls Batlle bei einer Verurteilung Kubas behilflich sein würde. Gleichzeitig stellte Pérez Roque die moralische Autorität des Landes in Frage, indem er auf das Amnestiegesetz verwies, welches im Jahr 1989 per Referendum ratifiziert wurde und jegliche Strafverfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden, verbietet. “Ein Land, in dem kein einziger Folterer und Mörder verurteilt wurde, und das sich jetzt als der große Richter aufspielen will, das erscheint mir wie ein schlechter Witz.” Die Antwort aus Montevideo ließ nicht lange auf sich warten. Der uruguayische Außenminister Didier Opertti nannte die Äußerungen seines kubanischen Kollegen falsch und beleidigend. Der strittige Antrag sei nicht auf Betreiben der USA zu Stande gekommen, außerdem setze man sich seit Jahren für eine Beendigung des US-Embargos ein. Wenn Kuba die Beschuldigungen nicht zurücknehme, so müsse man über weit reichende Konsequenzen nachdenken.

”Cuba sí, yanquis no!”

Die US-amerikanischen Versuche, Einfluss auf die politischen Beziehungen zwischen Kuba und anderen lateinamerikanischen Staaten zu nehmen, sind so alt wie die kubanische Revolution. Auch das Verhältnis von Uruguay zu Kuba ist geprägt von massivem Druck aus Washington, dem aber von Anfang an eine mächtige Solidaritätsbewegung entgegenstand. Der Erfolg der kubanischen Revolution beeinflusste auch die uruguayische Linke nachhaltig. 1961 besuchte Che Guevara in seiner damaligen Funktion als kubanischer Industrieminister den uruguayischen Badeort Punta del Este, wo er auf einer Konferenz amerikanischer Staaten eine seiner berühmten Reden hielt und anschließend vom damaligen uruguayischen Ministerpräsidenten zum gemeinsamen Mate-Trinken eingeladen wurde. Während einem Besuch der Universität von Montevideo gab es ein Attentat, bei dem ein kommunistischer Student erschossen wurde, der direkt neben Guevara lief. Dass die Kugel nicht ihm galt, ist so gut wie sicher. 1964 beendete Uruguay erstmals die diplomatischen Beziehungen mit Kuba, eine Entscheidung, die, wie der ehemalige CIA-Agent Philipp Agee in einem seiner neueren Bücher schildert, von den USA forciert wurde. Die größte Unterstützung fand Kuba naturgemäß in der Kommunistischen Partei Uruguays, während die Guerilla der Tupamaros immer eine kritische Distanz bewahrte und großen Wert auf politische Unabhängigkeit legte. 1995, zehn Jahre nach Ende der Militärdiktatur, besuchte Fidel Castro das Land und wurde in der traditionell linken Hauptstadt empfangen wie ein Popstar: 500.000 Uruguayer, das heißt jeder Sechste, säumten seinen Weg vom Flughafen zum Rathaus, wo ihn der Bürgermeister des Linksbündnisses Frente Amplio (FA), Mariano Arana, erwartete. Die Solidarität mit Kuba zählt seit der Gründung im Jahr 1971 zu den unerschütterlichen Prinzipien des FA, die bis jetzt noch jede “ideologische Erneuerung” des Parteienbündnisses überstanden hat.

Nationale Schande

“Das Verhalten Uruguays in der Menschenrechtskommission ist eine Schande für das ganze Land und stellt einen Pyrrhus-Sieg für die Vereinigten Staaten dar.” So äußerte sich der sozialistische Senator Reinaldo Gargano in einer Parlamentsdebatte und gab damit den Tenor, der in der gesamten Linken des Landes vorherrschte, wieder. Während die meisten Vertreter der rechts-liberalen Regierungskoalition aus Colorados und Blancos in seltener Übereinstimmung das Vorgehen Uruguays als Beweis für die große demokratische Tradition des Landes im Dienste der Menschenrechte wertete, gab es auch dort Missstimmungen. Ein Beraterteam des Außenministers Oppertti hatte im Vorfeld eine Enthaltung Uruguays in der Kuba-Frage empfohlen, so wie dies bereits im Jahr 1998 geschehen war. Daraufhin wurde die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Silvia Izquierdo, die an der Empfehlung maßgeblich beteiligt war, auf Grund von angeblicher Illoyalität zu Gunsten Kubas entlassen. “Ein einzigartiger Akt ideologischer Verfolgung”, so Senator Gargano.

Flucht nach Norden

Die überraschende Demission Izquierdos ist symptomatisch für die Irritationen, die seit dem Amtsantritt Batlles im Jahr 2000 die Beziehungen zwischen dem Außenminister Opertti, der bereits unter dem vorherigen Präsidenten Sanguinetti diese Funktion innehatte, und dem Chef der Exekutive beherrschen. Wiederholt hat sich Batlle in den letzten zwei Jahren durch Alleingänge in der Außenpolitik hervorgetan, die weder mit seinem Außenminister, noch mit den Partnern in der Regierungskoalition, geschweige denn mit der Opposition abgestimmt waren. Jorge Batlle, der in den USA studierte, gilt als bedingungsloser Bewunderer des “Großen Bruders” und seines Wirtschaftssystems. Die daraus resultierende Politik, die auch schon als “Flucht nach Norden” charakterisiert wurde, äußert sich besonders in der Vernachlässigung der Beziehungen zu den anderen Mitgliedstaaten des Mercosur, Argentinien, Brasilien und Paraguay. Anstatt auf eine Politik der regionalen Integration setzt Batlle auf bilaterale Abkommen mit den USA, um so die Exportmöglichkeiten Uruguays zu verbessern. Die enge Bindung an die Vereinigten Staaten kommt nun auch in den Beziehungen zu Kuba voll zum Tragen. Bereits auf dem amerikanischen Gipfel im mexikanischen Monterrey kam es zu Verstimmungen als Batlle die vorzeitige Abreise Castros als “Show eines alten Mannes” bezeichnete und eine ältere Aussage des ehemaligen Präsidenten von El Salvador, Flores, bekräftigte, in der dieser Castro als Mörder bezeichnet hatte.

Solidarität und Meningitis

Drei Tage nach der von Uruguay initiierten Verurteilung Kubas in Genf folgte dann das verbale Donnerwetter vom comandante en jefe auf das viele gewartet hatten und das in seiner Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Castro bezeichnete Batlle als “veralteten niederträchtigen Judas” und beschuldigte ihn des Verrats an der lateinamerikanischen Einheit. Gleichzeitig betonte er, dass die kubanische Regierung sehr wohl zwischen der uruguayischen Regierung und dem uruguayischen Volk zu unterscheiden wisse, welches eine über vier Jahrzehnte währende Beziehung der Brüderlichkeit und Solidarität mit der kubanischen Revolution verbinde. Er verwies auf eine vor Ausbruch der Krise gemachte Zusage, nach der Kuba sich verpflichtet hatte, eine Spende von 1,2 Millionen Impfspritzen gegen Meningitis B, die kürzlich in der Provinz Uruguays ausgebrochen war, zu senden. “Am selben Tag wie in Genf mit Hilfe von Uruguay die internationale Stigmatisierung Kubas aufrecht erhalten wurde, die nur zur weiteren Rechtfertigung des Embargos dient, flog das erste Flugzeug mit 200.000 Spritzen nach Uruguay, und auch der Rest wird folgen, es sei denn man lässt uns nicht landen.” Auch über diese Hifsleistung hatte es bereits im Vorfeld Auseinandersetzungen gegeben, da die uruguayische Regierung keine kubanische Spende akzeptieren wollte, sondern darauf beharrte den Wert der Spritzen mit den 30 Millionen US-Dollar Schulden, die Kuba bei Uruguay hat, zu verrechnen. Die Kubaner waren empört, da es sich um eine Hilfe aus Solidarität handele, die nichts mit den Schulden zu tun habe, die man natürlich begleichen werde.
Ein Sprecher der uruguayischen Regierung wertete die harschen Attacken aus Havanna als “ungerechtfertigten Angriff auf die nationale Würde durch ein totalitäres System”. Am 24. April war es dann soweit: Der kubanische Botschafter in Montevideo, José Alvarez Portela, wurde zur persona non grata erklärt und aufgefordert schnellstmöglich das Land zu verlassen. Batlle begründete den endgültigen Bruch mit Kuba mit den Beleidigungen Castros und kündigte eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an, “sobald es Freiheit auf dieser Insel gibt.”

Persona grata!

Gleichzeitig wurde das Ergebnis einer Umfrage bekannt, nach der nur acht Prozent der Bevölkerung das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Kuba unterstützen, 65 Prozent sprechen sich gegen eine Verurteilung der Insel durch die UN-Menschenrechtskommission aus. Am 4. Mai kam es dann zu einer Wiederholung der Geschichte. Genau wie im Jahr 1964 versammelten sich um sieben Uhr morgens hunderte Montevideaner vor den Toren der kubanischen Botschaft, um den des Landes verwiesenen Diplomaten Alvarez Portela zum Flughafen Carrasco zu begleiten. Während der Fahrt durch die Stadt wuchs die Karawane aus Autos, Mopeds, Lastwagen, Bussen und Fahrrädern auf mehrere Kilometer an. Auf dem Flughafen wandte sich der Botschafter mit Tränen in den Augen zu einem letzten Gruß an die Uruguayer und bedankte sich für den überwältigenden Abschied. Die Antwort schallte ihm aus Tausenden Kehlen entgegen:“Persona grata!”. Der Botschafter rief: “Hasta siempre, compañeros!” und stieg in sein Flugzeug.

Eine schmierige Angelegenheit

In den vergangenen dreißig Jahren führte die Erdölförderung in Ecuador zu großen ökologischen, sozialen und ökonomischen Schäden. Nun wird eine neue Ölpipeline gebaut – ein neunhundert Millionen Dollar-Kredit der West LB macht es möglich. Die Westdeutsche Landesbank bewilligte bereits im Juni 2001 den umstrittenen Kredit. Doch je näher der Baubeginn rückt, desto militanter werden die Proteste der ecuadorianischen Widerstandsgruppen und der ihrer Verbündeten im In- und Ausland.
Der erbitterte Widerstand, auf den der Bau der neuen Pipeline stößt, erklärt sich aus den historischen Bedingungen der Erdölförderung und der heutigen Situation des Landes.

Öl vom Amazonas

Ecuador unterzeichnete 1972 mit der multinationalen Firma TEXACO einen ersten Vertrag zur Erdölförderung, der zunächst Konzessionen für die kommenden zwanzig Jahre erhielt. Die größten Erdölvorkommen liegen östlich der Anden in der Provinz Oriente. In diesem Teil des Amazonasbeckens mit seiner enormen Biodiversität lebten relativ abgeschieden acht indigene Völker.
Mit dem Baubeginn der Erdölplattformen in diesen Waldgebieten wurde deren Lebensumfeld empfindlich gestört und vielerorts gänzlich vernichtet. Sprengungen, Abholzungen und neue Siedlungen fraßen sich durch den Wald, der Straßenbau brachte landlose Siedler in die kaum besiedelten Gebiete, die dort Boden beanspruchten, um Felder zu bewirtschaften. Nach Angaben der Fundación Natura, einer Umweltorganisation in Ecuador, gibt es bereits jetzt im nördlichen Oriente, dem Hauptförderungsgebiet des Erdöls, etwa 600.000 Quadratkilometer abgeholzte und degradierte Flächen – das entspricht etwa der Größe Frankreichs.
Um das Rohöl an die Küste in die Hafenstädte zu transportieren, begann TEXACO im Jahr der Vertragsunterzeichnung mit dem Bau einer Pipeline, dem Sistema del Oleoducto Transecuatoriano (SOTE). Diese Leitung belastet durch die schlechte Wartung der Anlagen, durch undichte Ventile, ungereinigte Abwässer und immer wieder auftretende Lecks in den Leitungssystemen seit ihrem Bau die natürliche Umwelt in hohem Maße. Allein in den vergangenen drei Jahren gab es vierzehn große Leckagen in der Pipeline.
Einer der größten Unfälle ereignete sich im Mai 1989, als 800.000 Liter Öl in den Río Napo flossen. Neben der Vernichtung von Flora und Fauna litten auch die stromabwärts liegenden Siedlungen unter der Verseuchung. 560 Familien aus 31 Gemeinden verloren ihre Ernte. Es wird geschätzt, dass bei den dreißig größten Unfällen insgesamt 74 Millionen Liter Rohöl ausgelaufen sind. Das Tankschiff Exxon Valdez hatte – zum Vergleich – bei der größten Umweltkatastrophe vor der Küste Alaskas etwa vierzig Millionen Liter Öl verloren.

Häufige Unfälle

Die Häufigkeit der Unfälle begründet sich unter anderem daraus, dass die Pipeline durch tektonisch und seismisch aktive Gebiete führt – ähnlich ist das bei der neuen Pipeline. Die Überquerung der Anden ist bereits durch aktive Vulkane ein hohes Risiko. Hinzu kommt, dass die gesamte Westküste Südamerikas stark erdbebengefährdet ist. Auf dem Transportweg liegen diverse Schutzgebiete, die einst eingerichtet wurden, um die ursprüngliche und einzigartige Natur dort zu bewahren. Ecuador hat ein Schutzsystem, das zwischen Nationalparks und Reservaten (Reservas faunísticas, biológicas und ecológicas) unterscheidet. Doch die alte und die geplante Pipelinetrassen führen unterschiedslos durch diese Gebiete. Umweltschutz spielt hier nur eine untergeordnete Rolle.
Das neue Projekt wurde zunächst ohne eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) bewilligt, obwohl diese zwingend vorgeschrieben wird, insbesondere, wenn es sich um Kredite der öffentlichen Hand handelt. Als dies publik wurde, lieferten die ecuadorianischen Behörden in nur zwei Monaten nachträglich eine UVP für die 500 km lange Strecke. Die Versäumnisse und Mängel dieser Prüfung sind offensichtlich. Da sie sich auf veraltetes Kartenmaterial stützt, die Maßstäbe nicht den gültigen Vorschriften entsprechen und keine Anhörung der Betroffenen stattfand, fordern nun viele Gruppen eine neue UVP durch unabhängige Gutachter.

Öl im Biosphärenreservat

Der Bau der neuen Pipeline gefährdet vor allem den Yasuni-Nationalpark, der 1979 eingerichtet wurde, um neben der Natur auch den Völkern der Huaorani, Tagaeri und Taromename ein Rückzugsgebiet zu gewähren. Der Nationalpark wurde von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt. Doch der größte Teil des Öls, der durch die neue Pipeline fließen wird, soll genau in diesem Gebiet gefördert werden. Die traditionellen Lebensweisen der indigenen Bevölkerung würden damit stark verändert werden. Die betroffenen Gemeinschaften wurden bei der Entwicklung des Pipeline-Pro-jekts gar nicht erst konsultiert, obwohl Ecuador die entsprechende Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert hat und dazu verpflichtet wäre. Der Ökotourismus, der als alternative Einnahmequelle der Zukunft gepriesen wird, wird auch nicht mehr möglich sein.
Obwohl man den indigenen Gemeinden teilweise das Land, auf dem sie leben, bereits übereignet hatte, werden sie nun erneut entrechtet: Alle Bodenschätze, die in mehr als 30 Zentimeter Tiefe gefunden werden, gehören dem Staat, der sie fördern oder dazu Konzessionen vergeben kann. Konzessionen für den Erdölabbau existieren inzwischen für über 13 Millionen Hektar Land, das ist fast die Hälfte des gesamten Staatsgebietes. Summiert man die bisher bekannten Erdölvorkommen und die für die neue Pipeline angestrebte Förderungsmenge, werden sich die Vorräte bereits innerhalb von 20 Jahren erschöpft haben. Die natürlichen Ressourcen des Landes werden also schnell verbraucht sein und höchstwahrscheinlich immense Umwelt- und Gesundheitsschäden zurücklassen – und weiterhin hohe Auslandsschulden, denn das Geschäft mit dem Öl machen vor allem multinationale Konzerne. Von den Rohölerlösen von 2,4 Milliarden US-Dollar sind im Jahr 2000 lediglich etwa 100 Millionen US-Dollar im Land geblieben. Durch die gestiegene Kreditwürdigkeit des Landes auf Grund seiner Erdölvorkommen flossen seit dem Beginn der Förderung riesige Darlehen in das Land. Doch statt zum Aufschwung beizutragen, bedingen sie die Verschuldung. Ecuador hat heute die höchste Pro-Kopf-Auslandsverschuldung in ganz Lateinamerika. Der größte Teil der Deviseneinnahmen geht direkt in den Schuldendienst. So sind auch die Einnahmen aus der erhöhten Förderungsmenge bereits verplant, eine Tatsache, die von den Gegnern des Projekts stark kritisiert wird. Auch die deutsche Beteiligung sieht gern über die katastrophalen Folgen des Vorhabens hinweg, da sich hier gutes und sicheres Geld verdienen läßt. Die Proteste im In- und Ausland zielen darauf ab, das Projekt sofort zu stoppen. Der Kredit aus Düsseldorf, der das Vorhaben erst möglich macht, müßte so hohe politische Kosten verursachen, dass sich der Gewinn nicht mehr lohnt.

Wieder frei!

Bettina, du warst vom 25. März bis zum 1. April im Gefängnis, weil du dich auf dem Camp Los Guaramos befandest. Wie bist du auf das Camp aufmerksam geworden?

Ich hatte bereits vorher gewusst, dass dort der Bau einer Ölpipeline betrieben wird, mit Hilfe von deutschem Kapital von der West LB. Auch wusste ich, dass es Widerstand dagegen gibt. Von dem Camp selbst erfuhr ich aber erst in Ecuador. Ich war dort auf dem Internationalen Camp für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte, das vom 14.-16. März in Quito stattfand. Dort wurde über die möglichen Folgen des Freihandelsabkommens FTAA diskutiert, es gab Informationsveranstaltungen zum Plan Colombia und zu der US-Militärbasis in Manta, wohin wir auch mit einem Teil der Leute gefahren sind, um vor Ort gegen den Plan Colombia zu demonstrieren. Natürlich gab es auch Informationen zu dem Camp in Los Guaramos. Also entschied ich mich mit einer Freundin und einigen Leuten, die wir auf dem internationalen Camp kennengelernt hatten, dieses Umweltcamp zu besuchen. Wir sind mit dem Bus bis nach Mindo gefahren; von dort aus sind wir mit einem Pick-up in die Berge gefahren, die letzten Kilometer mussten wir allerdings auf einer anstrengenden Bergwanderung zurücklegen.

Wie sah das Konzept von dem Camp aus und wie hat es dir dort gefallen?

Das Camp gefiel mir sehr gut, außer uns 14 AusländerInnen vom Internationalen Camp in Quito waren noch drei Ecuadorianer dabei die auch beim Aufbau des Camps mitgeholfen hatten. Die Stimmung war sehr gut, wir haben einfach zusammen gekocht und gewohnt. Die Leute sind alle sehr angenehm und das ganze Konzept und die Art des Widerstands waren friedlich.
Es war vorgesehen die OCP Bautrupps mit einer Blockade durch Plattformen aufzuhalten. Die Plattformen waren recht hoch auf den Bäumen, einige hingen auch an Seilen befestigt zwischen den Bäumen, man konnte sie eigentlich nur mit Kletterausrüstungen erreichen, die von den Plattformen herunterhingen. Wenn die OCP-Bautrupps gekommen wären, war es geplant, auf die Plattformen zu klettern und diese nicht mehr zu verlassen. Wir wollten die Bäume auf eine friedliche Weise direkt beschützen. Unter diesen Umständen wäre auch eine Räumung kaum möglich gewesen, da das Terrain wirklich schwer zugänglich ist, und ohne die zuvor angebrachten Kletterseile ist es praktisch unmöglich auf die Plattformen zu gelangen.

Aber dazu ist es nicht gekommen?

Nein, die Räumung am 25. März kam völlig unerwartet. Wir hatten damit erst in einigen Wochen gerechnet, wenn die Bauarbeiten der OCP soweit fortgeschritten wären, dass ohne eine Räumung tatsächlich keine Arbeiten mehr möglich gewesen wären.
Wir selbst, also meine Freundin und ich, sowie die anderen 12 AusländerInnen waren eigentlich schon auf dem Rückweg, wir wollten noch für einige Tage ans Meer fahren. Dazu kam es dann aber nicht, denn auf dem Weg zur Straße kam uns schon das Spezialkommando der Polizei entgegen. Sie waren militärisch ausgerüstet, mit Gewehren, Tränengas und Gasmasken. Obwohl wir uns auf dem Rückweg befanden und auch sonst nichts getan hatten, wurden wir gleich ohne jede Begründung verhaftet. Die drei Ecuadorianer sind in dem Camp geblieben, wo sie dann kurze Zeit später auch verhaftet wurden. Wir konnten sie leider nicht warnen, weshalb sie sich auf dem Boden befanden und verhaftet werden konnten.

Und was ist dann mit euch geschehen?

Wir wurden mit dem Bus nach Quito gebracht, in das Hauptquartier der Polizeieinheit. Dort wurden unsere Personalien aufgenommen. Dabei wurden wir für zwei Stunden in einen kleinen Raum gesperrt, ohne dass uns gesagt wurde, was mit uns geschehen sollte. Als sie uns das Telefonieren untersagten, weigerten wir uns erneut die Busse zu betreten, bis wir alle telefoniert hatten. Danach wurden wir ins Gefängnis gefahren. Wir wurden nicht informiert, was mit uns geschehen sollte. Die Informationen wechselten ständig und widersprachen sich. Hinzu kam, dass uns nicht einmal ein Dolmetscher zu Hilfe kam und so gut ist mein Spanisch nicht, so dass ich auch vieles einfach nicht verstand.
Am 26. März kam es dann zu einer Anhörung mit dem Polizeichef von Quito, aber auch hier stand uns kein Dolmetscher zur Verfügung. Wenigstens hatten wir inzwischen einen Anwalt von der Acción Ecologista. Am Ende der Anhörung wurde uns nicht gesagt was nun mit uns geschehen solle. Als wir dann wieder ins Gefängnis gebracht werden sollten, weigerten wir uns solange, bis wir wenigstens jeder eine Erklärung abgeben konnten.
Am nächsten Tag konnten wir dann im Fernsehen (unsere Zellengenossin hatte einen Fernseher) sehen, wie der gleiche Polizeichef, der uns einen Tag vorher völlig uninformiert ließ, der Presse erklärte, dass wir Ausländer wegen Visamissbrauchs abgeschoben werden sollten. Die Presse war sehr interessiert an unserem Fall, denn in Ecuador werden selten Ausländer abgeschoben, und noch seltener aus politischen Gründen.

Wie war für dich der Gefängnisaufenthalt?

Das Gefängnisgebäude ist schon ganz schön heruntergekommen. Wir Frauen kamen in einen Frauengefängnis, obwohl wir vorher verlangt hatten, gemeinsam untergebracht zu werden. Wir wurden mit einigen Ecuadorianerinnen zusammen untergebracht, die sehr freundlich zu uns waren. Das Essen war allerdings eher ungenießbar. Wir durften zwar in den Hof gehen und nach Deutschland telefonieren, wir waren jedoch völlig der Willkür der Wärterinnen ausgeliefert.
Was uns sehr viel Mut machte, waren die Demonstrationen, die ständig vor dem Gefängnis stattfanden. Wir konnten immer wieder die Rufe „Libertad, libertad“ hören. Die Solidarität war wirklich phänomenal. Als wir aus dem Gefängnis herauskamen, haben wir lauter Graffittis bewundern können, die unsere Freilassung forderten.

Wie seid ihr denn aus dem Gefängnis herausgekommen?

Das hätten wir nach der Anhörung selber gerne gewusst! Wir wurden noch bis zum 1.April festgehalten, dann kam es zu einem so genannten Habeas Corpus im Gericht. Dies ist ein gerichtliches Verfahren, das die Rechtmäßigkeit der Verhaftung prüfen soll. Dort war dann auch der Bürgermeister von Quito, sowie die Botschafter der USA, von Kolumbien, Irland, der Schweiz, von Deutschland und von Italien anwesend. Der Botschafter von Italien wies auf das Fehlen eines richterlichen Beschlusses hin, er bemängelte, dass die zuständigen Botschaften viel zu spät benachrichtigt wurden und dass uns kein Dolmetscher zugestellt worden war. Der Botschafter aus Deutschland hat eher eine schlechte Figur abgegeben. Wie ich später erfuhr, hat er sogar abgelehnt, uns das Geld für eine eventuell notwendige Umbuchung unserer Flüge vorzuschießen.
Wohl auch auf Grund des sowohl nationalen als auch internationalen Medienechos ist dieser Habeas Corpus aber sehr günstig für uns ausgefallen. Es wurde nun auch von offizieller Seite her bemängelt, dass wir ohne richterlichen Beschluss verhaftet wurden. Weiterhin wurde uns der Verstoß gegen Artikel 23 des Migrationsgesetzes, also Missbrauch des Touristenvisums, vorgeworfen, weshalb wir abgeschoben werden sollten. Die OCP hat dann noch einige Fotos von aufgeschlitzten Sandsäcken gezeigt, was wohl auf unsere Sabotagetätigkeit hinweisen sollte.
Nach dem Habeas Corpus sind wir wieder ohne irgendwelche Informationen ins Gefängnis gebracht worden und kurze Zeit später wurden wir dann freigelassen.

Ihr musstet dann aber doch noch schnell das Land verlassen?

Ja, wir hatten ja noch unsere Pässe bei der Migrationsbehörde, wo wir sie dann abholen sollten. Wir dachten, dass wir mit unseren Pässen auch gleich eine Aufforderung bekommen würden, das Land binnen 24 Stunden zu verlassen. Wider Erwarten passierte aber erstmal nichts dergleichen. Plötzlich erreichte uns die Nachricht, dass gegen uns ein Verfahren wegen Sabotage laufen würde und darauf steht eine Strafe von fünf bis zwölf Jahren Gefängnis. Da hat uns dann doch die Panik gepackt, wir haben uns bei einem Freund versteckt, wir wussten ja nicht, ob schon Haftbefehle gegen uns vorliegen, und haben so schnell wie möglich das Land verlassen.

Weißt du, was weiter in Ecuador passiert ist?

Ja, zwei weitere Personen, die noch in das Camp gekommen waren, wurden verhaftet, wurde inzwischen jedoch wieder freigelassen. Gegen die drei Ecuadorianer läuft immer noch ein Untersuchungsverfahren wegen Sabotage. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, werden die drei wohl über die grüne Grenze fliehen oder nach Europa kommen.

Interview: Thilo Papacek

Neue Helden braucht das Land

1998 war ein gutes Jahr für Paraguay. Neun Jahre nach dem Ende der Stroessner-Diktatur gab es endlich wieder einen Grund zum Feiern. Ob auf dem Land oder in der Stadt: die ParaguayerInnen erinnern sich heute noch gern daran wie es damals war, bei der Fußball-WM in Frankreich, als es der paraguayischen Elf gelang, den großen Favoriten Spanien aus dem Wettbewerb zu werfen und ins Achtelfinale einzuziehen. Oder als das paraguayische Abwehrbollwerk den von Zinedine Zidane dirigierten Sturm des Fußballriesen Frankreich zur Verzweiflung brachte.

Helden, Ehre, Tod

Wie so oft in der paraguayischen Geschichte endete allerdings auch dieses Unternehmen tragisch. Die Elf mit den blauen Hosen und den rot-weiß gestreiften Hemden ereilte der plötzliche Tod, la muerte súbita. Das ist in Lateinamerika das Synonym für das golden goal, jenes erste Tor, das während der Verlängerung eines bis dahin unentschiedenen Spiels fällt und nach FIFA-Reglement über den Einzug in die nächste Runde des Wettbewerbs oder über das vorzeitige Aus einer Mannschaft entscheidet. Der Tod in Frankreich war allerdings ehrenvoll, denn die Mannschaft schied sehr unglücklich mit 0:1 gegen den späteren Weltmeister aus. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn es ein Elfmeterschießen gegeben und Paraguay als Sieger den Platz verlassen hätte. Das ganze Land träumte damals, in der Verlängerung des Spiels gegen Frankreich, einen Traum, der möglicherweise nie in Erfüllung gehen wird. Die Spieler wären fast zu nationalen Helden aufgestiegen.
Helden, Ehre, Tod: In einem Land wie Paraguay, das von der Unabhängigkeit bis 1989 fast ausschließlich von Diktatoren und Militärs regiert wurde, sind dies keine Fremdworte. In jeder Stadt, in jedem Dorf tragen wichtige Straßen und Plätze den Namen des größenwahnsinnigen Marschalls Francisco Solano López, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Präsident sein Land in einen sinnlosen Krieg mit den Nachbarn Brasilien, Argentinien und Uruguay stürzte, in dem über 80 Prozent der paraguayischen Bevölkerung umkam. Die offizielle Geschichtsschreibung feiert den Mann bis heute als Helden, weil er im Kampf gegen den übermächtigen Feind angeblich ehrenhaft fiel.
Überhaupt dürften in kaum einem anderen Land der Welt so viele Straßen nach Militärs benannt sein wie in Paraguay. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Sogar ganze Städte und fast alle Siedlungen im paraguayischen Chaco tragen Namen von Offizieren, die sich 1932 im siegreichen Krieg gegen das stärker eingeschätzte Bolivien einen Namen machten.
Zum Glück werden die Duelle mit den Nachbarländern heute friedlich ausgetragen. Bei der eliminatoria, der südamerikanischen Qualifikationsrunde zur Fußballweltmeisterschaft, konnte Paraguay die Nachbarn Bolivien, Uruguay und sogar den viermaligen Weltmeister Brasilien auf die Plätze verweisen. Die Mannschaft landete hinter Argentinien und Ecuador auf dem dritten Tabellenplatz. Das Prunkstück der Elf ist die Abwehr, die vom Torsteher und Kapitän José Luis Chilavert dirigiert wird, der überdies als Freistoßspezialist und als Elfmeterschütze schon mehr als 50 Mal in den gegnerischen Kasten traf. Oder die Schlussminuten einer schon verloren geglaubten Partie, wenn es ihn nach vorne zieht und er nicht widerstehen kann.

Das Prunkstück ist die Abwehr

Neben Chilavert ragen die Verteidiger Arce, Ayala und Gamarra aus der Abwehr heraus. Allerdings gilt das paraguayische Spiel in Lateinamerika als nicht so attraktiv, denn die Mannschaft praktiziert mitunter sogar auf eigenem Platz Konterfußball. Es fehlen die Dribbelkünstler und die großen Zauberer im Mittelfeld, auch wenn mit dem bei Bayern München spielenden Stürmer Roque Santa Cruz gegenüber der letzten WM ein neuer Star dazu gekommen ist.
Bei aller Kritik – der paraguayische Fußball ist erfolgreich, und die Erwartungen sind entsprechend groß. Der aus Uruguay stammende Trainer Sergio Markarian, mit dem die Mannschaft die Qualifikation schaffte, musste gehen, nachdem die Elf zum Abschluss der eliminatoria ausgerechnet gegen den Tabellenletzten Venezuela und dann noch zu Hause 0:4 gegen Kolumbien verloren hatte. Absurderweise wurde Markarian vorgeworfen, mehr um die Qualifikation seines Heimatlandes Uruguay besorgt gewesen zu sein, als um die Paraguays. Dabei hatte sich die paraguayische Elf bereits vorzeitig qualifiziert und Uruguay wäre gescheitert, wenn Kolumbien gegen Paraguay nur ein einziges Tor erzielt hätte. Nachfolger Markarians wurde der ehemalige italienische Nationaltrainer Cesare Maldini. Doch auch der wäre fast wieder geflogen, als er in einem Freundschaftsspiel gegen den Erzrivalen Bolivien über ein mageres 0:0 nicht hinauskam. Plötzlich gab es Schwierigkeiten mit Maldinis Aufenthaltsgenehmigung; dem Italiener wurde angedeutet, er könnte bei der nächsten Rückkehr von einer seiner häufigen Auslandsreisen möglicherweise keine Einreisegenehmigung mehr erhalten.
Schließlich war es José Luis Chilavert, der sich für Maldini stark machte und vielleicht auch den paraguayischen Fußballverband dazu bewegte sich geschlossen hinter den Trainer zu stellen. Maldini durfte die WM-Elf nominieren, aber prompt meldeten sich zwei von ihm nicht berücksichtigte Spieler bei der Zeitung ABC Color zu Wort und beschuldigten Chilavert sie aussortiert zu haben. Chilavert hätte mindestens genau so viel zu sagen wie Maldini, behaupteten sie. Und in Oscar Harrison, den Präsidenten des paraguayischen Fußballverbandes, sahen sie lediglich einen „Sekretär von Chilavert“. Aber letztendlich sind das Kleinigkeiten. Ob Maldini oder Chilavert die Mannschaft aufstellt, die Zuversicht ist nach dem Ende der Streitigkeiten um das Traineramt wieder gewachsen. Sogar ein vorübergehender Rückschlag, die verheerende 0:4-Schlappe in einem Testspiel Mitte April gegen England, konnte wieder ausgebügelt werden. Im letzten Spiel vor der Abreise nach Japan und Südkorea bezwangen die Paraguayer Schweden auf gegnerischem Platz verdient mit 2:1.
Die Chancen stehen also nicht schlechter als 1998. Die Mannschaft des knapp 5 Millionen Einwohner zählenden Landes steht mittlerweile sogar auf Platz 18 der FIFA-Weltrangliste. Sollte die paraguayische Elf erstmals in ihrer Geschichte den Einzug ins Viertelfinale schaffen, hätte das Land wirklich neue Helden. Dann wäre die Zeit endlich reif, Städte mit den Namen Mariscal Estegarribia oder Coronel Oviedo sowie die unzähligen Avenidas Mariscal López umzubenennen: In Capitán Chilavert, Defensor Gamarra oder Avenida Atacante Santa Cruz. Damit hätte der Fußball einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung geleistet.

Der Fußballzwerg Ecuador im Freudentaumel

Am 7.11. 2001 stand die erste Teilnahme Ecuadors an einer Fußballweltmeisterschaft fest. Das Team qualifizierte sich glücklich in der Südamerikagruppe und ließ dabei international renommierte Nationalmannschaften wie Brasilien oder Uruguay hinter sich. Der viermalige Weltmeister Brasilien konnte sogar mit 1:0 bezwungen werden. In der Gruppe G trifft Ecuador dann in Japan auf Italien, Kroatien und Mexiko. Gegen den schwersten Brocken, den Titelanwärter Italien, wird zuerst gespielt (03.06. in Saporro). Es folgen die Partien gegen Mexiko (09.06. in Miyagi) und gegen Kroatien (13.06. in Yokohama).

Vater des Erfolgs ist der Trainer

Der bisher größte Erfolg für die ecuadorianische Mannschaft war ein 4. Platz bei der Copa America, der Amerikameisterschaft. Aber auch in mehreren Freundschaftsspielen war die Mannschaft erfolgreich. So wurde zum Beispiel Bulgarien in New York mit 3:0 abgefertigt, Jugoslawien 1:0 besiegt und erst kürzlich der AC Mailand mit 2:1 bezwungen. Lediglich das letzte Freundschaftsspiel gegen den Senegal hat man verloren. Vater des Erfolgs ist Trainer Hernán Darío Gómez. Der 46-jährige Kolumbianer, in den 70er Jahren selbst erfolgreicher Spieler, war von 1987 bis 1994 Assistenztrainer und weitere 4 Jahre Cheftrainer Kolumbiens. Er war also bereits bei drei Weltmeisterschaften für sein Heimatland dabei (1990 in Italien im Achtelfinale, 1994 in den USA und 1998 in Frankreich jeweils in der Vorrunde ausgeschieden) und könnte Ecuador mit seiner Erfahrung und etwas Glück ins Achtelfinale führen. Dort träfe die Mannschaft in den gelb-blau-roten Trikots auf den Ersten oder Zweiten der Gruppe D. Da in dieser Gruppe mit Portugal, Südkorea, den USA und Polen keine Top-Favoriten spielen, wäre das Erreichen des Viertelfinales keine unlösbare Aufgabe. Aber das ist noch ferne Zukunftsmusik. Der Trainer selbst sagt dazu bescheiden, dass man lediglich gut mitspielen möchte und erwähnt das Weiterkommen nicht einmal.

Tín schießt die Tore

Das Team verfügt über viele erfahrene Spieler. Wichtige Aufgaben in der Defensive sollen von Ulises de La Cruz übernommen werden, der bei Hibernian in Schottland spielt. Das Toreschießen wird meistens dem erfahrenen Alex Darío Aguinaga oder Agustín Javier Delgado Chalá, genannt „Tín“, überlassen. Während der zentrale Mittelfeldspieler Aguinaga in der ersten mexikanischen Liga spielt und für seine 20 Länderspieltore 88 Einsätze brauchte, erzielte Delgado das gleiche Ergebnis in der Hälfte der Einsätze. Der Stürmer und sein Nationalspielerkollege und Cousin Cléber Manuel Chalá wirken zurzeit beim Premier League Club FC Southampton – kommen dort allerdings nicht häufig zum Einsatz.
Tín schießt nicht nur viele, sondern auch wichtige Tore. So zum Beispiel das 1:0 gegen Brasilien und das 2:1 gegen Paraguay oder mit seinem früheren mexikanischen Club Nexaca gleich zwei Tore gegen Real Madrid. Große Hoffnungen setzt man auch in den jungen Neu-Nationalstürmer Edwin Tenorio, der sein Geld (noch) in Quito verdient. Fazit: Mit einem WM-erfahrenen Trainer, einem exil-schottischen Abräumer in der Abwehr, einem Tore schießenden Mittelfeldregisseur und einem Premier League Torjäger im Sturm kann die Mannschaft Ecuadors noch für einige Überraschungen bei der WM sorgen.

Brasilien vor der WM

Auch im Freundschaftsspiel gegen Portugal konnte Brasilien wieder mal nicht überzeugen. Ein 1:1 – und nur per Elfmeter gelang dem vierfachen Weltmeister ein Tor. Vorher in Brasilien hatte es nur zu einem mageren 1:0 gegen Jugoslawien gereicht, hier musste ein Jugoslawe die Vorlage zum einzigen Tor geben. Bueno Galvão, der unvermeidliche Fußballreporter von TV Globo, versucht vergeblich Euphorie zu verbreiten. Sein nationalistisches Geschrei bringt den brasilianischen Fußball auch nicht nach vorne. Für Globo steht viel auf dem Spiel: als einziger brasilianischer Sender hat er bei dem Millionenpoker um die Übertragungsrechte mithalten können. Nun aber kommen die Werbeeinnahmen nicht wie erhofft. Unmögliche Spielzeiten (7.00 morgens!) und die schwache Vorstellung der Nationalmannschaft lassen nicht die landesübliche Voreuphorie aufkommen. Was ist los im Land des Fußballs?
Für Optimisten sind die wenig überzeugenden Ergebnisse und Leistungen des brasilianischen Teams in den letzten Freundschaftsspielen Grund zu vorläufigem Aufatmen. Immerhin geht es etwas besser als bei den Qualifikationsspielen. Tatsächlich musste Brasilien nach blamablen Vorstellungen bis zum letzten Spiel um seine Qualifikation bangen. Die Liste der Niederlagen ist lang und beeindruckend: Brasilien verlor seine Qualifikationsspiele gegen Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Chile und Paraguay. Auswärts wurde Brasilien sogar für mittelmäßige Teams eine leichte Beute. Lediglich die Heimstärke und ein mühseliger Sieg im letzten Spiel gegen Venezuela sicherten die WM – Teilnahme. Eine derartig qualvolle Qualifikation ist einmalig in der Geschichte des brasilianischen Fußballs.
Nun ist allgemein bekannt, dass es dem Land nicht an exzellenten Fußballern fehlt – ein Blick auf die europäischen Clubs genügt. Aber keinem der häufig wechselnden Trainer ist es gelungen, aus dem über den Globus verstreut spielenden Stars ein funktionierendes Ensemble zu formieren. Auch ist deutlich, dass Brasilien zwar einen Überschuss an hervorragenden Stürmern produziert – welches Land lässt Spieler wie Elber oder Amoroso zu Hause? – aber keinen zuverlässigen Mittelfeldspieler, der in der Lage ist, das Spiel zu ordnen. Neben einer leichten Abwehrschwäche (auch hier sind die Außenverteidiger besser in der Offensive als in der Defensive) ist das Mittelfeld wohl die Achillesferse der brasilianischen Mannschaft.

Ronaldinho und Co

Fußball lebt – nicht nur – in Brasilien von der Hoffnung auf große Stars. Wer der Retter der Nation sein soll, ist klar: Ronaldinho, der von Inter Mailand oder einfach o phenómeno („Das Phänomen“). Der Versuch, ihn in Ronaldo umzutaufen funktioniert zumindest in Brasilien nicht. Nur war Ronaldinho fast zwei Jahre dauerverletzt und kommt erst seit kurzem in der Nationalmannschaft und bei Inter wieder zum Einsatz. Aber die Nation hofft auf die triumphale Rückkehr des „Phänomens“ in Korea.
Die zweite große Hoffnung trägt denselben Namen, Ronaldinho, der von Paris Saint Germaint, in Brasilien allgemein als Ronaldinho Gaucho bekannt. Tatsächlich ein junger, brillanter Spieler (Sturm oder offensives Mittelfeld), aber in der Nationalelf mit schwankender Leistung. Die dritte entscheidende Stütze soll Rivaldo sein, aber auch er kämpft mit Verletzungsproblemen.
Zwei der drei großen Hoffnungen Brasiliens gehen also angeschlagen in die WM – eine riskante Option zu der es aber anscheinend keine Alternative gibt.

Alle wollen Romário

Das Trio Rivaldo, Ronaldinho (2X) ist sicherlich ein nationaler Konsens, trotz einiger Animositäten gegen Rivaldo, der den Ruf hat, etwas zu pomadig zu spielen. Der Trainer ist auch ein weitgehender Konsens. Nach verschiedenen Wechseln hat Felipe Scolari – Felipão – das Amt angetreten. Damit hat der brasilianische Fußballverband zweifelsohne dem Volkswillen Rechnung getragen. Intellektuelle Kritiker wenden zwar ein, dass die von ihm trainierten Vereinsmannschaften eher defensiv und überhart spielten, aber er hat es immer verstanden, die Spieler dazu zu bringen, bis zum Umfallen zu kämpfen. Zudem wirkt er volksnah und zeigt seine Emotionen – kein cooler Funktionärstyp. Politisch ist er eher eine unerfreuliche Erscheinung, hat er sich doch als Bewunderer Pinochets geoutet. Das stört in Brasilien weniger als etwas anderes: störrisch beharrt Felipão darauf, Romário nicht ins Team zu berufen.
Romário, der Star der WM von 1994, ist inzwischen 35 Jahre alt, aber schießt in der brasilianischen Meisterschaft Tore wie am Fließband. Gäbe es Direktwahlen zur Mannschaftsaufstellung, könnte Romário schon seinen Flug nach Korea buchen. Die Frage Romário oder nicht ist Gesprächsthema Nr.1, und fast alle wollen Romário. Sogar Präsident Cardoso – der nicht gerade wie ein Fußballkenner wirkt – hat sich für Romário eingestzt. Der als undiszipliniert bekannte Altstar hat öffentlich Abbitte für alle Sünden gebeten, die Unterwerfung unter Felipão geschworen und vor den Augen der Nation geweint – aber nicht das Herz des Trainers erweichen können. Nur Tore der Ronaldinhos werden den Ruf nach Romário verstummen lassen können. Für Gesprächsstoff ist also gesorgt.

Der geschundene Fußball

Die Schwierigkeiten der Nationalmannschaft hängen wohl mit einer Dauerkrise des organisierten brasilianischen Fußballs zusammen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hat im letzten Jahr haarsträubende Machenschaften des nationalen Fußballverbands und der Vereine aufgedeckt – freilich ohne drastische Konsequenzen. Die Organisation der nationalen Meisterschaft ist chaotisch, ständig werden die Regeln geändert. Alle großen Vereine sind hoch verschuldet und zahlen ihre Gehälter nicht mehr regelmäßig. Der populärste (und verhassteste) Club, Flamengo aus Rio, ist pleite, wichtige Spieler haben den Verein verlassen. Der Präsident Vascos, eines anderen Traditionsteams aus Rio, war einer der Hauptangeklagten des Untersuchungssauschuss. Er hat offensichtlich Gelder auf Konten in Steueroasen umgeleitet. Er ist auch Bundesabgeordenter, um – wie er sagt – nicht die Interessen des Volkes, sondern die von Vasco zu vertreten.
Die Mehrzahl der wichtigsten brasilianischen Vereine werden von solchen populistischen Gestalten geführt und ruiniert. Die Quittung kam bei der letzten Meisterschaft. Wer bestritt das Endspiel? Keiner der Traditionsclubs, sondern São Caetano gegen Atlético Paraense. São Caetano ist ein neuer Verein aus dem Großraum São Paulo, Atlético kommt aus dem Staat Curitiba, der Hauptstadt Paranás. Mit dem Gewinn der Meisterschaft durch Atlético hat zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Club aus der Fußballprovinz die Oberhand behalten. Aber dies reicht im Jahre 2002 noch nicht aus, um tief greifende Änderungen im organisierten Fußball einzuleiten. Opfer sind auch wichtige Spieler. Luizão, der mit seinen Toren in den letzten Qualifikationsspielen zum Retter der Nation avanciert war, ist nach einem Streit um nicht gezahlte Gehälter mit Corinthians ohne Verein, womit seine WM-Teilnahme in den Sternen steht.

Spielzeug für die Buben

Sie ist Mitglied der regierenden Sozialistischen Partei, Ärztin, geschieden in einer konservativen Gesellschaft, und auch der familiäre Hintergrund passt ins Bild: ihr Vater war als Luftwaffengeneral der chilenischen Streitkräfte loyal gegenüber Präsident Salvador Allende und starb unter der Folter des Putschistenregimes von Augusto Pinochet. Michelle Bachelet ist eine moderne Frau und tadellose Demokratin. Anfang des Jahres wurde die Gesundheitsministerin von Präsident Ricardo Lagos mit der Leitung des Verteidigungsministeriums betraut. Wer sollte besser geeignet sein, nach außen das Bild eines friedlichen Landes zu zeigen, das mit seiner militaristischen Vergangenheit gebrochen hat? Dennoch hat gerade sie am 30. Januar in einer ihrer ersten Amtshandlungen den Kauf von zehn hypermodernen Kampfflugzeugen abgeschlossen und damit einen möglichen Rüstungswettlauf in der Region provoziert.
Provoziert fühlen sich jedenfalls die Nachbarländer Argentinien, Bolivien und Peru. Argentinien und Chile standen vor zwanzig Jahren wegen eines Konflikts um drei Inseln im Beagle-Kanal am Rande eines Krieges. Mit den nördlichen Nachbarn Bolivien und Peru herrscht latente Feindschaft seit dem Salpeterkrieg 1879, in dem Bolivien den Zugang zum Meer und Peru einen rohstoffreichen Küstenstreifen an Chile verlor. Besonders herausgefordert fühlen sich die PeruanerInnen. Die 660 Millionen US-Dollar für den Ankauf der F-16 Jets übersteigen den Jahresetat der peruanischen Armee um mehr als das Dreifache. Und Präsident Alejandro Toledo hatte bei seiner Amtseinführung vor einem halben Jahr an alle Regierungen des Subkontinents appelliert, die Rüstungsausgaben zu Gunsten der Sozialhaushalte zu kürzen. Er forderte, den Kauf von Offensivwaffen sofort zu stoppen. Im September, unmittelbar vor den Anschlägen in den USA, hatten die Verteidigungsminister von Peru und Chile mit der Vorbereitung eines bilateralen Rüstungskontrollabkommens eindeutige Signale gesetzt.

Scheinheilige Proteste

In Chile findet man die Entrüstung der Peruaner scheinheilig, hatte doch der Ende 2000 gestürzte Autokrat Alberto Fujimori seine Luftwaffe mit russischen MIGs 29 aus Weißrussland und französischen Mirage 2000 noch einmal kräftig modernisiert. Diese Kampfjets sind zwar gebraucht, können aber mit neuesten Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen bestückt werden, denen Chile wenig Vergleichbares entgegenzusetzen hat. Die neuen F-16 wiederum sind für strategische Amraam-Raketen geeignet, die den ChilenInnen einen Rüstungsvorsprung bringen würden. Noch wird der Verkauf zwar vom Kongress in Washington blockiert, doch es ist abzusehen, dass in spätestens zwei Jahren grünes Licht kommt.
Frau Bachelet versuchte zu beschwichtigen. Der Kauf sei dazu bestimmt, veraltetes Gerät zu ersetzen, „und sollte nicht als Beginn eines Rüstungswettlaufs gesehen werden.“ Vermutlich wollte die Verteidigungsministerin sich durch die schnelle Entscheidung eine lange Debatte ersparen, die ihren wichtigsten Plan behindern würde, nämlich die Vereinigung der drei Waffengattungen unter einem gemeinsamen Oberkommando. Gleichzeitig wurde der so genannte Plan Dreizack auf Eis gelegt. Das Lieblingsprojekt des Abgeordneten Jorge Arancibia, einst Marinekommandant, sieht den Bau eigener Fregatten in Chile vor.
Die beunruhigten Nachbarn sehen hinter Michelle Bachelet eine Armee, die auch nach der Pensionierung General Pinochets eine autoritäre Enklave in einem demokratischen Staat geblieben ist. Ein Gesetz aus dem Jahre 1958, an dessen Aufhebung sich keine Regierung heranwagt, solange die Rechte per Verfassung den Senat kontrolliert, bestimmt zehn Prozent der Einnahmen aus dem Kupferexport für den Kauf militärischen Geräts. Schon letztes Jahr wurden damit 200 gebrauchte Leopard-Panzer in Deutschland gekauft.
In französischen Werften baut man zwei neue U-Boote für Chiles Marine. Für die Modernisierung der Luftwaffe hätten auch weniger teure Kampfjets als die F-16 gereicht, wie der Council for a Livable World in Washington vorrechnet. Die Organisation, die bestrebt ist, die Waffenexportpolitik der USA mit Demokratie und Menschenrechten kompatibel zu machen, ist überzeugt, die Alarmstimmung in der Region hätte mit der Anschaffung gebrauchter F-16 mit geringerer Offensivkapazität vermieden werden können. Boliviens Verteidigungsminister General Oscar Vargas hat schon angekündigt, seine Armee „mit allen Mitteln“ nachzurüsten. Doch die chilenischen Generäle müssen nicht auf den Preis schauen und wie ein Teenager, der aus Prestigegründen nur die teuersten Markenschuhe trägt, sehen sie ihre eigene Wichtigkeit durch die modernste Luftwaffe des Subkontinents bestätigt.

Rüstungsboom in Südamerika

In den achtziger Jahren wurden alle Militärdiktaturen Südamerikas von gewählten Zivilregierungen abgelöst. In Zentralamerika endeten in den neunziger Jahren alle Bürgerkriege und bewaffneten Aufstände durch Verhandlungslösung. Dennoch weisen die Statistiken des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI einen beunruhigenden Zuwachs der Rüstungsimporte in ganz Lateinamerika auf. Wurden 1991 in Südamerika noch 16,5 Milliarden US-Dollar für Kriegsgerät ausgegeben, so waren es im Jahre 2000 bereits 26,3 Milliarden. In Zentralamerika wurden zuletzt trotz allgemeiner Truppenreduzierung 2,9 Milliarden gegenüber 2,2 Milliarden US-Dollar im Vergleichsjahr 1991 ausgegeben.
Die Aufrüstungspläne Chiles sind also kein Einzelfall. Brasilien plant die Anschaffung von hundert neuen Kampfflugzeugen. Die ersten 24 sollen demnächst gekauft werden. Kolumbien wird von den USA mit Black-Hawk-Hubschraubern ausgerüstet, die vorgeblich der Bekämpfung des Drogenhandels und -anbaus dienen sollen. Argentinien trug sich bis zum wirtschaftlichen und politischen Kollaps im vergangenen Dezember mit dem Ankauf von zehn gebrauchten F-16, Venezuela, das einzige Land Südamerikas, das bereits F-16 besitzt, denkt vor allem an die Hochrüstung der Marine mit einer neuen Generation von U-Booten und Kriegsfregatten.
Gleichzeitig wächst in allen Ländern die Außenverschuldung. Allenthalben streichen Regierungen die Sozialleistungen zu Gunsten der Bedienung des unerträglichen Schuldendienstes.

Waffen zur Grenzziehung?

Von Guatemala bis Feuerland warten noch rund 30 Grenzdispute auf ihre endgültige Regelung. Erst vor sechs Jahren hielten es Peru und Ecuador für nötig, die Urwaldgrenze an der Cordillera del Condor einmal mehr zum Anlass für einen Krieg zu nehmen. Wie die meisten zwischenstaatlichen Waffengänge konnte auch dieser nach wenigen Wochen von der Organisation Amerikanischer Staaten beendet werden. Anders als in Afrika oder im Nahen Osten funktionieren die regionalen Streitschlichtungsmechanismen.
„Vom Standpunkt der Sicherheit aus macht das alles keinen Sinn“, meint auch Siemon Wezeman, ein Experte für Waffenhandel, der für das SIPRI arbeitet. „Um die internationalen Spannungen der Region beizulegen, bedarf es nicht dieser Art von Offensivwaffen,“ versicherte er gegenüber dem Miami Herald. Er glaubt, dass die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Waffengattungen innerhalb einer Armee eine wichtige Rolle spielen. „Spielzeug für die Buben,“ meint er sarkastisch. Das Beispiel Chile untermauert diese These: Wenn die Bodentruppen neue Panzer bekommen, dann braucht die Marine neue U-Boote und die Luftwaffe neue Jets.
Die Nachfrage wird in erster Linie von den USA gestillt. Auflagen, die der Kongress aus Menschenrechtsbedenken errichtet hat, sind nach und nach gefallen. Kaum eine Regierung war so eng mit der Rüstungsindustrie verflochten wie die gegenwärtige. Und George Bush gibt sich keine Mühe, dieses Verhältnis zu verschleiern. So wurde ausgerechnet Otto Reich – nach anhaltendem Widerstand der Demokraten im Kongress – zum für Lateinamerika zuständigen Vizeaußenminister ernannt. Er ist der Mann, der als Konsulent des Konzerns Lockheed Martin den Chilenen den Kauf der F-16 eingeredet hat.

Agent Green – Mit Biowaffen gegen Drogenpflanzen

Ende der 80er Jahre schickte das US-Landwirtschaftsministerium Forscher weltweit auf die Suche nach möglichen Schädlingen von Koka, Cannabis und Schlafmohn. Bei Coca-Cola und in einem Biowaffenlabor wurden sie fündig. Fusarium oxysporum, ein Pilz, der in kürzester Zeit ganze Kokafelder vernichten kann, wurde auf einer ehemaligen Kokaplantage des Getränkeherstellers auf Hawaii gefunden. Ein effektiver Schädling der opiumproduzierenden Mohnpflanzen war hingegen bereits vom offensiven Biowaffen-Programm der früheren Sowjetunion isoliert und dann in einem Labor in Taschkent im heutigen Usbekistan eingelagert worden, wo er von den USA schließlich gefunden wurde.
In der Folgezeit wurde der Mohnschädling mit US-Geldern in einem usbekischen Labor weiterentwickelt. Im Sommer 2001 sollten die Arbeiten beendet sein und ein einsatzfertiges Produkt zur Vernichtung der umfangreichen Schlafmohnfelder in der Region zur Verfügung stehen. Noch ist unklar, ob sich die beteiligten Länder und vor allem das UN-Drogenkontrollprogramm UNDCP, unter dessen formalen Leitung das Projekt durchgeführt wurde, tatsächlich für einen Einsatz entscheiden werden.
Die Koka vernichtenden Pilze wurden parallel in US-amerikanischen Labors getestet. Für das Jahr 2000 standen erste Freilandversuche in Kolumbien an. Auch hier sollte formal das UNDCP die Abwicklung übernehmen, um, so die damalige Außenministerin Madeleine Albright, „den Eindruck zu vermeiden, dass es sich um eine reine US-Initiative“ handele.
Nachdem der Plan bekannt wurde, regte sich massiver Widerstand in Kolumbien und anderen Andenstaaten. Im Sommer 2000 verboten Ecuador und Peru gesetzlich die Anwendung der Pilze in ihren Ländern, hohe Politiker anderer Anrainerstaaten sprachen sich gegen eine „biologische Kriegsführung“ aus, wie es der frühere Drogenbeauftragte Brasiliens, Walter Maierovich, nannte. Auch das deutsche und das europäische Parlament machten ihre Ablehnung der Killerpilze deutlich, und selbst innerhalb der USA waren die Pilze nicht willkommen. Der Umweltminister von Florida erteilte Plänen zum Einsatz von Agent Green gegen Cannabis-Felder in Florida eine klare Absage.
Andererseits befand sich die kolumbianische Regierung unter dem massiven Druck der US-Amerikaner. Der milliardenschwere Plan Colombia wurde an die Versuche mit Agent Green gekoppelt. Erst im August 2000 ruderte die damalige Clinton-Administration zurück und hob diese Verknüpfung wieder auf. Im Januar vergangenen Jahres zog dann die kolumbianische Regierung nach und verkündete, dass keine Verträge zur Entwicklung von Agent Green mit der UNDCP oder den USA geschlossen würden.
Doch noch ist das Projekt nicht endgültig vom Tisch. In den USA wird weiterhin kräftig an den Pilzen geforscht. Auch andere Schädlinge – zum Beispiel Insekten – werden mit Mitteln des Landwirtschaftsministeriums mittlerweile daraufhin untersucht, ob sie sich nicht für den Drogenkrieg eignen.

Die Risiken

Eine Freisetzung dieser Pilze in die südamerikanische Umwelt könnte katastrophale ökologische Folgen nach sich ziehen. Einmal in die Umwelt entlassen, werden die Anti-Drogen-Pilze nicht mehr zu kontrollieren sein. Als infektiöse Organismen können sie sich schnell auch außerhalb des Zielgebietes verbreiten und lange Jahre im Boden überleben. Bereits bei ersten Gewächshausexperimenten haben sich die Pilze als unkontrollierbar erwiesen.
Die größte ökologische Gefahr droht von einer mangelnden Spezifität der Pilze. Wenn nicht nur die Zielpflanzen – Koka, Schlafmohn oder Cannabis – befallen werden, sondern auch andere, nahe verwandte Arten, kann das in den fragilen Ökosystemen zum Beispiel des Amazonasgebietes einen katastrophalen Effekt haben. Mit einer unglaublichen Ignoranz haben die beteiligten Forscher diese Frage bislang völlig vernachlässigt. Die Pilzstämme wurden zwar an verschiedenen Nahrungsmittelpflanzen getestet – man möchte ja schließlich keinen Schaden in der Landwirtschaft anrichten – aber Wildpflanzen und natürliche Ökosysteme wurden praktisch völlig ausgeblendet. Dabei ist bekannt, dass viele Stämme des Koka-Killers Fusarium oxysporum ein großes Wirtsspektrum haben. Bei ersten Infektionstests wurden bereits zwei weitere Pflanzenarten von dem Pilz geschädigt, die nicht besonders eng mit den Kokapflanzen verwandt sind. In Südamerika wachsen über 200 verschiedene Arten der Gattung Erythroxylum, zu der auch der Kokastrauch gehört. Vier von ihnen stehen bereits auf der roten Liste und gelten als bedroht. Viele andere Organismen sind wiederum auf die Erythroxylum-Pflanzen als Nahrungsquelle und Lebensraum angewiesen. Eine unkontrollierte Ausbreitung von Agent Green würde dieses fragile Netzwerk zu zerstören drohen.
Auch die gesundheitlichen Gefahren sind enorm, denn Fusarium gehört heute zu den häufigsten lebensbedrohlichen Pilzinfektionen. Zwar werden in der Regel nur immungeschwächte Personen von Pilzen infiziert, doch in solchen Fällen kommt oft jede Hilfe zu spät. So haben Fusarium-Infektionen eine Sterblichkeitsrate von circa 70 Prozent, das heißt über zwei Drittel der Infizierten sterben an dem Pilz. Interne Dokumente belegen, dass dieses Risiko den Entwicklern von Agent Green bereits früh bekannt war. Trotzdem wurde ein großflächiger Einsatz geplant, bei dem sicherlich Zehntausende von Menschen mit dem Pilz direkt in Kontakt gekommen wären.

Biologische Waffe

Vor allem aber droht bei einem Einsatz von Agent Green die Unterminierung des globalen Biowaffen-Verbotes. Nach dem Geist und Wortlaut der Biowaffen-Konvention sind Entwicklung, Produktion und Einsatz der Killerpilze eindeutig verboten, denn jede feindselige Anwendung biologischer Mittel fällt unter das Verbot. Gerade im kolumbianischen Bürgerkrieg steht der Waffencharakter der Pilze außer Frage. Diese Auffassung wird auch von vielen Vertragsstaaten der Konvention geteilt. Die USA können sich aber offensichtlich darauf verlassen, dass kein anderes Land der Supermacht offiziell einen Verstoß gegen die Biowaffen-Konvention vorwerfen wird.
Gegen Ende der Clinton-Administration begann ein langsames Umdenken. So begründete Bill Clinton die Streichung von Agent Green aus dem Plan Colombia damit, dass hier auch mögliche Probleme mit Bezug „auf die Verbreitung von Biowaffen und auf den Bioterrorismus“ eine Rolle spielen könnten. Doch es steht zu befürchten, dass George W. Bush auch hier das Rad der Geschichte zurückdrehen wird. So sagte erst im Dezember 2001 der US-amerikanische Chefunterhändler bei den Biowaffen-Verhandlungen in Genf, es müsse doch wohl noch möglich sein, das Medellín-Kartell zu bekämpfen.
Die beteiligten Wissenschaftler versuchen, Agent Green in eine Methode der biologischen Schädlingsbekämpfung umzudefinieren und so zu legitimieren. Tatsächlich sind Koka, Mohn oder Cannabis jedoch kein Unkraut, keine Schädlinge, sondern sie werden von den Bauern als Nutzpflanze und Lebensgrundlage angebaut. Ihr Anbau zur Herstellung illegaler Drogen ist aus europäischer oder US-amerikanischer Sicht vielleicht nicht wünschenswert, aber das macht sie noch nicht zum Unkraut. Biologische Schädlingskontrolle dient dem Schutz der angebauten Nutzpflanze, nicht ihrer Zerstörung.
Wenn Agent Green tatsächlich zum Einsatz kommen sollte, wäre das ein schwerer Schlag für die Biowaffen-Konvention, denn es würde ein Präzedenzfall sein für die Anwendung von biologischen Mitteln für feindselige Zwecke. Eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Biowaffen wird schnell zur Entwicklung einer ganzen Bandbreite verschiedener biologischer Waffen führen, die Materialien zersetzen, Nutzpflanzen angreifen oder andere „nicht-tödliche“ Missionen erfüllen. Bislang gelten biologische Waffen ohne jede Ausnahme und kompromisslos weltweit als geächtet. Der Einsatz von Agent Green droht diesen Konsens in den Grundfesten zu erschüttern und eine Tür zum biologischen Wettrüsten aufzustoßen.

Der Autor ist promovierter Zellbiologe und Mitarbeiter des Sunshine-Projects, einer internationalen Organisation mit Sitz in Hamburg und Austin / Texas, die zum militärischen Missbrauch der Bio- und
Gentechnologie arbeitet. Internet: www.sunshine-project.de.

Die verdeckte Aufstandsbekämpfung

Die US-Drogenpolitik in Kolumbien war schon in den 1980er Jahren dubios. Nachdem die kolumbianische Armee damals mit dem Medellín-Kartell Pablo Escobars beim Aufbau von Todesschwadronen im Mittleren Magdalena kooperiert hatte, erklärten die Washingtoner Anti-Drogenbehörden Ende des Jahrzehnts eben diesem Kartell den Krieg und forcierten die Bildung eines bizarren Bündnisses aus Armee, Polizei, Cali-Kartell und Medellíner Abtrünnigen. Kernstück der Allianz war die Gründung der so genannten Los Pepes (Verfolgte von Pablo Escobar) – Todesschwadronen, die für mehr als 1.000 Morde an Angehörigen des Medellín-Kartells verantwortlich sein sollen und unter anderen auch von Carlos und Fidél Castaño befehligt wurden. Die Castaño-Brüder, die nach Pablo Escobars Ermordung 1993 von Nordkolumbien aus den paramilitärischen Dachverband AUC aufbauten, waren lange Zeit selbst in die Medellíner Drogen-Connection verwickelt gewesen und hatten sich erst spät von Escobar losgesagt.
Die Kooperation zwischen Todesschwadronen und offiziellen Stellen war nicht auf punktuelle Berührungen beschränkt. Dem Nuevo Herald, der spanischsprachigen Ausgabe des Miami Herald, zufolge, reichte sie so weit, dass Angehörige der Pepes-Kommandos im Sitz der von US-Beratern aufgebauten Antidrogen-Sondereinheit Bloque de Búsqueda ein und aus gehen konnten und über den Agenten Javier Peña, dem heutigen Subdirektor des Büros der US-Drogenbehörde DEA in Bogotá, Kontakt zu den US-Behörden unterhielten.
Sicherlich lässt sich die Politik der schmutzigen Allianzen mit der pragmatischen Überlegung erklären, dass man – wenn der Drogenhandel schon nicht zu zerschlagen ist – versuchen sollte, Fraktionierungen zu vertiefen und den jeweils bedrohlicher erscheinenden Gegner zuerst auszuschalten. Andererseits ist diese Politik aber ein Indiz dafür, dass für die USA die geopolitische Interessenvertretung bedeutender ist als die Drogenbekämpfung. Die US-Geheimdienste haben sich den Drogenhandel immer wieder zu Nutzen gemacht, wenn es darum ging, Under-Cover-Operationen zu finanzieren.

Die Narco-Guerilla

So fällt es in Kolumbien auf, dass die Drogen-Paramilitär-Connection in den US-Dokumenten zum Thema keine Rolle spielt – und das, obwohl bekannt ist, dass die Heroin-Produktion Kolumbiens in den Händen der Paramilitärs ist und auch 80 Prozent des für den nordamerikanischen Markt bestimmten Kokains über die von Armee und Paramilitärs kontrollierten Häfen Urabás exportiert wird.
Die US-Drogenbekämpfung kennt überhaupt nur ein Ziel: die Koka-Anbaugebiete in den abgelegenen, von der Guerilla kontrollierten Regionen Kolumbiens. Denn dort greifen die FARC – im Gegensatz zur kleineren Guerillaorganisation ELN, die sich aus politischen Gründen vom Kokaanbau fern hält und sogar Substitutionsprojekte durchzuführen versucht hat – aktiv in den Koka-Handel ein. Sie besteuern die Geschäfte, garantieren Preise, schützen die Kleinbauern vor den traficantes und unterhalten wohl auch eigene Pflanzungen. Solche – angebliche oder tatsächliche – Verbindungen zwischen Guerilla und Kokahandel werden von der Regierung in Washington seit anderthalb Jahrzehnten als Legitimation für die eigene Interventionspolitik herangezogen. So schuf der rechtskonservative US-Botschafter in Bogotá Lewis Tamb 1984 – parallel zu den Drogenaktivitäten der US-Geheimdienste im Rahmen der Finanzierung der nicaraguanischen Contra – den Kampfbegriff Narco-Guerilla, mit dem die Ziele der Aufständischen dauerhaft diskrediert werden sollten. Ungefähr seit diesem Zeitpunkt kursieren in der internationalen Öffentlichkeit immer neue Phantasiezahlen über angebliche Drogeneinnahmen der kolumbianischen Guerilla. US-amerikanische Wissenschaftler nennen Summen von mehreren Hundert Millionen US-Dollar pro Jahr.

Koka-Besteuerung der FARC

Auch wenn diese häufig aus Geheimdienstquellen stammenden Zahlen aus der Luft gegriffen sind, ist richtig, dass das erstaunliche militärische Wachstum der FARC seit 1990 ohne die Einnahmen aus der Koka-Besteuerung nicht möglich gewesen wäre. Und diese Tatsache beunruhigt die Verantwortlichen in Washington weitaus mehr als die Entwicklung der Kokain-Gesamtproduktion oder des Konsums in den USA selbst.
US-Geopolitiker haben schon Mitte der 1980er Jahre auf die drohende Destabilisierung Kolumbiens hingewiesen. Im Santa Fe II-Dokument war zu lesen, dass sich das südamerikanische Land bis Mitte der 1990er Jahre in ein neues El Salvador verwandeln könnte. Auch wenn man die Qualität der vor Ideologie strotzenden Santa Fe-Berichte nicht überschätzen sollte, muss man festhalten, dass sich die Voraussagen des Papiers teilweise erfüllt haben. Drei aus Regierungssicht bedrohliche Entwicklungen haben sich dabei gegenseitig verstärkt: So machte erstens das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Ernesto Samper in den Jahren 1995 bis1998 deutlich, wie eng die Verbindungen zwischen Drogenhandel und der politischen Klasse Kolumbiens sind. Der Staat stürzte damals in eine schwere Legitimationskrise. Zweitens gingen die FARC im Verlauf der 1990er Jahre von einer Politik der Nadelstiche zum Bewegungskrieg über und fügten den Elite-Verbänden der kolumbianischen Armee immer wieder vernichtende Niederlagen zu. Und drittens erschütterten von 1996 bis 1999 trotz eines unglaublich hohen Repressionsniveaus immer wieder Protestwellen das Land, die von Gewerkschaften, BäuerInnen und Gefängnisinsassen getragen wurden.
In Anbetracht dieser Lage wurden die US-Sicherheitsorgane zunehmend nervös. Einem 1997 in der kolumbianischen Tagespresse zitierten CIA-Bericht zufolge wurde sogar die Machtübernahme der Guerilla innerhalb von fünf Jahren für möglich gehalten, wenn sich die USA nicht stärker engagierten. Wenig verwunderlich ist es da, dass die US-Verantwortlichen – vom CIA-Chef bis zum Verteidigungsminister – etwa zu dieser Zeit begannen, sich in Bogotá die Klinke in die Hand zu geben. Das erklärte Ziel der Bemühungen: die Modernisierung der kolumbianischen Armee. Besonders der Chef des US-Militärkommandos Süd Charles Wilhelm sowie der damalige „Antidrogen-Zar“ Barry McCaffrey leiteten den Aufbau neuer Eliteeinheiten ein und warben sogar für eine multinationale Eingreiftruppe.
Die Invasionspläne verschwanden zwar – nicht zuletzt auf Grund der mutigen Interventionen des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez – erst einmal wieder in der Schublade, doch das bisher größte US-Militärprojekt in der lateinamerikanischen Geschichte wurde dennoch weiter voran getrieben. Schon kurz nach seinem Amtsantritt legte der Konservative Andres Pastrana, der bis heute im Ausland von seinem Image als „Friedenspräsident“ profitiert, ein Programm zur Drogenbekämpfung und Restabilisierung des Staates vor. Dass es mit den wohlklingenden Zielen des als Plan Colombia bekannt gewordenen Projekts nicht weit her ist, lässt sich schon daran ersehen, dass gleichzeitig drei verschiedene Versionen des Plans kursierten. Während in der für die US-Öffentlichkeit bestimmten Fassung die militärischen Aspekte der Drogenbekämpfung hervorgehoben wurden, betonte die in der EU diskutierte Version die Verteidigung von Menschenrechten und Substitutionsprojekte.
Tatsächlich ist Kolumbien im Rahmen des Plan Colombia zu einem der drei wichtigsten Empfänger von US-Militärhilfe in der Welt aufgestiegen. Von den mehr als 1, 3 Milliarden US-Dollar, die der US-Kongress im Jahr 2000 bewilligte, waren rund 80 Prozent, nämlich 1,1 Milliarden Dollar, für Militär-, Polizei- und Justizhilfe vorgesehen. Der Löwenanteil hiervon wiederum wurde für den Aufbau der so genannten Batallones Anti-Narcóticos, Elite-Einheiten der Armee, und den Kauf von Kampfhubschraubern verwendet. Darüberhinaus wurde der Plan von US-Militärprogrammen für die Nachbarstaaten Peru, Ecuador und Panama in Höhe von 400 Millionen US-Dollar und dem Ausbau der US-Luftwaffen-Präsenz auf den Stützpunkten Manta in Ecuador, Aruba auf den niederländischen Antillen und Tres Esquinas in Kolumbien flankiert.

C-Waffen gegen die Bevölkerung

Der für die Zivilbevölkerung schwer wiegendste Aspekt des Plan Colombia war und ist der massive Einsatz von Herbiziden, die aus der Luft versprüht werden und längst nicht nur die Koka-Pflanzungen schädigen. Nach Schätzungen der Abgeordneten Piedad Córdoba werden allein in den südkolumbianischen Departments Putumayo und Caquetá 590.000 BäuerInnen direkt oder indirekt von den Sprühungen betroffen sein. Auch das kolumbianische Präsidentenamt geht von 210.000 möglichen Vertriebenen im Departement Putumayo aus. Die ökologischen Folgen dieser Politik für das Amazonasbecken sind nicht abzuschätzen.
In den letzten Monaten haben sich Berichte gehäuft, wonach Dutzende von Kleinkindern und Jugendlichen in den betroffenen Regionen nach Herbizideinsätzen an Krankheiten gestorben seien. Aus dem Osten Antioquias wurde außerdem gemeldet, dass Chemikalien aus der Luft versprüht wurden, die Hautallergien hervorrufen – und das in einer Region, in der es zwar eine starke Präsenz der ELN, aber kaum Koka-Pflanzungen gibt. Und schließlich drängt die US-Regierung auch weiterhin auf den Einsatz des als biologischen Waffe kategorisierten, genmanipulierten Fusarium Oxysporum- Pilzes (siehe Artikel über Agent Green).
Letztlich werden die im Plan Colombia vorgesehenen Maßnahmen auf die Zerstörung von bäuerlichen Strukturen in den betroffenen Gebieten hinauslaufen, nicht jedoch zu einer spürbaren Reduzierung des Drogenanbaus führen. Der Anbau wird sich ganz einfach verlagern. Mittellose Bauern werden noch tiefer in den Urwald hineingehen, um dort das einzige Produkt anzubauen, das ihnen die Subsistenz sichert: Koka. Als Folge hiervon wird noch mehr Wald zerstört und das Amazonasbecken nachhaltig geschädigt werden. Gleichzeitig jedoch werden die eigentlichen Profiteure der Drogenökonomie geschont, zum Beispiel die Filialen der US-Banken in Panamá, wo das Drogengeld gewaschen wird. Man kann diese Politik, wie manche Autoren, auf mangelnde Sachkenntnis der US-Verantwortlichen zurückführen. Den US-Behörden, die geostrategische Interessen ihres Landes zu vertreten haben, ist jedoch sehr wohl klar, um was es eigentlich geht: um die Entvölkerung der von der Guerilla kontrollierten Gebiete und die Zerstörung der Finanzquellen der FARC. Kein Wunder, dass eine neue Initiative im US-Kongress vorschlägt, das im Rahmen des Plan Colombia gelieferte Kriegsmaterial auch offiziell für Anti-Guerilla-Operationen freizugeben.

Wichtigstes Ziel: die Freihandelszone

Zu tun hat das alles unter anderem mit dem FTAA-Abkommen, das die Einrichtung einer kontinentalen Freihandelszone bis zum Jahr 2005 vorsieht. Kolumbien wird dann zum wichtigen Durchgangsland für den interamerikanischen Güterverkehr und noch interessanter für ausländische Investitionen werden, aber eben auch zu einem Sicherheitsrisiko für die gesamte Region. Trotz der Massaker, die seit 1983 fast täglich im Land verübt werden, gibt es in Kolumbien nämlich nach wie vor eine zwar untereinander keineswegs einige, aber dennoch starke Opposition: Gewerkschaften streiken gegen Privatisierungen im Erziehungs- und Gesundheitswesen, Indígenas wehren sich gegen die Ausbeutung von Bodenschätzen auf ihrem Territorium, Guerillaorganisationen besteuern transnationale Unternehmen und sabotieren die Erdölindustrie. So hat der Ölmulti Occidental im Juli 2001 die Investitionen in Kolumbien ausgesetzt, nachdem die ELN in den ersten sechs Monaten des Jahres mehr als 100 Anschläge auf die Pipeline Caño Limón-Coveñas verübt und damit den Ölexport aus dem nordostkolumbianischen Arauca völlig lahm gelegt hat.
Die Beseitigung solcher Investitionshindernisse, die den Erfolg der FTAA-Freihandelszone nachhaltig beeinträchtigen könnten, ist ein wichtiges, wahrscheinlich sogar das wichtigste Ziel des Plan Colombia. Letztlich geht es um Investitionssicherheit und nicht um Drogengeschäfte.
Die Wiederherstellung von „stabilen Verhältnissen“ wird auch von den europäischen Regierungen tatkräftig unterstützt. So hat sich die EU zwar vom Plan Colombia distanziert, unterstützt parallel dazu aber die kolumbianische Regierung bei ihrer Politik. Insgesamt 300 Millionen Euro sind auf der Geberkonferenz im Mai 2001 für verschiedene kolumbianische Regierungsprojekte zur Verfügung gestellt worden. Kleinbauern-, Schwarzen- und Indígena-Organisationen aus den betroffenen Regionen fürchten nun, dass mit diesem Geld die Industrialisierung der Landwirtschaft beschleunigt und kriegsbegleitende Sozialmaßnahmen finanziert werden sollen.

KASTEN:
Ökologische Konsequenzen des Drogenanbaus

Um einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen, kommt es vor allem bei dem im großen Rahmen organisierten Drogenanbau zum massiven Einsatz von Fungiziden, Herbiziden, Pestiziden und Kunstdüngern. Verheerend wirken sich auch die Drogenmonokulturen aus, besonders im Schlafmohnanbau. Denn während die Kokapflanze in warmen Gebieten bis 1.800 Metern Höhe angebaut werden kann, führen die Schlafmohnplantagen, die darüber liegen, zur Entwaldung und Austrocknung der Böden, da der Wasserbedarf sehr hoch ist. In der Weiterverarbeitung der Drogengrundstoffe liegt eine weitere Ursache massiver ökologischer Schäden. So verseucht die Produktion der Kokapaste die Flüsse mit Benzin, Ether, Azeton und anderen Chemikalien.
Die größten Umweltschäden werden jedoch durch die Drogenbekämpfungsmaßnahmen, besonders durch Herbizideinsätze gegen Drogenpflanzungen verursacht. Die aus der Luft erfolgende Besprühung stellt einen Schwerpunkt der kolumbianischen Antidrogenmaßnahmen dar. Im Einklang mit der US-Regierung konzentrieren sie sich auf das schwächste Glied des Drogenkreislaufs, die Koka- und Schlafmohnbauern. Von der probeweisen Besprühung aus der Luft ging Kolumbien unter der Regierung Betancur (1982-86) zur massiven Besprühung von Drogenanbaugebieten aus der Luft vor allem mit Glyfosat (Round-up) über. Angesichts der mageren Resultate wurden die Besprühungen 1989 eingestellt, doch schon im Januar 1992 erlaubte Präsident Gaviria den Glyfosateinsatz gegen Schlafmohnfelder wieder. Zwei Jahre später wurden auf Druck der USA auch die Einsätze gegen Kokapflanzungen wieder aufgenommen.
Kolumbien ist weltweit das einzige Land, in dem Drogenpflanzungen aus der Luft mit den Herbiziden Glyfosat, Tebuthiuron (Spike) und Exazinon (Velpar) besprüht werden. Vor allem Exazinon schädigt die menschliche Gesundheit in irreversibler Weise. Es verursacht Krebs und Störungen des Nervensystems wie der Sehfähigkeit. Daher ist es in den USA verboten.
Im Gebiet der Sierra Nevada von Santa Marta, das vor Jahren intensiv aus der Luft besprüht wurde, sind unter den Kindern der örtlichen Siedler und Indígenas zahlreiche Missbildungen zu beobachten. Ebenso führt das vom Chemiekonzern Monsanto unter dem Markennamen Round-up vertriebene Herbizid Glyfosat zu schweren gesundheitlichen Schädigungen bei der betroffenen Bevölkerung und zur umfassenden Vernichtung jeglichen Anbaus.
Doch das reicht der US-Regierung nicht. Seit Ende der Amtsperiode von Ernesto Samper 1998 fordern die USA den Einsatz von granulatförmigen Herbiziden wie Imazapyr, Tebuthiuron und Hexazinona, die alle schwerwiegende Vergiftungen des Grundwassers mit sich bringen.
Offiziellen Angaben zufolge werden diese Stoffe bislang nicht eingesetzt, doch die Wirklichkeit sieht anders aus: In vier Proben, die Substanzen enthielten, die Ende Juli 1998 aus Flugzeugen im Departement Putumayo versprüht worden waren, fand das Laboratorium der Umweltfakultät der Universität Los Andes Imazapyr. Imazapyr ist hochätzend und bewirkt irreversible Schädigungen der Augen und der Haut. Das sehr starke und nicht-selektive Breitbandherbizid wird über den Boden aufgenommen und stellt daher auch eine große Gefahr für Gewässer dar. Die kolumbianische Ombudsstelle stellte fest, dass durch die Imazapyrbesprühungen große Flächen natürlicher Vegetation in der Nähe von landwirtschaftlich genutzten und bewohnten Gebieten zerstört worden sind.
Einer jüngst veröffentlichten Untersuchung zufolge wurden in Kolumbien durch Besprühungen bereits 150.000 Hektar tropische Wälder zerstört. Bliebe es bei der massiven Besprühung, würden sich bis zum Jahr 2015 70 Prozent dieser Fläche in sterile Böden verwandeln.
Dario Azzellini

Zwei wenig grüne Dollar-Jahre

Dollarisierung bedeutet Krise. Anfang 2000 verabschiedete sich der Sucre mit einer fast 100-prozentigen Inflation als Währung von den internationalen Finanzmärkten. Die folgende Wirtschaftskrise riss Ecuador in die Armut. Damals sah sich die Regierung gezwungen, unter der Regie des Internationalen Währungsfonds IWF den US-Dollar als Landeswährung einzuführen. Die sofort eintretende Folge waren deutliche Preiserhöhungen bei allen Konsumprodukten vom einfachen Brot bis zum Treibstoff. Massenproteste, Krawalle und schließlich ein Umsturzversuch von Indigenas und Teilen des Militärs kostete den damaligen Präsidenten Jamil Mahuad sein Amt (siehe LN 308). Nachfolger Gustavo Noboa konnte gleichfalls nur noch auf denselben Zug aufspringen und die Einführung des Dollars allenfalls mit sanfteren Methoden umsetzen. Das hatte seinen Preis: Mit Kreditaufnahmen und Subventionshilfen musste der Staat die geringer ausgefallenen Preissteigerungen auffangen, um der sozialen Schieflage und weiteren Protesten entgegenzusteuern. So gingen zwei Jahre Dollarzirkulation mit Neuverschuldung, einer neurotischen Suche nach Investoren und einem steigenden Handelsdefizit einher.

Wachsende Schulden

Laut ecuadorianischer Zentralbank hatten sich Ende 2001 Auslandsschulden in Höhe von 14 Milliarden Dollar aufgetürmt. Ein Schuldenmoratorium gegenüber ausländischen Gläubigern hatte 1999 die ecuadorianische Kreditwürdigkeit international ruiniert, nachdem man Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte. Die jetzt vorgelegten Zahlen zeigen, dass bisher ein Abbau der Schulden trotz Wirtschaftswachstums alles andere als realisierbar war. Zwar konnte für das Jahr 2000 ein Aufschwung von 2,3 und für das letzte Jahr 5,4 Prozent verzeichnet werden. Jedoch kompensierte man damit bisher nur die Rezession von 1999, die bei 7,3 Prozent lag.
Viele WirtschaftsexpertInnen sprechen wie der Präsident nach wie vor von einem positiven Effekt der Dollarisierung. Besonders Exporteure profitieren, da sie sich durch den festen Dollar nicht mehr mit schwankenden Kursen herumschlagen müssen und somit verlässlichere Berechnungen durchführen können. Zudem biete der Dollar einen Anreiz für ausländische InvestorInnen. Tatsächlich haben sich Investitionen im letzten Trimester 2001 mit 355 Millionen US-Dollar zum Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt.

Schieflage in der Handelsbilanz

Andere BeobachterInnen sehen jedoch in der wirtschaftlichen Entwicklung eine tickende Zeitbombe. So habe sich die Schieflage zwischen Import und Export weiter vergrößert. Mit der Einführung des Dollar verteuerten sich ecuadorianische Produkte, was den Absatz dramatisch einbrechen ließ. „Ein Hemd aus kolumbianischer Produktion kostet 12 US-Dollar, ein ecuadorianisches mittlerweile 40“, stellte die Wirtschaftszeitschrift Gestión heraus. So sei der Exportumfang im Jahre 2000 ohne Ölwirtschaft um knapp 17 Prozent gefallen, im letzten Jahr insgesamt um acht Prozent. Dagegen haben Importe in den letzten 24 Monaten stark zugenommen – im Jahr 2000 um 62 Prozent und 2001 um 45 Prozent.
Nur die Einnahmen aus der verstärkten Erdölförderung und seinen hohen letztjährigen Erlösen konnten diese wirtschaftliche Schieflage etwas mildern, genauso wie die in den letzten Jahren immer wichtigeren Überweisungen ecuadorianischer EmigrantInnen aus dem Ausland. Im Jahre 2001 verzeichnete das Land eine Geldeinführung durch Überweisungen von 1,4 Milliarden (sic!) US-Dollar – mehr als die Einnahmen aus dem Export von Bananen, Krabben, Kaffee und Kakao zusammen. Trotzdem musste das Land für das Jahr 2001 erstmals seit zehn Jahren ein Handelsdefizit von über 100 Millionen US-Dollar in Kauf nehmen.

Risiko Devisenknappheit

Hinzu kommt die weiterhin bei 22 Prozent liegende Inflation, die höchste des Kontinents, die nur durch ein größeres Güterangebot oder staatliche Subventionen bekämpft werden kann. Denn das Mittel der Geldpolitik hat Quito mit der Dollareinführung an die US-Notenbank abgegeben, die wohl kaum auf die Bedürfnisse der SüdamerikanerInnen eingehen wird. Die Folgen sind weitere Verarmung in der Bevölkerung, da die Lohnsteigerungen nicht annähernd der Inflationsrate und somit den Preissteigerungen entsprechen. Bereits jetzt haben viele EcuadorianerInnen Schwierigkeiten, ihre Mieten zu zahlen. Zwar hat sich die offizielle Arbeitslosenrate bei zehn Prozent eingependelt. Doch laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik Cepal ist die Hälfte der EcuadorianerInnen nur noch in Teilzeit beschäftigt oder verdient sich seine wenigen Dollar beispielsweise im Verkauf von Werkzeugen oder Schokolade auf der Straße. „Die Konsumpreise steigen weitaus schneller als in den anderen lateinamerikanischen Ländern. Den EcuadorianerInnen geht langsam das Geld aus“, konstatiert Cepal.
Deshalb sind auch die Dollarisierungsverfechter einhellig der Meinung, dass in absehbarer Zeit das Risiko einer Devisenknappheit anstehen könnte. Die Regierung lanciert deshalb eine Finanzreform im Kongress, die öffentliche Ausgaben stärker kontrollieren soll, um Mittel zur Bildung eines Stabilitätsfonds für zukünftige Krisen zur Verfügung zu haben. Diese verspricht man sich aus erhöhten Einnahmen aus Erdölfeldern, welche die Regierung im Eiltempo anbohren lässt.

Proteste unerwünscht

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist nach wie vor die unzufriedene Bevölkerung. Das Ansehen Noboas lag Anfang des Jahres bei einem Rekordtief von 20 Prozent, nachdem er die Benzinpreise weiter erhöhen musste. Darauf folgende gewalttätige Proteste von StudentInnen haben bei Ökonomen Unsicherheit verbreitet. Was man jetzt am allerwenigsten brauche, so die Wirtschaftsmacher, sei politische Instabilität. Diese könnte das aufgebaute internationale Vertrauen und die davon abhängende wirtschaftliche Erholung wieder zunichte machen. In den letzten fünf Jahren regierten fünf verschiedene Präsidenten das Land. Der Politologe César Montúfar sieht das größte Risiko tatsächlich in einer anstehenden Periode von Regionalwahlen, die 2003 in die Präsidentschaftswahlen münden. Linke und Indigena-Parteien könnten dann Wahlerfolge einfahren, die unsoziale Gesetzeserlasse zum Wohle der Dollar-Wirtschaft blockieren könnten.
Ein anderer Wirtschaftsexperte einer ecuadorianischen Zeitung prophezeite dem Land eher wegen der fehlerhaften Wirtschaftsstrategie des Präsidenten Krisen voraus, die das Land dasselbe Schicksal wie Argentinien erleiden lassen könnten. Mit einem unfinanzierbaren Haushalt, der sich „Dank eines starken Dollars ausschließlich auf ausländische Investitionen konzentriert“, seien kaum schnelle Exportsteigerungen zu erwarten. So seien die jetzigen Wirtschaftsdaten ein „Spiegelbild der argentinischen Wirtschaft Anfang der neunziger Jahre”, als man den Peso eins zu eins an den Dollar koppelte.
Eine IWF-Delegation will Ende Januar mit der ecuadorianischen Regierung ihre Wirtschaftsstrategie beraten. Der ständige Repräsentant des IWF in Ecuador, Jeffrey Franks, sieht zwar noch keine Tango-Krise auf Quito zukommen, jedoch seien „Strukturreformen nötig“. Er sehe keine akuten Probleme für die kommenden zwei Jahre, doch danach könnten „einige Risiken“ auftreten. Zunächst soll die größte Bank Ecuadors, Filanbanco, aufgelöst werden. Sie musste bereits im Juli letzten Jahres wegen Liquiditätsschwierigkeiten ihre Türen schließen. Geplant ist ein weiterer 300 Millionen Dollar-Kredit des IWF, um die wirtschaftliche Schieflage aufzufangen. Als positiv hob Franks hervor, dass das Land erstmals seit 15 Jahren die Vereinbarungen mit dem IWF erfüllt habe. Das hat man nun davon.

Newsletter abonnieren