Pastranas Hinhaltetaktik

Unter Einfluss paramilitärischer Gruppen finden seit fast vier Wochen Demonstrationen und Straßenblockaden gegen die im April angekündigte Räumung der Gemeinden San Pablo, Cantagallo und Yondó statt. Diese liegen in den zentralkolumbianischen Departements Antioquia und Bolívar am mittleren Magdalena-Fluss und umfassen eine Größe von knapp 5.000 Quadratkilometern. Nahezu alle wichtigen Straßenverbindungen wurden nun in der Region unterbrochen; wer nach Bucaramanga, Barrancabermeja und an die Atlantikküste reisen will, muss auf das Flugzeug umsteigen. „Kein zweites Caguán“, fordern die Protestierer in Anspielung auf die Zone in Südkolumbien, die die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) seit nun eineinhalb Jahren in Alleinregie kontrollieren.

Mediale Verzerrungen

Die führenden Medien bezeichnen die Straßenblockierer als Bauern, die „Angst vor Übergriffen der Guerilla“ haben. Ungereimtheiten werden dabei oft ignoriert, beispielsweise die Frage, warum bekannte Paramilitär-Kommandanten im Fernsehen als Sprecher der zivilen Proteste auftreten oder was es mit Zeugenaussagen auf sich hat, wonach Bauern mit gezogener Waffe zur Teilnahme an den Demonstrationen gezwungen wurden. Stattdessen wird zur Legitimierung der Proteste immer wieder von Menschenrechtsverletzungen in der FARC-Zone berichtet. Dass die Mordrate in dieser Gegend seit der Übergabe an die FARC drastisch zurückgegangen ist und die Region als einzige in ganz Kolumbien seit 18 Monaten keine Massaker mehr registrieren musste, verschweigt die Presse hingegen geflissentlich, wie die Monatszeitung Le Monde diplomatique kürzlich herausstellte.
Deutlich wird, dass im Kampf gegen die Aufwertung von FARC und dem Heer zur Nationalen Befreiung (ELN) die Desinformationspolitik eine immer zentralere Rolle spielt. Die Vorbereitungen der Nationalkonvention werden von einigen Medien so kontinuierlich sabotiert, dass man inzwischen schon beinahe Systematik unterstellen muss: Anfang Mai hatten ELN und das zivile Vorbereitungskomittee der Konvention – ein Zusammenschluss verschiedener gesellschaftlicher Gruppen – ein Treffen von 60 Personen in der evangelischen Akademie Bad Boll bei Stuttgart vereinbart, um dort die vor zwei Jahren in Deutschland geführten Gespräche fortzusetzen. Die einstmals kritische Tageszeitung El Colombiano, die in den letzten Monaten von den meisten progressiven Journalisten verlassen wurde, lancierte daraufhin zunächst die Falschmeldung, auch Paramilitär-Kommandant Carlos Castaño sei zum Treffen eingeladen – was einem politischen Dammbruch gleichgekommen wäre. Immerhin weigern sich Guerillaorganisationen und soziale Opposition bisher standhaft, die Todesschwadrone, die allein 1999 über 200 Massaker an Zivilisten verübten, als Gesprächspartner anzuerkennen.
Die ELN-Vertreter in Europa hatten denn auch alle Hände voll zu tun, den Menschenrechtsorganisationen zu erklären, dass es sich bei der Nachricht um eine frei erfundene Behauptung handelte. Wenig später schob dieselbe Zeitung hinterher, der deutsche Organisator des Treffens Jo Krummacher handle ohne Unterstützung der evangelischen Kirche und der Bundesregierung. Zwar war diese Information nicht völlig falsch: Die Akademie Bad Boll war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich erst damit beschäftigt, sich eine offizielle Erlaubnis einzuholen. Doch auch hier ging es weniger um Sachinformationen, denn um Verhinderung. Den vorläufigen Abschluss dieser Berichterstattung bildete Ende Mai die Nachricht, dass das in Deutschland geplante Treffen vollständig abgesagt sei, obwohl sich keine zwei Tage zuvor ein deutsch-kolumbianischer Vorbereitungskreis in Bad Boll über die konkrete Organisation der Gespräche unterhalten hatte.

Größere Dynamik als bei den FARC

Ob ein Friedensprozess in diesem Klima überhaupt eine Perspektive hat, ist weiterhin fraglich. Besonders im Fall der ELN. Die Pastrana-Regierung ist im Augenblick wenig gewillt, den versprochenen Armeeabzug am Magdalena-Fluss durchzusetzen. Der Präsident torkelt wie sein Vorgänger Ernesto Samper von einer Regierungskrise zur nächsten und richtet seine Politik vornehmlich nach Meinungsumfragen aus. Dazu kommt der starke Einfluss der Clinton-Administration, die sich schon der Übergabe des Caguán an die FARC widersetzt hatte.
Dabei könnte der Gesprächsprozess mit der ELN – wäre er einmal in Gang gesetzt – schnell eine größere Dynamik bekommen als der mit den FARC. Anders als die parteikommunistisch beeinflusste, größere Schwesterorganisation zielt die ELN auf eine große Beteiligung der Bevölkerung ab. „In früheren Gesprächen stellten wir bei der Regierung nur den Willen fest, die Aufstandsbewegung durch eine Demobilisierung oder einen militärischen Sieg zu beseitigen. Eine Politik, die missachtet, dass der bewaffnete Konflikt seine Wurzeln in der strukturellen Krise des Landes besitzt“, erklärte das Zentralkommando der ELN im April. „Für uns ist entscheidend, einen direkten Dialog mit den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft zu eröffnen, schließlich ist es ja auch die Gesamtheit der Kolumbianer, die die Probleme zu tragen hat.“ Es gehe darum, wie schon der verstorbene ELN-Kommandant und spanische Ex-Pfarrer Manuel Pérez erklärte, „den Frieden nicht als Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, sondern als Konstruktionsprozess sozialer Gerechtigkeit“ zu verstehen. Soziale Ursachen, nicht Auswirkungen müssten bekämpft werden.
Jene genauer zu analysieren, ist erklärtes Ziel der Nationalkonvention. Der bisher erarbeitete Plan sieht vor, dass etwa 300 Delegierte verschiedener gesellschaftlicher Sektoren in dem von der ELN kontrollierten und von unabhängigen Beobachtern überwachten Gebiet zusammen kommen werden, um die Krise des Landes zu diskutieren. Jeden Monat würde einer von acht Diskussionsblöcken, etwa Wirtschaftspolitik, Ausbeutung der Bodenschätze und Kultur, debattiert werden. Darüber hinaus würden, um eine größere Demokratisierung des Treffens zu ermöglichen, offene Foren stattfinden, auf denen alle Interessierten die monatlichen Konventionsrunden vorbereiten könnten. Der entscheidende Punkt, nämlich die Zusammenstellung der an der Konvention teilnehmenden Organisationen – von Gewerkschaften und Indígenaorganisationen bis hin zu den Unternehmerverbänden – soll vom Vorbereitungskomitee einvernehmlich geklärt werden.
Die ELN hat jedoch bereits angekündigt, dass sie nur eine Runde akzeptieren wird, die deutlich repräsentativer ist als jene im Kloster Himmelspforten vor zwei Jahren. Damals waren kaum Basisorganisationen, dafür umso mehr Gremien des kolumbianischen Mittelstands vertreten gewesen.
Die konkreten Arbeitsvorgaben der Konvention lesen sich reichlich unspektakulär. Die ELN erklärt, sie strebe eine „nationale Übereinkunft“ an, bei der es nicht darum gehe, „Forderungen an die Aufstandsbewegung zu stellen, sondern Einigkeit darüber zu erzielen, welche strukturellen Probleme unser Land in die Krise geführt haben“. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung könne es dann in einem weiteren Schritt zu einer Verfassunggebenden Versammlung kommen, die endlich die Bedürfnisse der „Mehrheit und nicht nur der Privilegierten berücksichtige“.
Das klingt nach einem demokratischen Wohlfahrtsprojekt, reicht aber unter kolumbianischen Bedingungen aus, um die politische Landschaft extrem zu polarisieren. Zudem stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass das Projekt ‘Nationalkonvention’ kaum auf einen Friedensschluss nach zentralamerikanischem Vorbild hinauslaufen dürfte. Die ELN will keine Reintegration ins zivile Leben, sondern die politischen Machtverhältnisse verschieben.

Vorprogrammiertes Scheitern

Doch so weit voraus zu denken, scheint im Moment müßig. Die Demilitarisierung von San Pablo, Cantagallo und Yondó ist bisher nicht mehr als eines der zahllosen Pastrana-Versprechen, die ihrer Umsetzung harren, und zudem auch in der Regierung stark umstritten sind. Das der ELN zugesprochene Gebiet ist zwar relativ klein, liegt aber strategisch sensibler als die FARC-Zone, nämlich in der Nähe der Goldreserven der Serranía San Lucas und vor allem direkt gegenüber der Erdölstadt Barrancabermeja. Um die Entmilitarisierung vielleicht doch noch in Frage zu stellen, hat die Regierung nun den Protestierern und ihren Hinterleuten in Armee und Agrarindustrie zugesagt, sie wolle die Möglichkeit eines Referendums überprüfen. Demnach sollen die BewohnerInnen der Region selbst entscheiden, ob Militär und Polizei die drei Gemeinden verlassen sollen. In Anbetracht der paramilitärischen Bedrohungen und der gängigen Praxis von Wahlmanipulation kann so eine Abstimmung nur eine Farce werden.

Der Autor veröffentlichte zuletzt den Kolumbien-Roman „La Negra“ und mit Dario Azzellini das Sachbuch „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“

KASTEN:
Die ELN und Gramsci
Vom extremen Avantgardismus zur Stärkung autonomer Basisorganisationen

Bereits Anfang der achtziger Jahre entwickelte das Heer zur Nationalen Befreiung (ELN) ihre Strategie der so genannten „Volksmacht“. Deren Grundgedanke bestand darin, den extremen Avantgardismus, der die ELN wie alle lateinamerikanischen Guerillas der sechziger und siebziger Jahre geprägt hatte, zu überwinden, ohne deswegen in eine Art ‘Bewegungs-Populismus’ zu verfallen. Befreiung wurde nicht mehr als Machtübernahme im Sinne von ‘militärischer Erfolg der Guerilla plus Volksaufstand’ interpretiert, sondern als langwieriger Prozess: „Die Macht wird nicht nur erobert, sie wird auch aufgebaut.“ Pate bei dieser Neubestimmung standen einerseits die in China und Vietnam entwickelten Theorien des „verlängerten Volkskriegs“, zum anderen die Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der schon in den dreißiger Jahren von einer Dialektik des Zerstörens und Neuaufbauens gesprochen hatte. In diesem Sinne begann die ELN von der „Dualität der Macht“ zu sprechen. Als Ziel der Organisation wurde formuliert, auf der einen Seite weiterhin die oligarchische Herrschaft zu zerstören, auf der anderen am Aufbau neuer Machtstrukturen von unten mitzuwirken – Gemeinderäte, Stadtteilversammlungen, Arbeiterorganisationen, Volksmilizen. In Abgrenzung zu klassisch-parteikommunistischen Modellen stellte die ELN außerdem fest, dass Basisorganisationen der Autonomie bedürfen und nicht einfach wie bei Lenin als „Transmissionsriemen“ der Partei betrachtet werden können. Dies bedeutete keinen völligen Abschied von früheren Revolutionsvorstellungen, aber ermöglichte eine veränderte Praxis in den achtziger Jahren.
Der Aufbau räteähnlicher Strukturen wurde schließlich um 1990 durch den Paramilitarismus praktisch beendet. In Anbetracht der zahllosen Morde hüteten sich BäuerInnen und GewerkschafterInnen davor, selbstbewusst als „Machtalternative“ aufzutreten, wie dies fast ein Jahrzehnt lang in vielen Regionen der Fall gewesen war. Trotzdem hielt die ELN an einem Grundbaustein der Volksmacht auch weiterhin fest: Sie ging nach wie vor davon aus, dass gesellschaftliche Veränderungen von einer „Avantgarde“ beschleunigt und beeinflusst, nicht aber gesteuert werden können. Emanzipation und Befreiung seien selbstbestimmte Prozesse unter Beteiligung vieler. Vor diesem Hintergrund hat die ELN immer wieder versucht, den vom schmutzigen Krieg zerstörten politischen und sozialen Bewegungen neues Leben einzuhauchen und Spielräume zu eröffnen.
Die Nationalkonvention ist auch als neuer Versuch in diesem Sinne zu interpretieren. Bei dem die Guerillaorganisation im übrigen einiges riskiert, weiß sie doch, dass die kolumbianische Bevölkerung zwar nichts von den Regierenden hält, aber auch die Politik von FARC und ELN ablehnt. Mit der Eröffnung einer Debatte über den Zustand der Gesellschaft werden also nicht nur die Eliten, sondern auch die Guerillaorganisationen mit scharfer Kritik rechnen müssen.
Ihre Entscheidung für die Nationalkonvention lässt sich mit einer nicht genauer konkretisierten Hoffnung erklären, Gramscis Überlegungen in einem weiteren Punkt zu entsprechen. So sprach die ELN bei ihrem ersten Aufruf zur Konvention 1996 von der Notwendigkeit, „ein neues politisches ‘liderazgo’ ohne die Oligarchie“ aufzubauen. Man könnte dieses „liderazgo“ als ‘Führung’ übersetzen, genauso richtig ist jedoch der Verweis auf Gramscis Begriff des „neuen hegemonialen Blocks“. Der italienische Theoretiker bekräftigte, Revolutionen in modernen Gesellschaften könnten keine Angelegenheit von schnell handelnden Minderheiten sein, sondern müssten als langwierige, breit getragene Prozesse begriffen werden. Wenn die ELN auf der Nationalkonvention ein Bündnis aller Gruppen diesseits der militaristischen Oligarchie anstrebt, muss sie zwar einerseits Kompromissbereitschaft zeigen, kann aber andererseits eine Dynamik in Gang setzen, die die festgefahrenen Verhältnisse im Land gründlich auf den Kopf stellen könnte. Und das ist es wohl, was die Oberschicht in Kolumbien an der Konvention am meisten fürchtet – eine Rückkehr der sozialen Protestbewegungen wie in den achtziger Jahren.

“Wir wollen uns inspirieren lassen”

Am 26. Februar ging eine mehrwöchige Rundreise der FARC zusammen mit kolumbianischen Regierungsvertretern in Europa zu Ende. Welchen Zweck hatte diese Reise?

Die Idee war, verschiedene Länder zu besuchen, in denen ein funktionierendes Sozialsystem und eine soziale Verteilung des Reichtums existiert. Schließlich wurde es diesen Ländern so lange möglich, in Frieden zu leben und den Fortschritt voranzutreiben, etwa in Schweden, Norwegen oder der Schweiz. Wir wollen diese Systeme keineswegs kopieren, sondern uns davon inspirieren lassen.

Welches Interesse haben Länder wie Schweden oder Norwegen an der politischen Entwicklung in
Kolumbien?

Kein spezifisches. Es ist eine Hilfestellung, um die wir gebeten haben. Diese Länder eröffnen uns die Möglichkeit, die politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu studieren. Wir wollen auch in Kolumbien ein politisches System etablieren, in dem alle Parteien und Strömungen einen Platz finden.

Deutschland war keine Etappe der Rundreise…

Wir haben Deutschland nicht besucht, weil wir nur direkten Einladungen der Regierungen gefolgt sind. Die deutsche Regierung hatte daran anscheinend kein Interesse. Wir sind noch dabei, hinreichende Kontakte zur deutschen Regierung aufzunehmen, aber nach wie vor herrscht eine etwas angespannte Atmosphäre.

Während der Reise sind Vertreter der FARC auch mit Militärs der NATO zusammengetroffen.

Es gab eine Unterredung zwischen einem hochrangigen norwegischen NATO-Kommandeur und dem Kommandanten und Sprecher der FARC, Raul Reyes. Dieses Gespräch war für uns sehr wichtig, denn so konnten wir darlegen, dass in Kolumbien eine Guerillabewegung, eine politische Bewegung existiert, die einen bewaffneten Kampf führt. Es geht dabei um die Anerkennung der FARC als kriegführende Partei mit allen im internationalen Kriegsrecht festgeschriebenen Rechten und Pflichten.

Wollen sie mit solchen Treffen ein Gegengewicht zu einer drohenden Militärintervention der USA in Kolumbien schaffen?

Ja, denn die Vereinigten Staaten vermitteln ständig das Bild direkter Beziehungen zwischen dem Drogenhandel und der Guerilla. Daher auch die Bezeichnung der FARC als “Drogenguerilla”. Mit dieser Rundreise und den Gesprächen in Europa wird diese Propaganda widerlegt. Wir machen deutlich, dass ein konstruktiver Dialog mit Vertretern der Regierung, Parlamentariern und Wirtschaftsvertretern möglich ist. Wir suchen gemeinsam eine Lösung des bewaffneten Konflikts und des Problems des Drogenhandels, unter dem die ganze Welt leidet.

Bereits erschienen in junge Welt am 29.2.

Hilfe zur Vertreibung

Dass Kolumbien mit 2 Millionen Kriegsflüchtlingen neben der Türkei und dem Sudan zu den Staaten mit der größten Binnenflucht weltweit gehört, ist inzwischen bekannt. Medien und humanitäre Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz machen für die Migrationsbewegungen in der Regel “Kämpfe zwischen den Kriegsparteien” verantwortlich. Auf dem ersten Kongress der Betroffenen selbst, an dem Ende Februar in Bogotá 35 Flüchtlings- und Menschenrechtsinitiativen aus dem ganzen Land teilnahmen, war von solchen Kriegshandlungen allerdings nur am Rande die Rede. Die Berichte der Vertriebenen stimmten fast alle darin überein, dass sich die Aktionen paramilitärischer Gruppen in den Regionen nicht gegen Guerillaverbände, sondern gegen Organisationen der Zivilbevölkerung richteten. Außerdem seien die ökonomischen Interessen inzwischen wichtiger als militärische Aspekte. Massive Vertreibungen gebe es – so die Bauern – dort, wo Großprojekte wie die interozeanische Verkehrsverbindung geplant oder Rohstoffvorkommen vorhanden seien.
Zahlreiche Redner, darunter auch Vertreter der Indígena-Organisationen CRIA und ONIC, brachten die Vertreibungen deshalb mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Verbindung. “Wir sollen verschwinden”, so Felipe Rangel, ein Sprecher der U´wa-Indígenas, die sich in Nordostkolumbien seit Jahren gegen geplante Erdölbohrungen zur Wehr setzen. “Die Regierung will dem IWF gehorchen und Multis wie OXY die Ausbeutung der Ressourcen erleichtern.”

500-jährige Geschichte von Flucht

Tatsächlich hat sich die Politik der kolumbianischen Regierungen seit der apertura económica, der sogenannten wirtschaftlichen Öffnung im Jahre 1988, darauf konzentriert, die Ausbeutung von Bodenschätzen wie Kohle, Erdöl, Gold und Smaragde zu forcieren, von denen in Kolumbien gewaltige Vorkommen existieren. Die landwirtschaftliche Entwicklung spielt in diesem Konzept nur eine untergeordnete Rolle, interessant sind die ländlichen Regionen eigentlich nur noch wegen ihrer Rohstoffreserven oder ihrer strategischen Lage.
Am Rande steht in diesem Zusammenhang der Drogensektor, der jedoch ebenfalls zum Motiv von Vertreibungen geworden ist. In der Region um Cali, aber auch im Süden des Departements Bolívar, so berichten Vertriebene aus den Regionen, vermischen sich die Interessen von Drogenhandel, Armee und Multis auf bizarre Weise. “Wir haben eine 500-jährige Geschichte von Flucht”, sagt Antonio Meneses von der Sozialen Bewegung der Vertriebenen Antioquias. “Früher waren wir Opfer der Kirche und der Konquistadoren, später der Großgrundbesitzer und Viehzüchter, heute schließlich der Multis und Drogenmafiosi.”
Welche unglaubliche Brutalität dabei von den staatlich gedeckten paramilitärischen Gruppen angewandt wird, lässt sich nur schwer vorstellen. Immer wieder gibt es auf dem Treffen Momente, wo der Schrecken zurückkehrt. Einer der Bauern bricht in Tränen aus, als er ein Lied über seine Flucht vorträgt, der Vertreter der Flüchtlingsorganisation ANDAS aus Medellín versteckt sich hinter seiner tief heruntergezogenen Baseballkappe und einer dunklen Sonnenbrille, niemand will aufgenommen oder gar fotografiert werden. Ein Mann aus der Friedensgemeinde von San José de Apartadó (Urabá) will nicht einmal wiederholen, was bereits in der Zeitung stand, dass nämlich das Massaker an 7 Mitgliedern der Gemeinde am 20. Februar von Angehörigen der XVII. Armeebrigade verübt wurde. “Wenn ich etwas sage, könnte ich meiner Gemeinde schaden”, sagt er leise. Die Friedensgemeinde von San José stellt auf dem Treffen eine Besonderheit dar. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen versteht sich die von europäischen Nichtregierungsorganisationen unterstützte Gemeinde als politisch “neutral”. Genutzt hat den BewohnerInnen das allerdings wenig. Die Paramilitärs betrachten das Dorf als militärisches Angriffsziel, weil es eine Form sozialer Selbstorganisierung darstellt (siehe LN 307).

Wut auf die politischen Akteure
Neben dem Schrecken und der Verzweiflung spürt man in den Gesprächen jedoch auch eine explosive Wut, die für den kolumbianischen Staat noch gefährlich werden könnte. Unter den Flüchtlingen brodelt es. Mehr oder weniger spontan haben 200 Familien Ende 1999 den Sitz des Internationalen Roten Kreuzes in Bogotá besetzt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Die BesetzerInnen, die auch auf dem Treffen vertreten sind, beschuldigen die Hilfsorganisation, die Bauern in den Konfliktgebieten im Stich zu lassen. Nachdem sie seit nun drei Monaten von Regierung und Rotem Kreuz ignoriert werden, haben einige der Bauern den Sitz des staatlichen Sozialversicherungsnetzes gestürmt und die Büros verwüstet. Die Pastrana-Regierung beschuldigt die BesetzerInnen, von der Guerilla gesteuert zu sein, doch die Situation ist komplizierter. Von Seiten der Vertriebenen bekommen nämlich auch die Rebellenorganisationen ihr Fett ab, allerdings auf überraschende Weise. Ricardo Morales, Flüchtling aus dem Departement Cesar, kritisiert vor allem die Verhandlungsbemühungen von FARC und ELN im Ausland. “Diese Leute reisen mit der Regierung herum. Aber für unsere Situation haben sie keine Vorschläge”, beklagt er sich bei seiner Rede. Auf ein Ende des Krieges wagt er nicht zu hoffen. “Pastrana vertritt die schlimmste Doppelmoral, die man sich vorstellen kann. Einerseits redet er von Sozialprogrammen für die Flüchtlinge, andererseits macht er Werbung für den Plan Kolumbien und rüstet die Armee auf. Die Helikopter, die die Regierung von den USA geschenkt bekommt, sind die gleichen, mit denen sie uns vertreiben werden.”

Für jede Droge das richtige Klima

Die ganzen Kokasträucher gehen mir kaputt,“ klagt Israel Lasso mit sorgenvoller Miene. Mit einem Ruck reißt er einen blattlosen Strauch aus der Erde. „Gucken Sie her,“ erklärt er, „die Pflanzen sterben von der Wurzel her ab. Diese Pflanze wirft nichts mehr ab. Na ja, so schlecht ist das gar nicht, dann können wir hier Kaffee pflanzen.“ Der rüstige Mittfünfziger hat offenbar genaue Vorstellungen von dem, was ausländische BesucherInnen hören wollen. Schließlich bekommt er Geld aus einem Entwicklungshilfeprojekt zur Förderung des Anbaus und der Vermarktung von Biokaffee in Drogenanbaugebieten. Das mit dem Kokaanbau ginge sowieso zu Ende, fügt er hinzu. Doch je weiter wir auf seiner Finca vordringen, die sich auf beiden Seiten eines Bächleins mit dem Namen Río Capitanes erstreckt, desto unübersehbarer werden die Kokasträucher. Das intensive gelbliche Grün ihrer Blätter, das sich deutlich vom Dunkelgrün der Kaffeestauden abhebt, verleiht ihnen ein recht gesundes Aussehen.
Doch Israel Lasso lässt sich nicht beirren und weicht Fragen nach der Kokaproduktion zunächst aus. „Außer Kaffee pflanze ich hier vor allem Yucca und Bananen, die ich am Wochenende auf dem Markt verkaufe.“ Doch im Beisein von Jorge Torres, dem Projektverantwortlichen aus der Departementhauptstadt Popayán, taut der Campesino langsam auf. „Koka hat uns hier immer geholfen“, stellt er schließlich inmitten seiner kombinierten Kaffee-Koka-Felder fest, „man kann sie alle drei Monate ernten.“ Verschmitzt blicken seine lebendigen Augen aus dem sonnengegerbten Gesicht, als er erklärt, seinen Hof nun langsam umzustellen. „Für die Sträucher, die eingehen, pflanze ich nicht mehr so viel Koka nach.“
Israel Lassos Fünf-Hektar-Finca Los Naranjitos liegt im abgelegenen Südwesten des südkolumbianischen Departements Cauca. Die asphaltierte Abzweigung von der Panamericana nach Westen endet an der Brücke über den Río Patía, dann gibt es nur noch Schotterpisten. Vom Städtchen Balboa steigt der Weg steil bergauf zur Cordillera Occidental. Die Bergkuppen sind in dichte Wolken gehüllt. Zwischen Schwaden von Bodennebel sind immer wieder frisch gehackte Felder zu erkennen. Saftiggrüne Setzlinge heben sich von der dunkelbraunen Erde ab, fein säuberlich in Reih und Glied angeordnet. Schlafmohn, der Rohstoff für Heroin, gedeiht am besten in höheren Lagen. Fast zwei Stunden Holperstrecke weiter und in erheblich tieferen Lagen liegt der Flecken La Planada. Ein Trampelpfad führt steil von der Schotterstraße bergab. Nach knapp zehnminütigem Fußmarsch endet er auf Lassos Finca. Im Hof trocknen beigebraune Kaffeebohnen in der Sonne, ein Hund und einzelne Hühner laufen herum.
Zeit seines Lebens hat Israel Lasso auf der kleinen Finca gelebt und gearbeitet. Seit mehr als zwanzig Jahren erntet er Kokablätter, den Rohstoff zur Herstellung von Kokain. Er war einer der ersten Campesinos/as in diesem bergigen Teil Kolumbiens, der sich 1994 dem Biokaffeeprojekt der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) anschloss. Gemeinsam mit den nationalen Kaffeepflanzerorganisationen beziehungsweise deren regionalen Ablegern sowie dem größten deutschen Kaffeeröster, der Firma Kraft-Jacobs-Suchard aus Bremen, will die GTZ in den drei wichtigsten Drogenproduktionsländern Lateinamerikas, in Kolumbien, Peru und Bolivien, einen Beitrag zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen leisten, die zum Anbau der illegalen Drogen führen. Biologischer Kaffee verspricht den KleinbäuerInnen höhere Gewinne als der bisherige konventionelle Anbau der braunen Bohnen.

Drogenanbau nicht verboten

Das GTZ-Vorhaben unterscheidet sich dabei von früheren Aktivitäten des Drogenbekämpfungsprogramms UNDCP der Vereinten Nationen, das in der Vergangenheit auch im Departement Cauca Anwendung gefunden hatte. Dessen Erfolg fällt im übrigen sehr bescheiden aus. Das rigide, paternalistische und mit erheblichen Finanzmitteln ausgestattete UN-Projekt hat den Drogenanbau nicht merklich zurückgedrängt, aber bei vielen BäuerInnen eine gewisse Anspruchshaltung hinterlassen, mit der auch die GTZ-MitarbeiterInnen anfangs zu kämpfen hatten. UNDCP arbeitet ausschließlich mit BäuerInnen zusammen, die keine Drogen mehr produzieren; teilweise mussten die Koka- oder Mohnpflanzungen eigenhändig unter den Augen der UN-VertreterInnen vernichtet werden. Die GTZ macht dagegen keine konkreten Vorgaben zur Aufteilung des Landes. Jeder kann selbst festlegen, zu welchem Anteil er sein Land mit organischem Kaffee bebaut. Die Fortsetzung des Drogenanbaus ist kein Ausschlusskriterium, die meisten beteiligten KleinbäuerInnen widmen weiterhin ein viertel bis ein drittel Hektar dem Drogenanbau.
Neben Israel Lasso beteiligen sich im Departement Cauca 169 weitere Campesinos/as an dem Biokaffee-Projekt. Nur wenige sind bisher abgesprungen, die meisten bleiben bei der Stange. Nach einer Umstellungszeit von zwei bis drei Jahren bietet organischer Kaffee eine vergleichsweise stabile wirtschaftliche Alternative. Pro Kilo können sie einen Aufpreis von rund einer Mark gegenüber herkömmlich gezogenem Kaffee kassieren. Während früher mit extensivem Anbau nur 700 DM pro Hektar zu verdienen waren, lässt sich der Gewinn mit biologischen Verfahren auf etwa 3.200 DM erhöhen. Das liegt im wesentlichen an der deutlichen Intensivierung der Landwirtschaft, die mit der Umstellung der Produktionsweise verbunden ist. Die Biokaffee-Campesinos/as können den Hektarertrag auf etwa 1.000 Kilogramm Rohkaffee vervierfachen. Trotzdem sind Einkommenseinbußen unvermeidlich, ein abrupter Verzicht auf den Drogenanbau ist von niemandem zu erwarten. Eine einzige Kokaernte auf derselben Fläche bringt schließlich 1.200 DM ein, und der anspruchslose und widerstandsfähige Kokastrauch wirft jedes Jahr bis zu vier Ernten ab. Bei Schlafmohn liegt der Profit noch höher. Bis zu 17.000 DM im Jahr kann ein/e BäuerIn pro Hektar erwirtschaften. Auch dafür sind recht hohe Anfangsinvestitionen erforderlich, die nicht selten von den DrogenhändlerInnen vorfinanziert werden. Viele Campesinos/as begeben sich damit in Abhängigkeit von den lokalen Mafiabossen.

Plazet der Guerilla

In allen drei Andenländern liegen die Projektgebiete in abgelegenen Regionen, in Kolumbien und in Peru mit starker Präsenz von Guerillaorganisationen. Im Cauca sind es in erster Linie die Revolutionären Streitkräfte FARC, die größte und älteste Guerilla des Kontinents, im peruanischen Villa Rica die Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru (MRTA), die Ende 1997 durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima für weltweites Aufsehen sorgte. Die Organisatoren des Biokaffeeprojektes mussten daher nicht nur die Zustimmung der jeweiligen Regierungen einholen. Für die konkrete Arbeit vor Ort hatten sie sich auch der Akzeptanz durch die aufständischen Gruppen zu versichern. Schwierigkeiten gab es bisher nirgends, die Entwicklungshilfe für die Landbevölkerung in den besonders marginalisierten Gebieten ist offenbar im Sinne der Guerilla.
Gefahr droht eher von anderer Seite. „Viele Leute hier kaufen sich Gewehre, Flinten und Munition,“ berichtet Arnulfo Quinayas. Er ist Präsident der BäuerInnenkooperative Nuevo Futuro in San Antonio, einem zwischen Balboa und La Planada gelegenen Dorf im Südwesten von Cauca, in dem Opiummohn vortrefflich gedeiht. „Sie verdienen mit Koka das schnelle Geld, und dann arbeiten sie nicht mehr, sondern gucken nur, wo sie wem etwas stehlen können. Manche Fahrer wollen schon keinen Kaffee mehr transportieren, weil man ihnen die gesamte Ladung gestohlen hat,“ erzählt er weiter.

Der Mensch lebt nicht von Koka allein

Immer mehr BäuerInnen spüren noch eine andere Folgeerscheinung des steigenden Drogenanbaus. Die hohen kurzfristigen Gewinne haben etliche Campesinos/as dazu gebracht, einen immer größeren Anteil ihres Bodens dem Drogenanbau zu widmen und die Erzeugung lebensnotwendiger Nahrungsmittel zu vernachlässigen. Nun merken die traditionell von der Selbstversorgung lebenden KleinbäuerInnen, dass die Beschaffung von Lebensmitteln nicht nur aufwendig ist, sondern auch einen wachsenden Teil ihrer Einnahmen aus der Drogenproduktion auffrisst. Mit der erneuten Hinwendung zu einem traditionellen Anbauprodukt, nun mit neuen Methoden, besteht die Chance, dass sich die Campesinos/as in den kolumbianischen, peruanischen und bolivianischen Kaffeegebieten auch wieder verstärkt der landwirtschaftlichen Produktion von Grundnahrungsmitteln zuwenden. Und sie können ihre Kenntnisse im ökologischen Kaffeeanbau auf andere Pflanzen wie Mais, Maniok und Bananen anwenden.
Beim Umstieg auf legale Erzeugnisse stehen die Campesinos/as in den Andenländern ziemlich alleine da. Trotz vollmundiger Erklärungen der jeweiligen Regierungen und insbesondere des ehrgeizigen ‘Plan Colombia’ von Präsident Andrés Pastrana hat bisher keines der drei Projektländer ernsthafte Bemühungen an den Tag gelegt, die sozialen Ursachen für den Anbau „illegaler Produkte“ ernsthaft zu bekämpfen. Der Staat bietet bisher keine legalen Alternativen. In den abgelegenen Regionen fehlt es an landwirtschaftlicher Beratung, technischer Unterstützung und bezahlbaren Krediten. Und am nötigen Kleingeld. Der Vizepräsident der Nationaluniversität in Bogotá und renommierte Soziologe Alejo Vargas schätzt die Kosten eines Substitutionsprogramms für Koka allein im kolumbianischen Amazonien mit seiner Anbaufläche von rund 100.000 Hektar auf nicht weniger als 10 Milliarden US-Dollar. „Das überfordert schlichtweg die Kapazität des kolumbianischen Staates,“ beschreibt er das Dilemma, „und braucht eine Vorbereitungszeit von mindestens zehn Jahren.“
In den allermeisten Hochburgen des Drogenanbaus ist der Staat kaum präsent, bietet kaum Infrastruktur und seinen BürgerInnen nur wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Dennoch tauchen Polizei und Militär in den betroffenen Regionen sporadisch auf. Wegen ihres oftmals unberechenbaren und brutalen Vorgehens sind sie bei der Landbevölkerung gefürchtet. „Solange wir Koka anbauen, kann jederzeit die Armee oder die Drogenpolizei kommen und uns Ärger machen,“ meint Arnulfo Quinayas von der Kooperative Nuevo Futuro in San Antonio. Drogenanbauende Campesinos/as müssen jederzeit mit Repressalien rechnen. Besonders gefürchtet sind die Giftsprühaktionen der kolumbianischen Antidrogenpolizei und der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA. Der chemische Krieg hat vor allem in Kolumbien schon eine lange Tradition. Er begann in den 70er Jahren gegen die Marihuanapflanzungen in der Nähe der Karibikküste. Auf annähernd 30.000 Hektar wurden damals zwei Drittel des auf 10.000 Tonnen geschätzten jährlichen US-Bedarfs geerntet. Die chemische Keule – anfangs hochgiftiges Paraquat, später Glyfosate – konnte die Ausfuhr dieser Droge jedoch nur kurzfristig senken.

Chemischer Luftkrieg mit ökologischen Folgen

Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre lag der Schwerpunkt der kolumbianischen Drogenmafia auf der Verarbeitung von Kokapaste und dem Vertrieb in die Industriestaaten. Kolumbianische Zwischenhändler lieferten vier Fünftel des Kokains für den US-Markt. Der Rohstoff stammte damals aus Peru und Bolivien, die jedes Jahr jeweils 20.000 Tonnen Kokablätter und 50 bis 80 Tonnen „pasta básica“ erzeugten. Mittlerweile hat sich Kolumbien vom wichtigsten Dealer zum größten Produzenten von Koka und Schlafmohn gemausert. Seit 1981 vervierfachte sich die Anbaufläche auf rund 100.000 Hektar. Dabei wurden allein in den letzten fünf Jahren 150.000 Hektar Drogenäcker durch Herbizideinsatz vernichtet. Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Giftsprühaktionen trieben die Bauern in unerschlossene Landesteile, wo sie noch weniger Möglichkeiten hatten, Käufer für ihre legalen Erzeugnisse zu finden. Einziger Ausweg: Sie mussten Drogen anbauen, um zu überleben. Viele Experten räumen mittlerweile ein, dass die Strategie der Drogenvernichtung nicht aufgeht. Gouverneur Hernando González Villamizar beklagte jüngst, nach siebenjährigem Gifteinsatz gäbe es in seinem Departement Guaviare mehr Koka denn je.
Derweil nehmen die ökologischen Folgen erschreckende Ausmaße an. Laut kolumbianischen Experten sind bereits 150.000 Hektar Regenwald vergiftet, und wenn es so weitergeht, sind bis 2015 über zwei Drittel des kolumbianischen Urwaldes in Ödland verwandelt. Pro vernichtetem Hektar Mohn sterben zweieinhalb und bei Koka sogar vier Hektar Wald. Diesen Kollateralschäden und der offensichtlichen Erfolglosigkeit zum Trotz halten die Hardliner unbeirrbar an ihrer Strategie fest. Bescheiden machen sich die 40 Millionen für die Förderung alternativer Anbauprodukte gegen das 2,5-Milliarden-Dollar-Budget aus, das die USA in den kommenden Jahren unter anderem in den kolumbianischen Luftkampf gegen DrogenpflanzerInnen pumpen.

Guerilla = Drogen

Der Anti-Narco-Feldzug der USA ist untrennbar mit der Aufstandsbekämpfung verbunden. Mit dem Feindbild, der sogenannten Narcoguerilla, das die enge Verbindung der rechten Paramilitärs zur Drogenmafia bewusst verschweigt, werden zwei Probleme zu einem Gegner zusammengefasst, ganz im Sinne der US-Doktrin der Nationalen Sicherheit. Die Fuerzas Revolucionarias de Colombia (FARC), die größte und älteste Guerilla des Landes, kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Kokaanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus dem Norden ist die Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens, die Präsident Pastrana Anfang 1999 für die FARC räumen ließ, um den Weg zu Friedensverhandlungen frei zu machen. Die USA malen seither den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports an die Wand.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widerspricht indes solchen Behauptungen. Die Kokaproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli 1999. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 KleinbäuerInnn in der Entspannungszone mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen.
Das Geld für die UNO-Drogenprogramme stammt überwiegend aus den europäischen Industrieländern. Nachdem vor allem der Heroinmissbrauch dort zunehmende gesundheitspolitische Bedeutung bekam, haben sich die Westeuropäer im letzten Jahrzehnt der Suchtmittelbekämpfung in den Erzeugerländern angenommen. Im Unterschied zu den USA, die auf eine repressive Strategie setzen, verfolgt die europäische Drogenbekämpfung die Förderung der alternativen und vor allem der integralen Entwicklung der Andenländer. Die Drogenproduktion ist nur durch die Überwindung ihrer sozioökonomischen Ursachen effektiv zurückzudrängen. Hauptgrund für den Drogenanbau sind die Unterentwicklung und fehlende Absatzmöglichkeiten für andere Produkte auf dem Weltmarkt. Solange ein Bauer nicht vom Verkauf seiner legalen Erzeugnisse leben kann, wird er weiter Drogen anbauen.

Bescheidene Alternative

Das Engagement sowohl der Europäischen Union als auch der einzelnen europäischen Länder zielt daher auf die integrale Entwicklungsförderung in den Erzeugerländern ab. Dazu gehörte die Begünstigungsklausel für Importe aus Kolumbien, Bolivien, Ecuador und Peru aus dem Jahr 1990. Gleichzeitig begannen die Mitgliedsstaaten der EU, die legalen Wirtschaftszweige in den Andenländern zu unterstützen. Das ist jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die konkrete Wirkung der maximal 12 Millionen Dollar, die Kolumbien jährlich von der EU bekommt, sind zu vernachlässigen. Sie zeigen allerdings, dass Europa gewillt ist, sozioökonomische Unterstützung an Stelle der Repression zu setzen.
Damit das Konzept der „Alternativen Entwicklung“ aufgeht, muss allerdings in großem Umfang und bei stabilen Preisen der Absatz der Drogenersatzprodukte auf dem Weltmarkt gewährleistet sein. Das ist in der Vergangenheit nur in Einzelfällen und kurzfristig gelungen. Auch beim Biokaffeeprojekt der GTZ blieben die Erfolge bislang hinter den Erwartungen zurück. Bisher ist es denn auch eher als Versuch zu werten, ob sich mit einem derartigen Ansatz das Drogenproblem auf der Produzentenseite überhaupt beeinflussen lässt. Die Projektkosten von 5,4 Millionen Mark werden überwiegend aus der „Drogenreserve“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgebracht, Kraft-Jacobs-Suchard steuert 250.000 Mark bei. Ziel ist es, die beteiligten Campesinos/as so weit zu beraten und zu unterstützen, dass ihr Landbau die Richtlinien der Europäischen Union (EU) erfüllt. Nur dann können sie ihre braunen Bohnen hierzulande als Ökokaffee verkaufen.

Private Projektpartnerschaft oder Geschäft?

Für den Projekterfolg und vor allem für das Überleben der beteiligten Campesinos/as ist entscheidend, ob und in welchem Ausmaß sich die Vermarktung von Biokaffee konsolidieren lässt. Die von den InitiatorInnen erhoffte Vermarktung über die beteiligte Kaffeerösterei Jacobs ist praktisch nicht erfolgt. Nachdem das private Partnerunternehmen lange Zeit nicht eine einzige Bohne aus dem Projekt abnahm, kaufte es nun über die Kaffeebörse ganze zwei Container des sogenannten Umstellungskaffees aus Villa Rica.
Für Kraft-Jacobs-Suchard ist eine andere Entwicklung von wesentlich größeren Interesse, die aus dem Biokaffee-Projekt hervorgegangen ist. In Lima baute die Cámara Peruana del Café mit deutscher Hilfe eine Qualitätsprüfstelle für Rohkaffee auf. Dr. Rainer Becker, Jacobs-Mitarbeiter in Diensten der GTZ, sieht darin die nachhaltigste Wirkung des Biokaffeeprojektes überhaupt. Mit Hilfe des deutschen Kaffee-Experten, der die Projekte in Kolumbien und Peru seit zwei Jahren berät, bemüht sich die dortige Kaffeewirtschaft um die Ausdehnung ihrer Marktanteile und ihrer Einnahmen. „Peruanischer Kaffee erfüllt die Voraussetzungen für eine gute Qualität,“ beschreibt Becker das Dilemma des Andenstaates, „aber er hat mit einem schlechten Image zu kämpfen, das ihm regelmäßig an der Kaffeebörse einen Preisabschlag von 50 bis 65 Pfennig pro Kilo gegenüber dem Weltmarktpreis beschert.“ Allein im vergangenen Jahr sind Peru dadurch rund 20 Millionen US-Dollar an Exporteinnahmen durch die Lappen gegangen. Durch anhaltende Qualitätsverbesserung wollen die Peruaner die internationalen KaffeerösterInnen und -importeurInnen davon überzeugen, dass ihr Produkt besser ist als sein Ruf. Jahr für Jahr beantragen sie die Höherbewertung ihrer braunen Bohnen.

Biokaffee mit geringen Marktchancen

Bei dieser Form der Projektfortsetzung geht es nicht mehr um Biokaffee, sondern um die Qualität peruanischen Kaffees schlechthin. Organisch angebautem Kaffee räumt man bei Jacobs und vor allem bei den US-amerikanischen KonzernherrInnen ohnehin nur minimale Marktchancen ein. Dr. Beckers Fazit der Kooperation von Jacobs mit der GTZ und den nationalen Verbänden der KaffeepflanzerInnen fällt denn auch eher ernüchternd aus: „Der Biokaffee-Ansatz ist wenig erfolgversprechend.“ Der oftmals qualitativ schlechtere Kaffee aus ökologischer Produktion hat nach seiner Auffassung wenig Chancen auf dem internationalen Markt, wo eine wachsende Zahl von Abnehmern hohe und vor allem stabile Qualität erwartet. Die Mängel des weltweit angebotenen organischen Kaffees, so argumentiert man hingegen bei der GTZ, ergäben sich allerdings aus der häufigen Vermischung von sozial-karitativen Ansätzen mit der Förderung ökologischer Produktionsweisen. Das führe meistens dazu, dass Ökokaffee aus besonders rückständigen Regionen bezogen wird, wo die Bedingungen zur Erzeugung hochwertiger Produkte nicht gegeben sind. Für das GTZ-geförderte Biokaffeeprojekt träfe dies aber nicht zu, da in allen drei Ländern klassische Kaffeeanbaugebiete mit hoher Qualität ausgewählt worden seien.
Die Vermarktung beschränkt sich dabei bis heute überwiegend auf alternative Handelsorganisationen wie die GEPA, die hierzulande Café Aymara aus Villa Rica vertreibt, oder die schwedische Firma Gevalia. Den Biokaffee aus Kolumbien kauft im wesentlichen El Puente in Deutschland, wo er unter dem Markennamen der beteiligten Kooperative Nuevo Futuro oder Colombia Grande von der Firma Ökotopia erhältlich ist. Insgesamt ist es bisher aber kaum gelungen, stabile Marktverbindungen für ökologischen Kaffee aufzubauen. Für Privatunternehmen, die streng im Profitinteresse arbeiten, gibt es offenbar nicht genügend Anreize, in größerem Stil einzusteigen. Die beteiligten BäuerInnen bleiben dennoch zuversichtlich: „Wir haben gelernt, dass die chemischen Substanzen schädlich sind für die Gesundheit und auch für unsere Umwelt,“ meint Arnulfo Quinayas von der Genossenschaft Nuevo Futuro im Cauca. „Außerdem konnten wir mit Hilfe der GTZ einen Weg aufbauen, um unseren Kaffee in andere Länder zu exportieren.“

All right bei Albright

Kolumbien ist nicht allein“, versicherte US-Außenministerin Madeleine Albright den wartenden Journalisten in der Küstenstadt Cartagena, bevor sie das Land in Richtung Norden verließ. Auf einer Pressekonferenz versprach sie Präsident Pastrana, daß „wir 100 Jahre Frieden, Demokratie und größeren Wohlstand für unsere beiden Staaten erreichen werden.“ Diesen wird es gefreut haben, schließlich konnte er bekanntgeben, daß die US-Regierung bereit ist, seinen Plan Kolumbien mit knapp 1,6 Milliarden US-Dollar für die nächsten zwei Jahre zu unterstützen
Dieser Plan umfaßt ein Budget von über sieben Milliarden US-Dollar. Er soll dem Land aus der sozialen und wirtschaftlichen Krise helfen, eine Stärkung des Justiz- und Strafsystems voranbringen, sowie für Frieden und für den Kampf gegen den Drogenhandel stehen. Für einen Teil der Kosten ist die kolumbianische Regierung nicht nur in den USA, sondern auch in der EU nach Geldgebern auf der Suche. In den letzten Monaten pilgerten hochrangige Vertreter der Regierung auf einem Werbefeldzug durch europäische Länder, um ihren hochgesteckten Plan vorzustellen.
Dieser liest sich allerdings wie eine Wunschliste und bleibt mit seinen rein strategischen Forderungen oberflächlich. Nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes gibt es deshalb bisher noch keine Zusagen für eine Unterstützung. Eine Geberkonferenz im Juni soll entscheiden, welche konkreten Projekte finanziell unterstützt werden sollen.
Verwirrend kommt hinzu, daß es nach verschiedenen Angaben zwei Fassungen des Plan Kolumbien gibt: innerhalb Europas hebt der Plan die Notwendigkeit sozialer Hilfsmaßnahmen hervor, während die in den USA kursierende Fassung sich auf den Antidrogenkrieg konzentriert. Aileen Tickner, Direktorin des Zentrums für internationale Untersuchungen an der Andenuniversität, spricht gar von vier Fassungen. Dabei unterscheiden sich die Formulierungen und die Anordnung der Themen enorm. Insgesamt scheint es aber, als sollten die Europäer hauptsächlich für den sozialen Teil des Plans Geld fließen lassen, während sich die USA der Umstrukturierung und Modernisierung der kolumbianischen Armee widmen.
So zumindest läßt sich der Vorschlag der US-Regierung deuten, der am 10. Januar vorgestellt wurde: Von den Hilfsgeldern sind rund eine Milliarde US-Dollar für das Militär vorgesehen, während gerade einmal 93 Millionen US-Dollar für den Schutz der Menschenrechte und der Justiz zugute kommen würden. Nur 145 Millionen US-Dollar sollen in die alternative ökonomische Entwicklung fließen, um dafür zu sorgen, daß Bauern nicht mehr Kokapflanzen, sondern andere landwirtschaftliche Produkte anbauen.

Modernisierung der Streitkräfte

Geplant ist der Kauf von 63 Militärhubschraubern, sowie weiterem Equipment, um – so ließen es die Verhandlungspartner verlauten – die Kontrolle über den Süden des Landes wieder zurückzugewinnen. Gemeint sind die Provinzen Putumayo und Caquetá, die als Zentren des Kokaanbaus gelten. Um dieses Ziel zu erreichen und den „Antidrogenkampf“ erfolgreich weiterzuführen, sollen im Frühjahr diesen Jahres zwei weitere Antidrogen-Bataillone in der Militärbasis von Tres Esquinas stationiert werden. Dort wird bereits ein Bataillon von 950 Soldaten mit US-Hilfe ausgebildet.
Daß der Süden des Landes eine Hochburg der Guerilla ist und ein Teil der Provinz Caquetá zur entmilitarisierten Zone für die Verhandlungen zwischen den Rebellen und der Regierung gehört, dürfte bei den Plänen eine Rolle gespielt haben. Iván Ríos, ein Sprecher der FARC-Guerilla, äußerte die Befürchtung, daß diese Finanzhilfen für die Drogenbekämpfung nur ein Vorwand sind, um gegen die Guerilla vorzugehen. „Das ist ein äußerst gefährlicher Schritt, um den Konflikt im Land weiter anzuheizen“, so Ríos.
Unverhohlenere Töne kamen aus kolumbianischen Militärkreisen: der Kampf gegen den Drogenhandel schließt eben zwangsläufig den Kampf gegen die Guerilla ein. Im Zuge der neuen finanziellen Unterstützung und Ausbildung der Soldaten versprach der Sekretär der US-Streitkräfte Louis Caldera „dramatische Resultate“ innerhalb der nächsten 18 Monate im Kampf gegen den Drogenhandel.

Kritik aus den Reihen der US-Demokraten

Kritik an der finanziellen Unterstützung wurde auch von den Demokraten aus den USA geäußert, allen voran von Senator Patrick Leahy. Er sieht darin „eine dramatische Gewaltspirale zur Unterdrückung eines Volksaufstandes unter dem Vorwand einer Antidrogenpolitik.“ Desweiteren fehlen ihm Anstrengungen der kolumbianischen Armee, gegen die paramilitärischen Verbände vorzugehen, die für die Mehrzahl der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. amnesty international sieht die Gefahr, daß von den hohen finanziellen Zuwendungen auch die Paramilitärs profitieren und ihren Aktionsradius weiter ausdehnen könnten, denn diese werden aus Armeekreisen unterstützt.
Das Finanzpaket muß nun noch den US-Senat passieren. Um dafür zu werben, flog Pastrana am 24. Januar zum vierten Mal innerhalb seiner 17-monatigen Amtszeit ins Weiße Haus. Alarmierend oder nicht: beide Staatsmänner pflegen ihre „neue Ära zwischen Kolumbien und den USA“. Clinton betonte im Bezug auf das Finanzpaket, daß sich das Risiko lohne und er die Entwicklung in Kolumbien „sehr genau verfolgt“.

Anschläge und Attacken gehen weiter

Ein Grundproblem des Plan Kolumbien scheint vor allem im militärischen Aspekt zu liegen. Der beinhaltet „die zwangsläufige Erhöhung der Kapazitäten von Armee und Polizei während des Friedensprozesses, um eine wirkungsvolle Präsenz im ganzen Land bieten und eine friedliche Beilegung des Konflikts garantieren zu können.“ Diesem fragwürdigen Punkt haben sich nun die USA wohlwollend angenommen. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob das Vertrauen bei den Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Guerilla schafft.
Die Verhandlungen wurden nach einer Pause über Weihnachten und Silvester zwischen der FARC und einer Regierungskommission am 13. Januar wieder aufgenommen; ebenso auch die militärischen Auseinandersetzungen, nachdem eine 20-tägige Feuerpause zwischen den Konfliktparteien abgelaufen war. Während die FARC am Verhandlungstisch die ökonomische Situation des Landes thematisiert haben wollte, starteten FARC-Einheiten mehrere Attacken auf Ortschaften nahe der Hauptstadt Bogotá, bei denen über 50 Menschen ums Leben kamen.
Die ELN-Guerilla verübte anfang des Monats verstärkt Anschläge auf das Stromnetz im Nordwesten des Landes, um gegen Privatisierungen im Energiesektor zu protestieren. Diese gehören zu den Auflagen des IWF (Internationaler Währungsfonds), die an die im letzten Jahr ausgehandelten Kredite für Kolumbien gebunden sind. Mindestens 22 Strommasten wurden gesprengt, wodurch in Teilen der Provinz Antioquia und in der Millionenmetropole Medellin enorme Problemen bei der Energieversorgung entstanden. Nicolas Bautista, einer der Oberkommandierenden der ELN, macht ein Ende der Anschläge davon abhängig, wie die Regierung auf ihre Forderungen reagiert. Sie wollen – ähnlich den FARC – ebenfalls eine von Soldaten entmilitarisierte Zone zugestanden bekommen, um die „Nationalkonvention“ (siehe LN 306) realisieren zu können. Dann ließe sich auch über die Privatisierungen im Energiesektor reden, so Bautista.
Als Antwort auf die Anschläge begann die Regierung mit einer erhöhten Militarisierung des Gebietes. Sie schickte 2.000 Soldaten nach Antioquia, um weitere Anschläge zu verhindern. Die Paramilitärs kündigten an, sie würden zur Vergeltung für jeden gesprengten Mast zehn Guerilleros oder Sympathisanten ermorden und ihre Angriffe ausweiten. Kurz darauf kamen 29 Bauern in Antioquia bei zwei Massakern durch Paramilitärs ums Leben.

Das Zünglein an der Waage

Mißachtung von Gesetzen hat in Kolumbien Tradition. Schon die ersten Spanier übten sich darin, als die Spanische Krone 1542 die Leyes Nuevas verabschiedeten, die die physische Ausrottung der indigenen Völker verhindern sollten. Sie wurden nie in Kraft gesetzt. Landnahme erfolgte ohne jegliche Rücksicht auf die Rechte indigener Völker. Nach und nach mußte die auf Selbstverwaltung gerichtete Landwirtschaft der indigenen Gemeinden den Viehweiden und Plantagen der Spanier weichen, die ihre Landtitel durch Zahlungen an die Krone legalisieren konnten.
Die Strukturen der extremen Konzentration des Landeigentums in wenigen Händen überlebten auch die Wirren der Unabhängigkeitskriege. Die Konservative Partei, von der sich vor allem die Großgrundbesitzer vertreten fühlten, dominierte das erste Jahrhundert der jungen Republik. Erst 1930 kamen als Konsequenz der beginnenden Industrialisierung die Liberalen an die Regierung. Im Rahmen des Reformprogramms mit dem Titel La Revolución en marcha war eine Agrarreform vorgesehen. Die gerechtere Verteilung des Bodens hatte neben der Prävention sozialer Unruhen vor allem Produktionssteigerungen zum Ziel. 1936 wurde für Entscheidungen in Landkonflikten die Agrargerichtsbarkeit geschaffen. Unproduktive Güter, die ihre soziale Funktion nicht erfüllten, konnten enteignet werden. Statt einer Umverteilung zugunsten landloser Bauern bewirkte die Reform jedoch eine weitere Konzentration von Landeigentum, da die Großgrundbesitzer Pächter, von denen ihnen Gefahr zu drohen schien, verjagten und ihnen die Pachtverträge nicht verlängerten. Statt Brachland zur Nahrungsmittelproduktion zu nutzen, weiteten sie das Weideland aus.
So weisen die Statistiken von 1960 aus, daß 1,4 Prozent Latifundisten – also Landeigner – mit mehr als 200 Hektar Land – 46 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens kontrollierten, während die Masse der Kleinbauern (67 Prozent), die jeweils weniger als fünf Hektar zur Verfügung hatten, magere 6 Prozent untereinander aufteilten.

Agrarreform mit Negativergebnis

Die Sechzigerjahre brachten eine neue Agrarreform, verordnet von der durch die kubanische Revolution beunruhigten US-Regierung Kennedy. Im Rahmen der Allianz für den Fortschritt wurden die lateinamerikanischen Staatschefs angehalten, bewaffneten Revolutionen durch Sozialreformen vorzubeugen. In Kolumbien war der blutige Bürgerkrieg, bekannt als La violencia (1948-1957), in dem die beiden großen Parteien ihre Anhänger gegeneinander aufgehetzt hatten, noch in lebhafter Erinnerung.
Das Gesetz 135 aus dem Jahr 1961 sollte die Großgrundbesitzer zur Modernisierung zwingen und die bessere Nutzung der Böden garantieren. Der Erfolg dieser halbherzigen Reform blieb aber weit hinter den Erwartungen zurück. Erst unter Carlos Lleras Restrepo (1966-1970) wurde das Gesetz vertieft. Pächter sollten Anspruch auf das von ihnen bebaute Land bekommen und Brachland enteignet werden. Um die Bauern in den Reformprozeß einzubinden, ließ die Regierung die Bauernorganisation ANUC gründen. Gleichzeitig ließ sie die Bildung von Selbstverteidigungsgruppen zu. Diese Vorläufer der paramilitärischen Verbände waren der Armee unterstellt.
Die Bauern ließen sich allerdings nicht alle in die reformistische ANUC einzubinden. Nach der militärischen Zerschlagung der „unabhängigen Republiken“, jener Gebiete, wo sich die kommunistischen Bauernmilizen während der Violencia gegen die konservativen Horden verschanzt hatten, entstand mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) die erste Guerilla. Kurz nach der moskauorientierten Rebellenarmee formierten sich das kubafreundliche Volksbefreiungsheer (ELN) und das maoistische EPL, die mehr von städtischen Intellektuellen getragen wurden.
Nach zehn Jahren Landreform war das Land noch konzentrierter als 1960. Landlose und vertriebene Bauern emigrierten in die Städte, da sie den neuen Wachstumsrhythmus schlecht verkrafteten. Trotz höchster Landverteilungsraten unter den Präsidenten Lleras und Misael Pastrana, schritt die Reform so langsam voran, daß selbst die ANUC die Geduld verlor und zu Besetzungen von für die Enteignung fälligen Ländereien aufrief.

Repression zur Befriedung

Die Regierung wußte sich dagegen nicht anders zu helfen als durch Verschärfung der Repression. Die Anführer der Besetzungen kamen auf schwarze Listen von Campesinos, denen kein Land zugeteilt werden durfte. 1973 erklärten dann die Chefs der beiden großen Parteien gemeinsam mit den Eigentümerlobbies im Pakt von Chicoral die Agrarreform für „erfolgreich abgeschlossen“. Die entsprechende Ruhe wurde mit der Ausdehnung der militärischen Repression auf die Städte hergestellt. Dort hatte sich in den Invasionsvierteln das Movimiento Viviendista gegen Spekulanten und Großgrundbesitzer gebildet. Arbeiterproteste und Bürgerinitiativen komplettierten eine fast alle Gesellschaftsschichten erfassende soziale Bewegung, die tiefgreifende Veränderungen forderte.
Der liberale Präsident López Michelsen antwortete statt mit der versprochenen Öffnung mit mehr Repression. Und sein Nachfolger Julio César Turbay Ayala verabschiedete 1978 kurz nach seinem Amtsantritt das berüchtigte Sicherheitsstatut, das der Armee freie Hand bei der Bekämpfung des inneren Feindes gab. Allein in seinem ersten Regierungsjahr wurden 60.000 Menschen verhaftet und viele von ihnen gefoltert. Die durch das Statut eingeführte Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten wurde erst 1987 abgeschafft.
Während die sozialen Bewegungen brutal unterdrückt wurden, konnten rücksichtslose Drogenhändler kleine Imperien aufbauen. Die verstärkte Nachfrage nach Kokain in den USA hatte einen Boom des illegalen Handels in Kolumbien ausgelöst. Eine Entwicklung, die später nicht nur zu einer beispiellosen bewaffneten Konfrontation zwischen Staat und Drogenkartellen führen, sondern auch die bescheidenen Erfolge aller bisherigen Agrarreformprojekte zunichte machen sollte. Nachdem es zu mühsam und gefährlich wurde, den Rohstoff aus Peru und Bolivien, den traditionellen Anbauländern des Coca-Blatts, zu importieren, animierten die Drogenbosse landlose Bauern, im Urwald große Plantagen der verbotenen Pflanze anzulegen. Eine ökologische Katastrophe, die durch die Entlaubungsaktionen der Drogenpolizei noch verschlimmert wurde. Gleichzeitig investierten die Drogenhändler ihre Gewinne in Land. Transaktionen, bei denen mehrere Millionen Dollar in Bar den Besitzer wechselten und damit reingewaschen wurden, waren an der Tagesordnung. Man schätzt, daß sich rund acht Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche heute in Händen von Drogencapos befindet. Das sind zwischen drei und vier Millionen Hektar Land – genug, um die große Mehrheit der landlosen und vertriebenen Bauern auf rentablen Flächen ansiedeln zu können. Eine neue Agrarreform wäre längst angesagt, denn gegenüber 1960 hat sich an der extremen Konzentration von Land nichts geändert. Die Verhältnisse haben sich sogar noch zugespitzt.

Umverteilung nicht mehr Staatssache

Seit den neoliberalen Reformen von César Gaviria geht die Landumverteilung nur mehr über den Markt. Das Landreforminstitut INCORA wird nur aktiv, um Verkäufer und Käufer zusammenzubringen, und den Käufern bis zu 70 Prozent des Preises zuzuschießen. Gewöhnlich wird aber Land minderer Qualität zu überhöhten Preisen angeboten. Die Funktionäre des INCORA sollen dabei in der Vergangenheit auch nicht schlecht weggekommen sein. In einem Land, in dem die wirtschaftliche und politische Macht seit Generationen von einer kleinen Clique kontrolliert wird, ist der Markt mehr noch als anderswo eine Fiktion. Daß die Agrarreform via Markt daher in eine Sackgasse führen mußte, durfte die Verantwortlichen nicht überraschen.
In 16 Jahren sollten 721.000 Familien zu Land kommen und 4,5 Millionen Hektar Land gekauft werden. Tatsächlich wurde die für 1994 bis 1998 angepeilte Zahl von 250.000 Familien weit unterschritten. Beim gegenwärtigen Rhythmus wäre das für 16 Jahre ins Auge gefaßte Programm erst in 110 (!) Jahren erfüllt. Wenn man voraussetzt, daß die Bevölkerung nicht wächst und keine weiteren Vertreibungen stattfinden. Beides sehr unrealistische Annahmen.
Der US-amerikanische Historiker Samuel Huntington, der durch den umstrittenen Kampf der Kulturen auch bei uns bekannt wurde, schrieb schon 1968: „Die Landbevölkerung spielt das Zünglein an der Waage im Prozeß der politischen Modernisierung. Wenn sie das politische System unterstützt und sich nicht gegen die Regierung richtet, ist das System sicher vor Revolutionen. Wenn sie in Opposition ist, dann laufen das System und die Regierung Gefahr, gestürzt zu werden. Die Rolle der Stadt ist immer die Opposition. Die Rolle des Landes ist unterschiedlich: es kann ein Stabilitätsfaktor oder der Funke zur Revolution sein. Die Opposition der Landbevölkerung ist fatal. Wer sie kontrolliert, kontrolliert den Staat.“
Daß die FARC-Comandantes sich an dieser Erkenntnis orientieren und sich daher in erster Linie auf die Landbevölkerung stützen, ist weniger erstaunlich als das mangelnde Bemühen der Regierungen, sich die Sympathie dieser Bevölkerungsgruppe zu sichern. Ihre Politik scheint einzig auf die Städte konzentriert zu sein, wo inwischen 78 Prozent der KolumbianerInnen leben. Das Land wird sich selbst beziehungsweise der Guerilla und den Paramilitärs überlassen. Mit Folgen, wie wir sie alle kennen: Zwangsrekrutierung, Massaker, Vertreibungen und der Militarisierung ganzer Regionen. Vor allem in den Gebieten, die von strategischem Wirtschaftsinteresse sind, werden die Paramilitärs auf Bauern angesetzt, deren Land plötzlich im Wert gestiegen ist.
Alle Konfliktparteien haben die Agrarreform als zentralen Punkt in ihre Wunschliste für Friedensverhandlungen aufgenommen. Doch während die Regierung und die USA eine Landreform in erster Linie als Instrument der Antidrogenpolitik sehen, also um Cocabauern aus dem Urwald herauszuholen und wieder in die legale Wirtschaft einzubinden, fordern die Guerillaorganisationen und selbst die Paramilitärs eine Strukturreform, die das exportorientierte Latifundium zugunsten der Nahrungsmittelproduktion in Klein- und Mittelbetrieben schwächt. Wenn bei den zögernd anlaufenden Verhandlungen zwischen Regierung und FARC eine ernsthafte Agrarreform herauskommt, wäre das schon ein Erfolg, der den Dialog rechtfertigt.

Das bestgehütete Geheimnis Lateinamerikas

Wer sich mit Kolumbien beschäftigt, wird mit den unterschiedlichsten Pressemeldungen zum innerkolumbianischen Konflikt konfrontiert. Immer neue Beschuldigungen, angebliche Verbindungen und Verstrickungen der Konfliktparteien. Erst Anfang Dezember wurde eine Agenturmeldung verbreitet, daß der Iran in der „Entspannungszone“, wo die Guerillaorganisation FARC seit über einem Jahr offiziell präsent ist, in eine Verpackungsfabrik für Fleisch investieren will. Sprengstoffexperten und Militärberater soll es gleich dazu geben. Alarm! Jetzt paktieren die FARC schon mit dem Iran? Wohl kaum. Oder doch?
Solche Verwirrungen haben Methode. Am Ende entsteht der Eindruck, alle Konfliktparteien seien gleichermaßen für die innerstaatlichen Zustände verantwortlich – und werden durchweg in einen Topf geworfen. Die Guerilla wird als Drogenbetrieb und Entführungsmaschinerie ohne sozialen Hintergrund diskreditiert. Dem Paramilitarismus wird andererseits ein politisches Profil gegeben und Selbständigkeit zugesprochen. Der Staat ist das gelähmte Opfer zwischen diesen beiden Akteuren, der alle Jahre wieder eine „Friedensinitiative“ startet.

Entstehung des Paramilitarismus

Das Buch von Raul Zelik und Dario Azzellini versucht, diese Darstellung zu korrigieren und die Verstrickungen des Staates mit dem Paramilitarismus auszuleuchten. Darum wird besonders der Entstehung und Entwicklung des Paramilitarismus – treffend als „uneheliches Kind des Staates“ charakterisiert – viel Platz eingeräumt.
Für die Gründung der ersten Paramilitärs in ihrer heutigen Gestalt wird auf den 3. Dezember 1981 in Cali verwiesen. Damals entstand auf Initiative von Mafiabossen eine Privatarmee mit dem Namen Muerte a Secuestradores (Tod den Entführern), die die Entführungen durch die heute nicht mehr existierende Guerilla M-19 mit Terror verhindern sollte. Bereits ein Jahr später wurde die erste Zusammenarbeit mit einem Geheimdienstbataillon bekannt. Die Armee – also der Staat – hatte erkannt, daß der Paramilitarismus eine geeignete Methode ist, um gegen Rebellen vorzugehen und, „daß man – wenn man die Guerillabewegungen selbst nicht besiegen kann – das soziale Netz verändern muß, aus dem sie hervorgehen.“
Was das bedeutete, wurde kurze Zeit später klar, als der Paramilitarismus als Pilotprojekt im Gebiet des Mittleren Magdalena gestartet wurde. Die Massaker und Massenvertreibungen, die das Land derzeit in brutalster Form erlebt (siehe Kasten), nehmen dort ihren Anfang.

Ökonomische Hintergründe

Doch der Paramilitarismus, so die Autoren, ist weit mehr als nur die schmutzige Form der Guerillabekämpfung. Hinter diesem „Krieg niedriger Intensität“ stehen auch handfeste ökonomische Interessen. Das wird in den Beiträgen von Dario Azzellini zum Kanalbauprojekt in der Region Urabá und zur Drogenökonomie deutlich. Führende Köpfe der Paramilitärs wie Carlos Castaño gelten als die derzeit größten Drogenhändler und Großgrundbesitzer Kolumbiens. „Allein die Familien Castaño und Carranza sollen sich durch Morde und Massaker 3,5 Millionen Hektar Land, das heißt ein Drittel der besten landwirtschaftlichen Flächen Kolumbiens, angeeignet haben.“ Man spricht mittlerweile von einer Gegenlandreform.
Zum anderen machen sich nationale und internationale Konzerne die paramilitärischen Dienste zunutze. Für den Energiesektor werden die British Petroleum (BP), Shell und Texaco (heute Dea) genannt, die unter Mißachtung aller Umweltstandards und Menschenrechte schalten und walten können.
Schon Mitte 1982 knüpften die Erdölfirmen Kontakte zum Aufbau von Milizen. „Man begann bei dem Dorf San Juan Bosco de la Verde auf einem von der Texaco zur Verfügung gestellten Gelände mit dem militärischen Training der neuen Gruppen.“ Dies geschah unter der Federführung einer Armee-Einheit, die dem General Farouk Yanine Díaz unterstand. Dieser gilt, wie etliche andere Generäle, als Schlüsselfigur des Paramilitarismus.
Gerade im ökonomischen Bereich liegt eines der Grundprobleme. In einem Land wie Kolumbien, das mit riesigen Bodenschätzen und immenser Artenvielfalt gesegnet ist, lassen sich unter dem Deckmantel der Guerillabekämpfung riesige Geschäfte machen.

Darstellung der Guerilla

Daß die kolumbianische Guerilla heute noch so einflußreich ist, liegt nach Ansicht der Autoren nicht zuletzt in der langen Geschichte von Bauernaufständen und Protestbewegungen, die weit ins letzte Jahrhundert zurückreichen. Durch eine detaillierte Aufarbeitung der Entwicklung solcher Bauernproteste zur heutigen Guerilla wird plausibel erklärt, daß mit einer kontinuierlichen Niederschlagung legaler Oppositionsformen durch den Staat der Spielraum für politische Arbeit heute gegen Null tendiert.
Allerdings bleibt auch der Guerilla – neben vielen anderen Fehlern – der Vorwurf einer gewissen Mitverantwortung für die extreme Polarisierung in Kolumbien nicht erspart. Daß sie beispielsweise oppositionelle Bewegungen instrumentalisiert und der legalen Opposition somit das Terrain genommen zu hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings relativiert Zelik dieses Vorgehen, wie auch andere Aspekte, indem er das Pferd von hinten aufzäumt: „Wie viele konkrete Verbesserungen der Lebensverhältnisse (…) wurden durch den persönlichen Einsatz von Untergrund-AktivistInnen erzwungen, die Bewegungen organisierten oder Druck auf Unternehmen und Regierung ausübten?“ Eine fragwürdige Argumentation, betrachtet man die heutige soziale Situation und die extreme Militarisierung der Gesellschaft.
Trotzdem muß man die Guerilla von Vorurteilen und Verteufelungen befreien, die über sie im In- und Ausland kursieren, und zugleich deutlich ihre Fehler benennen. Ersteres tun die Autoren mit weit größerem Nachdruck. Sie bemerken spitz, daß „alle Einwände, die man gegenüber dem sandinistischen Nicaragua oder der salvadorianischen FMLN zu machen vergaß, nun nachgeschoben werden.“
Die Forderungen der Guerilla, die sie im aktuellen Friedensprozeß formulieren, muten eher „sozialdemokratisch“ an, so die Autoren. Den Bewegungen geht es um deutliche soziale Veränderungen und einen Umbau des erstarrten politischen Systems. Um „Umstürzler stalinistischer Prägung“, was ihnen permanent vorgeworfen wird, handelt es sich nicht.

Objektivität ohne Neutralität

Daß die Autoren nicht wertfrei argumentieren und es auch nicht wollen, machen sie schon zu Anfang klar: Journalistische „Neutralität“ betrachten sie im Fall Kolumbien mit Skepsis. Um Objektivität und Aufrichtigkeit mit den Fakten geht es ihnen, aber nicht um fragwürdige „Unparteilichkeit“. Zweifelsohne ein nachvollziehbarer Ansatz, denn zu enorm sind die Vorwürfe gegen das politische System in Kolumbien. Wünschenswert wäre allerdings in vielen Fällen eine Nennung der Informationsquellen gewesen, damit die selbstgesetzte Objektivität gewahrt wird.
Nichtsdestotrotz ist dieses Buch eine beeindruckende Anklage gegen die sozialen Verhältnisse Kolumbiens und seine verworrene Repressionspolitik. Ein ehemaliger US-Staatssekretär sprach im Zusammenhang mit der kolumbianischen Ökonomie vom „bestgehüteten Geheimnis Lateinamerikas“. Eine treffende Formulierung für das ganze Land. Vielleicht trägt das Buch dazu bei, dieses Geheimnis etwas zu lüften und sich auch mit der kolumbianischen Guerilla im neuen Jahrtausend objektiver auseinanderzusetzen, als es bisher getan wird.

Raul Zelik / Dario N. Azzellini: „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“, ISP-Verlag, Köln 1999, 246 S.

KASTEN

„…Der General Yanine Díaz trat in Kontakt mit (dem Viehzüchter) Henry Pérez … Danach rief Pérez mich an und sagte mir, daß uns die 19 Händler von Cimitarra auf der Nase herumtanzten … Wenige Tage später war ich in der Militärschule 01, wo einige Leute für eine Militäroperation in der Nähe von San Fernando bei Cimitarra instruiert wurden. Cargalarga (Verantwortlicher des Massakers) erzählte mir, wie sie die Händler umgebracht hatten: `Mann, wir haben eine verdammte Schlachterei veranstaltet … Wir haben sie von der Schule 01 bis nach Palo de Mango (…) gebracht und dort getötet, in Stücke geschnitten und in den Fluß geworfen.` (…) Man schneidet ihnen die Hände, den Kopf und die Füße ab, reißt ihre Eingeweide heraus und wirft sie getrennt in den Fluß, damit die Körper nicht wieder auftauchen. Die Leute wurden immer an dieser Stelle umgebracht, denn die Strömung kommt frontal von vorne und wird Richtung Antioquia umgeleitet. Das ist wie eine Mühle … und dient dazu, daß es keine Spuren gibt.“
Aussage des Paramilitärs „Vladimir“ Alonso de Jesus Baquero
als Kronzeuge gegenüber der Staatsanwaltschaft

No more stars, no more stripes

Die Ausläufer der revolutio-
nären Welle, die den ganzen lateinamerikanischen Kontinent nach dem Sieg der Kubanischen Revolution im Jahre 1959 erfaßte, schwappten auch bis nach Panama. 1968 putschte sich der General Omar Torrijos an die Macht und vertrieb die alteingesessene Oligarchie, die sich an den Fleischtöpfen der USA gemästet hatte. Der charismatische Torrijos verband einen nationalistischen Populismus mit den von Studenten getragenen Protesten, die sich gegen die fortwährende Präsenz der USA in Panama richteten. Torrijo verkörperte somit die klassische Version des lateinamerikanischen Caudillos. Sein Wahlspruch lautete: „Ich möchte nicht in die Geschichte eingehen, ich möchte in die Kanalzone einrücken.“ Erreicht hat er beides.
Angesichts der explosiven Lage in ganz Zentralamerika warnte Henry Kissinger im US-Kongreß vor einem möglichen Guerillakrieg, falls die USA nicht auf die Forderungen Torrijos eingingen. Gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen schloß der demokratische Präsident Jimmy Carter am 7. September 1977 schließlich einen Vertrag, der die USA bis Ende 1999 zum Rückzug verpflichtete, das sogenannte Torrijos-Carter-Abkommen. Während dieser Übergangszeit wurde die Kanalzone von einer Kommission verwaltet, die aus fünf US-Amerikanern und vier Panamesen bestand und der Gesetzgebung der USA unterstand. Zum 1. Januar 2000 soll sie nun durch eine ausschließlich unter panamesischer Kontrolle stehende Verwaltung abgelöst werden. Panama wird die vollständige Souveränität erreichen.
Daran änderte auch die Operation Just Cause nichts, mit der die US-Armee 1989 General Noriega stürzte, der sich einige Jahre vorher an die Macht geputscht hatte und von den USA des Drogenhandels verdächtigt wurde. Sowohl die letzte Regierung unter Ernesto Balladares, als auch die seit September unter Mireya Moscoso amtierende verlangten die Erfüllung des Carter-Torrijos-Abkommens.
Einen letzten ernsthaften Versuch, die US-Militärpräsenz doch noch über das Jahr 2000 hinaus zu verlängern, startete die Clinton-Administration 1995. Sie schlug vor, ein internationales Drogenbekämpfungszentrum mit 3.000 US-Soldaten in Fort Howard einzurichten. Dieses sollte zwar unter der Führung der US-Armee und der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde (DEA) stehen, aber auch Kontingente lateinamerikanischer Armeen einbeziehen. Doch letztlich scheiterte dieses Vorhaben am anhaltenden Widerstand Panamas. 1998 wurden die Verhandlungen darüber schließlich abgebrochen. Die extreme Rechte im US-Kongreß und im Senat um den republikanischen Senator Jesse Helms hält den Verzicht der Demokraten bis heute für ein unentschuldbares Vergehen.

Die neue Strategie
der US-Armee
Insbesondere schmerzt die US-Armee der Verlust des Luftwaffenstützpunktes Fort Howard, den der Oberkommandierende Charles Wilhelm einmal „die Augen und Ohren“ des Südkommandos der US-Armee nannte. Hier starteten jährlich 15 000 Aufklärungsflüge. Per Radar wurde der gesamte Luftraum Lateinamerikas überwacht. Die Station vor den Toren von Panama-City war eine Milliarde Dollar wert. Benjamin Gilman, der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Beziehungen des Repräsentantenhauses meinte kürzlich: „Die USA hätten den Luftwaffenstützpunkt Howard nie aufgeben dürfen.“
Des Verrats an den Interessen der „nationalen Sicherheit“ muß sich die Clinton-Administration dennoch nicht bezichtigen lassen. Als Ersatz für Fort Howard wird im Dezember eine neue Station in Puerto Rico seine Aufgabe übernehmen. Gleichzeitig werden weitere Stützpunkte aufgebaut, so auf den Karibikinseln Aruba und Curaçao, sowie im ecuadorianischen Manto. In Peru kursieren Gerüchte, daß US-amerikanische Elite-Truppen von den Basen Iquitos (Peru) und Coca (Ecuador) aus operieren. In Coca sollen deren Ausbilder auch brasilianisches und kolumbianisches Militär in den Techniken des Dschungelkampfes drillen.
Der Hintergrund ist vor allem die Entwicklung in Kolumbien. General Charles Wilhelm warnte kürzlich vor einer „Balkanisierung Kolumbiens“, die „eine Bedrohung für die ganze Region“ darstelle. Der offizielle Feldzug gegen die Drogen vermischt sich immer offener mit der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla. Die US-Militärhilfe für die kolumbianische Armee wurde in den letzten drei Jahren verdreifacht, nach Israel und Ägypten ist das Land jetzt der drittgrößte Empfänger weltweit. Außerdem werden Militärberater nach Kolumbien abkommandiert. Nach einer Reuters-Meldung sollen es 300 sein, Kolumbiens Armeechef Fernando Tapias spricht von „einem runden Dutzend“. Im Stützpunkt Tolemaida in der Nähe der Hauptstadt Bogotá bilden Militärberater derzeit etwa tausend Soldaten angeblich zur Drogenbekämpfung aus. Im Dezember sollen sie aber nach Tres Esquinas in den Süden verlegt werden, einer Region, wo die FARC-Guerilla operiert.
Eduardo Pizarro, Direktor des Instituts für politische Studien und internationale Beziehungen der Nationalen Universität Kolumbiens, hält sogar eine offene militärische Intervention der USA in Kolumbien mittlerweile für durchaus möglich. Drei Varianten seien denkbar: „Einseitig durch Washington, durch eine interamerikanische Armee, die, wie wir alle wissen, aus etwa 15 000 Nordamerikanern, drei Argentiniern und zwei Haitianern bestehen würde, oder durch eine Intervention der Blauhelme der Vereinten Nationen.“ Ob dies geschehe, hänge von der weiteren Entwicklung ab. Eine Intervention stände Pizarro zufolge auf der Tagesordnung, wenn der kolumbianische Staat kollabiere, es zu einer „Balkanisierung“ käme bei, der die Guerilla große Teile des Südens zu kontrollieren begänne, oder wenn der Konflikt die Region so instabil werden ließe, daß dadurch das Erdöl in Venezuela oder der Panamakanal gefährdet würden.
Obwohl all diese Szenarien auch in Panama diskutiert werden, stehen hier doch andere Probleme im Vordergrund. In die Freude über den Abzug der US-Truppen mischen sich viele Bedenken, Zukunftsängste und auch Bitterkeit. Verärgert reagiert die panamesische Öffentlichkeit vor allem auf die Weigerung der USA für die immensen Umweltschäden aufzukommen, die durch die US-Truppen angerichtet wurden.

Ungewisser Aufbruch
ins neue Jahrtausend
Aufgrund der tropischen klimatischen Bedingungen, die denen in Südostasien gleichen, benutze die US-Armee ihre Basen in den 60er und 70er Jahren als Manöverfeld für den Einsatz von B- und C-Waffen, die später in Vietnam eingesetzt wurden. Der Verdacht, daß auch mit dem dioxinhaltigen Entlaubungsmittel Agent Orange experimentiert wurde, konnte nie ausgeräumt werden. Des weiteren sollen Uranmunition und Senfgas eingesetzt worden sein. Das ermittelte Rick Stauber, der ursprünglich für das US-Verteidigungsministerium eine Bestandsaufnahme durchführen sollte und dann auf die panamesische Seite wechselte, als die US-Behörden versuchten, seine Ergebnisse unter Verschluß zu behalten.
Panama fordert von den USA 500 Millionen Dollar Entschädigung, um die Umweltschäden beheben zu können. Wie notwendig das ist, zeigt, daß seit dem begonnenen Abzug der Truppen bereits 20 Panamesen bei Unfällen mit Altmunition getötet wurden. Noch liegen Tausende alte Granaten im Dschungel. Doch die USA weigern sich beharrlich zu zahlen.
Die Säuberung der US-Basen von chemischen Altlasten ist auch deshalb von großer Bedeutung für Panama, weil das Land sich als Paradies für den Öko-Tourismus verkaufen möchte. Am Gatún-See wird die ehemalige School of Americas von spanischen Investoren für 20 Millionen Dollar in ein Fünf-Sterne-Hotel umgebaut. Ähnliches geschieht an anderen Orten. Doch viele Beobachter bezweifeln, daß der Tourismus in Panama große Chancen hat. Vielversprechender scheint ihnen dagegen, Panama in ein Finanz- und Handelszentrum sowie in einen Standort für die Weltmarktproduktion zu verwandeln und die günstige geostrategische Lage aufgrund des Kanals zu nutzen. Tatsächlich ist bei Colón bereits eine große Freihandelszone entstanden, in der sich viele Maquiladoras (Billiglohnfabriken) angesiedelt haben. Das taiwanesische Unternehmen Evergreen hat bereits vor zwei Jahren den Betrieb eines riesigen Container-Terminals aufgenommen. Der Komplex Balboa-Cristobal-Manzanillo kann über eine Million Container im Jahr abfertigen. Die Konzession für den Betrieb der beiden Häfen Colón und Panama-City wurde ebenfalls 1997 an Hutchison International abgegeben, ein großes Unternehmen aus Hongkong. Die bis jetzt der US-Armee verbliebenen drei großen Basen sollen in ein Transportzentrum für Luft- und Schiffsfracht umgewandelt werden. Aus Fort Clayton soll eine „Stadt des Wissens“ werden, eine mit privaten Geldern errichtete Universität.
Diese Projekte sollen sich nach dem Willen der Politiker in die neoliberale Strukturreform einpassen, die in den letzten Jahren auch in Panama begonnen wurde. Strom und Telekommunikation sind schon privatisiert, weitere staatliche Unternehmen sollen folgen. Auch die ehemaligen Unterkünfte für US-Offiziere und amerikanische Arbeiter und Angestellte der Kanalverwaltung werden privatisiert. Bisher hat diese Politik die Kluft zwischen arm und reich beständig vertieft. Offiziellen Zahlen zufolge lebt heute fast die Hälfte der drei Millionen Panamesen in Armut, ein Viertel davon im Elend. So kontrastiert in Panama-City und Colón das Glitzern des american way of life und das Elend Zentralamerikas. Ex-Präsident Balladares’ Partido Revolucionario Democrático (PRD), für die Martín Torrijos, der Sohn des legendären Caudillos Omar Torrijos bei den Wahlen im Frühjahr kandidierte, wurde hauptsächlich aus Unmut über die soziale Situation nicht mehr gewählt. Doch auch Mireya Moscoso vom Partido Arnulfista (PA) folgt trotz vieler Versprechen von sozialen Verbesserungen der neoliberalen Politik.
Ob sich der erhoffte Boom also wirklich einstellt und Panama, wie angestrebt, den Entwicklungsweg der südostasiatischen Tigerstaaten geht, wird sich erst erweisen. Noch ungewisser ist, ob dieser Weg den PanamesInnen aus der Armut helfen wird. Eine sichere Bank wird auf jeden Fall der Kanal bleiben. Gegenwärtig belaufen sich die Einnahmen aus den Benutzungsgebühren auf 750 Millionen Dollar im Jahr. Es kursieren allerdings Befürchtungen, daß die politische Elite Panamas die Übergabe des Kanals nutzen wird, um erst einmal selbst kräftig davon zu profitieren. Aus der Luft gegriffen sind diese Ängste nicht. Von den elf Personen, die der kürzlich geschiedene Präsident Ernesto Pérez Balladares ausgewählt hat, um die neue Kanalverwaltung zu führen, sind vier familiäre Verwandte. So könnte die Hoffnung vieler PanamesInnen, daß die Rückgabe des Kanals eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, Schulen und Bibliotheken ermöglichen könnte, schnell zerplatzen.

Der erste Teil dieses Artikels erschien in der Dezemberausgabe LN 306.

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Das Thema Friedensgespräche hat in Kolumbien Hochkonjunktur. Zumindest bei den beteiligten Akteuren. VertreterInnen der FARC-Guerilla und der Regierung treffen sich in regelmäßigen Abständen, um über staatliche Reformen zu beraten. Beide Seiten betonen, daß sich die Gespräche über viele Monate, wenn nicht gar Jahre hinziehen können. Zu tief sitzt das Mißtrauen, daß sich durch frühere gescheiterte Verhandlungen hartnäckig hält. Netterweise ist man kürzlich auf die Idee gekommen, via Bildschirm, e-mail und Podiumsdiskussion VertreterInnen der “normalen Gesellschaft” zeitweise an den Unterredungen zu beteiligen und ihnen Mitsprachemöglichkeiten zu geben. Ein absurdes Vorgehen – behaupten doch beide, die KolumbianerInnen zu vertreten. Es wird über, nicht mit der Bevölkerung verhandelt.
Die Jahrtausendwende zeigt ein Land, das auf dem Kontinent vielleicht seinesgleichen sucht. Die jahrzehntelange Gewalt zwischen Staat und Guerilla hat sich mittlerweile in allen Schichten etabliert. Gewalt dient als Allheilmittel, um Konflikte zu lösen. Die Mordrate übersteigt mit über 30.000 Toten jährlich die Opfer der militärischen Auseinandersetzungen um ein Vielfaches.
Doch damit nicht genug: Personen oder Organisationen, die sich mit der katastrophalen Situation im Land auseinandersetzen, eine Lösung suchen oder Verantwortliche anklagen, werden von Paramilitärs zu “militärischen Zielen” erklärt und mit dem Tode bedroht. Viele MenschenrechtsaktivistInnen sind bereits ums Leben gekommen, andere im Exil. Wer trotzdem weitermacht, lebt mit der ständigen Angst, Ziel eines Anschlags zu werden. So hat sich im Laufe der Jahre eine zwischenmenschliche Atmosphäre entwickelt, die meist nur noch Freund oder Feind kennt. Der öffentliche Raum wird zu gefährlich, um an einer Gesellschaft mit Würde arbeiten zu können. Wer es dennoch tut, gerät in die Schußlinie.
Die ersten Opfer der Gewalt sind die schwächsten Glieder in der Gesellschaft. Ethnische Minderheiten und einfache Bauern werden von ihrem Land vertrieben, um wirtschaftlichen Großprojekten nicht im Wege zu stehen. Die derzeitige Wirtschaftskrise verstärkt die Entwurzelung der Menschen weiter, läßt die Städte mit ihren riesigen Armutsvierteln aus allen Nähten platzen und marginalisiert diese anonymen Massen weiter. Zurück bleibt ein verwüstetes Land: 75 Prozent der Bevölkerung müssen heute in den Städten ums Überleben kämpfen. Exakt soviele haben vor 30 Jahren noch auf dem Land gelebt. Dieses ist zum politischen, militärischen und wirtschaftlichen Schlachtfeld geworden. Wer dort noch lebt, wird zum Ziel von Massakern der Paramilitärs. Diese versuchen, die soziale Basis der Guerilla auszulöschen und den enormen Reichtum Kolumbiens an Bodenschätzen und Biodiverstät in den Händen weniger zu konzentrieren. Mit fatalen Folgen: Millionen leben in Angst, sind extrem verarmt und werden aus ihrem sozialen Gefüge herausgerissen. Ein Pulverfaß, das jederzeit explodieren kann.
Nun sind die Konfliktparteien mehr denn je gefragt, eine politische Lösung zu finden, besonders die Regierung. Es ist zweifelhaft, ob das Land jemals wieder solch eine Chance bekommt, den alle Bereiche umfassenden Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen. Das Säbelrasseln beider Seiten während des Dialogs – und nicht zuletzt auch der USA mit ihren Interventionsbestrebungen – läßt Böses erahnen. Die Regierung Pastrana muß bereit sein, dem Geist des Paramilitarismus abzuschwören. Nicht nur verbal, es müssen Taten folgen. Erst an einer strikten Bekämpfung dieses Übels wird sich der Friedenswille der Regierung zeigen. Doch dazu muß sie die eigenen Reihen von Mitverantwortlichen säubern, sowohl die intellektuellen Urheber als auch die Täter in den Reihen der Armee. Die Liste ist lang. Sollte es – mit viel Optimismus – in naher Zukunft zu einem Friedensschluß kommen, wird das Land noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, an den Folgen des Bürgerkriegs zu leiden haben. Die Schäden an der Gesellschaft werden nicht mit einer Unterschrift auf einem Friedensvertrag beseitigt.

Mosaik der Gewalt

Im Südwesten Bogotás gehen die Armenviertel Bosa und Ciudad Bolívar nahtlos über in die Gemeinde Soacha. Die Anhäufung von Backsteinbaracken und notdürftigen Wellblechhütten ist die neue Heimat für Hunderttausende, die für sich auf dem Land keine Zukunft mehr sehen. Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Einwohnerzahl Soachas verfünfzehnfacht – auf heute rund 850.000. Die größte Gruppe der Neuzuwanderer besteht aus desplazados/as, internen Vertriebenen. Täglich kommen 21 von ihnen an, vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche.
Die Gemeindeverwaltung ist mit ihrem Jahresetat von umgerechnet 24 Millionen DM restlos überfordert – 80 Prozent der Einwohner haben keinen Trinkwasseranschluß, bei 55 Prozent fehlt die Abwasserkanalisation. Fast die Hälfte der Vertriebenen ist arbeitslos. Ähnlich sieht es in vielen kolumbianischen Städten aus, die mit den Folgen des Krieges fertig werden müssen. Nach Schätzungen haben seit 1985 etwa 1,7 Millionen Menschen die Flucht ergreifen müssen.

Regionale Krisenherde

Lange Zeit ballte sich Kolumbiens Reichtum im Städtedreieck Bogotá-Medellín-Cali zusammen. In den neunziger Jahren sind – parallel zur Etablierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells – neue, strategisch bedeutsame Entwicklungsgebiete entstanden wie die Ölfelder am Ostrand der Anden, die weiten Flächen im karibischen Hinterland und entlang des Río Magdalena, in denen die Agroindustrialisierung vorangetrieben wird, oder die artenreiche nördliche Pazifikregion (Chocó, Urabá). Dort soll – als moderne Alternative zum Panamakanal – eine neue interozeanische Verkehrsachse gebaut werden. Nicht zufällig sind diese Regionen einer regelrechten „Gegenagrarreform“ durch die Paramilitärs unterworfen. Neben den Pipelines, die zur karibischen Küste hinführen, beherbergen sie auch neue Zentren des Kokaanbaus, beispielsweise in Nordsantander an der venezolanischen Grenze. In all diesen Gebieten toben heftigste Kämpfe zwischen Paras und der Guerilla um die territoriale Vorherrschaft , und von dorther stammt auch das Gros der Vertriebenenen.
Im Süden des Landes, zwischen den Llanos und der Amazonasregion, liegt die Hochburg der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), die sich heftige Kämpfe mit den Regierungstruppen unweit der entmilitarisierten Zone liefern. Die Paramilitärs sind dort mittlerweile ebenfalls präsent. Ökonomisch attraktiv ist die Region wegen des Kokaanbaus und der Erdölförderung in Putumayo an der Grenze zu Ecuador. Schließlich zieht der Krieg auch in den bevölkerungsreichen andinen Kerngebieten immer weitere Kreise, etwa in der reichen Kaffee-Region nördlich von Cali oder in der Provinz Antioquia.

Gewalt im Alltag

Die KolumbianerInnen mußten längst lernen, mit der Gewalt in all ihren Erscheinungsformen zu leben. Daß Mord und Totschlag, aber auch alle anderen erdenklichen Gewaltphänomene in den letzten 20 Jahren derart um sich gegriffen haben, ist vor allem auf den Drogenhandel zurückzuführen, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft geprägt hat. Entführungen, der Terror mit Autobomben oder auch die direkten Opfer des Krieges sind dabei nur die spektakuläre Spitze des Eisbergs – etwa 90 Prozent der Gewaltverbrechen werden der „gewöhnlichen Kriminalität“ zugerechnet.
Ständig auf der Hut sein vor Einbrüchen, Überfällen oder Autoklau – das muß man in nahezu jeder lateinamerikanischen Metropole. In den Armenvierteln kommt es in den Augen der Polizei schon fast einem Verbrechen gleich, jung und männlich zu sein. Die derzeitige Rekordarbeitslosigkeit von über 20 Prozent läßt die Zahl der Eigentumsdelikte in die Höhe schnellen und trägt ebenfalls zum kollektiven Gefühl der Unsicherheit bei. Darunter leiden besonders Kinder und Jugendliche, deren Freiräume sowieso bedeutend geringer sind als etwa in Europa.
Infolge der Rezession haben viele Angehörige der städtischen Mittelschichten in diesem Jahr finanzielle Engpässe in einem bisher unbekannten Ausmaß zu spüren bekommen. Hunderttausende müssen um ihren Hausbesitz bangen, weil sie die fälligen Raten nicht mehr bezahlen können. Die Ausbildung der Kinder an den gut funktionierenden Privatschulen wird unerschwinglich. Mangels Perspektive sind immer mehr Menschen bereit, die Unwägbarkeiten eines Neuanfangs im Ausland in Kauf zu nehmen – noch nie wurden die Botschaften der Industriestaaten so bestürmt wie in diesem Jahr.

Geht es 2000 wieder aufwärts?

Doch der wirtschaftliche und auch politische Tiefpunkt um die Jahresmitte scheint überwunden. Die derzeitige Stimmung für Friedensverhandlungen ist wieder günstiger geworden. Seit Ende Oktober treffen sich die Unterhändler von FARC und Regierung ganz offiziell in regelmäßigen Abständen. Allerdings geht es noch um Verfahrensfragen. Die Bevölkerung kann sich über Telefonate, Briefe, e-mail und live auf „öffentlichen Hearings“ einbringen, die in der Entspannungszone um San Vicente del Caguán stattfinden werden.
Auch das Ejército de Liberación Nacional (ELN), die in den letzten Wochen mit massiven Sprengungen von Strommasten in Antioquia von sich reden machte, scheint jetzt als Gesprächspartner akzeptiert. Ihr Chefunterhändler Pablo Beltrán trifft sich ständig mit VertreterInnen von Zivilgesellschaft und Regierung in Caracas und Havanna. Mittlerweile hat die ELN alle Geiseln von Massenentführung aus einer Kirche in Cali freigelassen, was die Regierung zur Bedingung für einen formellen Dialog gemacht hatte. Der Knackpunkt bleibt die Räumung eines Gebietes nach FARC-Vorbild, die kompliziert zu werden verspricht.
Der Wahlkampf in den USA verschafft zusätzlich Luft. Zurecht verweist Beltrán darauf, daß es die Zeit bis zum Präsidentenwechsel zu nutzen gelte, da etwa ein George Bush II. die US-Intervention in Kolumbien noch energischer vorantreiben könnte. Selbst im günstigsten Fall wird es allerdings wohl noch Jahre dauern, bis die Waffen schweigen.

Brennpunkt Medien

Wenn es das größte Verlangen einer Gesellschaft – wie der kolumbianischen – ist, mit der langen und nutzlosen Gewalt, in der wir seit vielen Jahren leben, Schluß zu machen, dann haben JournalistInnen die Aufgabe, dieses gesellschaftliche Begehren zu unterstützen. Dennoch ist dies nicht immer der Fall – aus Angst vor Kompromissen, aus Skepsis oder schließlich auch, so traurig dies ist, weil einige JournalistInnen zu simplen Kriegstreibern geworden sind.
Die wiedergekäute These vom objektiven Journalismus ist für viele Professionelle der Medienlandschaft zum Vorwand geworden, ihre Rolle als Anwälte der Gesellschaft und Wortführer der großen Mehrheiten zu vernachlässigen – jener, die in unserem Land nicht gehört werden und dabei im Kreuzfeuer zwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs die tagtäglichen Opfer der Gewalt sind.
Ich halte diese Einleitung für notwendig, damit verständlich wird, warum ich das Land verlassen mußte. Seit vielen Jahren habe ich unterschiedlichen Friedenskomitees angehört, die sich dafür eingesetzt haben, daß sich sowohl die Regierung wie auch die Guerilla an den Verhandlungstisch setzen und zu einer endgültigen Einigung gelangen. In letzter Zeit haben wir uns dafür, zusammen mit Persönlichkeiten der unterschiedlichsten politischen Überzeugungen, eingesetzt, daß die Guerilla-Gruppe Ejército de Liberación Nacional (ELN) in Kontakt mit einem Delegierten des Präsidenten tritt und über die Freilassung von mehr als hundert Entführten verhandelt wird. In einigen Fällen wurde die Freilassung auch tatsächlich erreicht. Dann wurde einer unserer Mitstreiter, der Fernseh- und Radiojournalist und Komiker Jaime Garzón, ermordet (vgl. LN 303/304). Wenige Tage zuvor war in der Nachrichtenredaktion des Senders, bei dem wir beide arbeiteten, per Telefon eine an uns beide gerichtete Drohung eingegangen. Dank der Solidarität der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte konnte ich Kolumbien verlassen, um mich für ein Jahr in Hamburg niederzulassen.

Journalismus unter Zensur

Der kolumbianische Journalismus ist in den verschiedenen Etappen der diversen Gewaltwellen, die das Land im ausgehenden Jahrhundert durchlebt hat, immer wieder das Ziel von Attacken gewesen: Während der langen bewaffneten Konfrontation zwischen den beiden traditionellen Parteien, Konservativen und Liberalen, die das Land schon immer regiert haben, wurden zuerst die Tageszeitungen angezündet, geschlossen oder zensiert. Danach gab es eine Zensur gegen die Presse der Opposition, Bombenattentate oder Sabotage, damit kritische Zeitschriften nicht in Umlauf kommen konnten, so wie im Fall der Wochenzeitschrift Alternativa, die der Schriftsteller Gabriel García Márquez herausgegeben hat und bei der ich das Glück hatte, Reporter sein zu dürfen. Anschließend folgte die Verfolgung durch die Drogenhändler, die Journalisten wie Guillermo Cano, Direktor der Tageszeitung El Espectador und ein Beispiel von einem Pressemenschen, einfach umbringen. Rund hundert KollegInnen verschiedener Medien des Landes, unter ihnen Journalisten, Kameraleute und Fotografen, wurden in letzter Zeit ermordet.
Unglücklicherweise sieht es nicht so aus, als ob sich diese Situation in nächster Zeit ändern würde, und zwar aus den folgenden Gründen:
1) Der Friedensprozeß, der mit der Guerilla-Gruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) begonnen wurde, kann viele Jahre dauern – wenn er nicht sogar bald scheitert, so wie es einige scharfsinnige Analytiker voraussagen. Sollte dies tatsächlich eintreten, dann erwartet Kolumbien unweigerlich eine noch blutigere Polarisierung des Konfliktes.
2) Die Vereinigten Staaten haben entschieden, eine aktivere Rolle in dem Konflikt einzunehmen, mit dem Argument, daß die Guerilla-Gruppen auf die eine oder andere Weise mit dem Kokain- und Heroinhandel in Verbindung stehen. Ihre Beteiligung bedeutet mehr Mittel für militärische Zwecke und eine Intensivierung der bewaffneten Konfrontation.
3) Die paramilitärischen Gruppen wie auch die FARC-Guerilla scheinen eher daran interessiert zu sein, das Niveau der bewaffneten Auseinandersetzung zu erhöhen: Sie erwerben nicht nur immer modernere Waffen im Ausland, sonderen bauen auch ihre Stützpunkte aus und dringen in neue Gebiete vor, um neue Kriegsfronten zu eröffnen.
4) Die einflußreichsten Unternehmer haben sich auf egoistische Weise gegen einen Friedensprozeß ausgesprochen, indem sie die umstrittene These vertreten, sie bräuchten keine ökonomischen Opfer zu bringen, da sie ihr Geld ja ehrlich verdient hätten. Und das in einem Land, in dem die sozialen Ungleichheiten jeden Tag zunehmen und Unternehmer und Bänker im Vergleich zu den bescheidenen Einkünften der Bevölkerungsmehrheit über skandalös hohe Gewinnspannen verfügen.

Politische Gewaltkultur

In- und ausländische Experten sind sich einig, daß Kolumbien eine demokratische Revolution seiner Institutionen benötigt, eine bürgerliche und modernisierende Revolution, die die rückständigen Strukturen in den ländlichen Gegenden durchbricht und die freie Partizipation neuer politischer Kräfte erlaubt. Eine Revolution, die mit der alten herrschenden Klasse – korrumpiert durch das Geld der Drogenhändler und zu weiten Teilen morsch und verdorben – aufräumt.
Kolumbien muß weiterhin eine ebenso alte und traditionsreiche politische Kultur der Gewalt überwinden, ein Erbe der bewaffneten Konfrontation zwischen Liberalen und Konservativen. Die diversen Guerilla-Gruppen übernahmen diese Parteien-Tradition und verstärkten sie noch mit der marxistischen These, daß Gewalt die Geburtshelferin der Geschichte sei. Nicht umsonst nimmt auch García Márquez in “Hundert Jahre Einsamkeit” Bezug auf diese gewalttätige Tradition: ein Arzt aus Macondo, Alirio Noguera, überzeugt viele der jungen Leute im Dorf, liberal zu wählen, um ihnen klarzumachen, daß Wahlen ein Farce sind und das einzig Effiziente die Gewalt sei.
Um diese neuen Bedingungen zu schaffen, die es Kolumbien erlauben, zu einem modernen Land ohne Gewalt zu werden, ist es notwendig, einen weiteren Brennpunkt der Gewalt zu eliminieren: den Drogenhandel. Zu Recht meinen einige Analytiker, die Drogenhändler hätten am wenigsten ein Interesse daran, daß die Guerilla den bewaffneten Kampf aufgibt, da sie von der Präsenz der FARC als der wichtigsten Guerilla-Gruppe in den Anbau- und Verarbeitungszonen von Kokain und Heroin profitieren. Insofern hat das Friedensabkommen mit den bewaffneten Aufständischen doppelte Wichtigkeit: es geht nicht nur darum, einen Gewaltfaktor zu beseitigen, sondern auch darum, einen Weg im Kampf gegen die Drogen-Kartelle freizumachen.

Internationale Aktivität ist nötig

Für einen dauerhaften Frieden muß Kolumbien die soziale Ungerechtigkeit beenden: der Mindestlohn liegt in unserem Land bei umgerechnet 230 DM im Monat, die Arbeitslosigkeit erreichte im ersten Halbjahr 1999 20 Prozent, während weitere ArbeiterInnen aufgrund der Schließung von Unternehmen entlassen wurden. Von sechs Millionen KolumbianerInnen mit Arbeit bekommen 25 Prozent den Mindestlohn, und nur sechs Prozent erhalten mehr als sechs Mindestlöhne pro Jahr. Öffentliche Krankenhäuser werden wegen Geldmangel geschlossen, und die Bildung – sei es an den Grundschulen, weiterführenden Schulen oder Universitäten – befindet sich in einer tiefen Krise. Die schwierige Lage in Kolumbien erfordert den Beistand der internationalen Gemeinschaft, nicht nur als Beobachterin des Konfliktes, sondern auch als Vermittlerin.
Europa, und vor allem die Europäische Union, sollte sich mit unserer schrecklichen Realität intensiver beschäftigen und ihre Erfahrungen und Weisheiten aus eigenen befriedigend gelösten Konflikten einbringen. Anders als viele andere bin ich der Meinung, daß wir KolumbianerInnen mit unseren Problemen nicht mehr alleine fertig werden und deshalb internationale Aktivität brauchen. Keine militärische, sondern Beratung und internationalen Druck, damit die, die nicht an einer friedlichen Lösung des Konfliktes interessiert sind, dazu gebracht werden, ihre radikale Position aufzugeben. Das Schlimmste, was uns passieren könnte, ist, daß Europa und die Welt uns aufgeben.

Übersetzung: Elisabeth Schumann-Braune

KASTEN

Die Biographie eines bedrohten Friedensstifters

Der 57jährige Hernando Corral ist seit dem 13. Oktober Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. In Kolumbien steht der Journalist auf der Todesliste paramilitärischer Gruppen. Mehrfach wurde er bereits mit dem Tode bedroht. Der Grund: Seit Jahren vermittelt Corral im Friedensprozeß zwischen Regierung und den Guerillaorganisationen. Er ist einer der wenigen kolumbianischen JournalistInnen, die sich noch kritisch mit den Zuständen in Kolumbien auseinandersetzen.
Bereits 1978 gab es den ersten Bombenanschlag auf sein Büro. Bis 1989 arbeitete er als Redakteur der linken Zeitschrift Alternativa und als Reporter und Nachrichtensprecher für den kolumbianischen Fernsehsender TV-Mundo. Zwischen 1989 und 1990 ging er das erste Mal ins Exil nach Spanien, nachdem er ständigen Todesdrohungen ausgesetzt war.
Von 1992 bis 1999 war er stellvertretender Direktor und Chefredakteur des kolumbianischen Fernsehkanals Tele 7, sowie Koordinator zweier Gruppen, deren Aufgabe es war, den Friedensprozeß zu analysieren. Im September 1999 erhielt er mit dem Simon Bolívar-Nationalpreis den höchsten zu vergebenden Journalistenpreis in Kolumbien. Kurz danach mußte er wiederum ins Exil gehen.
Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte vergibt jährlich fünf bis acht Stipendien an Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und deswegen verfolgt werden. Sie sollen hier – frei von Bedrohung – politisch arbeiten können. Die Stiftung übernimmt die gesamten Kosten für den Aufenthalt und bittet Personen, die ähnliche Fälle kennen, sich mit der Stiftung in Verbindung zu setzen.
Kontaktadresse: Martina Bäuerle, Osterbekstraße 96, 22083 Hamburg, Tel: 040-42863-5757, Hamburger-Stiftung@t-online.de

Es lebe der Mainstream!

So einfach ist das. Die arme Regierung steht im Kreuzfeuer der „Terrororganisationen“. Infamerweise beruft sich der Ex-Linke Volmer für diese Interpretation auf kolumbianische NGOs, die seit Jahren im „schmutzigen Krieg“ von Paramilitärs und ihren Helfershelfern in den „Sicherheitskräften“ dezimiert werden. Bei den AktivistInnen, die auch heute unter ständiger Bedrohung arbeiten, haben die Auslassungen des Drittweltexperten aus dem Auswärtigen Amt Kopfschütteln hervorgerufen.
Volmer vergröbert noch das Argumentationsmuster der kolumbianischen Regierung, die sich im Ausland gerne als Opfer der Gewalt von „links“ und „rechts“ geriert. So hofft sie, die Milliardenbeträge für ihren Plan Colombia lockermachen zu können. Washington soll dabei seine Militärhilfe weiter aufstocken, die gleichermaßen in den Drogenkrieg wie in die Aufstandsbekämpfung wandert. Die EU wäre schwerpunktmäßig für die soziale Seite des Aufbauprogramms zuständig.
Die Paras sind zwar keine Marionetten der Regierung. Ihr Wachstum hat – vor allem auch als Reaktion auf die Größe der Guerilla – schon längst eine Eigendynamik entfaltet, die langfristig Friedensverhandlungen auch mit ihnen erforderlich machen wird. Aber nach wie vor führen sie Massaker unter Tolerierung oder aktiver Unterstützung von Teilen der Armee aus. Wie ihren Vorgängerinnen fällt der Regierung wenig mehr ein, als diese vielfach dokumentierten Verbindungen herunterzuspielen.
Auch die moralisierende Disqualifizierung der Guerilla als „Terrororganisationen“ führt in eine Sackgasse. Bei aller berechtigter Kritik an Anschlägen auf Pipelines und Strommasten, Zwangsrekrutierungen, Entführungen, der Hinrichtung von Zivilisten und last but not least – im Falle der FARC – der taktischen Zusammenarbeit mit den Narcos: Der Krieg in Kolumbien kann nur durch Verhandlungen beendet werden, und dann werden vielleicht aus sogenannten „Terroristen“ plötzlich Minister – siehe Nordirland.
Zu kurz greift Volmers Vorwurf, die Guerilla habe ihre sozialen Ziele verraten und sei zu bloßen „Handlangern der Drogenmafia“ mutiert. Die Guerilla war in ihrer Entstehungsphase eine Antwort auf das geschlossene Zweiparteiensystem, das Sozialreformen und eine politische Partizipation dritter Kräfte konsequent unterdrückte. Heute haben die FARC aufgrund ihrer militärischen Stärke die Oligarchie ernsthaft in Bedrängnis gebracht und zumindest die Perspektive auf eine Gesellschaft jenseits neoliberaler Parameter aufrechterhalten – was von ihrer sozialistischen Rhetorik in der Praxis übrigbleiben wird, wird sich zeigen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren besteht jedoch jetzt die reale Chance, durch Fortschritte in den Friedensverhandlungen den Falken auf allen Seiten das Wasser abzugraben.
Doch auf diesem Ohr stellt sich die Bundesregierung taub. Man muß ja nicht die Fehler des Geheimdiplomaten Schmidbauer wiederholen, der Gespräche zwischen ELN und kolumbianischer Regierung im Kanzleramt einfädeln wollte, gleichzeitig aber dem damaligen Präsidenten Samper die regen Vermittlerdienste des Agentenpärchens Mauss bei Entführungen verschwieg – mit den bekannten Folgen.
Gewiß, auch die kolumbianische Diplomatie hat wegen ihrer Fixierung auf Washington gegenüber der EU noch keine klare Linie gefunden. Aber die Lage in Kolumbien entzieht sich simplen Schwarz-Weiß-Mustern, wie Volmer spätestens bei seinem Besuch in Bogotá erkannt haben dürfte. Was hindert die Bundesregierung eigentlich daran, stärker als bisher üblich, Druck auf Pastrana wegen der katastrophalen Menschenrechtslage zu machen? Oder, wenn die ELN – wegen Mauss und wegen ihren wohlbegründeten Vorbehalten gegenüber den Gringos – Gesprächspartner in Europa sucht: Wäre dies nicht die Chance, die Entführungen und die anderen zahlreichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die Guerilla in direkten Gesprächen zum Thema zu machen?
Die repressive Antidrogenpolitik, die Kolumbien – und ganz Lateinamerika – von den USA aufgezwungen wird, ist grandios gescheitert: Sie kann den Drogenhandel nicht eindämmen und heizt die Konflikte in und um Kolumbien an. Hier vor allem wäre dringend ein Gegengewicht seitens der EU gefragt und nicht ein bequemes Lavieren im Mainstream, damit man nur ja keine Empfindlichkeiten im US-“Hinterhof“ ankratzt. Aber von grünen Renegaten ist das wohl am allerwenigsten zu erwarten.

Ein Leben in Entspannung

Bis vor wenigen Monaten gehörte die baumbestandene Plaza von San Vicente del Caguán Verkaufsständen mit gebratenem Fleisch, Pizza oder Eis, den Schuhputzern, fliegenden Händlern und Wahrsagerinnen. Nun hat sich das Angebot für die flanierenden Familien und Paare erweitert. Jeden Samstag betreten Comandante Fernando und einige andere Uniformierte eine zusammengezimmerte Tribüne unter einem Spruchband: „No más Narco-Ejército“ – Schluß mit der Narcoarmee. Der 41-jährige Fernando, seit einem Vierteljahrhundert mit der Guerilla in den „kolumbianischen Bergen“, ist der Beauftragte der FARC für die Sicherheit in dem Städtchen San Vicente del Caguán, der größten Gemeinde in der Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens. Seit dem Abzug der Armee bewegen sich die Guerilleros in ihren grünen Tarnanzügen unangetastet durch das „Friedenslabor“ von San Vicente de Caguán.
Zu den Neuerungen seit dem Einmarsch der FARC-Guerilla gehören die samstäglichen Informationsveranstaltungen auf der Plaza. Comandante Fernando verliest die neuesten Nachrichten aus dem Städtchen, kommentiert die Ereignisse der Woche und verkündet Mitteilungen der FARC-Führung zum Friedensprozeß. Das Mikrofon ist, so erklärt Fernando, auch für die ZuhörerInnen offen, allerdings würde davon so gut wie kein Gebrauch gemacht. „Die Leute sind so zurückhaltend,“ erklärt er, „weil sie Angst haben, ein Mikro der Guerilla zu benutzen, ohne zu wissen, wer zusieht oder zuhört. Wenn wir aber Radiosendungen mit Hörerbeteiligung in einem lokalen Sender veranstalten, reicht die Zeit nie für die vielen Fragen und Kommentare aus.“ Die Unsicherheit der Menschen sitzt tief. Zwar wurde der Armeeabzug aus San Vicente und weiteren vier Gemeinden zunächst auf unbestimmte Zeit für die Dauer der Friedensgespräche verlängert, aber niemand weiß, wann die Armee zurückkommt und welchen Repressalien die Menschen ausgesetzt werden, die mit den Guerilleros in Kontakt stehen oder sich bei ihren Veranstaltungen äußern. „Ich habe in den letzten Monaten schon so viele Journalisten in das FARC-Lager oder nach La Machaca gebracht,“ meint ein Taxifahrer auf dem Rückweg von dort, daß ich Angst habe vor dem Tag, an dem die Guerilla wieder abzieht. Dann ist keiner mehr da, der uns beschützen kann.“

Fast alles beim Alten

Von Anfang an kursierten viele Gerüchte um die zona de despeje im Südosten Kolumbiens. Auf der Suche nach Sensationen berichteten einige Zeitungen über Verbote, welche die FARC-Guerilla mit ihrem Einzug verhängen würde: Männer dürften in ihrem Einflußbereich weder Ohrringe noch lange Haare tragen, Diskotheken würden geschlossen, eine strenge Sperrstunde eingeführt und überhaupt alles verboten, was Spaß macht. Tief verwurzelte Vorurteile der kolumbianischen Gesellschaft wurden befriedigt, mit der Realität hatte das aber wenig zu tun. Comandante Joaquín Gómez, einer der drei Verhandlungsführer in der Entspannungszone, schmunzelt beim Gedanken an die Horrormeldungen über das Regime der FARC. „Wir haben wirklich herzlich gelacht über das, was wir in den Zeitungen lasen. Mit solchen Bagatellen können wir uns gar nicht befassen, da gibt es viel wichtigere Dinge zu tun.“
Von strenger Kontrolle oder einem strikten Regime ist in San Vicente in der Tat wenig zu spüren. Der Umsatz der meisten Geschäfte ist nach kurzer Flaute steigend, die wenigen Hotels und Restaurants freuen sich über die vielen JournalistInnen und Regierungsfunktionäre, die das Städtchen aufgrund seiner politischen Sonderstellung anzieht. Auch nach dem Einmarsch der Guerilla ist die im Volksmund und zu Recht „Sauna“ genannte Diskothek schräg gegenüber der Kathedrale jeden Samstagabend brechend voll, junge und nicht mehr ganz so junge Leute schwitzen bis tief in die Nacht im Rhythmus von Salsa, Merengue und Cumbia. Bis jetzt hat noch niemand von der FARC das im Moment vermutlich bedeutendste Kulturzentrum in San Vicente schließen wollen.
Das einstige Kulturhaus des Viehzüchterstädtchens, in dem gerade von iranischen Investoren ein modernes Schlacht- und Kühlhaus gebaut wird, hat dagegen eine neue Bestimmung bekommen. Heute beherbergt es die Beschwerdestelle der FARC, die gleichzeitig als Anlaufstelle für JournalistInnen dient, die aus allen Teilen der Welt nach San Vicente kommen und mit den FARC Kontakt aufnehmen wollen. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Drinnen nimmt Compañera Nora die Klagen der BürgerInnen entgegen „Wir versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden,“ erklärt sie in einer kurzen Pause. „Die Menschen kommen freiwillig, wenn wir sie zitieren, und sie akzeptieren unsere Urteile.“ Die Guerilla hat heute in vielen Bereichen öffentliche Aufgaben übernommen. Die Kontrolle der öffentlichen Sicherheit obliegt jedoch formal der eigens gegründeten Zivilpolizei, die nur mit Schlagstöcken bewaffnet durch San Vicente patrouilliert, Auseinandersetzungen schlichtet und Verkehrssünder zur Kasse bittet. „Größere Probleme hat es noch nicht gegeben,“ meint deren Leiter, „aber die Arbeit ist nicht ganz ungefährlich.“

“Riesige Chancen“ für das Städtchen

Oberster Dienstherr der Zivilpolizei und gleichzeitig höchste Autorität in der Gemeinde ist Bürgermeister Omar García. Geschickt nutzt er das große Interesse im In- und Ausland am kolumbianischen Friedensprozeß, um vor allem in Europa Geld für Infrastrukturprogramme locker zu machen. „Der Entmilitarisierungs- und Friedensprozeß bietet uns eine riesige Chance, die traditionelle Rückständigkeit und die Vernachlässigung durch die Zentralregierung zu überwinden,“ erklärt er. „Wir bauen dabei auch auf die Unterstützung der Guerilla, die auf allen Ebenen Einfluß auf die Geschicke des Städtchens nimmt.“ Einen Widerspruch zum Gemeinwohl und der kolumbianischen Verfassung mag er darin nicht erkennen. Nur in der Frage der Rechtsprechung durch die Guerilla ist er skeptisch und sieht die juristischen Laien ungern im Richteramt. So wie die meisten BürgerInnen des Städtchens zollt er indes den Aufständischen Anerkennung auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung. „Ganze sechs Menschen sind seit ihrem Einmarsch ermordet worden – so viele starben zuvor jede Woche eines unnatürlichen Todes.“ Dieses Phänomen ist in vielen Gebieten unter FARC-Kontrolle zu beobachten. „Die Guerilla hat in diesen Regionen praktisch staatliche Aufgaben übernommen,“ bestätigt Diego Pérez, der stellvertretende Leiter des jesuitischen Forschungsinstituts CINEP in Bogotá, die ausgeprägte Verankerung der Aufständischen in der Zivilbevölkerung. „Sie wendet Recht an, auf ihre Art, aber sie übernimmt die Rechtsprechung. Sie schlichtet Konflikte, löst alltägliche Probleme der Gemeinden und ist eine Art Beschützerin der Bevölkerung gegenüber externen Angreifern.“
In erster Linie gegenüber der kolumbianischen Luftwaffe und der US-amerikanischen Drogenpolizei DEA und deren regelmäßige Giftsprühaktionen gegen Koka- und Mohnpflanzungen. Die FARC kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Drogenanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus den USA ist die“ Entspannungszone“ um San Vicente. Seit dem endgültigen Abzug der kolumbianischen Armee malen sie den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports aus diesem Gebiet an die Wand und bezichtigen die sogenannte Narco-Guerilla, die Zona de despeje als militärisches Aufmarschgebiet und Zentralstelle für den Kokaexport zu mißbrauchen.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widersprach allerdings dieser Behauptung. Die Drogenproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 Kleinbauern in der “Entspannungszone” mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen. Das Mißtrauen gegenüber der FARC-Guerilla ist bei der UNO offenbar erheblich geringer als in Kolumbien.

“Ich teile den Diskurs der Guerilla, aber nicht ihre Mittel”

Wie stellt sich die Lage in San Vicente und der entmilitarisierten Zone im Moment dar?

Am Anfang war die Anwesenheit der Guerilla zumindest in den Städten etwas Neues. Sie luden die Bevölkerung wiederholt zu Informationsversammlungen über den Friedensprozeß und ihre Stationierung ein. Außerdem mußten die Geschäfte am Samstagnachmittag und Sonntagvormittag geschlossen bleiben. Das führte zu Unmut, im Gegenzug weigerten sich die Betroffenen, an Versammlungen teilzunehmen. Ende April folgte eine Phase der Bedrohung durch Paramilitärs, als Händler und einige andere Leute Drohanrufe erhielten. Und zuletzt gab es heftige Polemik, nachdem die FARC junge Leute unter dem Vorwurf festnahm, Verbindung zu Paramilitärs zu unterhalten. Das führte zu großer Sorge, auch zu Wut und Entrüstung.

Sind diese Vorwürfe begründet?

In der Logik der FARC üben sie die Justiz im Sinne ihrer eigenen Sicherheit aus. Es ist also von unabhängiger Seite überaus schwierig, die Unschuld nachzuweisen. Von unserer und der Position der Bevölkerung aus gesehen mußten wir feststellen, daß wir dem ziemlich wehrlos ausgeliefert sind. Die einzige Instanz, an die man sich wenden kann, ist die staatliche Defensoría del Pueblo, die tatsächlich in dieser kritischsten Phase ihre Stimme gegenüber den FARC erhob und mit genauen Daten Angaben über diese Menschen verlangte.

Welche Auswirkungen hatte dieses Vorgehen auf das Verhältnis zwischen Guerilla und Bevölkerung?

Es war schwer herauszufinden, ob die Anklagen berechtigt waren oder ob es sich nur um persönliche Racheakte an den Festgenommenen handelte. Die letzten drei Monate waren daher durch eine große Unsicherheit geprägt, zumal die Friedensgespräche lange nicht aufgenommen wurden. Gleichzeitig stigmatisierte die kolumbianische Öffentlichkeit San Vicente als Ort, wo die Guerilla tun und lassen kann, was sie will. Es gab aber auch konkrete Drohungen der Paramilitärs gegen den Bürgermeister von San Vicente, Omar García.

Wie reagiert die Bevölkerung in der Entspannungszone auf solche Drohungen und die nationale Ausgrenzung?

Es gab zuletzt drei oder vier Friedensmärsche der Bevölkerung in San Vicente. Dabei ging es nicht nur um Unterstützung für den Bürgermeister. Es waren vor allem Demonstrationen für den Friedensprozeß, für ein Ende der Entführungen, der Gewalt und vor allem für eine Wiederaufnahme der Gespräche.

In der Berichterstattung in Kolumbien und auch in Europa wurde immer wieder von Zwangsmaßnahmen der Guerillaberichtet. Gibt es dazu konkrete Vorfälle?

In den fünf Kommunen der Entspannungszone sind teils einschneidende Einschränkungen durchgesetzt worden. In San Vicente ließen die FARC in verschiedenen Siedlungen Gemeinschaftsarbeiten zum Asphaltieren der Straßen durchführen. Damit übernahmen sie Funktionen, die eigentlich zum Aufgabenbereich des Bürgermeisters und der Behörden gehören. Ziel war es dabei, Kontrolle über öffentliche Angelegenheiten zu erlangen und die gegenseitige Furcht zwischen der Bevölkerung und ihnen abzubauen. In den anderen Dörfern der Entspannungszone war die Präsenz der Guerilla schon vorher bedeutsam, so daß ich nicht glaube, daß sich die Lage sehr geändert hat. Mit der Ausnahme vielleicht, daß nun überhaupt keine staatliche Ordnungsmacht mehr dort ist, keine Polizei, keine Armee.

Wie beurteilen Sie die politische Linie der FARC?

Wenn Du mit ihren Sprechern redest, weißt Du natürlich, das Du Dich mit ihren Botschaftern unterhältst. Sie verkaufen, und das meine ich nicht negativ, ihre Motive, ihren Kampf, ihre Revolution für eine Veränderung der Strukturen und für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie berufen sich auf ihre Nähe zur Soziallehre der katholischen Kirche und zu kirchlichen wie gesellschaftlichen Kreisen, die ebenfalls gegen die Hauptursache der Gewalt kämpfen: gegen die Korruption auf allen Ebenen unseres Staates und gegen die riesigen Ungerechtigkeiten in unserem Land. Ich persönlich und viele andere teilen diesen Diskurs, auch wenn wir natürlich nicht mit den Mitteln einverstanden sind. Aus kirchlicher Sicht können wir keine gewaltsame Lösung des Konflikts akzeptieren.

Wie würden Sie im Moment die Rolle der katholischen Kirche in der Entspannungszone beschreiben? Welche sind ihre wichtigsten Aufgaben?

Unsere Rolle muß es sein, Vertrauen zwischen den Konfliktparteien aufzubauen. Wenn jeder davon ausgeht, daß die andere Seite lügt, muß das Mißtrauen abgebaut werden. Außerdem haben wir klarer zum Friedensprozeß Stellung zu beziehen, und zu den beteiligten Gruppen, insbesondere unserem wichtigsten Gesprächspartner vor Ort, den FARC. Wir haben uns bisher so bewegt, daß wir eine gewisse Autonomie und Unabhängigkeit bewahren konnten. Aber keine Neutralität, diesen Begriff würde ich nicht gebrauchen, weil wir in keiner Situation neutral sind. Wir können aber, und ich halte das für notwendig, Autonomieräume behaupten und verteidigen, die sich aus unserer Arbeit in den Gemeinden und unserer fünfzigjährigen Präsenz in diesem Gebiet ergeben. Dabei müssen wir klar machen, daß bestimmte grundlegende Werte nicht verhandelt werden können: Respekt vor dem Leben, der Freiheit, den Menschen, vor einem mit größtmöglicher Gerechtigkeit gefällten Urteil, sei es durch die Institution des legitimen Staates oder durch diesen Nebenstaat, der durch seine Stärke und seine Zukunft einen bestimmten Grad von Legitimität erobert.

Sie sind erst im Februar zum Bischof ernannt worden. Finden Sie in der kolumbianischen Bischofskonferenz Unterstützung für das Vorgehen der Kirche in San Vicente? Und wie würden Sie die grundsätzliche Haltung der Bischofskonferenz in der Frage des Friedensprozesses beurteilen?

Es herrscht innerhalb der Bischofskonferenz eine tiefe Akzeptanz gegenüber dem Vorgehen und der Haltung jedes einzelnen Bischofs. Jeder Bischof ist der Verantwortliche für seine Diözese, für sein Vikariat, und das bringt auch bestimmte politische Positionen und Einstellungen gegenüber den Konfliktparteien in den jeweiligen Regionen mit sich. Eine bedeutende Instanz im Friedensprozeß stellt im Moment der Konferenzvorsitz dar, besonders Alberto Giraldo Jaramillo, der die Nationale Versöhnungskommission geschaffen hat, eine Gruppe von Laien, die den Friedensprozeß kontinuierlich beobachten. Das erlaubt uns, auf dem Laufenden zu bleiben und Stellung zu beziehen. In diesem Sinne habe ich große Unterstützung und viel Rückhalt erfahren.

Sind die politischen Positionen innerhalb der Bischofskonferenz einhellig?

Natürlich nicht. Wir Bischöfe sind zuallererst Kolumbianer und jeder hat aufgrund seiner persönlichen, familiären sowie pastoralen Erfahrungen und durch seinen ideologischen, politischen Standort eine eigene vorgefaßte Meinung. Manche sind eher einem sozial geprägten Diskurs zugeneigt, andere betrachten dies vielleicht wegen seiner dogmatischen marxistischen Auswirkungen mit größerer Furcht. Das spürt man natürlich. Manch einer schätzt den guten Willen der Regierung. Wir anderen erkennen zwar an, das diese Regierung alles auf den Friedensprozeß setzt, sehen aber, daß sie noch völlig taub gegenüber der sozialen Problematik des Landes ist und sich sehr entschieden zeigt, die Politik fortzusetzen, die IWF und Weltbank von ihr verlangen. Solange die wirtschaftliche und soziale Lage in unserem Land so schlecht ist, ist es sehr schwierig, den Frieden aufzubauen.

Zeichen setzen gegen die Barbarei

Ich habe Angst“, bekennt Martha Cecilia Monroy. „Immer wieder treiben sich seltsame Typen vor dem Gebäude herum, manchmal sogar auf unserem Stockwerk. Sobald wir die Polizei verständigen, sind sie verschwunden.“ Die resolute Anwältin arbeitet als juristische Beraterin im Bogotaner Büro der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation Minga, die sich im Nordosten des Landes für die ländliche Bevölkerung einsetzt.
Seit der jüngsten Offensive paramilitärischer Verbände ist das Catatumbo-Gebiet an der Grenze zu Venezuela für die engagierten Minga-AktivistInnen zu heiß geworden. Unbehelligt von Armee und Polizei, teilweise sogar mit deren Hilfe, haben die Paras dort in gut drei Monaten rund 200 ZivilistInnen umgebracht. Die Geldgeber aus der lokalen Oligarchie erhoffen sich dadurch eine Schwächung der Guerillaverbände FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), ELN (Heer zur nationalen Befreiung) und EPL (Volksbefreiungsheer). Neben der strategisch wichtigen Lage ist das Gebiet auch ökonomisch attraktiv. Tausende von Menschen mußten flüchten. Weil sie die Untätigkeit der Armee angesichts der Massaker beklagten, wurden Minga und andere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von einem General beschuldigt, „Sprachrohr der Guerilla“ zu sein.

Präsenz zeigen

Das mit Kameras und gepanzerter Tür gesicherte Minga-Büro in Bogotás Stadtzentrum ist eine der Stationen auf dem täglichen Rundgang von Christiane Schwarz. Die 34jährige Hamburgerin ist seit Mitte August als Freiwillige der Peace Brigades International (PBI) in Kolumbien tätig. Ihre Aufgabe ist es, bedrohte MenschenrechtsaktivistInnen zu schützen. Wenn eine der örtlichen Partnerorganisationen es wünscht, stellt PBI Begleiter für besonders gefährdete Personen ab – wenn es sein muß, rund um die Uhr. Die Präsenz von AusländerInnen im Umfeld der MenschenrechtlerInnen soll die politischen Kosten für einen Mord so in die Höhe treiben, daß er sich für die potentiellen Auftraggeber nicht mehr „lohnt“.
Anfang der neunziger Jahre hatte sich Christiane Schwarz für Nicaragua engagiert und war zu dem Schluß gekommen, sie könne „am wirkungsvollsten von Deutschland aus tätig sein“. Nach ihrem Romanistikstudium leitete sie einige Jahre das PBI-Büro in Hamburg, bei dem Aktivitäten vier deutscher Regionalgruppen zusammenlaufen. Dort reifte der Entschluß für einen Einsatz im kolumbianischen Krisengebiet. Bei den Friedensbrigaden könnten „Leute aus der ´ersten´ Welt etwas tun, ohne gleich Lösungsansätze zu suggerieren“ – dieser Ansatz gefällt ihr besonders.
In Bogotá fühle sie sich wohl, sagt Christiane Schwarz, und es klingt überzeugt. Nach zwei Monaten hat sie „das Gefühl, schon sehr lange hier zu sein.“ Die schönste Erfahrung für sie war der „herzliche und offene Empfang“ durch alle, mit denen sie zusammenarbeitet. „Die Situation der Leute, die wir begleiten, stelle ich mir sehr schwierig vor. Auch wenn sie sich sicherer fühlen, ist es bestimmt nicht einfach und auch nicht immer angenehm, ständig eine fremde Person um sich zu haben.“ Ob sie manchmal Heimweh hat? „Was mir vor allem fehlt, sind vertraute Menschen, mit denen ich sprechen kann, auch auf deutsch. Das läuft dann alles über e-mail.“

In der Tradition von Mahatma Gandhi

Der Name der 1981 in Kanada gegründeten NGO erinnert an die linken Internationalen Brigaden, die im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der bedrängten Republik kämpften – ein „Mißverständnis“, wie Christiane Schwarz meint. Denn PBI ergreift Partei für Menschenrechtsorganisationen von Haiti über Serbien bis Osttimor und steht damit in der Tradition von Mahatma Gandhis Shanti Sena (Friedensarmee), deren unbewaffnete AktivistInnen sich zuweilen „physisch zwischen die Kampflinien stellten. Das tun wir natürlich nicht, aber auch wir wollen gewaltfrei zu Konfliktlösungen beitragen.“ Gerade im kolumbianischen Mehrfrontenkrieg ist dies eine durchaus heikle Aufgabe. Offenheit ist da der beste Selbstschutz: Ständig informieren die PBI-Mitglieder die Regierung und die militärischen Behörden, wann und wohin sie eine bedrohte Person begleiten. Bei ihren Missionen tragen die Freiwilligen auffällige grüne Jacken mit dem Schriftzug ihrer Organisation auf dem Rücken.
Minga hat die FriedensbrigadistInnen gebeten, im Catatumbo-Gebiet aktiv zu werden. Doch ob es bald dazu kommt, ist fraglich. „Wir sind gegen Feuerwehreinsätze. Kontinuität und Konzentration sind sehr wichtig für uns,“ so eine andere Freiwillige aus dem Hauptstadtbüro. Sieben AktivistInnen aus Westeuropa und Nordamerika leben zusammen in einem Haus im Wohnviertel Teusaquillo, in einer Art Wohngemeinschaft. „So ist garantiert, daß wir rund um die Uhr erreichbar sind und in Notfällen sofort reagieren können,“ sagt Christiane Schwarz. Seit dem ersten Einsatz im Oktober 1994 ist das Team stetig gewachsen. Zunächst gab es neben Bogotá noch ein Büro in der Krisenregion Magdalena Medio. Seit einem Jahr ist PBI in Urabá nahe der Grenze zu Panama ständig präsent und hat seinen Schutz auf die dortigen Flüchtlingsorganisationen ausgeweitet. In Kürze wird ein Regionalbüro in Medellín eröffnet. 30 Aktive aus Westeuropa und Nordamerika sollen Ende des Jahres in Kolumbien arbeiten.

Die letzte zivile Opposition

Die nächste Station auf dem Rundgang von Christiane Schwarz ist die Vereinigung Familienangehöriger der Verhaftet-Verschwundenen (ASFADDES). Im ganzen Land versuchen derzeit 120 Familien, das Schicksal ebensovieler „Verschwundener“ aufzuklären. Dies ist eine schwierige und auch gefährliche Aufgabe, da die Verantwortlichen für diese Verbrechen in den allermeisten Fällen Polizisten oder Militärs sind. Mehrere ASFADDES-Mitglieder wurden bereits ins Exil gezwungen. Yolima Quintero, eine der Vorsitzenden, lobt den Schutz durch PBI in den höchsten Tönen: „Wenn wir direkte Drohungen erhalten, werden wir bis nach Hause begleitet. Riskant ist es auch, wenn jemand wegen einer Zeugenaussage in eine andere Stadt reisen muß. Unsere Leute fühlen sich bei den BrigadistInnen bestens aufgehoben, gerade weil sie unbewaffnet sind.“
Als „besonders angespannt“ bezeichnet die temperamentvolle 24-jährige die derzeitige Situation, nicht nur in der Provinz, wo ASFADDES bereits mehrere Büros schließen mußte, sondern gerade auch in Bogotá. Im August wurde der populäre Satiriker Jaime Garzón auf offener Straße erschossen, einen Monat später, auf dem Gelände der Nationaluniversität, der Ökonom und Friedensforscher Jesús Bejarano. In aller Öffentlichkeit zirkulieren Todeslisten eines „Kolumbianischen Rebellenheeres“, hinter dem viele den Dunstkreis rechtsextremer Armeekreise und ihrer paramilitärischen Helfer vermuten.
In den letzten zehn Jahren sind in Kolumbien rund 4.000 Menschen „verschwunden“. Bei Nachforschungen kommen selbst engagierte Staatsanwälte nicht weit. Haftbefehle werden von den zuständigen Polizeistellen oft einfach ignoriert. Wenn es tatsächlich einmal zu einem Verfahren kommt, landet es bei der Militärgerichtsbarkeit und verläuft im Sande. Immerhin befindet sich derzeit eine Gesetzesvorlage im Parlament, die das „Verschwindenlassen“ als Verbrechen definiert und hohe Strafen vorsieht. Doch die Militärs, die ähnliche Projekte in der Vergangenheit noch immer torpediert haben, wehren sich vehement. Für Eduardo Carreño, den Vorsitzenden des „Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo“, sind die MenschenrechtlerInnen die letzte verbliebene zivile Opposition. „Der kolumbianische Staat hat sämtliche oppositionelle Gruppierungen, auch die aus dem gewerkschaftlichen Spektrum, systematisch ausgeschaltet. Die Paramilitärs setzen dieses staatliche Projekt durch.“ Verbal weise jede Regierung solche Anschuldigungen zurück, doch auch unter dem jetzigen Präsidenten Andrés Pastrana sei „kein politischer Wille“ erkennbar, die rechten Todesschwadronen zu bekämpfen. Vertreter von amnesty international (ai), die sich drei Wochen lang in Kolumbien aufhielten, sehen dies ähnlich. „Die Aktivitäten der Paramilitärs nehmen zu. Zehntausende von vertriebenen Bauern haben die Elendsviertel anschwellen lassen.
Die Regionale Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte (CREDHOS) hatte vor Jahren mehrere Tote zu beklagen und gehörte daher zu den Organisationen, denen PBI von Anfang an Begleitschutz gewährte. Nach ständigen Morddrohungen ging Osiris Bayther, zeitweilig Vorsitzende von CREDHOS, ins Exil, hielt es aber nicht lange aus. Nach ihrer Rückkehr wurde sie erneut zum „militärischen Objekt“ erklärt: zunächst in einem internen Dokument der Armee, dann in einem Flugblatt der Paramilitärs. „Die Begleitung durch die BrigadistInnen,“ so die Einschätzung der couragierten Aktivistin, „hat uns das Leben gerettet.“ Daß dies keine Übertreibung ist, beweist der Fall ihres Kollegen Mario Calixto aus dem Nachbarort Sabana de Torres: Vor zwei Jahren drangen bewaffnete Unbekannte in sein Haus ein, zogen sich aber zurück, als sich die anwesenden PBI-Freiwilligen einschalteten.
Ein Jahr, maximal anderthalb, wird Christiane Schwarz im Lande bleiben, „das ist die Regel, wegen der großen psychischen Belastung.“ Dagegen scheint das Ende des Engagements von Peace Brigades International in weiter Ferne zu liegen, denn noch „ist es in Kolumbien die Stunde der Bestien, der Intoleranten“, meint Osiris Bayther, die jetzt in Europa lebt.

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