nos-otros – wir anderen

Die mexikanische Identität ist geklärt. Wir wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir getan haben“ – so der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes in einem Interview mit den Lateinamerika Nachrichten, das in der vorliegenden Ausgabe zu finden ist. Carlos Fuentes gehört zu denen, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren intensiv danach gesucht haben, was denn das Besondere Lateinamerikas ist, worin es sich unterscheidet vom großen Nachbarn USA und von Europa.
Dabei standen immer auch Identitätsfragen der einzelnen Staaten und Nationen zur Debatte, von denen sich manche vehementer voneinander abgrenzen, als es Normalsterblichen begreiflich ist – man denke etwa an den Konflikt zwischen Ecuador und Peru, der erst kürzlich nach einem Kleinkrieg beigelegt worden ist, oder an die Animositäten zwischen den einzelnen Staaten Zentralamerikas. Schließlich spielt Identität in den Ländern selbst eine große Rolle, etwa wenn es um das Selbstverständnis als quasi-europäische (Argentinien), mestizische (Mexiko) oder afrokaribische Nation (Haiti) geht und auf diesem Wege Machtpositionen abgesteckt und Nicht-Identische ausgegrenzt werden.

Diese Fragen sollen geklärt sein ? Carlos Fuentes geht noch einen Schritt weiter und meint: „Die derzeitige Herausforderung besteht in der Diversität. Das Problem ist, worin wir uns unterscheiden, und wie wir die Diversität respektieren – die religiöse, die der Rasse, die politische, die ideologische.“ In der Tat: In einigen Ländern sind in den vergangenen Jahren die Rechtslagen für Indígenas, Schwarze, Frauen, Homosexuelle verbessert worden, hier und dort haben sich die Partizipationsmöglichkeiten erweitert. Aber ist das Problem der Identität damit geklärt? Wird nicht nach wie vor mit Abgrenzungsargumenten Politik betrieben, haben es nicht nach wie vor viele gesellschaftliche Gruppen nötig, sich durch ein einigendes Selbstbewusstsein von der Dominanz der Mächtigen zu befreien? Und stellt nicht die permanente kulturelle Konfrontation – durch das Fernsehen, die Musik oder den Sprachkontakt – immer neu die Frage: Wer bin ich, wer sind wir?
Im Schwerpunkt dieser LN-Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem derzeitigen Stand der Identitäten. In einigen Artikeln wird die Identitätsbildung von „unten“, den Marginalisierten aus beschrieben: Während in Brasilien die „schwarze“ Bevölkerung unter der Behauptung leidet, es gebe keinen Rassismus, sondern statt dessen eine „Rassendemokratie“, kämpfen indigene Gruppen in Mexiko, Guatemala und Chile – jeweils unter ganz eigenen Umständen – um ihre Anerkennung als gleichberechtigte und eigenständige Teile der Gesellschaft;.
In anderen Texten geht es darum, wie die Identität eines Landes von „oben“, von seiten der Mächtigen aus bestimmt wird. So ist Paraguay ein durch und durch vom Militär geprägtes Land, in dem es fast unmöglich ist, die zivilen Terrains von militärisch beherrschten zu trennen. In El Salvador ist nach zwölf Jahren Bürgerkrieg die Wiedervereinigung der Gesellschaft ein zentrales Anliegen der Regierung. In Bolivien dient ein bereits über hundert Jahre alter Streit um den Zugang zum Pazifik als Argumentationsboden für die Legitimität von Politikern. Wer den Pazifikhafen nicht will, ist kein guter Bolivianer.

Schließlich beschreiben einige Artikel „auf Augenhöhe“, wie es um die Selbst- und Fremdbeschreibung steht: In Surinam, einem Land zwischen allen Weltregionen, stellt sich die Frage „Wer sind wir eigentlich, wer ist Surinamer?“ auf etwas kompliziertere Weise als in Argentinien, wo genau das wohl schon immer klar war. In Filmen und Fernsehserien werden Denkmuster und Lebensweisen gezeigt, die enorme Auswirkungen auf die der ZuschauerInnen haben können. Und was LateinamerikanerInnen denken, die gar nicht mehr in ihren Heimatländern leben, sondern in Deutschland, haben wir in einem Gespräch mit drei von ihnen zu klären versucht. Abgerundet wird der Schwerpunkt mit einem historischen Überblick über zweihundert Jahre Identitätspolitik.

In „nosotros”, auf Spanisch “wir”, steckt immer auch ein Akt der Abgrenzung. “Wir” sind eben nicht “ihr”, sondern “nos otros” – wir anderen.

Editorial Ausgabe 313/314 – Juli/August 2000

Die Geschichte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist wenig ruhmreich. In den knapp 52 Jahren ihres Bestehens war die OAS stets eine Marionette der USA. Während sie eng mit Despoten wie Batista, Somoza, Stroessner oder Pinochet zusammenarbeitete, schloss sie Kuba 1962 als Mitglied aus. Die US-Interventionen auf der Dominikanischen Republik oder Grenada wurden als Gemeinschaftseinsätze zur „Rettung der Demokratie“ verkauft.Vor wenigen Jahren wurde in die Charta der OAS ein neues Ziel aufgenommen – die „Förderung der repräsentativen Demokratie“. Doch die Nagelprobe ging Anfang Juni beim Treffen der OAS-Außenminister im kanadischen Windsor daneben, als die Versammlung sich nicht dazu durchringen konnte, den offensichtlichen Wahlschwindel in Peru zu verurteilen, entgegen den Schlussfolgerungen einer eigens nach Lima entsandten Beobachterdelegation der OAS. Bei der Entscheidung fiel auch nicht ins Gewicht, dass die peruanische Regierungsmafia um Fujimori und den als Geheimdienstchef amtierenden Mörder und Drogenhändler Vladimiro Montesinos bereits lange vor den Wahlen die Weichen zum Betrug gestellt hatte. Durch Bestechung und Erpressung war es ihr gelungen, die größten Medien, die Legislative und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen.
Allerdings waren die Karten dieses Mal bei der Abstimmung anders gemischt als früher. Ausgerechnet die USA – mit Kanada, Argentinien und Costa Rica im Schlepptau – wollten die peruanische Diktatur an den Pranger stellen. Jene Macht, die sich bislang in Lateinamerika eher als Totengräber demokratischer Grundwerte einen Namen gemacht hatte. Die übrigen dreißig Mitgliedsstaaten der OAS empfanden eine Verurteilung der peruanischen Regierung als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.
Die Zeiten haben sich verändert und sind doch gleich geblieben. Die mittlerweile konkurrenzlos gebliebene Weltmacht USA kann es sich leisten, weniger plump zu agieren. Und die sogenannten „jungen lateinamerikanischen Demokratien“ stimmen ab wie damals, als sie noch von der Armee regiert wurden. Das ist in einigen Fällen wenig erstaunlich. Während in Bolivien niemand anders als der ehemalige Diktator Hugo Banzer auf dem Präsidentenstuhl sitzt, ist im Nachbarland Paraguay immer noch die Colorado-Partei Alfredo Stroessners an der Macht. In Ecuador setzte das Militär direkt den Präsidenten ein. Der Präsident El Salvadors gehört der Arena-Partei an, die einst mit den Todesschwadronen in enger Verbindung stand, und sein guatemaltekischer Kollege versucht sich gerade erst von seinem Ziehvater freizumachen: dem Massenmörder und Putschisten Rios Montt.
Von Ländern wie Venezuela oder Mexiko war erst recht nicht zu erwarten, dass sie sich einer Verurteilung der peruanischen Regierung anschließen würden. Der machtorientierte Präsident Chávez fuhr kurz nach der peruanischen Wahlfarce sogar zusammen mit seinen Kollegen Banzer, Noboa und Pastrana zum Gipfel der Andenstaaten nach Lima und umarmte Fujimori öffentlich. Die mexikanische PRI ist selbst ein gebranntes Kind. Schon 1988 konnte sie nur durch massiven Wahlbetrug den Machtverlust abwenden.
Überraschend ist aber, dass Brasilien, Chile und Uruguay sich den USA nicht anschließen mochten. Die Begründung des brasilianischen Präsidenten Cardoso für seine Politik der Nichteinmischung lässt sich dahingehend interpretieren, dass es ihm um eine von den USA unabhängige Politik und um den Führungsanspruch in der Region geht.
Dabei gibt es wahrlich genügend Gelegenheiten, sich gegen die US-Politik in der Region zu wenden. Zum Beispiel könnte Brasilien die milliardenschwere Militärhilfe für Kolumbien ablehnen, die soeben bewilligt wurde und den Bürgerkrieg weiter schüren wird. Oder den Schuldenerlass auf die Tagesordnung setzen. Aber dass Wahlmanipulationen einer diktatorischen Regierung zu deren inneren Angelegenheiten gerechnet werden, darf nicht hingenommen werden. Selbst dann nicht, wenn sich mit den USA ein zweifelhafter Bündnispartner anbietet.

Ein paar Anmerkungen zur Tourismusentwicklung nach Lateinamerika

Zahlen der internationalen Tourismusentwicklung werden von der sogenannten World Tourism Organization (WTO) erhoben. Sie hat ihren Sitz in Madrid und wurde 1977 als eine Unterorganisation der UNO anerkannt. Ihre Zusammensetzung stellt dabei eine etwas eigenartige Mischform aus StaatsvertreterInnen aus über 130 Mitgliedsstaaten und 350 sogenannten „Affiliate Members“ aus der privaten Tourismusindustrie dar. Sinn und Zweck dieser Organisation besteht sowohl in der Beobachtung als auch in der Förderung des weltweiten Tourismus.
Unter dem Begriff „Touristenankünfte“ zählt die WTO die Zahl der den Zoll passierenden Einreisenden, die mindestens einen Tag und nicht länger als ein Jahr ein Land besuchen. Dabei werden diese Besucher nicht im Einzelnen darüber befragt, warum sie ihre Reise eigentlich antreten. Insofern sind in den jährlich publizierten Zahlen über „Touristenankünfte“ auch normale Geschäftsleute enthalten. Um das Problem des statistischen Begriffs „Touristenankünfte“ zu veranschaulichen: Auf statistischer Basis dürfte die Zahl der „Touristenankünfte“ ins Kosovo in Zukunft mit großer Sicherheit noch stark ansteigen.
Nach Angaben der World Tourism Organization besuchten im Verlauf des Jahres 1999 hochgerechnet 44,5 Millionen Menschen Lateinamerika. Die Karibik wurde von 16 Millionen TouristInnen besucht. Das sind rund 9 Prozent aller TouristInnenankünfte weltweit. Lateinamerika gilt damit im weltweiten Vergleich als expansive Wachstumszone.
Dabei existiert eine bemerkenswerte Verteilung der Touristenankünfte in Lateinamerika. Während sich 20,07 Millionen TouristInnen auf Südamerika verteilten und weitere 4,24 Millionen TouristInnen Zentralamerika besuchten, konnte allein Mexiko 20,216 Millionen TouristInnen verzeichnen. Das ist sicher zum Teil auf Besuche aus den angrenzenden USA zurückzuführen. Zum anderen unterstreicht diese im Vergleich zum „Rest Lateinamerikas“ enorme Zahl von TouristInnen die Bedeutung Mexikos in den Urlaubsträumen der ganzen Welt. Und genau das sichert den dort stattfindenden „innenpolitischen“ Ereignissen, wie dem Aufstand der ZapatistInnen, eine ganz andere politische Resonanz als zum Beispiel eine Parlamentsbesetzung in Ecuador.
Der Löwenanteil des Tourismus nach Südamerika stammt in der Regel aus den jeweiligen Nachbarländern, gefolgt von den USA und Deutschland. Eine Ausnahme bildet Argentinien, wo die Anzahl der spanischen und italienischen BesucherInnen höher ist als die der Deutschen. In Zentralamerika stellen neben den Nachbarländern und den USA Kanada und Spanien die meisten Besucher – noch vor Deutschland.

2 Prozent Deutsche
Für deutsche Tourismuswillige wurde Lateinamerika in den letzten zehn Jahren immer interessanter. Im Durchschnitt betrug die Steigerungsrate nach Südamerika in den letzten 10 Jahren jährlich 7,75 Prozent pro Jahr und nach Zentralamerika 9,9 Prozent. In absoluten Zahlen wurde Südamerika 1997 von insgesamt 459.000, Mexiko von 206.000 und Zentralamerika von 68.000 deutschen TouristInnen besucht – das ergibt eine Gesamtzahl von 733.000 deutschen TouristInnen in ganz Lateinamerika. Nach Hochrechnungen der Arbeitsgemeinschaft Lateinamerika soll die Zahl deutscher TouristInnen für das Jahr 1999 auf rund 850.000 angestiegen sein. Selbst wenn man von dieser Zahl die aus Geschäftsgründen Mehrfachreisenden abzieht, so verbleibt immer noch die EinwohnerInnenzahl einer bundesdeutschen Großstadt. Die Anzahl der Deutschen macht knapp 2 Prozent am gesamten internationalen Tourismusaufkommen Lateinamerikas aus. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Deutschland beziehungsweise das deutschsprachige Europa nach den jeweiligen Nachbarländern und den USA zu den wichtigsten Entsendermärkten gehört.
Dass diese Wachstumsraten steigende Tourismuseinnahmen mit sich bringen, kann nicht überraschen. Wurden im Jahr 1998 für Lateinamerika insgesamt 25 Milliarden US-Dollar verzeichnet, so wurden für das Jahr 1999 Einnahmen in Höhe von 27,3 Milliarden US-Dollar prognostiziert. Wo diese „Einnahmen“ aber genau verbleiben, soll in dieser Übersicht nicht im Einzelnen erörtert werden. Die nachfolgende kleine Karikatur aus der „Dritte Welt-Information“ des epd kann dazu erste Hinweise geben.

Etwas Zuckerbrot und viel Peitsche

Fünf Monate und noch immer im Amt. Für die derzeitigen Verhältnisse in Ecuador grenzt es an ein kleines Wunder, dass der parteilose Präsident Gustavo Noboa noch auf dem Präsidentenstuhl sitzt. Schließlich muss er einen Balanceakt zwischen den fast unerfüllbaren Forderungen der internationalen Geldgeber und dem Druck sozialer Bewegungen vollführen.
Dass er letztere – besonders den Indígena-Dachverband CONAIE – sehr ernst nehmen muss, haben diese am 21. Januar bewiesen, als sie mit Teilen des Militärs völlig überraschend den vorherigen Präsidenten Jamil Mahuad aus dem Amt jagten. Mahuad wollte die seit Jahren katastrophale Wirtschaft dollarisieren und durch Schockmaßnahmen verbessern – und stolperte prompt über den organisierten Widerstand besonders der Indígenas und über die eigenständigen Machtbestrebungen im Militär (vgl. LN 308).
Annähernd die gleichen Wirtschaftsmaßnahmen peilt nun Noboa an – damals Vizepräsident unter Mahuad –, nur mit dem Unterschied, dass er selbiges Reformpaket Mitte März zügig durch das Parlament bringen konnte. Spätestens seit dem Aufstand scheinen die Abgeordneten bemerkt zu haben, dass eine Schwächung des Präsidenten auch ihre Positionen in Gefahr bringt.
Dies bedeutete, dass der Weg zur Dollarisierung (vgl. LN 310) in Ecuador zum 1. April frei war. Somit soll sich innerhalb von knapp sechs Monaten ein kompletter Währungswechsel vom Sucre zum US-Dollar vollziehen. Mitte Mai begann der Bankensektor, die Geldautomaten umzustellen, die nun nur noch US-Dollar ausgeben. Seit dem 13. Juni werden Schecks ausschließlich in US-Dollar angenommen und verrechnet. Am 13. September soll der Sucre endgültig aus dem Verkehr gezogen werden.
Obwohl dieses Vorgehen bei den EcuadorianerInnen auf Widerstand stößt, will sich die Regierung nicht von dem Vorhaben abbringen lassen. Denn die Dollarisierung war eine Voraussetzung dafür, dass Kreditverhandlungen für das finanziell ausgeblutete Land beginnen konnten.

Ende der Ruhe

Am 19. April hatte die Regierung ein Abkommen mit dem IWF unterschrieben, das dem Land für die kommenden Monate ein Kreditvolumen von 304 Millionen Dollar einräumt und für die nächsten drei Jahre über zwei Milliarden Dollar in Aussicht stellt. Als Geldgeber fungieren neben dem IWF die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Andine Korporation für Wirtschaftsförderung. Mit der Finanzspritze soll erreicht werden, dass der Staat finanziell liquide bleibt. Momentan besitzt die ecuadorianische Zentralbank noch rund 850 Millionen US-Dollar an Reserven, die jedoch Monat für Monat schrumpfen, allein im Juni um knapp 40 Millionen US-Dollar.
Schon seit Jahren kämpft Ecuador mit seinem Haushaltsdefizit. Im letzten Jahr betrug es vier Prozent, was den Staat veranlasste, die Schuldentilgung teilweise einzustellen. Die katastrophalen Reaktionen auf den Finanzmärkten folgten auf dem Fuß, der Sucre fiel ins Bodenlose (vgl LN 298).
Die Kreditgeber fordern, den Landeshaushalt noch in diesem Jahr zu sanieren und die Finanzen in ruhiges Fahrwasser zu bringen. Geplant ist ein Haushaltsüberschuss von 0,9 Prozent und eine Inflationsrate im einstelligen Bereich. Und das – wie erwartet – mit äußerst unpopulären Maßnahmen, die die Protestbewegungen nach wochenlanger Abstinenz wieder auf die Straßen riefen. Noboa verkündete eine Anhebung der Kraftstoffpreise, die sich sofort auf eine Erhöhung der Tarife im öffentlichen Nahverkehr um bis zu 100 Prozent niederschlagen sollte. In der Hauptstadt Quito und in der Wirtschaftsmetropole Guayaquil kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, was den Präsidenten veranlasste, die Erhöhungen vorerst zurückzunehmen.
Opfer dieses Punktsieges der Protestierenden wurde Innenminister Francisco Huerta, der am 25. April seinen Hut nahm. Als Grund nannte er die kurz zuvor gescheiterten Gespräche mit der CONAIE. Diese verließ eine Gesprächsrunde mit der Regierung und verkündete, dass der Dialog beendet sei. “Die Regierung hat keinen politischen Willen”, so CONAIE-Vizepräsident Ricardo Olcuango. Und den müsse sie schleunigst an den Tag legen, will sie verhindern, dass es eine parallele Politik der Straße gibt und es zu einem neuen Aufstand kommt.

“Soziale” Preiserhöhungen

Einen neuen Anlauf wagte die Regierung am 25. Mai, als neue Wirtschaftsmaßnahmen vorgestellt wurden, diesmal mit etwas sozialeren Zügen. Um die Wogen im Vorfeld zu glätten und um gegen Inflation und Spekulation vorzugehen, wurde angeordnet, die Preise von über 200 Konsumprodukten für fünf Monate einzufrieren. Recht erfolglos: Lag die Inflation Anfang Mai noch bei 88,9 Prozent, stieg sie bis Ende Juni auf über 100 Prozent. Grundnahrungsmittel wie Fleisch und Milch standen gar nicht auf der Liste.
Abermals wurde die Erhöhung der Kraftstoffpreise, diesmal zwischen 66 und 99 Prozent, angekündigt. Zudem sollten umfangreiche Subventionen gestrichen werden.
Um diese Mehrbelastungen zu kompensieren, versprach Arbeitsminister Martin Inzúa unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohnes für ArbeiterInnen im privaten und öffentlichen Bereich von 53 auf 116 Dollar im Monat. Des Weiteren soll in Schulen die Schulspeisung eingeführt und die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern verbessert werden. Eine Erhöhung der Rentenzahlungen wurde gleichfalls in Aussicht gestellt. Trotz dieser Maßnahmen bleibt der reale Kaufkraftverlust in der Bevölkerung bestehen, was durch die weiter gestiegene Armut in Ecuador belegt wird, die knapp 70 Prozent der Bevölkerung betrifft.
Dass aber dieses vergleichsweise abgefederte Wirtschaftsprogramm innerhalb der Regierung nicht einhellige Zustimmung fand, lässt der Rücktritt des Wirtschafts- und Finanzministers Jorge Guzmán Ende Mai vermuten. Von vielen wurde er als Verteidiger und Schöpfer der Dollarisierung in Ecuador betrachtet. Gegenüber dem Kurs der jetzigen Regierung vertrat er die Idee eines harten “ökonomischen Schocks”, um die Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln.
Ein weiterer Grund für Guzmáns Rücktritt könnten ecuadorianischen Zeitungsberichten zufolge die Verhandlungen gewesen sein, die er kurz zuvor mit den Gläubigern vom Pariser Club und mit Vertretern des Brady-Bonds geführt hatte. Dabei ging es um ausstehende Schulden in Höhe von 6,5 Milliarden Dollar, die Ecuador im letzten Jahr nicht zurückzahlen konnte. Mit einer Außenverschuldung von 16,4 Milliarden Dollar steht das Land vor schier unüberwindbaren Finanzproblemen. Das Präsidialamt ließ nach Guzmáns Rücktritt verlauten, dass die Verhandlungen wie geplant weitergehen würden. Allerdings brauchte die Regierung fast zwei Wochen, um mit Luis Yturralde einen neuen Finanzminister ausfindig zu machen.

Neuer Protest formiert sich

Weit mehr Druck sieht sich die Regierung auf der politischen Bühne von links ausgesetzt. Nach Bekanntwerden der Wirtschaftsmaßnahmen kündigte die CONAIE gemeinsam mit GewerkschaftsvertreterInnen einen eigenen Vorschlag für ein Wirtschaftsmodell an, das die Dollarisierung und das Abkommen mit dem IWF ersetzen soll. Genaueres wurde zwar nicht erläutert, aber Blanca Chancoso, führende Person in der CONAIE, betonte, dass “die Menschen sich versammeln und die Alternativen diskutieren werden.” Stein des Anstoßes war neben den Preiserhöhungen die Ankündigung, staatliche Betriebe im Telekommunikations-, Energie- und Erdölsektor zu privatisieren. Die ecuadorianische Regierung hatte dies bereits in den letzten Jahren mehrfach versucht, scheiterte aber meist am Widerstand im Land und daran, dass die internationalen Interessenten aufgrund der politischen Instabilität ihre Angebote zurückzogen. Nun soll ab Oktober ein Privatisierungsprogramm durchgepeitscht werden. Die notwendigen Gesetzesinitiativen werden im Juli ins Parlament eingebracht – wenn die Abgeordneten aus dem Urlaub zurück sind.
Bereits Mitte Mai traten LehrerInnen und medizinisches Personal in einen unbefristeten Streik. Sie forderten deutliche Lohnerhöhungen. Als besonders unnachgiebig erwies sich dabei die Nationale Lehrerunion (UNE). Die Regierung drohte zwar mit strafrechtlichen Schritten, sollten die 23.000 Streikenden den Schuldienst nicht wieder aufnehmen. Für Carlos Medina, Mitglied der UNE, geht es statt dessen schlicht “um die Forderung nach einem Lohn, der es ihnen erlaubt zu überleben.” Während die Regierung eine Lohnerhöhung auf 70 Dollar monatlich in Aussicht gestellt hat, fordert die UNE mindestens 100 Dollar. Mitte Juni wurden die Gespräche seitens der UNE mit der Regierung abgebrochen, eine Einigung scheint weiterhin nicht in Sicht zu sein.

Wie plant man einen Aufstand?

Diese Unterbrechung fällt in einen Zeitraum, in dem sich die Atmosphäre insgesamt weiter polarisiert hat. Die Frente Popular, eine Vereinigung aus gewerkschaftlichen, studentischen und politischen Strömungen, kündigte für den 15. und 16. Juni einen landesweiten Generalstreik an. Durch eine Kältewelle, starke Regenfälle, aber auch aufgrund allgemeiner Teilnahmslosigkeit verlief dieser Aufruf weitgehend im Sande. Zumal die CONAIE tags zuvor ihre Nationalversammlung abgeschlossen hatte, mit dem Ziel, nun eine weit aktivere Rolle gegen die Politik von Noboa einzunehmen. Zwar unterstützte die CONAIE-Versammlung den Streik, rief aber nicht direkt dazu auf.
Die Delegierten wollen “Präventivmaßnahmen” vor der Entscheidung zu einem generellen Aufstand vornehmen, der nun erstmals wieder Kontur annimmt. CONAIE-Präsident Antonio Vargas nannte zwar kein Datum, aber alles deutet darauf hin, dass es zu einer neuerlichen Konfrontation zwischen den sozialen und indigenen Bewegungen und der Regierung kommt.
Zunächst soll die seit langem geplante Volksbefragung in die so genannte gran minga nacional, die große indigene Versammlung Ende Juni münden. Inhalt dieser Volksbefragung ist unter anderem die Auflösung des Nationalkongresses, die vollständige Umgestaltung des Obersten Gerichtshofes und des Justizsystems und im Besonderen die zukünftige Ausrichtung der Wirtschaft und die Dollarisierung. Dann wird sich entscheiden, wieviele Unterschriften die CONAIE zusammen bekommt und mit welcher Unterstützung sie zukünftig im Land agieren wird. Durch ihren hohen Organisationsgrad in der indigenen Bevölkerung und der frustrierten Stimmung scheint ihr aber große Unterstützung sicher zu sein.

Das Militär ist gespalten

Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist auch weiterhin das Militär. Zwar haben die Rücktritte der obersten Generäle am 9. Mai den Einfluss der Armee auf der politischen Bühne verringert, aber ihre Haltung bei einem neuerlichen Aufstand wird entscheidend sein. Präsident Noboa setzt alles daran, die frei gewordenen Posten mit ihm treuen Militärs zu besetzen und einen Aussöhnungsprozess innerhalb des Militärs voranzutreiben.
Nicht erst die Ereignisse des 21. Januar zeigten, dass innerhalb der Armee Risse entstanden sind. Die Schweißnaht löste sich schon mit dem vertraglichen Ende des Grenzkonfliktes mit Peru 1998. Und die Ermittlungen des Militärgerichtshofes sind zu einer weiteren Belastungsprobe für den Zusammenhalt der Streitkräfte geworden.
Um eine mögliche Konfrontation innerhalb der Militärhierarchie zu verhindern, bat Präsident Noboa den Kongress um eine allgemeine Amnestie für die am Aufstand beteiligten militärischen Akteure. Dabei handelt es sich um etwa 120 Militärangehörige, von denen rund 22 als Köpfe der Revolte betrachtet werden. Am 2. Juni wurden die Betroffenen nach 132 Tagen Gefängnis überraschend freigelassen.
Unklar ist aber, ob und wie das Militär jetzt die angedrohten Disziplinarmaßnahmen anwenden wird. Während die Regierung mit Verteidigungsminister Hugo Unda die Betroffenen vom Militär ausschließen will, drängt beispielsweise die CONAIE darauf, diese wieder zu integrieren. Oberst Lucio Gutiérrez jedenfalls, Anführer der rebellierenden Militärs vom Januar und Mitglied im kurzzeitigen Triumvirat, befürchtet keine Sanktionen. “Unser gemeinsames Vorgehen war für die Verteidigung der Souveränität unseres Volkes.” Sollte er dennoch nicht in die Militärinstitution zurückkehren dürfen, will er in die Politik gehen.

Die einen wählen Parteien, die anderen den Exodus

Dieser Karrieresprung vom Militär zum Politiker ist in Ecuador nichts Ungewöhnliches. So etwa im Fall von General Moncoya. Im Januar war er noch General a.D. und Abgeordneter der Demokratischen Linken im Parlament. Während des Aufstandes nahm er kurzzeitig den Posten des umtriebigen Generals Mendoza, Chef des gemeinsamen Heeres, ein, um zwischen den verfeindeten Truppenteilen zu vermitteln. Mittlerweile ist er Bürgermeister von Quito – am 21. Mai hatten Kommunal- und Regionalwahlen stattgefunden, die im Strudel der Ereignisse fast untergegangen sind.
Diese Wahlen waren von Desinteresse, Unentschlossenheit und enormen regionalen Unterschieden im Land geprägt. Während die Küstenbevölkerung den hegemonialen Kräften wie der neoliberalen Christlich-Sozialen Partei (PSC) und der Roldosista-Partei (PRE) die meisten Sitze verschaffte, konnten die linken Parteien im Hinterland ihre Positionen ausbauen. So wird die Pachakutik, in der indigene und soziale Bewegungen vertreten sind, künftig 5 von 22 Provinzregierungen stellen. Für die CONAIE bedeutet das einen zusätzlichen Auftrieb, weil damit ihre Arbeit für tiefgreifende Veränderungen im Land anerkannt wird.
Während die einen noch auf politische Alternativen setzen, versuchen andere, im Ausland über die Runden zu kommen. Immer mehr Menschen verlassen Ecuador, um vor den schlechten Lebensverhältnissen im Land zu fliehen. Im letzten Jahr ist die Auslandsgemeinde auf 3,3 Millionen EcuadorianerInnen gestiegen – fast ein Viertel der Landesbevölkerung. Wenn die wirtschaftlichen Reformen durchgesetzt werden, wird der Exodus vermutlich weitergehen. Mit der CONAIE aber, so ihr Vertreter Calixto Anapa, wird man aber auch in Zukunft rechnen können: “Wir kämpfen natürlich, um zu siegen. Wir bereiten uns darauf vor, eine gerechte und interkulturelle Gesellschaft aufzubauen, die die vorhandenen Ressourcen vernünftig und ausgewogen nutzt. Wir hoffen, es gelingt uns, ein Beispiel für Amerika und die Welt zu werden.”

„Die Regierung ist unfähig den Landkonflikt zu lösen“

Die Regierung Cardoso hat mit großem Aufwand versucht, die 500-Jahr-Feiern als brasilianische Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Doch die Medien berichteten vor allem über die Proteste der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST). Steht nun eine weitere Eskalation der Landkonflikte bevor?

Das Verhalten der brasilianischen Regierung lässt dies zumindest befürchten. Seit Anfang Mai hat es bereits zwei Fälle gegeben, in denen das Gesetz über die „Nationale Sicherheit“ wieder zur Geltung kam. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren gegen die Landlosenbewegung in Paraná. Das Gesetz ist ein Relikt aus den Zeiten der Militärdiktatur, es wurde jedoch in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet.
Ein anderes Beispiel: Die Bundespolizei hat kürzlich eine Sondereinheit speziell für Landkonflikte eingerichtet. Der Name ist ein Euphemismus, denn jeder weiß, dass es sich dabei um eine Einheit gegen den MST handelt. Die Bundespolizei erhält in diesem Zusammenhang das Recht, in jedes öffentliche Gebäude einzudringen, um Besetzungen oder Demonstrationen des MST beenden zu können.

Wieso wird dieses schon fast vergessene Gesetz plötzlich wieder aktiviert?

Diese Maßnahmen sind eine Reaktion der Regierung auf landesweite Proteste, die das MST während der 500-Jahr-Feiern organisiert hat. Eine absurde Reaktion. Denn beim MST handelt es sich schließlich nicht um eine Gruppe von Terroristen, sondern um eine soziale Bewegung, die demokratische Rechte in Anspruch nimmt, die durch die brasilianische Verfassung garantiert sind. Hier wird ein soziales Problem als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet.

Wieso reagiert der Staat ausgerechnet auf die Landlosenbewegung, die im Gegensatz etwa zu den Gewerkschaften nur über spärliche Machtmittel verfügt, jetzt so aggressiv?

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Zugeständnisse gemacht, die nichts Wesentliches änderten, aber die Landlosen ruhig halten sollten. Die Proteste gegen die 500-Jahr-Feiern haben nun zu einer Polarisierung geführt. Die Regierung musste einsehen, dass sie mit ihrer Taktik die Landlosenbewegung nicht befrieden kann. Nun versucht sie es mit einer verstärkten Repression.
Hinzu kommt, dass die regierungsnahen Medien, wie der Fernsehsender TV Globo, derzeit eine Schmutzkampagne gegen den MST betreiben: Die Bewegungen unterschlage Gelder und sei gewaltätig. Es gibt zwar keine Beweise, dass die Regierung bei dieser Kampagne ihre Hände mit im Spiel hat, aber sie kommt ihren Interessen doch in einer sehr auffälligen Weise entgegen.
Die Landlosenbewegung stellt für die Regierung – mehr noch als die Gewerkschaften – eine ernsthafte Bedrohung dar. Der MST thematisiert einen Konflikt, den die Regierung nicht lösen kann. Nirgendwo auf der Welt ist der Landbesitz derart konzentriert wie in Brasilien. Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ungefähr die Hälfte der nutzbaren Fläche. Es wäre einfach, dieses Problem durch eine Agrarreform zu lösen. Doch in der Mitte-Rechts-Koalition von Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzen die Großgrundbesitzer und die Anteilseigner der großen Latifundien. Die Regierung braucht die Unterstützung dieser mächtigen Lobby, um ihre Projekte durchzusetzen. Sie kann daher keine strukturellen Änderungen an den Eigentumsverhältnissen auf dem Land vornehmen und ist damit unfähig, dieses Problem zu lösen.

Welche Rolle spielen dabei die Bundesstaaten und die jeweiligen lokalen Autoritäten?

Nach dem Ende der Militärdiktatur zog sich der Staat zunächst zurück. Die Landkonflikte wurden sozusagen privatisiert und spielten sich vornehmlich zwischen Großgrundbesitzern und Landlosenbewegung ab. Die Polizei griff meistens nur ein, wenn die Auseinandersetzungen eskalierten. Doch mittlerweile tritt der Staat wieder verstärkt als Akteur in Erscheinung – und meistens gegen die Landlosenbewegung. Man muss dabei aber unterscheiden zwischen den Reaktionen der Bundesbehörden und den einzelnen Bundesstaaten. Rio Grande do Sul hat beispielsweise eine progressive Regierung, die mit den Agrarkonflikten verhältnismäßig vernünftig umgeht. In Paraná hingegen ist die Landesregierung reaktionär und eng mit den Großgrundbesitzern verbunden. Gleichzeitig gibt es dort eine ausgeprägte nicht-staatliche Repression durch die Milizen und privaten Sicherheitskräfte der Großgrundbesitzer.
Die Regierung Cardoso zeigt sich auf internationaler Ebene sehr bemüht, wenn es um die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Standards geht. Vergangenes Jahr hat sie beispielsweise einen offiziellen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vorgelegt, der viel Beachtung fand.
Bei dem Thema Menschenrechte lässt sich die Politik der Regierung Cardoso in zwei Bereiche unterteilen: Die zivilen und politischen Rechte haben erste Priorität, während die sozialen und ökonomischen Rechte als untergeordnete Kategorien angesehen werden. In der ersten Kategorie gibt es sicherlich einige Fortschritte. Wie beispielsweise der bereits erwähnte Bericht: Die Regierung hat damit die Existenz von systematischer Folter durch die Polizei in Brasilien anerkannt. Nur, sie muss auch die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. Bisher ist es Aufgabe der Polizei, gegen Beamte zu ermitteln, die der Folter verdächtigt werden. Jeder weiß, dass dabei nichts herauskommt.
Bisher haben die offiziellen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vor allem einen diplomatischen Effekt. Die Berichte finden im Ausland und vor der UNO großen Beifall. Anerkennend wird bemerkt, dass sich die Verantwortlichen in Brasilia mit diesem Problem auseinandersetzen. Währenddessen werden in Brasilien weiterhin Menschen mit Elektroschocks oder der Papageienschaukel gefoltert.
Alle namhaften Menschenrechtsgruppen in Brasilien wie im Ausland fordern seit langem, dass die Zuständigkeit für Verbrechen gegen die Menschenrechte auf die Bundesbehörde übertragen wird. Seit 1991 liegt ein entsprechender Gesetzesentwurf vor. Aber nichts ist bisher geschehen. Im Gegensatz dazu ist die Regierung in der Lage, innerhalb von wenigen Wochen ein ganzes Gesetzespaket durchzusetzen, dass sich gegen die Landlosenbewegung richtet.

Welche Rolle spielen die sozialen Grundrechte in diesen Berichten?

Im Nationalen Programm für die Menschenrechte, einem wichtigen Dokument, kommen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte so gut wie gar nicht vor. Diese Rechte werden von der Regierung erst gar nicht anerkannt. Der einfachste Beweis besteht darin, dass der Mindestlohn bei ungefähr 100 Dollar liegt. Niemand kann mit diesem Lohn ein menschenwürdiges Leben führen. Für die Regierung liegt dieses Problem außerhalb ihrer Zuständigkeit.

Hat sich die Situation der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur verbessert?

Ich sehe einen deutlichen Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur. Es gibt keine Todeslisten mehr, die Pressefreiheit ist einigermaßen gewährleistet. Es gibt freie Wahlen, auch wenn sie oft durch die Korruption beeinträchtigt werden. Doch eines unserer großen Probleme besteht darin, dass sich die Opfer geändert haben. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren es vor allem die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Doch die Mitglieder der Studentenbewegung und der politischen Organisationen hatten immerhin die Fähigkeit und die Mittel, mit der Elite zu kommunizieren und die Sympathien eines großen Teils der Bevölkerung zu erzielen.
Heute sind die Opfer vor allem die Kriminellen, Favela-Bewohner, die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft. Wer sich für diese Marginalisierten einsetzt, wird schnell als Verteidiger und Komplize von Banditen denunziert. Das ist ein großer Unterschied zu früher. Während der Militärdiktatur wurden etwa 500 Personen ermordert. Allein im Jahr 1998 wurden von der Polizei des Bundesstaates Rio de Janeiro über 7oo Personen getötet. Und oft handelt es sich bei den so genannten Schusswechseln um schlichte Hinrichtungen. Damit will ich nicht sagen, dass es um die Menschenrechte heute schlechter bestellt ist als vor dreißig Jahren. Aber diese Zahlen sollten zumindest zu denken geben.

Die Menschenrechtsgruppen haben bisher ebenfalls auf die Trennung zwischen den so genannten zivilen und den sozialen Rechten geachtet.

In der Öffentlichkeit ist es einfach, für zivile und politische Rechte einzutreten und sich gegen Folter und Polizeiübergriffe auszusprechen. Diese Fälle sind auch verhältnismäßig einfach zu dokumentieren. Im Gegensatz dazu fällt es natürlich schwer, gegen so allgemeine Probleme wie die Globalisierung oder die Verelendung zu kämpfen. Damit macht man sich auch leichter angreifbar. Doch die Unterteilung in Menschenrechte erster und zweiter Kategorie lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. In Brasilien existiert eine klare Beziehung zwischen der ungleichen Verteilung des Reichtums und der zunehmenden Gewalt. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die absolute Armut, sondern die relative Ungleichheit. Länder wie Bolivien oder Ecuador, die ebenfalls ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen haben, weisen eine wesentlich niedrigere Gewaltquote auf als Brasilien. Die brasilianischen Menschenrechtsgruppen erkennen daher zunehmend die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Rechte an. Die nationale Menschenrechts-Konferenz vom vergangenen Jahr hat zum ersten Mal auch einen Bericht über diese Rechte in Auftrag gegeben, der anschließend der UNO übergeben werden soll. Diese Annäherung zwischen den Menschenrechtsgruppen und den Bewegungen, die sich für soziale und ökonomische Rechte einsetzen, ist eine sehr wichtige Entwicklung in Brasilien.

Die Zeitung O Globo berichtete kürzlich über eine Art Neuauflage der „Operation Condor“. Demzufolge sollen die Geheimdienste von Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay Absprachen treffen, um gemeinsam auf die vermeintliche Bedrohung durch die sozialen Bewegungen zu reagieren.

Es ist natürlich schwierig, solche Informationen mit Sicherheit zu bestätigen. Aber eine große Überraschung stellen sie nicht dar. In Lateinamerika hat nie eine kritische Aufarbeitung der Geheimdienst-Aktivitäten während der Zeit der Militärdiktaturen stattgefunden – vergleichbar etwa mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit der Stasi-Vergangenheit. In Lateinamerika herrscht Kontinuität: Das Personal wurde nicht ausgetauscht, die Dienste konnten einfach weiter machen.

Interview: Anton Landgraf

Nazi-Treffen mit schnellem Ende

Kurz vor Beginn des Nazi-Treffens hatten in der Hauptstadt Santiago 4.000 Chilenen gegen diese nationalsozialistische Initiative demonstriert. Sonst stieß die Zusammenkunft bei den meisten Chilenen auf wenig Interesse. Verschiedene Juristen erinnerten an das Recht auf Meinungsfreiheit, während sich die neue Regierung unter Ricardo Lagos bemühte, das Treffen zu verhindern. Auf konkrete Gesetze konnte sie sich dabei allerdings nicht berufen und so konnte sie im Vorfeld nicht mehr tun, als eine Liste mit 50 international bekannten Nazi-Vertretern zu erstellen, denen die Einreise verweigert wurde.
So wurden andere Wege gesucht, um die Realisierung dieses Kongresses zu verhindern: Zwei Tage vor dem offiziellen Beginn wurde „zufällig“ der Organisator Alexis López von der chilenischen nationalsozialistischen Patria Nueva Sociedad auf der Strasse wegen ungedeckter Schecks verhaftet. Jeglicher Zusammenhang wurde von Regierungsvertretern jedoch dementiert: „An dieser Verhaftung war die Regierung in keiner Weise beteiligt.“ Claudio Huepe, Generalsekretär der Regierung, besteht darauf, dass es sich um eine „Routinemassnahme der Polizei“ gehandelt habe und es „nicht mehr als ein Zufall“ sei, dass der Kopf der Nazi-Organisation so kurz vor Beginn des Treffens verhaftet worden sei. Arnel Epulef, ebenfalls Mitglied von Patria Nueva Sociedad, besteht hingegen darauf, dass Alexis López der „erste politische Gefangene“ der neuen Regierung ist, da er wegen seiner Ideen verhaftet worden sei.
López war gegen 23 Uhr auf der Strasse im Zentrum von Santiago verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, seit 1998 seine Schulden nicht bezahlt und mit ungedeckten Schecks gezahlt zu haben. Insgesamt geht es um umgerechnet etwa 20.000 Mark.

Pünktlich zum Führergeburtstag

Das für 17. bis 22. April geplante Primer Encuentro de Nacionalidad y Socialismo wurde am Montag trotzdem in einem privaten Strandhäuschen in der Nähe von Valparaiso, in dem kleinen Ort Concon, eröffnet. Von den angekündigten 30 Teilnehmern waren schließlich sieben ausländische Vertreter aus Bolivien, Peru, Argentinien, Uruguay und Ecuador angereist, pünktlich zu „Führers Geburtstag“. Dieses Datum habe für die ausländischen Gäste, die Hitler und seine Politik im Dritten Reich verteidigen, eine besondere Bedeutung, erklärten die Veranstalter. Patria Nueva Sociedad bestehen hingegen darauf, keine Nazis zu sein: „Wir sind nicht rassistisch, wir sind nicht fremdenfeindlich, wir glauben nicht an eine Herrenrasse und respektieren die Grundrechte der Menschen.“
Dem Geist der Zeit folgend haben die chilenischen Nationalsozialisten im vergangenen Jahr ihr Image geändert, weg vom „typischen Nazi“ hin zum „aufgeklärten Patrioten“. Im Rahmen dieser Kosmetik wurde das Hakenkreuz durch das vom Ku-Klux-Klan verwendete Sonnenrad (ein Kreuz im Innern eines Kreises) ersetzt. Auch Hitlers Idee von einer einzigen Herrenrasse machte wenig Sinn innerhalb einer internationalen Bewegung. Patria Nueva Sociedad besteht deshalb darauf, dass jede Rasse für sich wertvoll ist, aber es komme eben darauf an, sie möglichst rein zu halten, also die Rassen zu trennen. Innerhalb dieser Logik ist es dann auch möglich, dass sich nationalsozialistische Vertreter beispielsweise auf den Demonstrationen der Mapuche-Indianer wiederfinden und deren Rechte verteidigen.

Austausch im Strandhaus

Viel weiter als bis zu einem allgemeinen Austausch über ihre Situation sind die Teilnehmer bei ihrem Treffen in Chile allerdings nicht gekommen, da nach 24 Stunden die Polizei auftauchte und den Versammlungsort umstellte. Die Ermittler hatten die Grenzübergänge und die Mitglieder von Patria Nueva Sociedad überwacht und so nach verschiedenen vergeblichen Polizeiaktionen im Süden Chiles schließlich das Strandhäuschen als Versammlungsort ausgemacht.
Mit der Aktion folgten die Ermittler einer Regierungsanweisung. Dort war man schließlich auf das Abkommen von San José in Costa Rica gestoßen, in dem sich unter anderem auch Chile zur Bekämpfung der Verbreitung von jeglicher Ideologie, die Gewalt oder Rassenhass fördert, verpflichtet. Zu Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen kam es dabei nicht. Noch in der Nacht verliessen die Kongressteilnehmer freiwillig das Gebäude und wurden unter Polizeibegleitung nach Viña del Mar gebracht, von wo aus sie umgehend in ihre Heimatländer zurückkehrten.
Warum dieses Treffen ausgerechnet in Chile stattfand, haben die Veranstalter offengelassen. Für Yoram Rovner, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Der Ruf eignet sich Chile für ein solches Treffen wegen der „Duldsamkeit der chilenischen Gesellschaft gegenüber solchen Phänomenen, der Apathie gegenüber der öffentlichen Debatte um nationalsozialistische Ideen, ohne dass es jemand stört und der Apathie der Chilenen im allgemeinen, wenn es um Menschenrechte geht.“
Für Rovner hat dieses Nazi-Treffen wegen seiner strategischen Bedeutung für die Zukunft Gewicht. „Es geht nicht um die Anzahl der Teilnehmer, es geht um die Organisationen, die hinter ihnen stehen.“ Und er erinnert daran, dass 1962 in England ein Treffen von Vertretern nationalsozialistischer Ideen unter ähnlichen Bedingungen stattfand, aus dem die „Weltweite Union der Nationalsozialisten“ entstand, in der sich schliesslich 80 nationalsozialistische Organisationen aus 40 Ländern zusammengeschlossen hatten.
Ein erstes Ergebnis des Treffens, das hinter verschlossenen Türen stattfand, wurde inzwischen bekannt. Patria Nueva Sociedad wollen sich als Partei einschreiben, um an Wahlen teilnehmen zu können.

KASTEN:
Zum Nazi-Treffen eingeladene Organisationen:
Partido Nuevo Triunfo (Argentinien), Juventud Nacionalista Socialista (Argentinien), Frente Nacionalsocialista (Ecuador), Proyecto Colombia 88 (P.88, Kolumbien), Partido Nueva Sociedad Venezolana (Venezuela), Movimiento Nueva Guardia Española (Spanien), Frente Nacionalista Socialista (Peru), Movimiento Nacional Socialista (Bolivia), Movimiento Zapatista Chiapaneco (Mexico), Movimiento Socialista Nacional (Paraguay), Movimiento Integralista Brasileño (Brasilien), Partido por la Libertad (Österreich)… und weitere Organisationen, die bisher noch keine politische Kraft in ihren Ländern darstellen und nun eine gemeinsame Strategie suchen wollen.

Für jede Droge das richtige Klima

Die ganzen Kokasträucher gehen mir kaputt,“ klagt Israel Lasso mit sorgenvoller Miene. Mit einem Ruck reißt er einen blattlosen Strauch aus der Erde. „Gucken Sie her,“ erklärt er, „die Pflanzen sterben von der Wurzel her ab. Diese Pflanze wirft nichts mehr ab. Na ja, so schlecht ist das gar nicht, dann können wir hier Kaffee pflanzen.“ Der rüstige Mittfünfziger hat offenbar genaue Vorstellungen von dem, was ausländische BesucherInnen hören wollen. Schließlich bekommt er Geld aus einem Entwicklungshilfeprojekt zur Förderung des Anbaus und der Vermarktung von Biokaffee in Drogenanbaugebieten. Das mit dem Kokaanbau ginge sowieso zu Ende, fügt er hinzu. Doch je weiter wir auf seiner Finca vordringen, die sich auf beiden Seiten eines Bächleins mit dem Namen Río Capitanes erstreckt, desto unübersehbarer werden die Kokasträucher. Das intensive gelbliche Grün ihrer Blätter, das sich deutlich vom Dunkelgrün der Kaffeestauden abhebt, verleiht ihnen ein recht gesundes Aussehen.
Doch Israel Lasso lässt sich nicht beirren und weicht Fragen nach der Kokaproduktion zunächst aus. „Außer Kaffee pflanze ich hier vor allem Yucca und Bananen, die ich am Wochenende auf dem Markt verkaufe.“ Doch im Beisein von Jorge Torres, dem Projektverantwortlichen aus der Departementhauptstadt Popayán, taut der Campesino langsam auf. „Koka hat uns hier immer geholfen“, stellt er schließlich inmitten seiner kombinierten Kaffee-Koka-Felder fest, „man kann sie alle drei Monate ernten.“ Verschmitzt blicken seine lebendigen Augen aus dem sonnengegerbten Gesicht, als er erklärt, seinen Hof nun langsam umzustellen. „Für die Sträucher, die eingehen, pflanze ich nicht mehr so viel Koka nach.“
Israel Lassos Fünf-Hektar-Finca Los Naranjitos liegt im abgelegenen Südwesten des südkolumbianischen Departements Cauca. Die asphaltierte Abzweigung von der Panamericana nach Westen endet an der Brücke über den Río Patía, dann gibt es nur noch Schotterpisten. Vom Städtchen Balboa steigt der Weg steil bergauf zur Cordillera Occidental. Die Bergkuppen sind in dichte Wolken gehüllt. Zwischen Schwaden von Bodennebel sind immer wieder frisch gehackte Felder zu erkennen. Saftiggrüne Setzlinge heben sich von der dunkelbraunen Erde ab, fein säuberlich in Reih und Glied angeordnet. Schlafmohn, der Rohstoff für Heroin, gedeiht am besten in höheren Lagen. Fast zwei Stunden Holperstrecke weiter und in erheblich tieferen Lagen liegt der Flecken La Planada. Ein Trampelpfad führt steil von der Schotterstraße bergab. Nach knapp zehnminütigem Fußmarsch endet er auf Lassos Finca. Im Hof trocknen beigebraune Kaffeebohnen in der Sonne, ein Hund und einzelne Hühner laufen herum.
Zeit seines Lebens hat Israel Lasso auf der kleinen Finca gelebt und gearbeitet. Seit mehr als zwanzig Jahren erntet er Kokablätter, den Rohstoff zur Herstellung von Kokain. Er war einer der ersten Campesinos/as in diesem bergigen Teil Kolumbiens, der sich 1994 dem Biokaffeeprojekt der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) anschloss. Gemeinsam mit den nationalen Kaffeepflanzerorganisationen beziehungsweise deren regionalen Ablegern sowie dem größten deutschen Kaffeeröster, der Firma Kraft-Jacobs-Suchard aus Bremen, will die GTZ in den drei wichtigsten Drogenproduktionsländern Lateinamerikas, in Kolumbien, Peru und Bolivien, einen Beitrag zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen leisten, die zum Anbau der illegalen Drogen führen. Biologischer Kaffee verspricht den KleinbäuerInnen höhere Gewinne als der bisherige konventionelle Anbau der braunen Bohnen.

Drogenanbau nicht verboten

Das GTZ-Vorhaben unterscheidet sich dabei von früheren Aktivitäten des Drogenbekämpfungsprogramms UNDCP der Vereinten Nationen, das in der Vergangenheit auch im Departement Cauca Anwendung gefunden hatte. Dessen Erfolg fällt im übrigen sehr bescheiden aus. Das rigide, paternalistische und mit erheblichen Finanzmitteln ausgestattete UN-Projekt hat den Drogenanbau nicht merklich zurückgedrängt, aber bei vielen BäuerInnen eine gewisse Anspruchshaltung hinterlassen, mit der auch die GTZ-MitarbeiterInnen anfangs zu kämpfen hatten. UNDCP arbeitet ausschließlich mit BäuerInnen zusammen, die keine Drogen mehr produzieren; teilweise mussten die Koka- oder Mohnpflanzungen eigenhändig unter den Augen der UN-VertreterInnen vernichtet werden. Die GTZ macht dagegen keine konkreten Vorgaben zur Aufteilung des Landes. Jeder kann selbst festlegen, zu welchem Anteil er sein Land mit organischem Kaffee bebaut. Die Fortsetzung des Drogenanbaus ist kein Ausschlusskriterium, die meisten beteiligten KleinbäuerInnen widmen weiterhin ein viertel bis ein drittel Hektar dem Drogenanbau.
Neben Israel Lasso beteiligen sich im Departement Cauca 169 weitere Campesinos/as an dem Biokaffee-Projekt. Nur wenige sind bisher abgesprungen, die meisten bleiben bei der Stange. Nach einer Umstellungszeit von zwei bis drei Jahren bietet organischer Kaffee eine vergleichsweise stabile wirtschaftliche Alternative. Pro Kilo können sie einen Aufpreis von rund einer Mark gegenüber herkömmlich gezogenem Kaffee kassieren. Während früher mit extensivem Anbau nur 700 DM pro Hektar zu verdienen waren, lässt sich der Gewinn mit biologischen Verfahren auf etwa 3.200 DM erhöhen. Das liegt im wesentlichen an der deutlichen Intensivierung der Landwirtschaft, die mit der Umstellung der Produktionsweise verbunden ist. Die Biokaffee-Campesinos/as können den Hektarertrag auf etwa 1.000 Kilogramm Rohkaffee vervierfachen. Trotzdem sind Einkommenseinbußen unvermeidlich, ein abrupter Verzicht auf den Drogenanbau ist von niemandem zu erwarten. Eine einzige Kokaernte auf derselben Fläche bringt schließlich 1.200 DM ein, und der anspruchslose und widerstandsfähige Kokastrauch wirft jedes Jahr bis zu vier Ernten ab. Bei Schlafmohn liegt der Profit noch höher. Bis zu 17.000 DM im Jahr kann ein/e BäuerIn pro Hektar erwirtschaften. Auch dafür sind recht hohe Anfangsinvestitionen erforderlich, die nicht selten von den DrogenhändlerInnen vorfinanziert werden. Viele Campesinos/as begeben sich damit in Abhängigkeit von den lokalen Mafiabossen.

Plazet der Guerilla

In allen drei Andenländern liegen die Projektgebiete in abgelegenen Regionen, in Kolumbien und in Peru mit starker Präsenz von Guerillaorganisationen. Im Cauca sind es in erster Linie die Revolutionären Streitkräfte FARC, die größte und älteste Guerilla des Kontinents, im peruanischen Villa Rica die Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru (MRTA), die Ende 1997 durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima für weltweites Aufsehen sorgte. Die Organisatoren des Biokaffeeprojektes mussten daher nicht nur die Zustimmung der jeweiligen Regierungen einholen. Für die konkrete Arbeit vor Ort hatten sie sich auch der Akzeptanz durch die aufständischen Gruppen zu versichern. Schwierigkeiten gab es bisher nirgends, die Entwicklungshilfe für die Landbevölkerung in den besonders marginalisierten Gebieten ist offenbar im Sinne der Guerilla.
Gefahr droht eher von anderer Seite. „Viele Leute hier kaufen sich Gewehre, Flinten und Munition,“ berichtet Arnulfo Quinayas. Er ist Präsident der BäuerInnenkooperative Nuevo Futuro in San Antonio, einem zwischen Balboa und La Planada gelegenen Dorf im Südwesten von Cauca, in dem Opiummohn vortrefflich gedeiht. „Sie verdienen mit Koka das schnelle Geld, und dann arbeiten sie nicht mehr, sondern gucken nur, wo sie wem etwas stehlen können. Manche Fahrer wollen schon keinen Kaffee mehr transportieren, weil man ihnen die gesamte Ladung gestohlen hat,“ erzählt er weiter.

Der Mensch lebt nicht von Koka allein

Immer mehr BäuerInnen spüren noch eine andere Folgeerscheinung des steigenden Drogenanbaus. Die hohen kurzfristigen Gewinne haben etliche Campesinos/as dazu gebracht, einen immer größeren Anteil ihres Bodens dem Drogenanbau zu widmen und die Erzeugung lebensnotwendiger Nahrungsmittel zu vernachlässigen. Nun merken die traditionell von der Selbstversorgung lebenden KleinbäuerInnen, dass die Beschaffung von Lebensmitteln nicht nur aufwendig ist, sondern auch einen wachsenden Teil ihrer Einnahmen aus der Drogenproduktion auffrisst. Mit der erneuten Hinwendung zu einem traditionellen Anbauprodukt, nun mit neuen Methoden, besteht die Chance, dass sich die Campesinos/as in den kolumbianischen, peruanischen und bolivianischen Kaffeegebieten auch wieder verstärkt der landwirtschaftlichen Produktion von Grundnahrungsmitteln zuwenden. Und sie können ihre Kenntnisse im ökologischen Kaffeeanbau auf andere Pflanzen wie Mais, Maniok und Bananen anwenden.
Beim Umstieg auf legale Erzeugnisse stehen die Campesinos/as in den Andenländern ziemlich alleine da. Trotz vollmundiger Erklärungen der jeweiligen Regierungen und insbesondere des ehrgeizigen ‘Plan Colombia’ von Präsident Andrés Pastrana hat bisher keines der drei Projektländer ernsthafte Bemühungen an den Tag gelegt, die sozialen Ursachen für den Anbau „illegaler Produkte“ ernsthaft zu bekämpfen. Der Staat bietet bisher keine legalen Alternativen. In den abgelegenen Regionen fehlt es an landwirtschaftlicher Beratung, technischer Unterstützung und bezahlbaren Krediten. Und am nötigen Kleingeld. Der Vizepräsident der Nationaluniversität in Bogotá und renommierte Soziologe Alejo Vargas schätzt die Kosten eines Substitutionsprogramms für Koka allein im kolumbianischen Amazonien mit seiner Anbaufläche von rund 100.000 Hektar auf nicht weniger als 10 Milliarden US-Dollar. „Das überfordert schlichtweg die Kapazität des kolumbianischen Staates,“ beschreibt er das Dilemma, „und braucht eine Vorbereitungszeit von mindestens zehn Jahren.“
In den allermeisten Hochburgen des Drogenanbaus ist der Staat kaum präsent, bietet kaum Infrastruktur und seinen BürgerInnen nur wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Dennoch tauchen Polizei und Militär in den betroffenen Regionen sporadisch auf. Wegen ihres oftmals unberechenbaren und brutalen Vorgehens sind sie bei der Landbevölkerung gefürchtet. „Solange wir Koka anbauen, kann jederzeit die Armee oder die Drogenpolizei kommen und uns Ärger machen,“ meint Arnulfo Quinayas von der Kooperative Nuevo Futuro in San Antonio. Drogenanbauende Campesinos/as müssen jederzeit mit Repressalien rechnen. Besonders gefürchtet sind die Giftsprühaktionen der kolumbianischen Antidrogenpolizei und der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA. Der chemische Krieg hat vor allem in Kolumbien schon eine lange Tradition. Er begann in den 70er Jahren gegen die Marihuanapflanzungen in der Nähe der Karibikküste. Auf annähernd 30.000 Hektar wurden damals zwei Drittel des auf 10.000 Tonnen geschätzten jährlichen US-Bedarfs geerntet. Die chemische Keule – anfangs hochgiftiges Paraquat, später Glyfosate – konnte die Ausfuhr dieser Droge jedoch nur kurzfristig senken.

Chemischer Luftkrieg mit ökologischen Folgen

Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre lag der Schwerpunkt der kolumbianischen Drogenmafia auf der Verarbeitung von Kokapaste und dem Vertrieb in die Industriestaaten. Kolumbianische Zwischenhändler lieferten vier Fünftel des Kokains für den US-Markt. Der Rohstoff stammte damals aus Peru und Bolivien, die jedes Jahr jeweils 20.000 Tonnen Kokablätter und 50 bis 80 Tonnen „pasta básica“ erzeugten. Mittlerweile hat sich Kolumbien vom wichtigsten Dealer zum größten Produzenten von Koka und Schlafmohn gemausert. Seit 1981 vervierfachte sich die Anbaufläche auf rund 100.000 Hektar. Dabei wurden allein in den letzten fünf Jahren 150.000 Hektar Drogenäcker durch Herbizideinsatz vernichtet. Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Giftsprühaktionen trieben die Bauern in unerschlossene Landesteile, wo sie noch weniger Möglichkeiten hatten, Käufer für ihre legalen Erzeugnisse zu finden. Einziger Ausweg: Sie mussten Drogen anbauen, um zu überleben. Viele Experten räumen mittlerweile ein, dass die Strategie der Drogenvernichtung nicht aufgeht. Gouverneur Hernando González Villamizar beklagte jüngst, nach siebenjährigem Gifteinsatz gäbe es in seinem Departement Guaviare mehr Koka denn je.
Derweil nehmen die ökologischen Folgen erschreckende Ausmaße an. Laut kolumbianischen Experten sind bereits 150.000 Hektar Regenwald vergiftet, und wenn es so weitergeht, sind bis 2015 über zwei Drittel des kolumbianischen Urwaldes in Ödland verwandelt. Pro vernichtetem Hektar Mohn sterben zweieinhalb und bei Koka sogar vier Hektar Wald. Diesen Kollateralschäden und der offensichtlichen Erfolglosigkeit zum Trotz halten die Hardliner unbeirrbar an ihrer Strategie fest. Bescheiden machen sich die 40 Millionen für die Förderung alternativer Anbauprodukte gegen das 2,5-Milliarden-Dollar-Budget aus, das die USA in den kommenden Jahren unter anderem in den kolumbianischen Luftkampf gegen DrogenpflanzerInnen pumpen.

Guerilla = Drogen

Der Anti-Narco-Feldzug der USA ist untrennbar mit der Aufstandsbekämpfung verbunden. Mit dem Feindbild, der sogenannten Narcoguerilla, das die enge Verbindung der rechten Paramilitärs zur Drogenmafia bewusst verschweigt, werden zwei Probleme zu einem Gegner zusammengefasst, ganz im Sinne der US-Doktrin der Nationalen Sicherheit. Die Fuerzas Revolucionarias de Colombia (FARC), die größte und älteste Guerilla des Landes, kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Kokaanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus dem Norden ist die Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens, die Präsident Pastrana Anfang 1999 für die FARC räumen ließ, um den Weg zu Friedensverhandlungen frei zu machen. Die USA malen seither den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports an die Wand.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widerspricht indes solchen Behauptungen. Die Kokaproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli 1999. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 KleinbäuerInnn in der Entspannungszone mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen.
Das Geld für die UNO-Drogenprogramme stammt überwiegend aus den europäischen Industrieländern. Nachdem vor allem der Heroinmissbrauch dort zunehmende gesundheitspolitische Bedeutung bekam, haben sich die Westeuropäer im letzten Jahrzehnt der Suchtmittelbekämpfung in den Erzeugerländern angenommen. Im Unterschied zu den USA, die auf eine repressive Strategie setzen, verfolgt die europäische Drogenbekämpfung die Förderung der alternativen und vor allem der integralen Entwicklung der Andenländer. Die Drogenproduktion ist nur durch die Überwindung ihrer sozioökonomischen Ursachen effektiv zurückzudrängen. Hauptgrund für den Drogenanbau sind die Unterentwicklung und fehlende Absatzmöglichkeiten für andere Produkte auf dem Weltmarkt. Solange ein Bauer nicht vom Verkauf seiner legalen Erzeugnisse leben kann, wird er weiter Drogen anbauen.

Bescheidene Alternative

Das Engagement sowohl der Europäischen Union als auch der einzelnen europäischen Länder zielt daher auf die integrale Entwicklungsförderung in den Erzeugerländern ab. Dazu gehörte die Begünstigungsklausel für Importe aus Kolumbien, Bolivien, Ecuador und Peru aus dem Jahr 1990. Gleichzeitig begannen die Mitgliedsstaaten der EU, die legalen Wirtschaftszweige in den Andenländern zu unterstützen. Das ist jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die konkrete Wirkung der maximal 12 Millionen Dollar, die Kolumbien jährlich von der EU bekommt, sind zu vernachlässigen. Sie zeigen allerdings, dass Europa gewillt ist, sozioökonomische Unterstützung an Stelle der Repression zu setzen.
Damit das Konzept der „Alternativen Entwicklung“ aufgeht, muss allerdings in großem Umfang und bei stabilen Preisen der Absatz der Drogenersatzprodukte auf dem Weltmarkt gewährleistet sein. Das ist in der Vergangenheit nur in Einzelfällen und kurzfristig gelungen. Auch beim Biokaffeeprojekt der GTZ blieben die Erfolge bislang hinter den Erwartungen zurück. Bisher ist es denn auch eher als Versuch zu werten, ob sich mit einem derartigen Ansatz das Drogenproblem auf der Produzentenseite überhaupt beeinflussen lässt. Die Projektkosten von 5,4 Millionen Mark werden überwiegend aus der „Drogenreserve“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgebracht, Kraft-Jacobs-Suchard steuert 250.000 Mark bei. Ziel ist es, die beteiligten Campesinos/as so weit zu beraten und zu unterstützen, dass ihr Landbau die Richtlinien der Europäischen Union (EU) erfüllt. Nur dann können sie ihre braunen Bohnen hierzulande als Ökokaffee verkaufen.

Private Projektpartnerschaft oder Geschäft?

Für den Projekterfolg und vor allem für das Überleben der beteiligten Campesinos/as ist entscheidend, ob und in welchem Ausmaß sich die Vermarktung von Biokaffee konsolidieren lässt. Die von den InitiatorInnen erhoffte Vermarktung über die beteiligte Kaffeerösterei Jacobs ist praktisch nicht erfolgt. Nachdem das private Partnerunternehmen lange Zeit nicht eine einzige Bohne aus dem Projekt abnahm, kaufte es nun über die Kaffeebörse ganze zwei Container des sogenannten Umstellungskaffees aus Villa Rica.
Für Kraft-Jacobs-Suchard ist eine andere Entwicklung von wesentlich größeren Interesse, die aus dem Biokaffee-Projekt hervorgegangen ist. In Lima baute die Cámara Peruana del Café mit deutscher Hilfe eine Qualitätsprüfstelle für Rohkaffee auf. Dr. Rainer Becker, Jacobs-Mitarbeiter in Diensten der GTZ, sieht darin die nachhaltigste Wirkung des Biokaffeeprojektes überhaupt. Mit Hilfe des deutschen Kaffee-Experten, der die Projekte in Kolumbien und Peru seit zwei Jahren berät, bemüht sich die dortige Kaffeewirtschaft um die Ausdehnung ihrer Marktanteile und ihrer Einnahmen. „Peruanischer Kaffee erfüllt die Voraussetzungen für eine gute Qualität,“ beschreibt Becker das Dilemma des Andenstaates, „aber er hat mit einem schlechten Image zu kämpfen, das ihm regelmäßig an der Kaffeebörse einen Preisabschlag von 50 bis 65 Pfennig pro Kilo gegenüber dem Weltmarktpreis beschert.“ Allein im vergangenen Jahr sind Peru dadurch rund 20 Millionen US-Dollar an Exporteinnahmen durch die Lappen gegangen. Durch anhaltende Qualitätsverbesserung wollen die Peruaner die internationalen KaffeerösterInnen und -importeurInnen davon überzeugen, dass ihr Produkt besser ist als sein Ruf. Jahr für Jahr beantragen sie die Höherbewertung ihrer braunen Bohnen.

Biokaffee mit geringen Marktchancen

Bei dieser Form der Projektfortsetzung geht es nicht mehr um Biokaffee, sondern um die Qualität peruanischen Kaffees schlechthin. Organisch angebautem Kaffee räumt man bei Jacobs und vor allem bei den US-amerikanischen KonzernherrInnen ohnehin nur minimale Marktchancen ein. Dr. Beckers Fazit der Kooperation von Jacobs mit der GTZ und den nationalen Verbänden der KaffeepflanzerInnen fällt denn auch eher ernüchternd aus: „Der Biokaffee-Ansatz ist wenig erfolgversprechend.“ Der oftmals qualitativ schlechtere Kaffee aus ökologischer Produktion hat nach seiner Auffassung wenig Chancen auf dem internationalen Markt, wo eine wachsende Zahl von Abnehmern hohe und vor allem stabile Qualität erwartet. Die Mängel des weltweit angebotenen organischen Kaffees, so argumentiert man hingegen bei der GTZ, ergäben sich allerdings aus der häufigen Vermischung von sozial-karitativen Ansätzen mit der Förderung ökologischer Produktionsweisen. Das führe meistens dazu, dass Ökokaffee aus besonders rückständigen Regionen bezogen wird, wo die Bedingungen zur Erzeugung hochwertiger Produkte nicht gegeben sind. Für das GTZ-geförderte Biokaffeeprojekt träfe dies aber nicht zu, da in allen drei Ländern klassische Kaffeeanbaugebiete mit hoher Qualität ausgewählt worden seien.
Die Vermarktung beschränkt sich dabei bis heute überwiegend auf alternative Handelsorganisationen wie die GEPA, die hierzulande Café Aymara aus Villa Rica vertreibt, oder die schwedische Firma Gevalia. Den Biokaffee aus Kolumbien kauft im wesentlichen El Puente in Deutschland, wo er unter dem Markennamen der beteiligten Kooperative Nuevo Futuro oder Colombia Grande von der Firma Ökotopia erhältlich ist. Insgesamt ist es bisher aber kaum gelungen, stabile Marktverbindungen für ökologischen Kaffee aufzubauen. Für Privatunternehmen, die streng im Profitinteresse arbeiten, gibt es offenbar nicht genügend Anreize, in größerem Stil einzusteigen. Die beteiligten BäuerInnen bleiben dennoch zuversichtlich: „Wir haben gelernt, dass die chemischen Substanzen schädlich sind für die Gesundheit und auch für unsere Umwelt,“ meint Arnulfo Quinayas von der Genossenschaft Nuevo Futuro im Cauca. „Außerdem konnten wir mit Hilfe der GTZ einen Weg aufbauen, um unseren Kaffee in andere Länder zu exportieren.“

Trügerische Hoffnung auf den Greenback

Ecuadors Präsident Noboa setzt fort, was seinem Vorgänger Mahuad mit den Job gekostet hat. Indígenas waren im Verbund mit Militärs gegen Mahuads Wirtschaftsprogramm Sturm gelaufen und hatten ihn aus dem Amt gefegt. Ihr Hauptkritikpunkt: Mahuads Dollarisierungsstrategie. Mit Strategie hatten Mahuads Pläne jedoch genauso wenig zu tun, wie das, was sein Nachfolger Noboa jetzt umsetzt. Noboa ersetzt den Sucre und greift damit zur Radikalkur: Eine Währung die es nicht mehr gibt, kann auch nicht mehr an Wert verlieren, so das simple Kalkül. So weit, so richtig, nur wo ist die Strategie? Ecuador vollzieht nur formal und radikal das, was in Lateinamerika ohnehin schon gang und gäbe ist: die Dollarisierung der Wirtschaft. Dollarisierung ist dabei der Ausdruck mangelnder Akzeptanz der heimischen Währungen. Die Folge: Der Dollar übernimmt in Lateinamerika schon seit Jahrzehnten sukzessive die Geldfunktionen der heimischen Währungen, weil kaum jemand Vertrauen in deren Stabilität setzt. Kein langfristiger Kredit wird auf der Basis heimischer Währung abgeschlossen, schließlich lässt sich die Wertentwicklung der Währung langfristig nicht annähernd kalkulieren. Selbst in Argentinien, in dem der Peso per Gesetz seit 1991 an den Dollar gebunden ist, lauten immer noch weit über die Hälfte aller Kredit- und Mietverträge auf den US-Dollar, das Vertrauen in den Peso ist immer noch fragil. Zu sehr ist die Hyperinflation den ArgentinierInnen im Gedächtnis, die in dem nur für Insider zu verstehenden Witz gipfelte: Warum ist Taxi fahren in Argentinien billiger als Busfahren? Ganz einfach, weil beim Taxifahren am Ende der Fahrt gezahlt wird, beim Busfahren dagegen vor Fahrtantritt.

Flucht in den Dollar

Dass Privatleute in Lateinamerika in den Dollar flüchten, um sich gegen Vermögensverluste zu wappnen, wird seit Jahrzehnten als das Phänomen der Kapitalflucht beschrieben. Ecuador macht nun auf staatlicher Ebene letztlich dasselbe. Das Land flüchtet in den Dollar. Seit dem 1. April gelten für sechs Monate der Sucre und der US-Dollar parallel: Der Wechselkurs wird auf 25.000 zu eins festgelegt. Danach gilt nur noch der Dollar und die totale Dollarisierung ist komplett. Genauer gesagt: fast komplett. Denn Ecuador behält sich weiter die Münzprägung für den Bargeldumlauf vor. Damit hat das Land wenigstens noch einen Vorteil, den eine eigenständige Geldpolitik zu gewähren vermag: den Münzgewinn, der die Differenz zwischen Nominal- und Materialwert der Münzen markiert. Ansonsten verzichtet das Land auf eine nationale Geldpolitik. In früheren Zeiten wäre das undenkbar gewesen. In einer so genannten autonomen Geldpolitik wurde ein ganz entscheidendes Mittel gesehen, um den nationalen Entwicklungsbedürfnissen Rechnung zu tragen. Niedrige Zinsen, um Investitionen zu stimulieren, zum Beispiel. Oder Abwertungen, um die Exporte billiger und damit wettbewerbsfähiger zu machen. Das galt als Strategie, war aber letztlich nur einem Missverständnis über das Rätsel Geld geschuldet. Die Entwicklungsökonomen in der UN-Kommission für Lateinamerika und Karibik CEPAL um Raul Prebisch übersahen ebenso wie die IWF/Weltbank-Ökonomen schlicht und einfach, dass Geld mehr als ein Tauschmittel ist und einen Vermögenswert besitzt.

Kreditfunktion des Geldes

Die zentrale Geldfunktion liegt in seiner Funktion als Kredit. Kredit bedeutet nun aber, dass derjenige, der Vermögen zeitweise anderen überlässt, natürlich ein Interesse daran hat, dass er sein Vermögen nach Ablauf des Kreditvertrages nicht entwertet zurückbekommt. Dafür bedarf es einer Währungsstabilität, die gerade durch Abwertungen unterlaufen wird. Weiter wird mit niedrigen Realzinsen niemand motiviert, Geld in dieser Währung anzulegen. Und selbst wenn über Kapitalverkehrskontrollen die Flucht in höher verzinste Währungen erschwert und verteuert wird, bleibt immer noch die Möglichkeit der Flucht in Immobilien, dem so genannten Betongold. Auch das ein Phänomen, dass in Lateinamerika besonders in den Inflationszeiten gang und gäbe war. Übrigens mit dem aus geldpolitischer Sicht unerwünschten Nebeneffekt einer weiter angeheizten Inflation über steigende Immobilienpreise. Die Folge waren zerrüttete Geldwirtschaften und ein gescheitertes Entwicklungsmodell der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI).

Globalisierte Geldpolitik

Inzwischen gilt als unumstritten, dass ohne Stabilisierung des Geldwertes ökonomisch gar nichts geht. Nur für Entwicklungsländer geht auch mit der Stabilisierung meist nicht viel. Ecuador gibt nun die theoretische Option auf eine autonome Geldpolitik auf, die praktisch ohnehin nicht existiert. Selbst die Europäische Zentralbank (EZB) reagiert nachgerade panisch auf jede Zinserhöhung von US-Zentralbankchef Greenspan. Und dass, obwohl in Europa ein anderer Konjunkturverlauf herrscht als in den USA, und deswegen theoretisch auch eine andere Zinspolitik angezeigt wäre. Praktisch fällt der Euro gegenüber dem US-Dollar und darauf reagiert die EZB zunehmend nervöser, obwohl Inflationsgefahren in Europa zur Zeit nur ein Visionär wie Wim Duisenberg zu erkennen vermag. Wenn schon ein so hoch integrierter Wirtschaftsraum wie die EU, die mehr als 60 Prozent ihres Handels innerhalb der Gemeinschaft abwickelt, keinen Spielraum für eine europäische Zinspolitik mehr sieht, wie sollte sich dann ein Entwicklungsland noch erdreisten, eine an nationalen Bedürfnissen ausgerichtete Zinspolitik zu betreiben.
Ecuador macht aus der Not schlicht eine Tugend, nur entwickeln wird es sich dadurch genauso wenig wie zuvor. Denn die US-amerikanische Zentralbank FED wird bei ihrer Zinspolitik sicher keine Rücksicht auf etwaige ecuadorianische Wünsche nehmen, warum auch. Ecuadorianische Banken werden keine direkte Refinanzierungsmöglichkeit bei der FED bekommen und müssen sich ihre Dollars, wie auch jetzt, zu höheren Zinsen auf dem internationalen Kapitalmarkt besorgen. Höhere Zinsen erschweren tendenziell immer Investitionen und damit Entwicklung. Bisher war das Zinsniveau in Ecuador erheblich höher als in den USA, weil bei einer schwächeren Währung nur höhere Zinsen Vermögensbesitzer überhaupt dazu bewegen können, in diese Währung zu investieren – bis zum ersten Anzeichen von Schwäche. Dann wird das Kapital abgezogen, wofür die von Mexiko ausgehende Tequila-Krise 94/95 und der sich von Brasilien ausbreitende Caipirinha-Effekt 1999 nur die prominentesten Beispiele sind. Auch nach der Aufgabe des Sucre wird das Zinsniveau in Ecuador höher als in den USA liegen, was die Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt. Theoretisch. Praktische Entwicklungsmöglichkeiten erforderten ohnehin die Bereitschaft der Industrieländer, den Entwicklungsländern entsprechenden Spielraum einzuräumen. Das ist theoretisch sehr wohl möglich und es gibt sogar ein historisches Vorbild: Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 für die Bundesrepublik Deutschland. Obwohl Deutschland trotz dem verlorenem Krieg beileibe kein Entwicklungsland war, erhielt es geradezu traumhafte Entwicklungsbedingungen eingeräumt: Der Schuldendienst wurde auf maximal 5 Prozent der Exporterlöse begrenzt und war an die Bedingung von Handelsbilanzüberschüssen geknüpft, also zahlbar aus Außenhandelsgewinnen. Die meisten Entwicklungsländer fahren aus dem Außenhandel fortwährend Verluste ein – nicht zuletzt wegen der Protektion der Industrieländer –, die sie mit steigender Verschuldung bezahlen. Trotzdem werden 25 Prozent der Exporterlöse als Schuldendienst von der Weltbank als nachhaltig angesehen. Die Privilegien für Deutschland forderte damals John Maynard Keynes mit dem Verweis auf den Versailler Vertrag ein: Wenn man Deutschland keine Chance gibt, dann gibt es wieder Krieg. Dieses Drohpotential haben Entwicklungsländer wie Ecuador nicht zu bieten – da bleibt nur die Unterwerfung, um wenigstens Spekulationsattacken gegen die eigene Währung zu entgehen.

“Das erste Mal übernahmen Indígenas einen Teil der Staatsmacht“

In der Nacht zum 22. Januar haben Sie, als Jamil Mahuad nach tagelangen Protesten der indigenen Bevölkerung von seinem Präsidentenamt zurücktrat, zusammen mit dem Oberkommandierenden des Heeres, General Carlos Mendoza und dem früheren Richter am Obersten Gerichtshof, Carlos Solorzano, für wenige Stunden die Geschicke ihres Landes bestimmt. Am folgenden Tag wurde die Macht dem Vizepräsidenten Gustavo Noboa übergeben, der trotz seiner Regierungsfunktion ursprünglich als Kontrahent Mahuads für die Präsidentschaft kandidierte. Wie bewerten Sie nun, einen Monat nach dem Aufstand das Resultat?

Die Geschehnisse vom 21. Januar haben für unser Land historische Bedeutung. Besonders wichtig war die große Solidarität und das Vertrauen, das uns dabei auf internationaler Ebene entgegengebracht wurde. Eine mindestens ebenso große Bedeutung hatte das Verhalten der staatlichen Sicherheitskräfte und der nicht unmittelbar beteiligten Teile der Bevölkerung. Auch von ihrer Seite war weitgehend positive Resonanz zu verzeichnen. In der Geschichte Lateinamerikas und der Welt war dies das einzige Mal, dass Indígenas einen Teil der Staatsmacht übernommen haben, um ihre Stimme gegen die soziale Benachteiligung zu erheben.

Trotzdem ist die Macht mit Gustavo Noboa wieder von der alten Elite übernommen worden. Was werden die weiteren Schritte der CONAIE sein?

Unser Hauptinteresse ist im Moment eine Volksbefragung durchzusetzen, in der über die Auflösung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofs und vor allem über die Koppelung des Sucre (Landeswährung in Ecuador) an den US-Dollar entschieden werden soll. Um die Volksbefragung zusammen mit den Gemeindewahlen im Mai durchführen zu können, müssen wir bis zum 6. April 605.000 Unterschriften sammeln. Wir rechnen in Anbetracht der Stimmung unter der gesamten Bevölkerung – nicht nur dem indigenen Teil – jedoch damit, in den kommenden Wochen mehrere Millionen Unterschriften zusammenzubekommen. Die CONAIE arbeitet dabei mit einem breiten Bündnis sozialer Organisationen des Landes zusammen.

Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen den Indígenaorganisationen und der Regierung generell?

Zunächst hat es keine Gespräche zwischen uns und der Regierung Noboa gegeben. Noboa bot uns erst für den 16. Februar ein Treffen an. Bei der Zusammenkunft mit ihm haben wir die derzeitige Situation und die ökonomischen Probleme des Landes analysiert und diskutiert. Es war eher ein Sondierungsgespräch, in dem wir unsere Standpunkte ausgetauscht haben. Seitens der CONAIE haben wir erneut unsere Bereitschaft demonstriert, das Land zu positiven Veränderungen zu führen. Das haben wir auch während der Gespräche mit dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) versucht zu vermitteln. Alle diese Gespräche und Kundgebungen im ganzen Land dienen dazu, den Menschen die Probleme des Landes zu verdeutlichen. Das ist vor allem in Anbetracht dessen nötig, dass im In- und Ausland eine große Unsicherheit besteht, sich über das, was am 21. Januar geschehen ist, eine Bild zu machen. Vor allen durch die Medien wurde die Meinung verbreitet, es habe sich um einen gewaltsamen Staatsstreich gehandelt. Tatsache ist jedoch, dass es ein historischer und patriotischer Aufstand des ecuadorianischen Volkes war, das seine Interessen verteidigt hat.

Sie sagen, es haben bisher (bis auf einen Positionsaustausch am 16. Februar) noch keine Gespräche mit der Regierung stattgefunden. In Anbetracht dessen, dass Sie an Gustavo Noboas Machtübernahme einen entschiedenen Anteil hatten, ist das doch verwunderlich. Wie stehen Sie zu dem neuen Präsidenten und welche Forderungen richtet die CONAIE an ihn?

Wir fordern von Noboa ein entschiedenes Handeln zu Gunsten des Landes ein. In den kommenden Wochen werden daher vor allem die Auslandsschulden, die Privatisierung und die Dollarisierung der ecuadorianischen Wirtschaft auf der Tagesordnung stehen. Vor dem Hintergrund der sozialen Veränderungen wird vor allem der Punkt der Privatisierung eine wichtige Rolle während der kommenden Gespräche einnehmen. Im Grunde richten wir an ihn die Forderungen, mit denen wir schon Mahuad entgegengetreten sind. Was wir anstreben, ist kein Regierungswechsel, sondern ein neues Ecuador, das sich grundlegend von den vergangenen Entwicklungen des Lande distanziert. Im Interesse der Bevölkerung müssen besonders im wirtschaftlichen Sektor Alternativen gesucht werden. Dabei werden wir uns nicht in die Regierung einbinden lassen. Das würde unserem Bestreben zuwiderlaufen, eine Demokratisierung einzuleiten und demokratische Strukturen zu etablieren, die dem sozialen Sektor zugute kommen.

Welche Einfluss haben in diesem Zusammenhang die Vereinigten Staaten auf die Entwicklung in Ecuador?

Wie auch in anderen Ländern verfolgen die Vereinigten Staaten in Ecuador weit reichende wirtschaftliche Interessen. Zudem unterhalten die Nordamerikaner einen militärischen Stützpunkt, um, wie sie es sagen, den Drogenhandel zu bekämpfen. Seit jeher sind in Ecuador große Bananen- und Ölgesellschaften ak-tiv. Die wirtschaftlichen Verbindungen sind sehr einseitig dominiert. Eine Bindung des Sucre an den US-Dollar würde diese Abhängigkeit noch verstärken.

Die in Quito erscheinende Wochenzeitschrift Vistazo hat nach dem 21. Januar geschrieben, die indigene Bewegung in Ecuador sei von ökologischen Gruppen aus den Vereinigten Staaten gesteuert. Die indigene Bevölkerung sei „im Parlament durch blonde Nordamerikaner vertreten“…

Das ist eine große Lüge. Die indigene Bewegung in Ecuador hat eine eigene Organisationsstruktur, die aufgebaut wurde, um in den neuen wirtschaftlichen Strukturen überleben zu können. Die großen Organisationen haben sich während der Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten gebildet und sind in diesem Bewusstsein des sozialen Kampfes gewachsen um einer sozialen Katastrophe für die indigene Bevölkerung, aber auch für das gesamte Land, entgegenzutreten. Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg lächerlich, zu behaupten, dass die Indígenabewegung von „ökologischen Gruppen aus dem Ausland“ gesteuert ist. Mit solchen Vorwürfen soll der Bewegung die Legitimität abgesprochen werden.

Nicht zuletzt bedeuten solche Diffamierungen aber auch, dass Indígenabewegungen zu einem ernst zu nehmenden Faktor geworden sind. Wir bewerten sie die Entwicklungen in Lateinamerika generell?

Dass Indígenabewegungen in fast jedem lateinamerikanischen Staat von Mexiko über Zentral- bis nach Südamerika bestehen, weist auf die wachsende politische Bedeutung dieser Bevölkerungsgruppen hin. In Ecuador können wir einen der höchsten Organisationsgrade verzeichnen. So verfügen die ethnischen Gruppen an der Küste und im Landesinneren durch gleiche Organisationsstrukturen über gute Verbindungen.

Unfaire Blumen

Noch kurz vor der Jahrtausendwende konnte die europäische Solidaritätsbewegung endlich mal einen vielbeachteten Erfolg feiern. Die in Deutschland vom Menschenrechtsnetzwerk FIAN, Brot für die Welt, Terre des Hommes und anderen Organisationen getragene Kampagne für ein Gütesiegel bei Schnittblumen erreichte einen Durchbruch bei ihren Verhandlungen mit ErzeugerInnen, ImporteurInnen und Gewerkschaften. Großgärtnereien, die sich verpflichten, bestimmte ökologische und soziale Standards einzuhalten und sich entsprechenden Kontrollen zu unterwerfen, können ihre Rosen, Nelken und Narzissen mit dem Siegel „Caring for Mankind and the Environment“ (Schutz für Mensch und Umwelt) kennzeichnen. Viele Blumenbetriebe in Kenia, Simbabwe und Ecuador sind bisher diesem Label beigetreten. Der größte Blumenproduzent Lateinamerikas, Kolumbien, ist indes noch meilenweit davon entfernt, die Bedingungen des Flower-Label-Programms zu erfüllen.

Blühendes Geschäft durch Billiglöhne

“Der Wettbewerbsvorteil der hiesigen Blumenproduktion liegt neben den günstigen klimatischen und geographischen Bedingungen auch in der billigen Arbeitskraft,“ gibt Miguel Camacho Segura, der Wirtschaftschef des Gärtnereiverbandes ASOCOLFLORES in Bogotá, unverhohlen zu. Die Branche boomt und hat sich in den vergangenen Jahren zum drittgrößten Wirtschaftssektor des südamerikanischen Landes gemausert. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg und die bisher fruchtlosen Friedensbemühungen von Präsident Andrés Pastrana konnten dem blühenden Geschäft ebenso wenig anhaben wie die allgemeine Rezession in Kolumbien. Die Investitionen in Gewächshäuser und Plantagen in der Hochebene um Bogotá, wo die meisten Blumenbetriebe angesiedelt sind, nehmen zu. Vor kurzem stieg sogar der kalifornische Konzern DOLE in die Branche ein und riss sich binnen weniger Monate die vier größten kolumbianischen Betriebe unter den Nagel. Auf einer Anbaufläche von knapp 800 Hektar produziert DOLE nun jährlich Exportrosen und -nelken im Wert von 160 Millionen Dollar.
Die Stärke der einheimischen BlumenexporteurInnen erklärt ASOCOLFLORES-Ökonom Camacho mit der bestehenden Infrastruktur und den guten Kenntnissen im komplizierten Geschäft. Wer gute Qualität zum richtigen Zeitpunkt bietet, kann mit hohen Gewinnspannen rechnen. Blumen gehören zu den Luxusgütern, die sich auch bei steigendem Preis absetzen lassen. Dabei unterliegt die Branche einer starken Saisonabhängigkeit. „Um den Valentinstag exportieren wir anstatt der üblichen 30.000 zweieinhalb Wochen lang 60.000 oder 70.000 Kartons pro Tag,“ berichtet Camacho. „Dabei verdoppelt oder verdreifacht sich nicht nur der Absatz, sondern auch die Preise steigen auf das Drei- bis Vierfache.“
Ein derartig brutales Saisongeschäft hat massive Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der etwa 70.000 unmittelbar in diesem Bereich Beschäftigten; indirekt leben noch einmal 50.000 vom blühenden Business: LKW-FahrerInnen, PackerInnen auf den Flughäfen, PilotInnen der Frachtflugzeuge. „Einerseits sind die ArbeiterInnen froh, überhaupt einen Job zu haben, denn die wirtschaftliche Lage ist schlecht,“ beschreibt Laura Rangel von der unabhängigen Organisation Cactus die Rahmenbedingungen. Sie verdienen den gesetzlichen Mindestlohn von 7.880 Pesos (4,25 Dollar) am Tag und bringen es im Monat gerade auf 200 Mark.
Dafür müssen sie sich viel gefallen lassen. „Sie werden als TölpelInnen beschimpft und haben keine Möglichkeit zu widersprechen oder sich zu beschweren,“ schildert Rangel die Lage in vielen Betrieben. „Sonst droht die Entlassung oder Diffamierung als Subversive.“ Jede Form der Organisation ihrer Beschäftigten betrachten die UnternehmerInnen mit größtem Argwohn.

Inhumane Arbeitsbedingungen

Häufig klagen die ArbeiterInnen über Leistungsdruck und starke körperliche Belastung. In der Spitzensaison sind zwölfstündige Arbeitstage keine Ausnahme. Wegen der gebückten Haltung bekommen viele Wirbelsäulen- und Gelenkprobleme. In einigen Betrieben werden rücksichtslos Chemikalien eingesetzt. Wie rasch nach dem Versprühen von Pflanzengiften die Arbeit weitergeht, liegt im Ermessen von UnternehmerInnen und TechnikerInnen. „Manchmal wird sogar Gift gesprüht, während die Leute auf Feldern oder in Gewächshäusern tätig sind,“ berichtet Laura Rangel. „Das ist zwar nicht mehr der Normalfall, kommt aber vor.“
Die Auswirkungen des Gifteinsatzes in der Blumenindustrie sind oft schwer zu belegen. Vergiftungsfälle werden vielfach von ÄrztInnen verkannt oder von Unternehmen bewusst verheimlicht. Eine Schädigung ungeborener Kinder durch Pflanzenschutzmittel ist indes unbestritten, ihre Ausprägung wird jedoch überbewertet. Der Arzt Mauricio Restrepo, der eng mit Cactus zusammenarbeitet, konnte unter knapp 9000 Beschäftigten der Blumenbranche einen nur geringen Anstieg der Fehl- und Frühgeburten sowie der angeborenen Missbildungen feststellen.
Das schlechte Image von kolumbianischen Schnittblumen setzt die Branche nun zunehmend unter Druck. Zwar geht der überwiegende Teil der Rosen, Nelken und Narzissen aus der Hochebene um Bogotá in die USA. Doch die Aufklärungs- und Boykottkampagnen der europäischen AbnehmerInnen und die wachsende Konkurrenz aus anderen Ländern zeigen zunehmend Wirkung. Mehrere Betriebe bemühen sich nun um die Zertifizierung als menschen- und umweltschonende ProduzentInnen. Dazu müssen sie existenzsichernde Löhne zahlen, Gewerkschaftsarbeit zulassen, Regelarbeitszeiten einhalten, ohne Kinderarbeit auskommen und gefährliche Chemikalien meiden. Die Betriebe, die sich freiwillig an die Bedingungen halten, haben sich zu dem Verband ECOFLOR zusammengeschlossen. Er liefert mittlerweile gut ein Drittel der kolumbianischen Blumen für den deutschen Markt.

“Es wird schwer sein, uns zu ignorieren“

Wie interpretieren Sie die Ergebnisse der beiden Wahlrunden von Ende letzten Jahres?

In Uruguay, wie auch im Rest Lateinamerikas, wurde das Stichwahlsystem eingeführt, um so den Sieg der Linken zu verhindern. Dasselbe ist vorher auch in Ecuador und Brasilien passiert. Trotz dieser Verfassungsänderung ist ein beeindruckendes Wachstum des Frente Amplio nicht zu leugnen. Er stellt jetzt die Mehrheit und ist zur wichtigsten politischen Kraft des Landes geworden. Wir haben in der ersten Runde einen großen Triumph erzielt, der uns eine starke Präsenz im Parlament ermöglicht. In der zweiten Runde hatten wir es dann mit einer Allianz der beiden traditionellen Parteien Colorados und Blancos aufzunehmen, die eine über 160 Jahre währende Geschichte haben und seitdem ununterbrochen an der Regierung waren. Dieses Bündnis aus Zweit- und Drittplaziertem der ersten Runde konnte uns dann in der Stichwahl mit einer Differenz von sieben Prozent schlagen.
Colorados und Blancos sind jetzt gezwungen, eine rechte Koalitionsregierung zu bilden, um so die parlamentarische Mehrheit aufrecht zu erhalten. Aber ich denke, daß das neoliberale Projekt in Uruguay in Frage gestellt worden ist. Das Land ist nicht mehr das, was es einmal war. Das wichtigste ist, daß wir einen überdurchschnittlichen Stimmenzuwachs im Landesinneren verzeichnen konnten, in Gegenden, wo wir vorher praktisch nicht existierten.
Es war aber ein sehr ungleicher Kampf, besonders wegen der ökonomischen Voraussetzungen. Der Einfluß der Regierung auf die Presse ist sehr groß, besonders während der Wahlkampagne wurde das deutlich. Unsere Medienpräsenz war in keiner Weise proportional zu unserer politischen Bedeutung. Trotz alledem kann man sagen, daß sich das politische Panorama radikal verändert hat. Es wird schwer sein, uns zu ignorieren.

Welche Fehler hat der Frente in der Wahlkampagne begangen?

Es wurden einige taktische Fehler gemacht, besonders der, vor der zweiten Runde nicht auf die Mobilisierung der Basis zu setzen, die uns bis dahin immer große Erfolge „von unten“ ermöglicht hat. Wir haben uns auf die Schlacht über die Medien eingelassen, die wir aber nur verlieren konnten.

Wie sieht es jetzt, nach der Niederlage, innerhalb des EP-FA aus?

Wir haben die Niederlage verarbeitet und schauen jetzt nach vorne. Die nächste Herausforderung wartet schon im Mai 2000 auf uns. Dann werden in landesweiten Regionalwahlen die Regierungen der 19 Departamentos neu bestimmt und wir hoffen weitere Fortschritte machen zu können, besonders im „Interior“, den 18 Provinzen außerhalb Montevideos, wo Erfolge bis vor kurzem undenkbar waren. Wir haben eine intensive Kampagne vor uns und das wird auf kürzere Sicht unsere Hauptbeschäftigung sein.

Was für eine Opposition wird der Frente Amplio in den nächsten fünf Jahren ausüben?

Einer unserer Sprecher hat bereits eine konstruktive Opposition angekündigt. Das bedeutet in unserem Fall, Alternativen anzubieten. Es ist absehbar, daß die neoliberale Politik fortgesetzt wird. Deswegen wird es einen prinzipiellen Reibungspunkt geben, was die sozial-ökonomische Linie des Landes angeht. Das legt von vornherein fest, daß unser Standpunkt strikt oppositionell sein wird. Es wäre unverzeihlich, wenn wir nicht weiterhin mit Klarheit für unsere Alternativen eintreten würden.

Teilen Sie die Ansicht vieler, daß der Sieg des FA im Jahr 2004 schon so gut wie sicher ist?

Oh nein. In der Politik gibt es keine Sicherheiten.

Viele Analytiker sind der Ansicht, daß das spektakuläre Wachstum des MLN/Tupamaros innerhalb des FA hauptsächlich Ihrer Präsenz in der
Kampagne zu verdanken ist. Was denken Sie?

Ich denke der Grund war vielmehr unser Richtungswechsel. Wir haben uns mehr unserer historischen Linie angenähert, die immer auf die Konstruktion von Alternativen ausgerichtet war. Das bedeutet eine weniger ideologische Opposition. Die Ideologie drückt sich durch das aus, was in der Realität vertreten wird. Die ideologische Debatte auf intellektuellem Niveau beschäftigt uns nicht. Uns beschäftigt vielmehr das, was der normale Bürger auf der Straße auch nachvollziehen kann.

Ein führender Colorado meinte vor kurzem, daß Sie der Politiker des Frente wären, der die beste Marketingstrategie hätte. Was ist Ihre Meinung dazu?

Marketing ist ein Wort, das von denen erfunden wurde. Wir vom MLN sind sehr darauf bedacht, unsere Persönlichkeit und unsere Kultur zu bewahren. Wahrscheinlich ist es das, was er unter Marketing versteht. In der Politik ist es sehr verbreitet, sich zu verstellen, sich zu verkleiden. Unseren wenig förmlichen Stil ist man in der Politik nicht gewohnt und er stellt einen Bruch mit den Normen dar.

Was führte eine ehemals militante Bewegung wie die Tupamaros dazu, heute Teil des parlamentarischen Systems zu sein?

Die historische Notwendigkeit. Jede andere Entscheidung hätte uns unter den spezifischen Umständen in Uruguay ins politische Abseits befördert. Wir hätten den Zug verpaßt, hätten wir uns nicht diesen Umständen angepaßt, denn unser Volk, das eine lange und aufreibende Diktatur hinter sich hat, hätte uns nicht verstanden. Wir wären damit von der Bevölkerung isoliert worden. Wir vertreten weiterhin eine revolutionäre Vision, auch innerhalb des Parlaments. Die Frage ist nicht, wo du kämpfst, sondern wofür. Das bedeutet, sich in das Feld des Gegners zu begeben, seine eigenen Waffen zu verwenden, sich ihm aber trotzdem nicht anzupassen.

Wurde diese Entscheidung von allen Mitgliedern der Bewegung getragen?

Die meisten haben es verstanden. Es hat sie einige Zeit gekostet, zehn Jahre.

Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, dem MLN beizutreten?

Es gab eine Zeit, da war ich jung. Ich gehörte einer Generation an, die erkannte, daß das Land große Veränderungen durchmachte. Uruguay war in den ersten 40, 50 Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als die Schweiz Amerikas bekannt. Es war, dank eines relativen ökonomischen Wohlstandes, ein ziemlich liberales Land, mit demselben Pro-Kopf-Einkommen wie Frankreich. Wir hatten den zehnthöchsten Lebensstandard der Welt. Es handelte sich um ein fortschrittliches Land, zumindest dem Anschein nach, mit einer großen Investition in die Bildung etc. Das unterschied uns vom Rest Lateinamerikas. Die Krise nach dem 2. Weltkrieg brachte uns der lateinamerikanischen Realität etwas näher. Die Regeln des Austauschs im Weltmarkt änderten sich. Wir waren gezwungen, unsere Rohstoffe billig zu verkaufen und zur selben Zeit zu hohen Preisen zu importieren. Die daraus resultierende Wirtschaftskrise beendete den sozialdemokratischen Staat. Die Regierungen wurden von mal zu mal autoritärer. Es gab damals ziemlich viele, die wie ich die Diktatur kommen sahen, obwohl wir weder wußten wann noch wie. Das war in der Zeit der kubanischen Revolution, die auf die progressive Jugend dieser Jahre einen bedeutenden Einfluß hatte. Wir fingen angesichts der drohenden Diktatur an, kleine bewaffnete Gruppen zu bilden, die die Funktion hatten, die traditionellen Formen des Volkswiderstandes, wie die Gewerkschaften, zu unterstützen, nicht etwa abzulösen. Dieser Prozeß führte letztendlich zur Gründung des MLN/Tupamaros. Wir hatten verschiedene Hintergründe, gehörten unterschiedlichen Parteien an, aber die Bildung einer solchen Organisation erforderte die Einführung einer gewissen Disziplin. Wir sind also eigentlich nie in die Bewegung eingetreten, wir haben sie vielmehr gegründet.

Können Sie einen Überblick über die militärische Kampagne der Tupamaros geben?

Es liegt da ein Irrtum vor, der von vielen begangen wird, die unsere Geschichte von außen betrachten. Anfangs waren wir keine Guerilla, sondern eine bewaffnete politische Bewegung. Das Leben des Menschen hat einen großen Wert in Uruguay. Unsere Aktionen waren also vor allen Dingen öffentliche Anklagen mit militärischem Charakter. Wir versuchten Handlungen zu vermeiden, die den Beigeschmack von Grausamkeit hätten haben können. Nachdem wir uns dann mit einer wachsenden Repression konfrontiert sahen, mußten wir natürlich harte Antworten geben. Ein Krieg entwickelt sich immer über eine wechselseitige Beziehung. Wir hatten mit einer Menge von Problemen zu kämpfen. Die Botschaft der kubanischen Revolution war, daß ein Triumph nur über eine „Landguerilla“ zu erreichen war, eine Strategie, die durch die natürlichen Voraussetzungen in Uruguay nicht umzusetzen war. Wir hatten also hier eine „Stadtguerilla“ aufzubauen, was alles andere als einfach war. Wir hatten gelernt, daß im von Nazi-Deutschland besetzten Europa auch ein jüdischer Widerstand innerhalb der Städte existiert hatte. Wir studierten auch die Erfahrungen, die im Algerien-Krieg und im Befreiungskampf in Zypern gemacht wurden. Aus all diesen historischen Ereignissen zogen wir unsere Schlüsse und wendeten das Gelernte in der Formierung unserer Organisation an, dem MLN/Tupamaros.

Wie reagierte das uruguayische Volk auf die Aktionen der Tupamaros?

Wir hatten natürlich eine Menge gegen uns. Logischerweise radikalisierte sich die politische Szene. Aber wir konnten einen Teil der Gesellschaft auf unsere Seite bringen, was es uns erlaubte, nach der militärischen Niederlage im Jahr 72 politisch weiter zu existieren, natürlich erst als das Jahrzehnt der Diktatur beendet war.

Wie kam es zu Ihrer Festnahme?

Ich wurde dreimal festgenommen. Zweimal konnte ich ausbrechen. Während einer Festnahme wurde ich angeschossen. Es war eine schwere Verletzung und ich konnte nur mit viel Glück in einem Militärhospital gerettet werden.

Wie erlebten Sie die Zeit im Gefängnis?

Ich war dort viele Jahre. Sie hatten mich in Einzelhaft, und ich wurde alle fünf, sechs Monate in eine andere Kaserne transportiert. Es waren harte Jahre.

Haben Sie es jemals bereut, diesen Weg gewählt zu haben?

Ich habe keine Zeit nach hinten zu schauen. Sicherlich habe ich viele Fehler begangen. Unsere Fehler waren kein Produkt der Böswilligkeit. Die Geschichte der Linken war es immer, mit jeder Niederlage Fortschritte zu machen. Nur aus der Niederlage kann man lernen. Die Siege betäuben.

Tragen Sie noch Haß in sich?

Dafür hab ich keine Zeit. Der Haß ist, genauso wie die Liebe, gefährlich, man verliert die Objektivität. Man kann Wut haben, aber Haß ist kein gutes Motiv, um zu kämpfen.

Wird das im Jahr 89 erlassene Amnestiegesetz, welches den Militärs völlige Straffreiheit garantiert, Konsequenzen haben, vergleichbar mit den Auseinandersetzungen, die derzeit in Chile zu beobachten sind?

Das sind ungelöste Probleme in Uruguay. Es wurde ein Plebiszit abgehalten, in dem das Volk, aus Angst vor einer neuen Diktatur, für die Amnestie gestimmt hat. Das ist eine tiefgreifende Entscheidung, die respektiert werden muß. Aber ein anderes Thema sind die Verschwundenen, deren Schicksal bis heute nicht aufgeklärt wurde. Das Wissen über unsere eigene Geschichte ist eine offene Rechnung. Man muß den Kampf aufrecht erhalten.

Was ist Ihre Meinung zum Fall Pinochet?

Pinochet hätte man in Chile den Prozeß machen müssen, das chilenische Volk hätte über ihn richten müssen. Einerseits ist es befriedigend zu wissen, daß es ihm an den Kragen geht. Andererseits bin ich aber nicht bereit, einem internationalen Tribunal diese Vollmacht auszusprechen. Das ist prinzipiell sehr gefährlich. Es bedeutet nämlich, daß die reicheren Länder sich das Recht herausnehmen können, über die ärmeren zu richten. Pinochet wünsche ich alles Übel der Welt. Aber so lange es keine gerechte Justiz auf dieser Welt gibt, wird diese immer den Stärkeren bevorzugen.

Die Anmaßung der Tattergreise

Die peruanische Regierung ist keine Freundin internationaler Rechtsnormen. Im Juni befand der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (Corte Interamericana de Derechos Humanos), die bereits 1993 erfolgte Verurteilung vier chilenischer Aktivisten des Movimiento Revolucionario Tupac Amarú (MRTA) zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe durch ein Miltärgericht sei unrechtmäßig und daher neu zu verhandeln. Doch in Peru sprechen die Militärgerichte bis heute Recht. Mehr als tausend vermeintliche Aktivisten der Guerillaorganisationen Leuchtender Pfad und MRTA wurden von peruanischen Militärgerichten abgeurteilt. Viele von ihnen sind unschuldig. Sie schmoren seitdem zwar nicht in der Hölle, doch sie frieren in Hochlandgefängnissen oder vegetieren in dunklen Löchern dahin.
María Luísa Cuculiza ist eine Frauenministerin, die auf Machos steht. Ihr Chef, der peruanische Präsident Alberto Fujimori, zählt für sie zu den besonders konsequenten Vertretern dieser Kategorie Männer. Dafür applaudiert sie ihm. Denn Frau Cuculiza schreibt es gerade dem Machismo Fujimoris zu, daß er ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte energisch zurückgewiesen hat. Der Gerichtshof bestreitet die Rechtmäßigkeit einer bereits 1993 erfolgten Verurteilung vier chilenischer MRTA-Mitglieder durch ein peruanisches Militärgericht und fordert die Wiederholung ihres Prozesses vor einer Zivilkammer. María Luísa Cuculiza empfindet das als Anmaßung. Sie steht mit markigen Worten nicht hinter Fujimori zurück. Die ausländischen Richter sind für sie „Tattergreise“ und nicht genügend mit den peruanischen Verhältnissen vertraut.
Der Interamerikanische Gerichtshof in San José, Costa Rica, arbeitet eng mit der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) zusammen, die in Washington residiert. Im Jahre 1978 verpflichtete sich die damalige peruanische Regierung mit der Ratifizierung des Vertrages von San José, eine festgelegte Menschenrechtscharta zu respektieren. Die Einhaltung des Vertrages wird von der CIDH und dem Gerichtshof überwacht. Alle unterzeichnenden Nationen kamen überein, den Auflagen des Gerichtshofes Folge zu leisten. Doch Peru hält nicht nur bis heute den Rekord bei der Anzahl von Anklagen in San José. Auch in den nächsten Monaten werden VertreterInnen des Andenstaates mehrmals auf der Anklagebank Platz nehmen müssen. Die peruanische Regierung drohte daher Anfang Juli offiziell, Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes künftig nicht mehr anzuerkennen.

Die Terroristenprozesse

Die vier Chilenen aus den Reihen des MRTA waren 1993 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden, obwohl die damalige peruanische Verfassung die Zuständigkeit der Militärgerichte auf Armeeangehörige begrenzte. Das ist auch das tragende Argument in der Urteilsbegründung des Interamerikanischen Gerichtshofes. Doch im gleichen Jahr sicherte die Fujimori-Regierung die Zuständigkeit der Militärjustiz in Fällen von „Terrorismus“ oder „Vaterlandsverrat“ verfassungsmäßig ab. Als Vaterlandsverräter zählen dabei nicht nur Spitzel, die den Erbfeind Ecuador in militärische Geheimnisse einweihen. Gemeint sind vor allem Führungskader des Leuchtenden Pfads und des MRTA. Um welche Tätergruppe es bei den Terroristen geht, zeigte ein Prozeß, in dem sechs Armeeangehörige und ein Zivilist angeklagt waren. Diese hatten zugegeben, 1996 an einem Bombenanschlag gegen einen oppositionellen Fernsehsender in Puno beteiligt gewesen zu sein. Das Gericht wies den Fall zurück und erklärte, aktive Soldaten könnten prinzipiell keine Terroristen sein.
In einer Art Ermächtigungsgesetz stattete der peruanische Kongreß 1993 die Regierung mit allen Vollmachten aus, um ohne parlamentarische Mehrheiten die Strafgesetzgebung in Fällen von Terrorismus ändern zu können. Bis 1997 durften die Militärrichter anonym bleiben. Lautet die Anklage auf Vaterlandsverrat, sind die Verhandlungen entgegen allen gesetzlichen Bestimmungen bis heute geheim. Zackig, wie die Militärs sind, dürfen sie „kurzen Prozeß“ machen. Das Urteil muß binnen zehn Tagen gefällt werden, und das Berufungsverfahren erfordert weitere zehn Tage. Die letzte Instanz, das oberste Milititärgericht, benötigt nur fünf Tage, um den Fall abzuschließen. Die Anwälte der Beschuldigten bekommen nur beschränkten Zugriff auf die Anklageschrift. In vielen Fällen sind die Richter keine ausgebildeten Juristen und verfügen über wenig Gerichtserfahrung. Dafür fallen die Strafen oft deftig aus. Die US-Amerikanerin Lori Berenson wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl ihr außer einer MRTA-Mitgliedschaft keine weiteren Straftaten nachgewiesen werden konnten.
Sind die Angeklagten selbst Armeeangehörige, urteilen die Offiziere in Robe in der Regel nicht so streng. Die Mörder und Entführer der Studenten von der Universität „La Cantuta“ wurden zu maximal zehn Jahren Gefängnis verurteilt und wegen guter Führung nach zwei Jahren begnadigt. Höhere Offiziere waren in dieses Verbrechen selbstverständlich nicht verwickelt und wurden gar nicht erst angeklagt. Die brutalen Folterer einer ehemaligen Agentin des militärischen Geheimdienstes, die gegenüber der Presse zu viel geplaudert hatte, wurden sogar freigesprochen.

Willkürliche Festnahmen

Seit 1992 konnten über 8000 verurteilte Mitstreiter des Leuchtenden Pfades oder des MRTA, die im Gegenzug Namen ihrer Genossen preisgaben, das Gefängnis verlassen. Als Folge gerieten viele Unbeteiligte in die Mühlen der Justiz. Allein seit 1995 mußten mehr als 1600 wegen Terrorismus oder Vaterlandsverrat verurteilte Gefangene wieder begnadigt werden, da sie mit den ihnen zur Last gelegten Delikten nichts zu tun hatten. Unzählige Unschuldige sitzen nach wie vor ein. Unter anderem wurden neun Anwälte vor einem Militärgericht angeklagt, die zuvor in Terroristenprozessen die Verteidigung übernommen hatten. Die Beweisdecke war so dünn, daß sich inzwischen auch die CIDH mit den Fällen befaßt. Sogar Versicherungsagenten kann es erwischen. Im Jahre 1997 wurde Adolfo Cesti von einem Militärgericht verurteilt. Er hatte zuvor in einem vermeintlichen Versicherungsbetrug bei der Anschaffung von Hubschraubern für die Streitkräfte ermittelt. Die Richter eines Zivilgerichtes, die Cesti anschließend freisprachen, wurden von der wütenden Militärjustiz wegen Anmaßung von Machtbefugnissen ebenfalls auf die Anklagebank verbannt. Auch in diesem Fall ermittelt der Interamerikanische Gerichtshof.
In den sogenannten Notstandszonen, in denen etwa 23 Prozent der peruanischen Bevölkerung leben, sind die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben. Die Gebiete werden vollständig von der Armee kontrolliert. Als Vorwand dienen angebliche Aktivitäten des Leuchtenden Pfades, der allerdings in vielen dieser Zonen schon seit Jahren nicht mehr aufgetaucht ist. Willkürliche Festnahmen ohne Haftbefehle sind an der Tagesordnung. Wer in Terrorismusverdacht gerät, bekommt in den ersten sechs Wochen seiner Untersuchungshaft keinerlei Kontakt zu Angehörigen oder Verwandten. Der Anwalt darf die Verdächtigen nur sehen, wenn sie dem Staatsanwalt gegenübergestellt werden.

Die Gefängnisse

Die Haftbedingungen in den peruanischen Gefängnissen spotten jeder Beschreibung. Korruption, Drogenkonsum, Waffengebrauch, katastrophale hygienische Verhältnisse, Überbelegung, sexueller Mißbrauch, Krankheiten wie Tuberkulose oder Aids auf fast epidemischem Niveau sind keine Besonderheit. Für die tägliche Verpflegung eines Häftlings wird ein Betrag von sage und schreibe 1,- DM veranschlagt. In vielen Gefängnissen des Landes gibt es nicht einmal einen Arzt, Krankenpfleger oder Psychologen. Das Gefängnis Challapalca befindet sich auf einer Höhe von 4700 m. Der nächste größere Ort mit einem Krankenhaus und einer Busstation ist eine Tagesreise entfernt. Die CIDH forderte bei ihrem letzten Besuch in diesem Gefängnis dessen Schließung. Das Hochsicherheitsgefängnis Yanamayo, in dem die vier chilenischen MRTA-Angehörigen sitzen, liegt mit 4400 m nicht viel niedriger. Temperaturen um den Gefrierpunkt lassen die Häftinge besonders leiden.
Für jene Gefangenen, die wegen Terrorismus verurteilt wurden, gelten besondere Bedingungen. Nach der Geiselnahme in der Residenz des japanischen Botschafters im Dezember 1996 durfte ein Jahr lang kein Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes mehr Gefangenenbesuche abstatten. Die Gefangenen der Marinebasis von Callao vegetieren in strenger Einzelhaft in einer dunklen Zelle dahin. Sie bekommen eine Stunde Hofgang pro Tag und haben auch während dieser Zeit keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen. Nur einmal pro Monat dürfen sie für eine Stunde Besuch von ihren Angehörigen hinter einer Glasscheibe empfangen. Sie sind von sämtlichen Kommunikationsmedien abgeschnitten.
Für María Luísa Cuculiza sind die Miltärjustiz und die Isolierung der Gefangenen eine logische Antwort auf den Terror, den vor allem der Leuchtende Pfad in den achtziger und frühen neunziger Jahren säte. Besonders die Zivilbevölkerung hat in diesen Jahren gelitten. Frau Cuculiza bildet da keine Ausnahme, denn auch ihr Mann wurde von der Guerilla ermordet. Die Regierung rechnet es sich als ihr ein Verdienst an, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen seitdem stetig zurückgegangen sind. Im letzten Jahr war der Leuchtende Pfad fast nur in der Region des Alto Huallaga aktiv. Der MRTA ist seit der Besetzung der Residenz des japanischen Botschafters kaum noch in Entscheidung getreten und keine relevante Größe mehr. Dennoch hat die Regierung die Notstandszonen im letzten Jahr ausgedehnt und setzt weiterhin unbeirrt auf die Militärjustiz. Und sollte die Regierung gar ihre Drohung wahrmachen und die Kompetenz des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte künftig nicht mehr anerkennen, kann Fujimori auch die weitgehend von ihm kontrollierte Ziviljustiz (vgl. LN 298) einsetzen, wie es ihm beliebt. Die Menschenrechte blieben dann in Peru sogar offiziell auf der Strecke.

No more stars, no more stripes

Die Ausläufer der revolutio-
nären Welle, die den ganzen lateinamerikanischen Kontinent nach dem Sieg der Kubanischen Revolution im Jahre 1959 erfaßte, schwappten auch bis nach Panama. 1968 putschte sich der General Omar Torrijos an die Macht und vertrieb die alteingesessene Oligarchie, die sich an den Fleischtöpfen der USA gemästet hatte. Der charismatische Torrijos verband einen nationalistischen Populismus mit den von Studenten getragenen Protesten, die sich gegen die fortwährende Präsenz der USA in Panama richteten. Torrijo verkörperte somit die klassische Version des lateinamerikanischen Caudillos. Sein Wahlspruch lautete: „Ich möchte nicht in die Geschichte eingehen, ich möchte in die Kanalzone einrücken.“ Erreicht hat er beides.
Angesichts der explosiven Lage in ganz Zentralamerika warnte Henry Kissinger im US-Kongreß vor einem möglichen Guerillakrieg, falls die USA nicht auf die Forderungen Torrijos eingingen. Gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen schloß der demokratische Präsident Jimmy Carter am 7. September 1977 schließlich einen Vertrag, der die USA bis Ende 1999 zum Rückzug verpflichtete, das sogenannte Torrijos-Carter-Abkommen. Während dieser Übergangszeit wurde die Kanalzone von einer Kommission verwaltet, die aus fünf US-Amerikanern und vier Panamesen bestand und der Gesetzgebung der USA unterstand. Zum 1. Januar 2000 soll sie nun durch eine ausschließlich unter panamesischer Kontrolle stehende Verwaltung abgelöst werden. Panama wird die vollständige Souveränität erreichen.
Daran änderte auch die Operation Just Cause nichts, mit der die US-Armee 1989 General Noriega stürzte, der sich einige Jahre vorher an die Macht geputscht hatte und von den USA des Drogenhandels verdächtigt wurde. Sowohl die letzte Regierung unter Ernesto Balladares, als auch die seit September unter Mireya Moscoso amtierende verlangten die Erfüllung des Carter-Torrijos-Abkommens.
Einen letzten ernsthaften Versuch, die US-Militärpräsenz doch noch über das Jahr 2000 hinaus zu verlängern, startete die Clinton-Administration 1995. Sie schlug vor, ein internationales Drogenbekämpfungszentrum mit 3.000 US-Soldaten in Fort Howard einzurichten. Dieses sollte zwar unter der Führung der US-Armee und der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde (DEA) stehen, aber auch Kontingente lateinamerikanischer Armeen einbeziehen. Doch letztlich scheiterte dieses Vorhaben am anhaltenden Widerstand Panamas. 1998 wurden die Verhandlungen darüber schließlich abgebrochen. Die extreme Rechte im US-Kongreß und im Senat um den republikanischen Senator Jesse Helms hält den Verzicht der Demokraten bis heute für ein unentschuldbares Vergehen.

Die neue Strategie
der US-Armee
Insbesondere schmerzt die US-Armee der Verlust des Luftwaffenstützpunktes Fort Howard, den der Oberkommandierende Charles Wilhelm einmal „die Augen und Ohren“ des Südkommandos der US-Armee nannte. Hier starteten jährlich 15 000 Aufklärungsflüge. Per Radar wurde der gesamte Luftraum Lateinamerikas überwacht. Die Station vor den Toren von Panama-City war eine Milliarde Dollar wert. Benjamin Gilman, der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Beziehungen des Repräsentantenhauses meinte kürzlich: „Die USA hätten den Luftwaffenstützpunkt Howard nie aufgeben dürfen.“
Des Verrats an den Interessen der „nationalen Sicherheit“ muß sich die Clinton-Administration dennoch nicht bezichtigen lassen. Als Ersatz für Fort Howard wird im Dezember eine neue Station in Puerto Rico seine Aufgabe übernehmen. Gleichzeitig werden weitere Stützpunkte aufgebaut, so auf den Karibikinseln Aruba und Curaçao, sowie im ecuadorianischen Manto. In Peru kursieren Gerüchte, daß US-amerikanische Elite-Truppen von den Basen Iquitos (Peru) und Coca (Ecuador) aus operieren. In Coca sollen deren Ausbilder auch brasilianisches und kolumbianisches Militär in den Techniken des Dschungelkampfes drillen.
Der Hintergrund ist vor allem die Entwicklung in Kolumbien. General Charles Wilhelm warnte kürzlich vor einer „Balkanisierung Kolumbiens“, die „eine Bedrohung für die ganze Region“ darstelle. Der offizielle Feldzug gegen die Drogen vermischt sich immer offener mit der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla. Die US-Militärhilfe für die kolumbianische Armee wurde in den letzten drei Jahren verdreifacht, nach Israel und Ägypten ist das Land jetzt der drittgrößte Empfänger weltweit. Außerdem werden Militärberater nach Kolumbien abkommandiert. Nach einer Reuters-Meldung sollen es 300 sein, Kolumbiens Armeechef Fernando Tapias spricht von „einem runden Dutzend“. Im Stützpunkt Tolemaida in der Nähe der Hauptstadt Bogotá bilden Militärberater derzeit etwa tausend Soldaten angeblich zur Drogenbekämpfung aus. Im Dezember sollen sie aber nach Tres Esquinas in den Süden verlegt werden, einer Region, wo die FARC-Guerilla operiert.
Eduardo Pizarro, Direktor des Instituts für politische Studien und internationale Beziehungen der Nationalen Universität Kolumbiens, hält sogar eine offene militärische Intervention der USA in Kolumbien mittlerweile für durchaus möglich. Drei Varianten seien denkbar: „Einseitig durch Washington, durch eine interamerikanische Armee, die, wie wir alle wissen, aus etwa 15 000 Nordamerikanern, drei Argentiniern und zwei Haitianern bestehen würde, oder durch eine Intervention der Blauhelme der Vereinten Nationen.“ Ob dies geschehe, hänge von der weiteren Entwicklung ab. Eine Intervention stände Pizarro zufolge auf der Tagesordnung, wenn der kolumbianische Staat kollabiere, es zu einer „Balkanisierung“ käme bei, der die Guerilla große Teile des Südens zu kontrollieren begänne, oder wenn der Konflikt die Region so instabil werden ließe, daß dadurch das Erdöl in Venezuela oder der Panamakanal gefährdet würden.
Obwohl all diese Szenarien auch in Panama diskutiert werden, stehen hier doch andere Probleme im Vordergrund. In die Freude über den Abzug der US-Truppen mischen sich viele Bedenken, Zukunftsängste und auch Bitterkeit. Verärgert reagiert die panamesische Öffentlichkeit vor allem auf die Weigerung der USA für die immensen Umweltschäden aufzukommen, die durch die US-Truppen angerichtet wurden.

Ungewisser Aufbruch
ins neue Jahrtausend
Aufgrund der tropischen klimatischen Bedingungen, die denen in Südostasien gleichen, benutze die US-Armee ihre Basen in den 60er und 70er Jahren als Manöverfeld für den Einsatz von B- und C-Waffen, die später in Vietnam eingesetzt wurden. Der Verdacht, daß auch mit dem dioxinhaltigen Entlaubungsmittel Agent Orange experimentiert wurde, konnte nie ausgeräumt werden. Des weiteren sollen Uranmunition und Senfgas eingesetzt worden sein. Das ermittelte Rick Stauber, der ursprünglich für das US-Verteidigungsministerium eine Bestandsaufnahme durchführen sollte und dann auf die panamesische Seite wechselte, als die US-Behörden versuchten, seine Ergebnisse unter Verschluß zu behalten.
Panama fordert von den USA 500 Millionen Dollar Entschädigung, um die Umweltschäden beheben zu können. Wie notwendig das ist, zeigt, daß seit dem begonnenen Abzug der Truppen bereits 20 Panamesen bei Unfällen mit Altmunition getötet wurden. Noch liegen Tausende alte Granaten im Dschungel. Doch die USA weigern sich beharrlich zu zahlen.
Die Säuberung der US-Basen von chemischen Altlasten ist auch deshalb von großer Bedeutung für Panama, weil das Land sich als Paradies für den Öko-Tourismus verkaufen möchte. Am Gatún-See wird die ehemalige School of Americas von spanischen Investoren für 20 Millionen Dollar in ein Fünf-Sterne-Hotel umgebaut. Ähnliches geschieht an anderen Orten. Doch viele Beobachter bezweifeln, daß der Tourismus in Panama große Chancen hat. Vielversprechender scheint ihnen dagegen, Panama in ein Finanz- und Handelszentrum sowie in einen Standort für die Weltmarktproduktion zu verwandeln und die günstige geostrategische Lage aufgrund des Kanals zu nutzen. Tatsächlich ist bei Colón bereits eine große Freihandelszone entstanden, in der sich viele Maquiladoras (Billiglohnfabriken) angesiedelt haben. Das taiwanesische Unternehmen Evergreen hat bereits vor zwei Jahren den Betrieb eines riesigen Container-Terminals aufgenommen. Der Komplex Balboa-Cristobal-Manzanillo kann über eine Million Container im Jahr abfertigen. Die Konzession für den Betrieb der beiden Häfen Colón und Panama-City wurde ebenfalls 1997 an Hutchison International abgegeben, ein großes Unternehmen aus Hongkong. Die bis jetzt der US-Armee verbliebenen drei großen Basen sollen in ein Transportzentrum für Luft- und Schiffsfracht umgewandelt werden. Aus Fort Clayton soll eine „Stadt des Wissens“ werden, eine mit privaten Geldern errichtete Universität.
Diese Projekte sollen sich nach dem Willen der Politiker in die neoliberale Strukturreform einpassen, die in den letzten Jahren auch in Panama begonnen wurde. Strom und Telekommunikation sind schon privatisiert, weitere staatliche Unternehmen sollen folgen. Auch die ehemaligen Unterkünfte für US-Offiziere und amerikanische Arbeiter und Angestellte der Kanalverwaltung werden privatisiert. Bisher hat diese Politik die Kluft zwischen arm und reich beständig vertieft. Offiziellen Zahlen zufolge lebt heute fast die Hälfte der drei Millionen Panamesen in Armut, ein Viertel davon im Elend. So kontrastiert in Panama-City und Colón das Glitzern des american way of life und das Elend Zentralamerikas. Ex-Präsident Balladares’ Partido Revolucionario Democrático (PRD), für die Martín Torrijos, der Sohn des legendären Caudillos Omar Torrijos bei den Wahlen im Frühjahr kandidierte, wurde hauptsächlich aus Unmut über die soziale Situation nicht mehr gewählt. Doch auch Mireya Moscoso vom Partido Arnulfista (PA) folgt trotz vieler Versprechen von sozialen Verbesserungen der neoliberalen Politik.
Ob sich der erhoffte Boom also wirklich einstellt und Panama, wie angestrebt, den Entwicklungsweg der südostasiatischen Tigerstaaten geht, wird sich erst erweisen. Noch ungewisser ist, ob dieser Weg den PanamesInnen aus der Armut helfen wird. Eine sichere Bank wird auf jeden Fall der Kanal bleiben. Gegenwärtig belaufen sich die Einnahmen aus den Benutzungsgebühren auf 750 Millionen Dollar im Jahr. Es kursieren allerdings Befürchtungen, daß die politische Elite Panamas die Übergabe des Kanals nutzen wird, um erst einmal selbst kräftig davon zu profitieren. Aus der Luft gegriffen sind diese Ängste nicht. Von den elf Personen, die der kürzlich geschiedene Präsident Ernesto Pérez Balladares ausgewählt hat, um die neue Kanalverwaltung zu führen, sind vier familiäre Verwandte. So könnte die Hoffnung vieler PanamesInnen, daß die Rückgabe des Kanals eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, Schulen und Bibliotheken ermöglichen könnte, schnell zerplatzen.

Der erste Teil dieses Artikels erschien in der Dezemberausgabe LN 306.

Mosaik der Gewalt

Im Südwesten Bogotás gehen die Armenviertel Bosa und Ciudad Bolívar nahtlos über in die Gemeinde Soacha. Die Anhäufung von Backsteinbaracken und notdürftigen Wellblechhütten ist die neue Heimat für Hunderttausende, die für sich auf dem Land keine Zukunft mehr sehen. Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Einwohnerzahl Soachas verfünfzehnfacht – auf heute rund 850.000. Die größte Gruppe der Neuzuwanderer besteht aus desplazados/as, internen Vertriebenen. Täglich kommen 21 von ihnen an, vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche.
Die Gemeindeverwaltung ist mit ihrem Jahresetat von umgerechnet 24 Millionen DM restlos überfordert – 80 Prozent der Einwohner haben keinen Trinkwasseranschluß, bei 55 Prozent fehlt die Abwasserkanalisation. Fast die Hälfte der Vertriebenen ist arbeitslos. Ähnlich sieht es in vielen kolumbianischen Städten aus, die mit den Folgen des Krieges fertig werden müssen. Nach Schätzungen haben seit 1985 etwa 1,7 Millionen Menschen die Flucht ergreifen müssen.

Regionale Krisenherde

Lange Zeit ballte sich Kolumbiens Reichtum im Städtedreieck Bogotá-Medellín-Cali zusammen. In den neunziger Jahren sind – parallel zur Etablierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells – neue, strategisch bedeutsame Entwicklungsgebiete entstanden wie die Ölfelder am Ostrand der Anden, die weiten Flächen im karibischen Hinterland und entlang des Río Magdalena, in denen die Agroindustrialisierung vorangetrieben wird, oder die artenreiche nördliche Pazifikregion (Chocó, Urabá). Dort soll – als moderne Alternative zum Panamakanal – eine neue interozeanische Verkehrsachse gebaut werden. Nicht zufällig sind diese Regionen einer regelrechten „Gegenagrarreform“ durch die Paramilitärs unterworfen. Neben den Pipelines, die zur karibischen Küste hinführen, beherbergen sie auch neue Zentren des Kokaanbaus, beispielsweise in Nordsantander an der venezolanischen Grenze. In all diesen Gebieten toben heftigste Kämpfe zwischen Paras und der Guerilla um die territoriale Vorherrschaft , und von dorther stammt auch das Gros der Vertriebenenen.
Im Süden des Landes, zwischen den Llanos und der Amazonasregion, liegt die Hochburg der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), die sich heftige Kämpfe mit den Regierungstruppen unweit der entmilitarisierten Zone liefern. Die Paramilitärs sind dort mittlerweile ebenfalls präsent. Ökonomisch attraktiv ist die Region wegen des Kokaanbaus und der Erdölförderung in Putumayo an der Grenze zu Ecuador. Schließlich zieht der Krieg auch in den bevölkerungsreichen andinen Kerngebieten immer weitere Kreise, etwa in der reichen Kaffee-Region nördlich von Cali oder in der Provinz Antioquia.

Gewalt im Alltag

Die KolumbianerInnen mußten längst lernen, mit der Gewalt in all ihren Erscheinungsformen zu leben. Daß Mord und Totschlag, aber auch alle anderen erdenklichen Gewaltphänomene in den letzten 20 Jahren derart um sich gegriffen haben, ist vor allem auf den Drogenhandel zurückzuführen, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft geprägt hat. Entführungen, der Terror mit Autobomben oder auch die direkten Opfer des Krieges sind dabei nur die spektakuläre Spitze des Eisbergs – etwa 90 Prozent der Gewaltverbrechen werden der „gewöhnlichen Kriminalität“ zugerechnet.
Ständig auf der Hut sein vor Einbrüchen, Überfällen oder Autoklau – das muß man in nahezu jeder lateinamerikanischen Metropole. In den Armenvierteln kommt es in den Augen der Polizei schon fast einem Verbrechen gleich, jung und männlich zu sein. Die derzeitige Rekordarbeitslosigkeit von über 20 Prozent läßt die Zahl der Eigentumsdelikte in die Höhe schnellen und trägt ebenfalls zum kollektiven Gefühl der Unsicherheit bei. Darunter leiden besonders Kinder und Jugendliche, deren Freiräume sowieso bedeutend geringer sind als etwa in Europa.
Infolge der Rezession haben viele Angehörige der städtischen Mittelschichten in diesem Jahr finanzielle Engpässe in einem bisher unbekannten Ausmaß zu spüren bekommen. Hunderttausende müssen um ihren Hausbesitz bangen, weil sie die fälligen Raten nicht mehr bezahlen können. Die Ausbildung der Kinder an den gut funktionierenden Privatschulen wird unerschwinglich. Mangels Perspektive sind immer mehr Menschen bereit, die Unwägbarkeiten eines Neuanfangs im Ausland in Kauf zu nehmen – noch nie wurden die Botschaften der Industriestaaten so bestürmt wie in diesem Jahr.

Geht es 2000 wieder aufwärts?

Doch der wirtschaftliche und auch politische Tiefpunkt um die Jahresmitte scheint überwunden. Die derzeitige Stimmung für Friedensverhandlungen ist wieder günstiger geworden. Seit Ende Oktober treffen sich die Unterhändler von FARC und Regierung ganz offiziell in regelmäßigen Abständen. Allerdings geht es noch um Verfahrensfragen. Die Bevölkerung kann sich über Telefonate, Briefe, e-mail und live auf „öffentlichen Hearings“ einbringen, die in der Entspannungszone um San Vicente del Caguán stattfinden werden.
Auch das Ejército de Liberación Nacional (ELN), die in den letzten Wochen mit massiven Sprengungen von Strommasten in Antioquia von sich reden machte, scheint jetzt als Gesprächspartner akzeptiert. Ihr Chefunterhändler Pablo Beltrán trifft sich ständig mit VertreterInnen von Zivilgesellschaft und Regierung in Caracas und Havanna. Mittlerweile hat die ELN alle Geiseln von Massenentführung aus einer Kirche in Cali freigelassen, was die Regierung zur Bedingung für einen formellen Dialog gemacht hatte. Der Knackpunkt bleibt die Räumung eines Gebietes nach FARC-Vorbild, die kompliziert zu werden verspricht.
Der Wahlkampf in den USA verschafft zusätzlich Luft. Zurecht verweist Beltrán darauf, daß es die Zeit bis zum Präsidentenwechsel zu nutzen gelte, da etwa ein George Bush II. die US-Intervention in Kolumbien noch energischer vorantreiben könnte. Selbst im günstigsten Fall wird es allerdings wohl noch Jahre dauern, bis die Waffen schweigen.

No more stars, no more stripes

Am 1. November übergab der US-Botschafter in Panama Simon Ferro der panamesischen Präsidentin Mireya Moscoso feierlich einen riesigen Plastikschlüssel als Symbol für die Übergabe der Luftwaffenbasis Fort Howard. Jetzt unterhält die US-Armee nur noch zwei Stützpunkte in Panama, doch auch Fort Clayton und Fort Corozal werden bis zum Jahresende den Besitzer wechseln. Die dort noch verbliebenen letzten 300 US-Soldaten müssen Anfang Dezember die Stars-and-Stripes-Flagge einholen und den Heimflug antreten. Zum Jahreswechsel wird dann auch die Oberhoheit über die 80 Kilometer lange Kanalzone von den USA an Panama übertragen. Damit wird die offizielle Präsenz der USA in Panama nach fast einem Jahrhundert beendet sein.
Mit dem Abzug der US-Truppen geht für Panama eine historische Epoche zu Ende. Der Jubel über das Erlangen „vollständiger Souveränität“ ist über die Parteigrenzen hinweg groß. Dennoch sind mit der Schließung der US-Militärbasen auch zahlreiche Befürchtungen und Unsicherheiten verbunden. Wie kann die panamesische Wirtschaft den Abzug der zahlungskräftigen Gringos verkraften und neue Perspektiven aufbauen? Vor allem aber stellt sich die Frage, wie die USA ihre Militärpräsenz in der Region in Zukunft aufrechterhalten möchte. Denn eines steht für alle Beobachter fest: Der Abzug der US-Armee aus Panama heißt nicht, daß die USA ihr Interesse an der Region verloren hätten. Im Gegenteil: Alles deutet darauf hin, daß das US-Verteidigungsministerium nach neuen Wegen sucht, nationale Interessen in der Region auch militärisch abzusichern.
Offizieller Grund dafür ist der seit der Reagan-Ära mit großem Aufwand geführte „Kampf gegen die Drogen“. Das südlich an Panama angrenzende Kolumbien gilt als weltweit größter Kokainproduzent, das Land am Kanal selbst soll als Drehscheibe des internationalen Drogenhandels fungieren. Doch es gibt noch andere Ursachen: Erstens wollen die USA die Kontrolle über den geostrategisch noch immer bedeutsamen Kanal nicht ganz aufgeben. Zweitens stellen die beiden linksorientierten kolumbianischen Guerillaorganisationen FARC und ELN, die militärisch stärksten in ganz Lateinamerika, eine latente und wachsende Gefahr für US-Interessen dar. Dazu kommt, daß auch die politischen Entwicklungen in Venezuela und Ecuador aus dem Ruder zu laufen drohen.

Das „achte Weltwunder“

Die Geschichte des Panama-Kanals gleicht einer Erzählung des magischen Realismus über den brutalen Zugriff der Modernisierung auf ein verwunschenes Land am Ende der Welt. Sie stellt gleichzeitig ein Kapitel aus dem Lehrbuch über den ungeschminkten Imperialismus der Supermacht USA dar. Genau betrachtet war der Bau des Panama-Kanals sogar der Durchbruch der USA auf der Bühne internationaler Machtpolitik und damit der Beginn des Hinterhofdaseins Zentralamerikas. Andererseits wäre Panama ohne die Politik der USA als Staat niemals entstanden.
Die Idee, in Panama einen Kanal zu bauen, um damit die beiden Weltmeere zu verbinden, entstand bereits während der Eroberung Amerikas durch die Spanier. 1513 durchquerte Vasco Núñez de Balbao als erster Europäer mit zweihundert Landsleuten und vielen indianischen Lastenträgern den Isthmus von Panama. Es dauerte aber noch bis zur Weltumsegelung Ferdinand Magellans, bis klar war, was das für ein Meer war, das Núñez entdeckt hatte, nämlich der Pazifik. 1534 entwickelten die Spanier dann erste Pläne, in Panama einen Kanal zu bauen. Aber der Einfluß der Kirche bewahrte sie vor diesem Abenteuer. Die Kleriker argumentierten, daß, wenn Gott den Kanal gewollt hätte, er ihn selbst gebaut hätte. So blieb es zunächst bei einem Trampelpfad für Maultiere.

Der Bau war die Hölle

Vielleicht hatte die Kirche nicht ganz unrecht. Denn als Ende des 19. Jahrhunderts die Idee des Kanalbaus zum ersten Mal ernsthaft umgesetzt wurde, kam es zur Apokalypse, zumindest für die Beteiligten. Der Franzose Ferdinand de Lesseps, Erbauer des Suezkanals in Ägypten, hatte sich das Projekt in den Kopf gesetzt und begann eine Aktiengesellschaft aufzubauen, um den Kanalbau zu finanzieren.
1881 wurden die ersten französischen Ingenieure nach Panama geschickt. Mit großem Aufwand wurden moderne Maschinen nach Panama verfrachtet und Arbeitskräfte angeheuert. Doch in acht Jahren Bauzeit konnten gerade einmal zehn Prozent des Kanals fertiggestellt werden. Die geographischen und klimatischen Bedingungen machten die Bauarbeiten zur Hölle auf Erden.
Entlang der geplanten Strecke erstreckten sich Dschungel, Sümpfe und Schlamm, die Fläche war zudem nicht gerade eben. An einer Stelle mußte eine Hügelkette von hundert Meter Höhe durchbrochen werden. 20 000 Arbeiter, die meisten aus Jamaica, starben elend, zerquetscht zwischen den Maschinen, verschüttet von Erdrutschen oder an grassierenden Tropenkrankheiten wie Gelbfieber, Typhus, Pocken, Cholera, Ruhr und Beriberi. Die ständigen Angriffe der Moskitoschwärme ließen die Lebenden sich den Tod wünschen. Ende 1889 wurden die Arbeiten schließlich eingestellt. Lesseps AG machte pleite.
Doch der wachsende Welthandel benötigte den Kanal, und der 1901 an die Macht gekommene US-Präsident Theodore Roosevelt wollte sein Land zur Weltmacht machen. Der erste Schritt war, den Einfluß von Briten, Franzosen und Deutschen in Lateinamerika zurückzudrängen. Dazu gehörte die Kontrolle Zentralamerikas und der Transportwege um den amerikanischen Kontinent. Zunächst zog Roosevelt Nicaragua für einen Durchstich in Erwägung, doch 1902 entschied sich der Kongreß für Panama, das damals zu Kolumbien gehörte.
Die US-Regierung legte Kolumbien einen Vertrag vor, der dem Land anbot, den USA das Kanalterritorium zu vermieten, doch der kolumbianische Kongreß lehnte im August 1903 definitiv ab. Jetzt änderten die USA die Strategie. Warum keinen eigenen Staat gründen für den Kanal? Großprojekte brauchen Visionen. Die USA bauten also eine bereits vorhandene, aber politisch und militärisch schwache sezessionistische Bewegung auf, die Panamas Unabhängigkeit von Kolumbien erstreiten sollte.
Der ehemalige Chefingenieur des französischen Kanalprojektes Philippe Bubau-Varilla, jetzt im Dienst der USA, verfaßte eine Unabhängigkeitserklärung, setzte eine Verfassung auf und entwickelte einen militärischen Aktionsplan, um den Sezessionisten auf die Sprünge zu helfen. Seine Frau nähte eine Nationalflagge für den zukünftigen souveränen Staat. Sie gefiel den Panamesen aber nicht und wurde von ihnen geändert, ein erstes Zeichen der Weigerung, sich gänzlich zu unterwerfen.
Nur drei Monate nach der Ablehnung des ersten US-Vorschlages durch den kolumbianische Kongreß erklärten die Panamesen am 4. November 1903 ihre Unabhängigkeit. Um nachdrücklich deutlich zu machen, wer die Panamesen unterstützte, schickte die US-Armee bereits einen Tag vorher ein US-Kriegsschiff in die Bucht von Colón. In den folgenden Tagen kreuzten noch mehr amerikanische Kriegsschiffe auf, die USA erkannten das neue Land als erster Staat an, und fortan existierte die unabhängige Republik Panama. In jener Zeit wurde der Terminus „Kanonenbootpolitik“ geprägt.
Nur zwei Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung schloß der neue Staat mit den USA das Hay-Brunau-Varilla-Abkommen. Für 10 000 Dollar wurden den USA die unbegrenzten Nutzungsrechte und die vollständigen Hoheitsrechte über ein Territorium von einem Küstenstreifen zum anderen und jeweils acht Kilometer Breite an beiden Seiten des zu bauenden Kanals eingeräumt. Der Vertrag von 1904 gewährte den USA unbefristete Hoheitsrechte, ohne daß Panama allerdings auf die Souveränität verzichten mußte. Die Zone besaß eine eigene Polizei, Verwaltung, Gerichtsbarkeit und sogar eine eigene Posthoheit, weshalb die seltenen Briefmarken aus der Kanalzone bis heute zu den begehrtesten Sammelobjekten der Philatelisten zählen.
Die US-Amerikaner hatten die Lektion der französischen Kanalbaupleite gelernt. Bevor sie mit den Bauarbeiten begannen, legten sie die Sümpfe trocken und konnten die Gegend so mit der Zeit entseuchen. Jetzt entstand das „achte Weltwunder“. 50 000 Arbeiter aus 97 Nationen, die meisten von der Karibikinsel Barbados, buddelten mit modernstem Gerät den Kanal durch die tropischen Sümpfe. Über 25 Millionen Kilogramm Sprengstoff wurde in die Luft gejagt, sechzig 95 Tonnen schwere Dampf-Bagger gruben sich durch den Schlamm, mit preßluftgetriebenen Bohrern wurden die Felsen zerkleinert.
Und wieder mußten die Arbeiter das Wunder mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit bezahlen. „Wie Vögel flogen manchmal Menschenteile durch die Luft“, schrieb ein Beobachter. Offiziell starben 5 609 Arbeiter, 4 500 davon waren Schwarze. Wieviele einfach unter Schlammlawinen oder im Dschungel ihr Grab fanden, weiß bis heute niemand.

Ersparnis von 14 800 Kilometern

Neun Jahre später, am 10. Oktober 1913, war das Bauwerk schließlich fertig. Als Meilenstein der Globalisierung wurde es zeitgemäß eröffnet. Präsident Wilson betätigte in Washington ein Knöpfchen, per Telegraf wurde das Signal Tausende Kilometer weit nach Panama geschickt und löste dort die Sprengung eines provisorischen Damms aus, der die Gaillard-Schleuse überflutete. Am 15. August 1914 konnte dann das erste Dampfschiff von Colón auf der Atlantikseite nach Panama-City am Pazifik fahren.
Heute passieren jedes Jahr über 13 000 Schiffe den Kanal. Die zwölf Stunden für die 80 Kilometer zwischen den beiden Häfen Colón auf der Atlantikseite und Panama-City am Pazifik ersparen ihnen einen Umweg von 14 800 Kilometer durch die überdies gefährliche Magellanstraße an der Südspitze Chiles. Der Kanal fungiert so als Schnittstelle nicht nur für den Handel zwischen der Ost- und Westseite Amerikas, sondern auch zwischen Europa und Asien.
Doch die Ausweitung des Handels und die immer größeren Schiffe haben den Kanal mittlerweile zum Nadelöhr gemacht. 2002 soll zwar die Modernisierung der Gaillard-Schleuse beendet sein, damit die Kapazität um 20 Prozent erhöht werden kann, doch das wird nicht ausreichen, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Derzeit können nur Schiffe bis 65 000 Tonnen passieren. Seit Jahren wird ein Projekt diskutiert für etwa acht Milliarden US-Dollar eine dritte Gruppe von Schleusen zu bauen, um Schiffen bis 220 000 Tonnen die Durchfahrt zu ermöglichen.

Stützpunkt zur Kontrolle des Hinterhofs

Die Militärpräsenz der USA wurde offiziell immer mit der Bedeutung des Kanals für den Welthandel begründet. Der Kanal sollte nie in die Hände der „roten“ und während des Ersten und Zweiten Weltkriegs auch nicht der „deutschen Gefahr“ fallen. Die 65 000 US-Soldaten, die zeitweise in Panama stationiert waren, erfüllten aber auch andere Pflichten. Von den Luftwaffenstützpunkten Fort Howard und Fort Albrook, vom Marinestützpunkt Fort Rodman, von den Basen der 193. Infanteriebrigade Fort Amador und Fort Kobb oder dem Spionagezentrum auf der Galeta-Insel aus kontrollierte die USA ihren karibischen Hinterhof. In Panamas US-Basen wurden Staatsstreiche geplant, Aufstandsbekämpfungsoperationen koordiniert und Geheimmissionen vorbereitet.
Vom Putsch gegen Jacobo Arbenz in Guatemala 1954, der Landung in der Schweinebucht nach der Kubanischen Revolution über die Verminung der Häfen des sandinistischen Nicaraguas nach 1979 bis zur Invasion Grenadas 1983, hier wurden die Fäden gezogen. In der berüchtigten School of Americas (SOA), die bis zu ihrem Umzug nach Fort Bragg im amerikanischen Bundesstaat Georgia 1984 am Gatún-See in Panama beheimatet war, trainierte die US-Armee seit dem Zweiten Weltkrieg 50 000 lateinamerikanische Offiziere in den Techniken der Aufstandsbekämpfung und des „wissenschaftlichen“ Folterns. Viele der führenden Juntageneräle und Folterknechte der Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre wurden in Panama auf ihre Aufgabe vorbereitet. Ein Kapitel, das der juristischen Aufarbeitung wahrscheinlich noch lange harren wird.

Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe

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