Denn sie wissen, was sie tun

Bekanntlich lassen sich die Finstermänner im Auftrag der nationalen Sicherheit nur ungern in die Karten schauen. Deshalb muss die Öffnung ihrer Archive auch dieses Mal nicht als selbstloser oder freiwilliger Akt, sondern als unvermeidbarer Schritt gewertet werden. Im Rahmen des Freedom of Information Act der USA, das den Zugang zu staatlichen Akten erleichtert, ist es gelungen, einen kleinen Teil des Datenmaterials über den ehemaligen Chef des peruanischen Geheimdienstes Vladimiro Montesinos – wenn auch zensiert – aus US-amerikanischen Geheimarchiven freizueisen. Das National Security Archive, Nummer Eins unter den Anti-Geheimhaltungsaktivisten, bietet seit November letzten Jahres eine Auswahl dieser Aktenbestände im Internet an. Die vollständige Offenlegung aller relevanten Aufzeichnungen, auch der CIA- Dokumente über verdeckte Operationen mit Alberto Fujimoris einstigem „Schatten“, bleibt dennoch oberstes Gebot. Soll der Neuanfang nach der „Stunde Null“ in Peru tatsächlich gelingen und Demokratie nicht nur ein hohler Begriff bleiben, so müssen die Verantwortlichen des Unrechtsregimes mit allen verfügbaren Mitteln zur Rechenschaft gezogen werden.

In der Westentasche des SIN

Die Frage, ob und wie viel die US-Regierungen über Montesinos’ verbrecherische Machenschaften gewusst haben, hat sich erübrigt. Seit seinem Amtsantritt im Oktober 1990 sprechen die militärischen Geheimdienstakten der US-Amerikaner von Präsident Fujimori als einer Marionette des peruanischen Geheimdienstes SIN (Servicio de Inteligencia Nacional). Damit wird klar, welch maßgeblichen Einfluss Montesinos von Anfang an als inoffizieller Chef der SIN auf Fujimori ausüben konnte und wer im Grunde die Regierung lenkte. Der Bericht des Army Intelligence and Threat Analysis Center mit dem bezeichnenden Titel „Wer kontrolliert wen?“ erwähnt unter anderem eine Gruppe hochrangiger ehemaliger Offiziere, die vor Montesinos’ gefährlichem Einfluss warnen, da mit seiner Person der Geheimdienstapparat die Geschicke des Staates übernehme. Auch die Mär von Montesinos als einem juristischen oder persönlichen Berater Fujimoris dürfte den USA spätestens seit 1991 nicht mehr glaubhaft erschienen sein. Das Ausmaß seiner illegitimen Machtausdehnung im peruanischen Staat beschreiben die US-Berichte eindrücklich – beispielsweise die Vergabe hochrangiger Positionen im militärischen und zivilen Bereich durch den Geheimdienstchef persönlich.
Wen wundert es da, dass bereits 1991 Warnungen aus peruanischen Militärkreisen bei den US-Amerikanern eingingen, wonach Montesinos ernste Absichten hege, die US-amerikanisch-peruanischen Bemühungen im Kampf gegen die Drogen zu unterwandern. Auf diese Tatsache war man in den USA sicherlich nicht erst in Zusammenhang mit dem Fall des Drogenhändlers Chávez-Penaherra (vgl. LN 319) gestoßen, der vor Gericht aussagte, monatlich 50.000 US-Dollar Schmiergeld an Montesinos entrichtet zu haben, um im Gegenzug sichere Landeplätze für seine Drogenflugzeuge im Dschungel zu erhalten. Zumindest erkannte ein Report der DEA (Drug Enforcement Agency) aus dem Jahre 1996, dass Montesinos vor seiner Karriere als graue Eminenz des peruanischen Staates mit Vorliebe die Strafverteidigung landesweit bekannter Drogenbosse übernommen hatte.

Die CIA-Peru-Connection

Warum Washington trotz bester Informationen keine adäquaten Abwehrmaßnahmen gegen den „Darth Vader“ von Peru und seinen offensichtlichen Drogenprotektionismus ergriffen hat, steht auf einem anderen Blatt der US-Weltmachtstrategen. Einem hartnäckigen Gerücht zufolge steht Montesinos seit Jahren auf der Gehaltsliste der CIA. Für seine Auftraggeber soll er die Abwicklung der von US-Geheimdiensten kontrollierten Drogenexporte aus Peru überwacht haben. Die Zusammenhänge sind überaus komplex. Die gewonnenen Drogengelder nutzt die CIA, um beispielsweise Waffenlieferungen an die kolumbianische FARC-Guerilla verdeckt zu finanzieren. Die Absicht der CIA ist einleuchtend: Eine Erhöhung der Feuerkraft der Guerilla bringt mehr innenpolitische Spannungen für Kolumbien, und damit ist die Zustimmung für den umstrittenen Plan Colombia gesichert. Der War on Drugs und die Sorge um nationale Sicherheit hat in den USA offensichtlich nur vordergründig Priorität.

Dossiers des Verbrechens

Erschreckend jedoch ist die Tatsache, wie gut die große Familie der amerikanischen Geheimdienste unterrichtet ist, wenn man nach Verbrechen gegen Leib und Leben fragt, die Montesinos angelastet werden. Aus einem Lagebericht der US-Botschaft in Lima 1993 geht hervor, dass Montesinos mit dem damaligen Oberkommandierenden der peruanischen Streitkräfte, General Nicolás de Bari Hermoza Rios, in die Gründung und Leitung der berüchtigten Todesschwadron La Colina verstrickt war. Diesem Terrorkommando werden seit Anfang der neunziger Jahre zahlreiche Verbrechen nachgesagt, insbesondere die Verschleppung und Hinrichtung von neun Studenten und einem Dozenten der Universität La Cantuta und das Massaker in Barrios Altos, einem Stadtteil von Lima, bei dem vierzehn Menschen ermordet wurden.
Derselbe Informant, General Rodolfo Robles Espinoza, einst der drittmächtigste Mann des peruanischen Militärs, wurde 1997 nochmals einer Glaubwürdigkeitsprüfung unterzogen. In jenem Dokument ist zu lesen, dass La Colina eine verdeckte Operation von SIN und Militär sei, gegründet, um den Krieg gegen die Guerilla Leuchtender Pfad und ihre Sympathisanten zu intensivieren. Zu den bevorzugten Kampftaktiken der geheimen Terroreinheit gehörten Folter und außergerichtliche Erschießungen. Seit dem Ende des Bürgerkrieges operiere La Colina vorrangig gegen politische Gegner des Fujimori-Regimes.
Einen Absatz weiter versucht man der Rolle von Montesinos auf folgende Weise gerecht zu werden: „Montesinos aber wird unter Vorbehalt gesehen, wobei er verschiedentlich mit solch finsteren Figuren wie Rasputin, Darth Vader, Torquemada und Kardinal Richelieu verglichen wird.“ Als wolle der Agent vor Ort seine Vorgesetzten wachrütteln, schließt der Absatz mit der Bemerkung, die Aussagen General Robles seien nicht die ersten, die Montesinos’ Verstrickung in Folter und Exekutionen nahe legen würden. Vielleicht bleibt die nachfolgende halbe Seite auch deshalb geschwärzt.

Weitere Informationen auf der Homepage des National Security Archives (NSA) unter folgender Adresse: www.nsarchive.org
Es handelt sich dabei um ein privates, nicht-gewinnorientiertes Dokumentationszentrum für internationale Angelegenheiten der George-Washington-Universität. Gegründet Mitte der achtziger Jahre, ist das NSA im letzten Jahrzehnt zur weltweit umfangreichsten Bibliothek für einstige US-Geheimdienstakten und offengelegte Regierungsunterlagen avanciert.

Zwei Caudillos unter sich

Dieser Marulanda erinnert mich an die Metamorphose eines Yassir Arafat, von einem Terroristen zu einem politischen Führer“, sagte einer der Dutzenden Journalisten, die Zeugen des „Gipfels von Los Pozos“ wurden. Schon die erste Szene in dem kleinen Ort in der FARC-Zone hatte etwas von einem offiziellen Staatsakt: Als Präsident Andres Pastrana am Morgen des 8. Februar aus dem Hubschrauber stieg, erwartete ihn der greise 70-jährige FARC-Chef Marulanda. Marulanda galt schon in der Vergangenheit mehrfach als tot und mehr als Mythos denn als reale Figur. Wie immer in Camouflage und dem typischen Handtuch um den Hals. Um ihn herum standen über hundert Guerilleros, die mitverfolgten, wie sich die wohl beiden einflussreichsten Personen des Landes förmlich die Hand reichten und sich dann zwischen den Kämpferreihen den Weg zum Verhandlungstisch bahnten.
Kaum ein Beobachter hätte noch eine Woche zuvor geglaubt, dass sich diese Szenen abspielen würden, die den Friedensprozess aus seiner chronischen Krise retten sollten. Pastrana rechnete man nicht mehr den Mut und den Willen zu, nochmals in die Höhle des Löwen zu fahren. Und Marulanda alias „Tirofijo“ lief Gefahr, durch zu viele Zugeständnisse bei diesem Gipfeltreffen einen Teil der FARC-Spitze zu verprellen.

Spiel mit dem Feuer

Dem Treffen ging ein geschickter Zug des Präsidenten voraus, der die FARC-Kommandantur zum Schwitzen bringen sollte. Am letzten Januartag, dem Stichtag zur zeitlichen Verlängerung der FARC-Zone, kündigte Pastrana eine Fristverlängerung nur bis zum ersten Februarwochenende an. Also nur weitere vier Tage. Seine Forderungen: Marulanda müsse innerhalb dieser Zeit ein Treffen mit ihm abhalten und einen klaren Beweis des Friedenswillens erbringen. Sollte dies nicht geschehen, gelte der Friedensprozess als beendet und die Zone würde wieder unter Armeekontrolle gestellt werden.
Nun war es an der Guerilla, im Besonderen am legendären FARC-Führer, aus dieser unbequemen Position herauszukommen. Schließlich hatten die FARC selber seit drei Monaten Druck ausgeübt, den Friedensprozess ausgesetzt und die Regierung zum konsequenten Handeln gegen den Paramilitarismus aufgefordert. Pastrana war nun aber offensichtlich gewillt, mit dem Feuer zu spielen, ohne aber die Chancen auf eine Wiederaufnahme der Gespräche wirklich zu torpedieren. Mit seinen Forderungen drehte er den Spieß einfach um.
Dass er während des Wartens auf eine Antwort Marulandas clever vorging, bewies er kurz nach der Ankündigung. Am 3. Februar flog Pastrana in einer Nacht- und Nebelaktion samt Innen- und Außenminister in die FARC-Zone, um außerplanmäßig einige Ortschaften zu besuchen. „Es gibt kein Stück des Landes, über das die Regierung nicht die Souveränität besitzt“, fasste er seine Kurzvisite zusammen. Warum der Außenminister im so genannten Farclandia von der Größe der Schweiz dabei war, ließ er offen. Zugleich machte er sich ein Bild von der Situation in den Landkreisen und drückte seinen Optimismus aus, dass der Friedensprozess wieder aufgenommen wird.
Dass diese Mischung aus Drohung und Angebot bei den FARC zu hektischer Betriebsamkeit geführt haben dürfte, ließ die Ankündigung vermuten, dass man erst für den 8. Februar, also außerhalb der Frist, ein Treffen realisieren könne. Marulanda, der als ältester Guerrillaführer der Welt unzweifelhaft die Integrationsfigur bei den FARC ist, musste sich in seiner Organisation gegen eine Strömung durchsetzen, die einem Gipfeltreffen negativ gegenüberstand. Die Möglichkeit einer Absage und somit das Ende des Friedensprozesses waren greifbar nahe, denn Kreise um den militärischen Kopf und Hardliner der FARC, „Mono Jojoy“, und dem ideologischen Vordenker Alfonso Cano vertraten die Meinung, dass ein Treffen gleichzeitig die Wiederaufnahme der Verhandlungen bedeuten würde. Diese wollte man aber eben ausschließlich vom Kampf der Regierung gegen den Paramilitarismus abhängig machen.

Friedensprozess wiederbelebt

Am Ende setzte sich Marulanda durch, vielleicht auch mit der Weitsicht, dass man durch einen Gipfel mehr erreichen könne, als man zu diesem Zeitpunkt vermutet hatte. Schließlich war die Zielrichtung des geplanten Treffens, eine Regelung für die effektive Fortsetzung der Gespräche zu erreichen. Dass dabei der Paramilitarismus einer der Hauptpunkte sein würde, wussten beide Seiten seit Monaten. Pastrana akzeptierte den Terminvorschlag der Guerilla, auch wenn eine direkte Friedensgeste zunächst ausblieb.
„Wir sind sehr zufrieden. Wir haben über alles ein bisschen gesprochen,“ ließ der FARC-Chef am Abend des 8. durchblicken, nachdem er sieben Stunden mit dem Präsidenten zusammen saß. Eben nur über alles ein bisschen, sodass Pastrana die Nacht über auf Einladung Marulandas in der FARC-Zone verbrachte, um am nächsten Tag weiter zu verhandeln. Denn trotz der guten Stimmung stolperten die Gesprächspartner über unvereinbare Positionen gegenüber dem Paramilitarismus. Nicht näher präzisierte FARC-Forderungen wollte die Regierung nicht akzeptieren, ein Übereinkommen wurde nicht erreicht.
Die Nacht zum 9. Februar brütete deshalb die halbe Regierung in Bogotá über einem Entwurf zu diesem Thema. Dieser wurde dem Präsidenten zugesandt, der ihn am darauffolgenden Tag Marulanda vorlegte. Darin enthalten war die Idee, eine Kommission zu gründen, die sich ernsthaft mit dem Problem des Paramilitarismus befassen und Maßnahmen ergreifen soll. Also eine Institution, auf die man sich erstmals direkt berufen und den Staat in seinem Engagement beurteilen kann.
Für die FARC bestand folgende Auflage: Überprüfung ihrer Kriegspraktiken wie Entführungen, Attacken auf die Bevölkerung und die Rekrutierung Minderjähriger. Nachdem Marulanda sich mit seinem Führungsstab beraten hatte, stimmte er dem Vorschlag zu. Der Friedensprozess war wieder seitens der FARC reaktiviert und ein Kompromiss zum Paramilitarismus gefunden, der die Verhandlungen über weitere Punkte auf dem Treffen ermöglichte.
So wurde am Nachmittag des 9. Februar ein 13-Punkte-Abkommen verlesen, dass nach zwei Jahren an einen ernsthaften Friedensprozess glauben lässt. Zunächst wird der Status der Zone um acht weitere Monate, bis zum 9. Oktober, aufrechterhalten. Neben der Kommission gegen den Paramilitarismus werden weitere Institutionen geschaffen, die den Friedensprozess unterstützend begleiten, beobachten und lenken sollen. Zudem soll die FARC-Zone von Beobachtern kontrolliert werden. Ab dem 8. März wird dem Abkommen zufolge regelmäßig Bericht an eine Gruppe aus Mitgliedern „befreundeter Länder“ und internationalen Organisationen erstattet.
Die wichtigsten praktischen Punkte: ein Waffenstillstand und ein Ende der Feindseligkeiten sollen thematisiert werden. Demnächst ist zu erwarten, dass eine große Anzahl von Gefangenen ausgetauscht wird. Um den Prozess zu beschleunigen, werden sich die Gesprächsparteien mindestens drei Mal in der Woche treffen; das erste Treffen fand am 14. Februar statt.
Der vielleicht wichtigste Punkt ist allerdings das Angebot Marulandas an Pastrana, anstatt der Kokabesprühungen die manuelle Vernichtung von Kokafeldern zu unterstützen, verbunden mit sozialen Alternativprojekten. Die Einsätze der chemischen Stoffe verursachen Verseuchungen der Böden und zwingen Tausende Bauern zur Flucht. In den ersten Wochen dieses Jahres haben diese intensiven Einsätze laut der Drogenpolizei bis zu 30.000 Hektar Koka vernichtet, also rund ein Fünftel der kolumbianischen Kokafelder. Indígenas und Bauern klagen jedoch über großflächige Besprühungen von Gemüsefeldern, Flussverseuchungen und gesundheitlichen Beschwerden.
Wenn die FARC ihr Angebot tatsächlich ernst meinen, versiegt ihre lukrativste finanzielle Einnahmequelle. Die Besteuerung des Kokainhandels hat seit Jahren ihre Kassen klingeln lassen und ihre moderne Ausrüstung und Expansion ermöglicht.
Allerdings wäre mit diesem Entgegenkommen die militärische Komponente des Plan Colombia, die ausschließlich von US-Millionen finanziert wird, dann ziellos, da sich einerseits die FARC bei der Kokavernichtung beteiligen und sich andererseits die Besprühungen erübrigen würden. Ob man aber diese bereits angelaufenen Militär-Operationen, die besonders die Guerilla im Visier haben, tatsächlich revidieren wird, bleibt ungewiss.

Bleibt die Hoffnung

„Wenn es die Zustände erlauben, werden wir nicht nur in den Präsidentenpalast gehen, sondern überall hin“, antwortete Marulanda auf die Frage eines Journalisten, ob er sich in Zukunft auch mit Pastrana in Bogotá treffen wird. Er weiß, dass man nach zwei Jahren Friedensprozess kaum einen Schritt vorwärts gekommen ist und weiterhin am Anfang steht. Man hat die Verhandlungskonditionen zwar entscheidend verbessert, nur konkrete Schritte blieben bisher aus. Zwar nannte sich Pastrana in einem Interview ein „Mann des Wortes“, der das hält, was er verspricht. Aber schon viele Vorgänger haben bei Friedensverhandlungen mit Krieg gespielt, etwa 1992 bei der Bombardierung der Guerilla-Kommandantur. Von Vertrauen mag Marulanda noch nicht sprechen.
Um das zu gewinnen, machten die FARC in der zweiten Februarwoche einen Anfang. Aus San Vicente ließen die FARC verlauten, dass sie von der Rekrutierung Minderjähriger künftig absehen. Kurz danach wurden 62 Jugendliche in Uribe einer katholischen Kirche übergeben, damit sie durch Hilfsorganisationen wieder ins Zivilleben integriert werden. Weitere sollen folgen. Offiziell geht man davon aus, dass in den Reihen der FARC bis zu 3.000 Minderjährige kämpfen.

Regierung am Zug

Ein weiteres Zugeständnis ist die eingeschränkte Nutzung von Gasflaschenbomben, die ihren Ursprung aus Vietnam haben. Die mit Sprengstoff gefüllten Flaschen richten schwere zivile Schäden an, da die Guerilla diese Waffe in Ortschaften gegen Polizeistationen benutzt. Im letzten Jahr wurden so über 1.000 zivile Gebäude zerstört oder beschädigt. Dutzende Menschen kamen ums Leben. „Wir werden diese Waffen jetzt nur noch bei Stationen und Kasernen verwenden, die außerhalb urbaner Bereiche liegen“, definierte Mono Jojoy nüchtern die neuen Ziele.
Vielleicht kleine, aber immerhin Zugeständnisse, die die FARC nun entgegenbringen. Jetzt liegt es an der Regierung, eigene Schritte zu initiieren, auf die man aufbauen kann. Wie es gehen könnte, stellte ein Gerichtsurteil im Februar dar: Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurde ein Ex-General zu 40 Monaten Gefängnis vor dem Militärgericht verurteilt, da er 1997 ein Massaker an 22 Bauern durch die Paramilitärs nicht verhindert hatte. Ob man im Militär dabei nur gerade die Fahne nach dem ungünstigen Wind dreht, der aus Los Pozos entgegen weht, oder ob man es ernst meint mit einer Verfolgung von Paraverbindungen, wird sich zeigen. Zumindest findet die Regierung seit dem Gipfeltreffen schärfere Worte in Richtung Paramilitarismus. Bisher aber nur Worte.

“Neuer Horizont“ für die Stadt der Flüchtlinge

Die Sekretärinnen von William Sánchez sitzen gelangweilt hinter ihren Schreibtischen. Es ist kurz vor zwölf, bei der Hitze arbeitet man gewöhnlich auf Sparflamme. Zumal, wenn nur im Büro des Chefs die Klimaanlage surrt. Und viel zu tun gibt es offensichtlich auch nicht. Die Stühle im Gang sind unbesetzt.
Es handelt sich um die personería, die Institution, die in Kolumbien die Rechte der Bevölkerung vertritt. Und Rechtsverletzungen gibt es in diesem Land zuhauf, nur hat man schon lange aufgehört, ihnen ernsthaft nachzugehen. Dass es sein Büro trotzdem gibt, scheint nicht Sanchez´ Schuld zu sein, auch wenn es so aussieht, als wolle er sich mit seinem permanenten Grinsen dafür entschuldigen.
Während der Mann mit dem Goldkettchen und Flohmarktutensilien auf dem Schreibtisch zu sprechen beginnt, zeigt er auf die bewohnten Hügel hinter seinem Fenster. „Nun, täglich kommen hier fünf Familien an, die vom Land geflüchtet sind. Ach was, acht!“, korrigiert er sich. „Sehen sie dort, die ganzen Viertel sind in den letzten 15 Jahren entstanden. Die ganze Stadt besteht aus Flüchtlingen.“
Er beginnt sich warm zu reden. Schließlich sitzt noch ein Vertreter der Katastrophenhilfe der deutschen Diakonie im Raum, die Flüchtlingsprojekte plant. „Ganze Stadtteile sind illegal. Wir haben hier prozentual die meisten Flüchtlinge in Kolumbien. Das liegt am Koka und der Gewalt.“

Grünes Koka statt braune Bohnen

Die Stadt heißt Florencia. Sie liegt irgendwo zwischen bergiger Zivilisation der Andenregion und der grünen Ewigkeit der flachen Llanos, wo keiner richtig weiß, wer das Sagen hat. Das macht diese nur 150.000-Einwohner zählende Stadt zu einem strategisch wichtigen Punkt. Für alle, die in der Tragik des Landes eine Rolle spielen. Von der Guerilla bis zum Militär, vom einfachen Kokabauern bis zum großen Drogendealer.
Dabei war und ist der Drogenanbau der Herzschrittmacher, der den Rhythmus dieser Stadt diktiert. Italienische Designerläden im verkommenen Zentrum zeigen, dass, entgegen dem ersten Eindruck, Geld in der Stadt vorhanden sein muss. Offenbar so viel, um Menschen aus hunderten von Kilometern Entfernung hierher zu verschlagen.
So sollen 1999 nach dem schweren Erdbeben im Kaffeegebiet um Armenia viele Betroffene nach Florencia gekommen sein, obwohl größere Städte und erschlossenere Zonen näher lagen. Dass sie keine braunen Bohnen anbauen wollen, liegt am Ruf der Gegend. Vielmehr will man an dem Kokaanbau mitwirken, der mehr Geld abwirft als jegliche anderen Agrarprodukte.
Daher nutzen die meisten die Stadt als Sprungbrett, um ihr Glück herauszufordern. Man kommt und geht. Obwohl die Stadt erst 90 Jahre alt ist, wirkt sie abgenutzt. Viele von diesen Goldsuchern kommen jedoch nicht weit und stranden wieder in Florencia. Denn wer es mit dem Koka versucht, muss sich mit den örtlichen Machthabern arrangieren. Diese sind im Gebiet des Caquetá und weiter südlich gewöhnlich die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und mittlerweile auch in zunehmenden Maße die Paramilitärs. Viele der Bauern wollen nicht mit einer Seite kooperieren. Wer dies doch tut, wird von der anderen bedroht und sucht den Weg in die relative Sicherheit der Stadt.

Low-intensity-war auf zweitem Blick

Einige nationale und internationale Organisationen versuchen nun, in dem die Stadt umgebenden Hüttengürtel etwas aufzubauen, was die Menschen zum Bleiben bewegt. Das Internationale Rote Kreuz (IRK) und Ärzte ohne Grenzen sind präsent und arbeiten medizinisch wie logistisch in Florencia. Allerdings lautlos und unauffällig, da man den „unsichtbaren Mächten“ nicht auf die Füße treten will.
„Was hier herrscht, ist ein low-intensity-war. Auf den ersten Blick scheint alles friedlich, aber mit der Zeit merkt man, dass hier Krieg herrscht,“ beschreibt Jan Schütt vom IRK die permanente Spannung in der Stadt, die sich hin und wieder entlädt.
Im Dezember etwa explodierten in Häusern zwei Bomben, die dem Konflikt zwischen Guerilla und Paramilitärs zugeschrieben wurden. Pro Woche wurden im Schnitt sechs Menschen erschossen, aufgrund der gleichen Rivalität. Zwei Lokal-Journalisten wurde ihr Beruf zum Verhängnis, weil sie zu viel über die Situation in der Stadt berichtet hatten. Ende Januar soll es jedoch ungewöhnlich still geworden sein. Nach Ansicht vieler deshalb, weil die Paramilitärs nun die Stadt komplett kontrollieren. Wer weiß, wie lange.
Das IRK-Büro in Florencia besitzt momentan eine Schlüsselstellung. Gut hundert Kilometer östlich beginnt die entmilitarisierte Zone, in der die FARC seit zwei Jahren mit der Regierung verhandeln. Geplant ist nun eine umfangreiche Geiselfreilassung und ein Gefangenenaustausch, an deren Verhandlungen Schütt und das IRK maßgeblich beteiligt waren. „Das Geschenk wird nun wohl mein Nachfolger entgegennehmen“, sagt er etwas wehmütig.
Nach 14 Monaten wird Schütt seine Arbeit als Koordinator des IRK an seinen französischen Nachfolger abgeben müssen. Das verlangen die IRK-Regeln. Doch wirklich nachtrauern tut er seinem Job in Florencia nicht. Schließlich muss man permanent auf Tuchfühlung sein mit den Konfliktparteien. Und dass diese nicht immer die Regeln beachten, beweisen zwei Vorfälle vom Herbst letzten Jahres. Im Chocó, im Nordwesten Kolumbiens, überfielen Paramilitärs einen Krankentransport des IRK, der eine verletzte 17-jährige Guerillera ins Hospital bringen sollte. Sie wurde vor den Augen der Rotkreuz-Mitarbeiter erschossen. Kurze Zeit danach rächten sich die FARC im südlichen Putumayo und taten das Gleiche mit einem Paramilitär.
Seitdem die „Paras“ vor einigen Monaten begannen, großflächige Gebiete im Süden zu besetzen und die Guerilla zurückzudrängen, finden die internationalen Institutionen hin und wieder Leichen an Straßenrändern. Dabei handelt es sich meist um angebliche Guerillasympathisanten, mit denen die Paras von Ort zu Ort selektiv aufräumen, sofern sie nicht schon vorher geflüchtet sind.
Das plötzliche und massive Auftauchen dieser Ultrarechten hat verschiedene Gründe: Einerseits wollen sie die Kontrolle erlangen, um die 15.000 Hektar Kokafelder im Caquetá für ihren Drogenhandel zu nutzen. Andererseits haben sie sich zum Ziel gesetzt, die Guerilla zu vertreiben. Dass sie das Hand in Hand mit der Armee tun, bezweifelt schon lange niemand mehr.

Schweigepflicht für NGO

Joan Carles López ist seit letztem Oktober offizieller Administrator von Ärzte ohne Grenzen in Florencia. Der Katalane arbeitete vorher in Bosnien und Tschetschenien und ist nun für die Koordination der zehn Angestellten zuständig, die im Caquetá operieren.
Bevor er über die Arbeit zu sprechen beginnt, versucht er, seinen Vorgesetzten in Bogotá wegen einer Erlaubnis zu erreichen. Vor einigen Monaten wurde allen Mitgliedern eine Schweigepflicht auferlegt. Ein französischer Mitarbeiter hatte sich im Umgang mit dem Konflikt zu blauäugig verhalten, eckte bei der ERG-Guerilla an und war für sechs Monate lang entführt worden.
Über den Krieg hier mag er nicht reden, aber hin und wieder braust es in ihm auf. Über den scheinbar ausweglosen Konflikt, die vertriebenen Bauern, die nach Florencia kommen, die Toten, die die Stadt und das Land hinterlassen. „Wer weiß schon, wie viele Flüchtlinge in die Stadt kommen. Es gibt genug, die sich nicht bei den Behörden melden. Aus Angst, dass diejenigen sie ausfindig machen, die sie auf dem Land bedroht haben,.“
Ärzte ohne Grenzen sind zwar nicht so stark vertreten wie das IRK, aber sie gehen mit ihrer Arbeit am weitesten. Ein Team ist gerade an der Südgrenze der Provinz mit Mauleseln unterwegs, um drei Tage entlegene Dörfer zu erreichen. Denn von medizinischer Versorgung ist dort weit und breit keine Spur. Morgen wird López sie in dem Ort Solito abholen. Was ihn auf der dreistündigen Fahrt erwartet, weiß er nicht. Er hat nur gehört, dass vor zwei Tagen die Paramilitärs in das Dorf gekommen sind und sich Scharmützel mit der Guerilla geliefert haben.
Zuvor jedoch schaut er noch einmal in Nueva Colombia (Neues Kolumbien) vorbei, wo gerade ein ambulantes Team von Ärzten ohne Grenzen löchrige Kinderzähne behandelt und Gesundheitskontrollen durchführt. Der Stadtteil ist der größte Florencias und gleichzeitig einer der unerschlossensten, was die Infrastruktur betrifft. 1.200 Familien leben in an Hänge gekrallten Holzhütten. In einigen Sektoren gibt es kein Wasser, Strom wird von den Oberleitungen illegal abgezapft.
Alfonso hat 67 Jahre auf dem Buckel und glaubt eigentlich nicht, dass sich hier irgendetwas ändern wird. Jedenfalls nicht, solange er lebt. Über den Namen seines Viertel kann er nur spöttisch lachen. Vor zwölf Jahren kam er mit seiner 17 Jahre jüngeren Frau nach Florencia, die kurz danach noch ein Kind bekam. „Ich habe in Rosales gewohnt und gearbeitet. Dann kam die Guerilla in den Ort. Ich wollte damit nichts zu tun haben, sie wissen ja, was hier passieren kann,“ erklärt er sich in seiner von Ritzen durchzogenen Hütte. So strandete er hier und muss nun auch noch Miete zahlen für knappe 20 Quadratmeter.

Gifteinsätze ohne Einschränkung

Dass man in Florencia offensichtlich gegen Windmühlen ankämpfen wird, verspricht die Zukunft. Daran ändert auch das gestiegene Engagement der NROs nichts. Denn man leistet hier bereits vor der angekündigten Katastrophe humanitäre Hilfe, nicht danach. Während sich europäische Länder verstärkt sozial engagieren, planen kolumbianische und US-amerikanische Militärs in der nahe gelegenen Basis Narania den Krieg. Mitte Januar sind die letzten der 33 Huey-Hubschrauber aus den USA auf den Basen angekommen, die den Antiguerillakrieg und die Besprühungen der Kokafelder intensivieren sollen. Dabei sprengen letztere bereits jetzt jeden Rahmen. Laut den offiziellen Verlautbarungen finden die Giftflüge selektiv statt. Bauern und Indígenas berichten allerdings Gegenteiliges: Demnach werden die Gebiete großflächig mit Pestiziden besprüht. Viele tausend Hektar werden so pro Jahr vergiftet. Zwischen Mais- oder Kokafeld macht man keinen Unterschied. Die indigenen Cofanes bekamen dies im Dezember zu spüren. Die Flüsse und Felder, die zu einer offiziell unterstützten Kooperative gehörten, wurden auf lange Zeit verseucht, obwohl sie mit Koka nichts zu tun hatten.
Einziger Ausweg für die Bewohner ist die Flucht. Viele Bauern sind bereits aus diesem Grund in Florencia, sie werden allerdings nicht als desplazados anerkannt. Giftbesprühungen gelten nicht als Fluchtgrund.

„Neuer Horizont“ verspricht Massenflucht

Zudem ist das Training neuer Spezialeinheiten beinahe abgeschlossen, so dass sich solche verheerenden Operationen in den nächsten Wochen auch auf dem Boden verstärken werden.
Untrügliches Anzeichen dafür ist die Präsenz der US-Amerikaner. Laut dem hoch dekorierten General Arias Vivas, der gerne gegenüber der Presse plaudert, sollen sich allein in seiner Basis nahe Florencia 450 US-Piloten und Ausbilder befinden. Die gleiche Anzahl befindet sich nochmals in Tres Esquinas. Offiziell arbeiten aber weiterhin nur 300 „Berater“ im Land.
Deren Masterplan für den Süden, vorwiegend für die Provinzen Putumayo und eben Caquetá, heißt zynischerweise „Neuer Horizont“. Er ist das Prunkstück der militärischen Komponente im Plan Kolumbien, den die USA mit 1,3 Milliarden US-Dollar finanzieren. Wie dieser für die Bevölkerung aussieht, malte kürzlich die Menschenrechtsorganisation CODHES aus. Man rechnet im Putumayo mit bis zu 190.000 Flüchtlingen, mehr als die Hälfte der dortigen Bevölkerung. Entweder ziehen sie über die Grenze nach Ecuador, oder Richtung Norden. Und die erste größere Stadt, auf die sie dann treffen werden, ist Florencia.

Die Internationale der GlobalisierungskritikerInnen formiert sich

Porto Alegre war der – gelungene – Versuch, an die Proteste von Seattle bis Nizza anzuknüpfen. Einig waren sich alle
Beteiligten, dass die derzeitige neoliberale Ausgestaltung der Globalisierung nur im Interesse einer kleinen, aber mächtigen Minderheit liegt. Da aber öffentlichkeitswirksame Proteste allein noch nicht ausreichen, wollte man in Brasilien schwerpunktmäßig an der Formulierung von konstruktiven Alternativen arbeiten – nach dem Tagungsmotto „Eine andere Welt ist möglich“. Diese Überzeugung teilten auch Hunderte von BürgermeisterInnen und ParlamentarierInnen, die zu entsprechenden Veranstaltungen im Rahmen des Forums angereist waren.

Vielfalt der Vorstellungen

Die VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus aller Welt, die das Gros der offiziellen Delegierten stellten, waren angetan von der Möglichkeit zum Informationsaustausch und zum Diskutieren über das weitere gemeinsame Vorgehen. „Wir haben erlebt, dass wir stärker sind, als wir dachten“, sagte Michael Windfuhr von der Menschenrechtsorganisation FIAN. Zwischen den NROs und den ebenfalls zahlreich angereisten linken AktivistInnen habe eine „erstaunliche Toleranz“ geherrscht. Allerdings mache es diese Art von Pluralismus auch schwer, gemeinsame Positionen zu erarbeiten – etwa bei solch komplexen Themen wie dem Welthandel.
Genau aus diesem Grund versuchten die Veranstalter – acht VertreterInnen brasilianischer Sozialer Bewegungen und NROs – erst gar nicht, die Vielfalt von den Vorstellungen der Anwesenden in einem griffigen Schlussdokument zusammenzufassen. Immer wieder verteidigten sie diese Entscheidung als bewussten Ausdruck des Pluralismus. Abgesehen davon hat die Diskussion in dieser Breite erst begonnen. Einige gemeinsame Forderungen wurden aber auch so deutlich: ein vollständiger Schuldenerlass für alle Entwicklungsländer, die Besteuerung internationaler Finanztransaktionen („Tobin-Steuer“) und die Abschaffung von Steuerparadiesen.

“Dialektik von Innovation und Protest”

Besonders die letztgenannten Punkte sind Herzensanliegen der „Reregularisierer der Weltwirtschaft“ um Bernard Cassen von Le Monde Diplomatique und dem „Netzwerk für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“ (ATTAC). Sie suchen nach „glaubwürdigen Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus“ – und das ist Erfolg verspechender als manche Parolen, die der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón, Ahmed Ben Bella aus Algerien oder ein Vertreter der kolumbianischen FARC-Guerilla zum Besten gaben. Auf der ansonsten äußerst harmonischen Abschlussveranstaltung wurden daher die AktivistInnen einer brasilianischen Splitterpartei, die wiederholt Revolutionssprechchöre skandierten, ausgebuht.
Doch allein mit der Ausarbeitung von Alternativkonzepten, die nach und nach auf die Homepage des Weltsozialforums gestellt werden, ist es nicht getan. Der philippinische Soziologe Walden Bello vom Forschungsinstitut Focus on the Global South, Befürworter einer „Deglobalisierung“ im Sinne von Dezentralisierung und Stärkung kultureller Vielfalt, plädierte deswegen dann auch vehement für eine „notwendige Dialektik von Innovation und Protest“.
Was damit gemeint ist, führte geradezu exemplarisch die Landlosenbewegung MST vor. Sie nutzte die Anwesenheit der Weltpresse, um höchst symbolträchtig zwei Hektar Gensoja auf einem Versuchsgelände des Agrarmultis Monsanto, im Hinterland von Porto Alegre zu zerstören. Mit von der Partie: der französische Bauernsprecher José Bové, dessen Buchtitel Die Welt ist keine Ware zu den meist zitierten Slogans des Weltsozialforums avancierte. Dass die brasilianische Regierung den französischen Aktivisten mit Ausweisung bedrohte, konnte er als weiteren Publicity-Erfolg verbuchen.

Wirtschaftliche Selbstbestimmung

Zuvor hatten Vertreter von 30 der insgesamt 77 Ländersektionen, die im Bauern-Dachverband Vía Campesina zusammengeschlossen sind, in Porto Alegre intensiv an einer weiteren Vernetzung gearbeitet. Geplant ist ein erster weltweiter Aktionstag gegen Gentechnik. Am 17. April sollen, ebenfalls grenzübergreifend, Straßen, Häfen und Schienen blockiert werden, um gegen Agrarimporte zu protestieren. Einig sind sich die Bauernsprecher, wie zum Beispiel João Pedro Stedile von der MST, in ihrer Forderung, dass die Landwirtschaft auf die internen Märkte ausgerichtet werden solle, um den Hunger zu beseitigen. Diese Art der Produktion solle subventioniert werden, nicht aber der Export von Agrargütern. Handelsabkommen sollten nicht unter dem Dach der Welthandelsorganisation WTO geschlossen werden. Unverzichtbar seien außerdem umfassende Agrarreformen in den Ländern des Südens. Diese und ähnliche Forderungen nach „wirtschaftlicher Selbstbestimmung“ kristallierten sich im Laufe des Forums auch als weiterer Grundkonsens der Anwesenden heraus.
Beispielsweise in der Kritik an genmanipulierten Lebensmitteln sieht Marco Aurélio Weissheimer vom brasilianischen Organisationskomitee ein Paradebeispiel dafür, wie ganz unterschiedliche Gruppen aus Nord und Süd zusammengeführt werden könnten – Bauern, UmweltschützerInnen und VerbraucherInnen. Bernard Cassen verglich das Forum mit einer „Nullnummer“ im Zeitungsgeschäft – aus den jetzigen Erfahrungen müssten nun die richtigen Schlüsse gezogen werden. So könnten unter den Delegierten und den HauptrednerInnen des kommenden Forums sicher noch mehr RepräsentantInnen der weltweiten Basisbewegung gegen den Neoliberalismus sein.
Zu schwach vertreten waren diesmal noch Mittel-, Nord- und Osteuropa, Asien und Afrika und ganz allgemein der angloamerikanische Kulturkreis, ebenso GewerkschafterInnen und UmweltschützerInnen. Etwas zu häufig hingegen vernahm man linke Gewissheiten, deren innovatives Potenzial zu wünschen übrig lässt. Zudem wartet auf die Organisatoren die Herausforderung, die Podiumsdiskussionen noch besser zu besetzen und gleichzeitig demokratischere Spielregeln einzuführen: Vorabverteilung der Hauptreferate, Möglichkeit zu direkten Beiträgen aus dem Publikum, dafür eine etwas straffere thematische Bündelung der diesmal über 400 Workshops.
Auch über die notwendige Polarisierung gegenüber dem Weltwirtschaftsforum in Davos (siehe Kasten) wird man künftig hinausgehen müssen. „Das Weltsozialforum war vor allem eine Antithese zum reinen Liberalismus“, so eine Vertreterin von Global Citizen, einer US-amerikanischen NRO, die sich auf die Kritik an der Welthandelsorganisation spezialisiert hat. „Die Synthese wird folgen.“ Ähnlich sieht das der französische Philosoph Edgar Morin. Noch sei in Porto Alegre keine „zivilisatorische Politik für die Weltgesellschaft“ formuliert worden. Andererseits beginne sich auf der Gegenseite das „Einheitsdenken zu pluralisieren“, das „Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Regulierung der Weltwirtschaft“ habe selbst in Davos Einzug gehalten. Er hofft auf eine produktive „Dialektik der Antagonismen“, ähnlich wie jene zwischen Arbeit und Kapital, die in Westeuropa zum Wohlfahrtsstaat geführt habe. Diesmal gehe es aber darum, einen ähnlichen Ausgleich auf globaler Ebene herbeizuführen, kurz: „die Erde zu zivilisieren“.

Weitere Informationen:
http://iota.procergs.com.br/forumsm/home.asp;
www.mondediplomatique.fr/dossiers/portoalegre;
www.forumsocialmundial.org.br
(Weltsozialforum);
www.focusweb.org (Forschungsinstitut Focus on the Global South).

KASTEN

Anti-Davos im Süden

Seit 1971 treffen sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos alljährlich Manager, Banker und Staatschefs zum Gedankenaustausch. Im letzten Jahr hatte der brasilianische Unternehmer Oded Grajew, 56, die Idee zu einer Gegenveranstaltung. Leitgedanke: „Die Wirtschaft muss im Dienst der Menschen stehen und nicht umgekehrt.“ Einen begeisterten Mitstreiter fand er im Journalisten Bernard Cassen aus Paris, der als Tagungsort Porto Alegre vorschlug. Die südbrasilianische Millionenstadt wird seit zwölf Jahren von der Arbeiterpartei PT regiert und gilt weltweit als Vorreiterin einer bürgerorientierten Kommunalpolitik.
Vom 25. bis zum 30. Januar war es so weit: Während in den schweizer Bergen das Weltwirtschaftsforum tagte und erneut mit heftigen Protesten konfontiert wurde, diskutierten, demonstrierten und feierten in Porto Alegre 4.700 Delegierte und über 10.000 zusätzliche TeilnehmerInnen aus über 120 Ländern. Der gewünschte Kontast zu Davos stellte sich ein – etwa in der Berichtserstattung der großen französischen oder brasilianischen Zeitungen. Eine transatlantische Videoschaltkonferenz geriet zum polemischen Schlagabtausch zwischen Protagonisten aus Porto Alegre und dem Großspekulanten George Soros, zwei UNO-Beamten und einem schwedischen Unternehmer, die am Weltwirtschaftsforum teilnahmen (siehe www.madmundo.tv).
2002 kommt es – wieder parallel zu Davos – zu einer Neuauflage des Sozialforums in Porto Alegre, vielleicht mit kleineren Parallelveranstaltungen auf anderen Kontinenten. Für 2003 wird ein neuer Tagungsort gesucht.

Zweites Loch im kolumbianischen Käse

Zur Abwechslung kamen die Weihnachtsmänner diesmal in Grün. Kurz vor der Bescherung am 23. Dezember ließ die ELN (Nationale Befreiungsarmee) 42 Geiseln aus dem Sack. Polizisten und Soldaten, die seit Monaten gefangen gehalten wurden. Als Geste des guten Willens und um ihre Bereitschaft zu bekunden, dass man es ernst meint mit dem Friedensprozess. Zuvor trafen sich auf Kuba Vertreter der Guerillagruppe und der Hochkommissar für den Frieden, Camilo Gómez, um an dem Abkommen für eine Nationalkonvention zu feilen (siehe LN 291/292; 312). Dieses wurde bereits im Frühjahr letzten Jahres ausgehandelt, endete jedoch permanent in einer Sackgasse, da paramilitärische Offensiven oder Meinungsverschiedenheiten mit der Regierungskommission die Beziehungen belasteten.
Geplant ist eine Spezialzone in den Landkreisen Cantagallo und San Pablo im Süden des Departments Bolívar, aus denen sich das Militär für neun Monate zurückziehen soll, um die „Volksversammlung” mit der ELN zu ermöglichen. Allerdings hält diese dem Vergleich mit der bereits seit zwei Jahren existierenden FARC-Zone kaum stand. Während diese zehn Mal so groß ist und zurecht „Farclandia” genannt wird, muss die ELN mit Staatsvertretern in unklarer Mission leben. So soll dem kolumbianischen Geheimdienst DAS der Zugang nicht verwehrt werden. Eine zivile Sonderpolizei soll deutlich machen, dass man dieses Gebiet nicht der Guerilla preisgibt und die öffentlichen Staatsautoritäten handlungsfähig bleiben. Schließlich ist die funktionierende FARC-Justiz in San Vicente den staatlichen Gesetzeshütern schon seit langem ein Dorn im Auge.
Ein weitaus größeres Problem stellt sich der ELN in Gestalt der Paramilitärs dar, die bereits seit Jahren in dieser Gegend wüten und scheinbar unabhängige Organisationen gegen eine Verhandlungszone mobilisieren. Seit Bekanntwerden der Pläne mit der ELN haben die Truppen um Carlos Castaño,Chef der Paramilitärs, eine groß angelegte Offensive in den nördlichen Landesteilen gestartet, die seit Wochen eine verheerende Gewaltwelle in Gang setzt. Um jeden Preis wollen die AUC (Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens) verhindern, dass die Zone und folgende Verhandlungen zustandekommen.

Brennende Ölmetropole

Blutiger Mittelpunkt dieses Krieges ist seit Dezember die Erdölmetropole Barrancabermeja, die zentral am Magdalena-Fluss liegt. Einige Kilometer stromabwärts an der anderen Uferseite soll die Konventionszone entstehen. Castaño kündigte zuvor an, Ende 2000 einen Kaffee im Nordosten der Stadt trinken zu wollen, nachdem er die Guerilla, die traditionell in den Arbeitervierteln verwurzelt ist, dort vertrieben hat.
Gesagt, getan. Am 22. Dezember überquerten mehr als 100 Paramilitärs mit Booten den Fluss. „Wir sind jetzt da, ihr kleinen Guerilleros. Jetzt werden wir mit euch abrechnen”, riefen die Paras den verschlossenen Häuserfronten der Stadtteile „1. Mai” und „Simon Bolívar” entgegen, an denen Bilder von Che Guevara, Camilo Torres und José Martí prangen.
Seit diesem Tag fanden unablässig Scharmützel in den Straßen statt. Die Paras besetzten Häuser und vertrieben die Eigentümer. Die Guerilla rief die Bewohner auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Denn wenn die Paras aufkreuzten, machten sie kurzen Prozess. Allein in der ersten Januarwoche starben in der 400.000-Einwohnerstadt 24 Menschen.
Dass es die Paramilitärs offensichtlich sehr einfach haben, sich in der militarisierten Stadt zu bewegen, verstärkt die mehrfach belegten Verbindungen mit Armee und Polizei. Noch am 14. Januar meinte der zuständige Polizeikommandeur, ihm sei nicht bekannt, dass sich Bewaffnete in der Stadt befänden. Unterdessen kletterte die Zahl der Toten auf über 30.
Kurz darauf kündigte das Militär an, um die ELN-Zone einen Sicherheitsring von drei Bataillonen zu legen, damit, so die Argumentation, die Nationalkonvention vor paramilitärischen Übergriffen geschützt werde. Dass sich diese ereignen könnten, lässt sich bei deren Stärke nicht ausschließen.
Viel wahrscheinlicher ist aber ein anderes Szenario: Sollte sich kein Erfolg einstellen, wäre die ELN mit einer militärischen und paramilitärischen Offensive konfrontiert und läge diesmal womöglich in ihren letzten Zügen. Denn diese sitzt dann in einem Kessel, der sich die nächsten Monate zuziehen könnte. Bisher gibt man sich aber in der Serranía San Lucas noch optimistisch und lässt guten Willens die letzten Geiseln frei, die man noch in der Gewalt hat.

Anno 1886

Verbale Schützenhilfe für die Paramilitärs kommt aus rechtskonservativen Kreisen in Politik und Wirtschaft, die die bisherige Friedenspolitik ad absurdum führen wollen. Bei einem Treffen der Vereinigung der Viehzüchter (Fedegán) im November nutzten die Großgrundbesitzer ihren Einfluss, um eine Forderung aufzustellen, die einen klaren Rechtsruck in der Politik einführen und das Ende der Friedensgespräche einläuten sollten. In einer hetzerischen Rede drosch deren Präsident Jorge Visbal Martelo auf die FARC und den bisher erfolglosen Friedensprozess ein, geißelte eine mögliche ELN-Zone und forderte allen Ernstes eine Legalisierung von Nationalmilizen.
Diese Form der Landsicherung durch bewaffnete Milizen war bereits in der alten Verfassung von 1886 festgeschrieben, wurde in der neuen Anfang der neunziger Jahre allerdings getilgt, da sich diese Gruppen den Paramilitärs wie ein Ei dem anderen ähnelten. Ein Unterschied liegt lediglich darin, dass die Nationalmilizen offiziell von der Armee trainiert und unterstützt wurden.
„Diese Deklaration der Fedegán ist die Ansicht vieler hoffnungsloser Kolumbianer. Mit Grund. Schließlich fehlen Ergebnisse (im Friedensprozess)”, sagte der Kongress-Präsident Mario Uribe Escobar, der an dem Treffen teilnahm. Dabei griff er tatsächlich die pessimistische Stimmung in der Bevölkerung auf. Allerdings schürt er damit die sich verbreitende Ansicht, dass man dem Konflikt nur noch mit harter Waffengewalt begegnen könne.
An seine Seite gesellten sich ähnlich hochkarätige Personen wie der Verteidigungsminister Luis Fernando Ramírez und Ex-Gouverneur und Rechtsaußen-Präsidentschaftskandidat Mario Uribe Vélez. „Die FARC-Zone ist das reinste Desaster”, äußerte Letzterer. Auf keinen Fall dürfe man den gleichen Fehler mit der ELN machen.
Dieser Vorstoß ist kein Zufall. Viele Kongressabgeordnete bemühen sich seit geraumer Zeit, dem allgemeinen Rechtsruck im Land weiter Vorschub zu leisten, den Paramilitärs in den Verhandlungen die Türen zu öffnen und ihnen den heiß ersehnten politischen Status zu gewähren. Ein Punkt, den die Guerilla vehement ablehnt, da diese Gruppen außer bezahlter Massaker und Vertreibungen keine politischen Ziele verfolgen.

Flaute in San Vicente

Zudem scheint das paramilitärische Projekt reibungslos zu funktionieren. Sie sind mit 5-8.000 Kämpfern so stark wie nie zuvor, machen mittlerweile in fast allen Landesteilen mobil und sind den Rechten der gewünschte Stein im Getriebe des Friedensprozesses, der den schleppenden Verlauf vollends zum Stehen bringen könnte.
Doch nicht nur im Sur de Bolívar nehmen die Paramilitärs das Schikksal des Friedensprozesses in die Hand. Während dort nun geschäftiges Treiben auf allen Seiten herrscht, ist seit dem 14. November in der FARC-Zone im Süden des Landes Ruhe eingekehrt, nachdem die Verhandlungen ausgesetzt worden sind. Beinahe das Einzige, was dort seit zwei Jahren mit Regelmäßigkeit zelebriert wird. Die Guerilla forderte nach den genannten politischen Annäherungsversuchen an die Paramilitärs ein entschiedenes Vorgehen gegen diese. Solange die Pastrana-Regierung nichts handfestes unternimmt, gebe es keine Verhandlungen mehr.
Von September bis Dezember bekam die Bevölkerung zudem einen Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn der Plan Colombia richtig entfaltet wird. Im Department Putumayo an der Grenze zu Ecuador, wo mit 56.000 Hektar allein über die Hälfte des Koka angebaut wird, vollzogen die FARC eine 83 Tage währende bewaffnete Blockade. Ziel war die Vertreibung der sich dort festsetzenden Paramilitärs, die seit Bekanntwerden des so genannten Antidrogenplans offenbar ertragreiche Pläne für das Land schmieden, sobald die Kokabauern vertrieben sind. Denn vermutet werden umfangreiche Ölvorkommen, die laut einem ehemaligen US-Armeeausbilder in Kolumbien die Hauptmotivation für die Einmischung der USA in dieser unerschlossenen Zone sind.
Während der Blockade waren die BewohnerInnen der Dörfer eingeschlossen. Lebensmittel mussten mit Transport-Flugzeugen der Armee in die Orte gebracht werden. Als die Situation auszuufern drohte, schickte die Regierung Armeeverstärkung in den Putumayo – was auch geplant war.
Im Januar machten daraufhin die Gouverneure der südlichen Provinzen Druck auf die Regierung. Die Situation sei unhaltbar und man fordere eine Änderung der Drogenbekämpfungspläne. Und von ihnen ging nun ein neuer Impuls für die Verhandlungen mit der FARC aus. Bisher fand der Dialog ausschließlich zwischen der Zentralregierung und der Guerilla statt, ohne die betroffenen Departments einzubeziehen. Jetzt wollen sie, sofern der Prozess wieder aufgenommen wird, daran mitwirken.
Und danach sieht es aus, nachdem der Prozess bereits als tot galt. Noch vor Ende Januar wollen FARC und Regierung einen Gefangenenaustausch durchführen. Zudem kündigte die Guerillagruppe an, eine unbestimmte Anzahl weiterer Geiseln freizulassen. In einem Schreiben an die Regierung stellte FARC-Chef Manuel Marulanda Mitte Januar allerdings elf Punkte auf, die teils Zugeständnisse, teils Forderungen sind. Demnach wären die FARC bereit, internationale Beobachter der Zone zuzulassen.
Desweiteren wird in dem Schreiben eine Kommission zur Bekämpfung des Paramilitarismus gefordert, die die tatsächlichen staatlichen Anstrengungen beobachtet und leitet. Selbst in diesem Punkt scheint sich die Regierung jetzt langsam zu bewegen, nachdem sie dieses Thema jahrelang ignorierte. Ob außer politischen Lippenbekenntnissen mehr herauskommt, wird sich zeigen.
Doch zunächst steht die bisher wichtigste Entscheidung noch aus: Wird die FARC-Zone nach dem 30. Januar weiter verlängert oder nicht? Sollte der Friedensprozess vorher wiederbelebt werden, steht dies wohl nicht mehr zur Debatte, und die Rechte im Land würde vorerst die Initiative verlieren – bis zur nächsten Krise. Wenn diese Verlängerung aber nicht verabschiedet wird, käme das einer offenen Kriegserklärung gleich.

Kasten: Panorama der Gewalt

Nach dem schweren Erdbeben in El Salvador bestellte Präsident Francisco Flores 3.000 Särge. Nicht etwa aus einem der nahe liegenden Länder wie Guatemala oder Mexiko, sondern aus Kolumbien. Vielleicht ist es einfach nur die Qualität oder die Gewissheit, dass dort genug dieser Holzkästen zur Verfügung stehen. Die Funerarias sind derzeit wohl die zufriedensten Einzelhändler in Kolumbien.
Denn an Kunden mangelt es nicht: Laut Polizeiangaben starben in dem 40-Millionen-Einwohnerland im letzten Jahr 26.250 Menschen durch Mord. Das sind acht Prozent mehr als 1999. 85 Prozent dieser Todesfälle geschehen durch Schusswaffen, wobei jedes fünfte Opfer ein Kind ist. Im Schnitt wird alle 20 Minuten jemand ermordet. Glück hatten nur weitere 238.277 Menschen, die einem „unnatürlichem Tod” verletzt entkommen konnten.
Die höchste Steigerung in dieser Quote erfuhren die Massaker. Offiziell wurden 205 verübt, bei denen 1.226 Menschen starben. 32 Prozent mehr als 1999.
Unter „nur” zehn Prozent verbucht die Polizei den Anteil an politischen Morden. Darunter befinden sich neben Bürgermeistern und Journalisten über 90 Gewerkschafter, die durch sicarios mundtot gemacht wurden.
Auch an lebenden Opfern mangelt es nicht: 3.029 Menschen wurden entführt, 432 gelten aus politischen Gründen als vermisst. Kolumbien verzeichnet außerdem knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge. Laut der Menschenrechtsorganisation CODHES verließen letztes Jahr 228.000 Menschen ihr Land oder wurden vertrieben. 93.216 aus klar politischen Gründen. Sollte in Zukunft die militärische Operation „Neuer Horizont_, stark verwurzelt mit dem Plan Colombia, im Department Putumayo zur Drogenbekämpfung beginnen, rechnet die Organisation mit 190.000 Flüchtlingen allein aus dieser Provinz. Das ist mehr als die Hälfte der ganzen dortigen Bevölkerung.
Wer es gar nicht mehr aushält, sucht den Weg ins Ausland. Laut einer Zeitungsumfrage wollen 41 Prozent der Bevölkerung Kolumbien verlassen. Wegen der anhaltend hohen Gewalt und der prekären wirtschaftlichen Situation: Kolumbien hat mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 21 Prozent die höchste auf dem ganzen Kontinent. Knapp 250.000 Menschen haben das Land dieses Jahr verlassen, in den letzten fünf Jahren über eine Million.
Der wohl Einzige, der das Jahr 2000 als „ein gutes Jahr” gesehen hat, war Präsident Pastrana.

Die goldenen Jahre der Mafia

Diego Armando Maradona war sauer. Der Dribbelkünstler im Ruhestand musste zu Hause in Buenos Aires bleiben, während die Elf seines geliebten Fußballclubs Boca Juniors nach Tokio zum Endspiel um den Weltcup gegen Real Madrid reiste. „Sogar Leute wie Fujimori sind in Japan, und mich lassen sie nicht einreisen, um ein Fußballspiel zu sehen“, empörte er sich. Die japanische Regierung hatte Maradona das Einreisevisum verweigert, weil er wegen Drogenkonsum vorbestraft ist. Der ehemalige peruanische Präsident Alberto Fujimori, Kopf einer Mafia, die unter anderem Schutzgelder von Drogenhändlern erpresste, durfte dagegen auf der Flucht vor der Justiz nach Japan einreisen und sich dort niederlassen.
Im fernen Japan verfängt sich der Flüchtling in einem Netz aus Lügen, das er selbst gesponnen hat: „Ich laufe nicht davon, ich fliehe nicht wie andere“, hatte Fujimori noch Ende Oktober getönt, als sein Vizepräsident Francisco Tudela den Rücktritt einreichte. Nicht einmal 30 Tage später schlich er sich wie ein Dieb davon. Der Präsident, der stets Sparsamkeit predigte und sich nach eigenen Angaben nur ein Gehalt von 2.000 Soles – etwa 600 US-Dollar – im Monat genehmigte, durfte nun aus Tokio verfolgen, wie sein letzter Premierminister Federico Salas zugab, 30.000 US-Dollar verdient zu haben, also mehr als fünfzig Mal so viel wie sein Chef. Die dreisteste Lüge Fujimoris aber ist, dass er nicht wusste, was seine vermeintliche rechte Hand tat. Die mafiaähnlichen Strukturen, die sein Berater Vladimiro Montesinos systematisch in staatlichen Behörden und Institutionen aufbaute, will der Präsident glatt übersehen haben.

Die Drogenrepublik Peru

Vielleicht war der Präsident auch die rechte Hand seines Beraters. Diese Vermutung wird durch Aussagen des Ex-Premiers Federico Salas bekräftigt, der kürzlich von einer parlamentarischen Untersuchungskommission vernommen wurde (siehe Kasten). Doch eine Hand wäscht die andere, und so haben der Präsident und sein Berater zehn Jahre lang zum gegenseitigen Nutzen gut zusammengearbeitet. Am Anfang standen die Drogengelder. Roberto Escobar, der Bruder des 1993 erschossenen Chefs des Medellín-Kartells Pablo Escobar, eröffnete der kolumbianischen Zeitung El Cambio, sein Bruder hätte im Jahre 1990 eine Million US-Dollar für die Finanzierung von Fujimoris Wahlkampf zur Verfügung gestellt. Vermittler des Deals, von dem sich das Medellín-Kartell die problemlose Landung seiner Transportflugzeuge in Peru erhoffte, war Escobar zufolge ein altbekannter Geschäftsfreund seiner Familie: Vladimiro Montesinos. Einmal an der Macht, unterhielt Montesinos auch mit der Konkurrenz rege Geschäftsbeziehungen. Der Berater Fujimoris ließ sich nach Aussagen von Boris Foguel, dem in Panama einsitzenden Ex-Chef der Drogenbande die „Kamele“, für jedes exportierte Kilo Kokain eine Provision von 700 US-Dollar auszahlen. Wer sich weigerte, die fälligen Schutzgelder an Montesinos zu überweisen, wurde laut Foguel gnadenlos von den peruanischen Behörden verfolgt. Mehrere Transportmaschinen sollen im Flug abgeschossen worden sein. Die „Kamele“ zahlten und durften dafür unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen. Die peruanische Luftwaffe stellte ihnen sogar Flugzeuge zur Verfügung, mit denen sie die Kokapaste über die Anden in die Kokainlabors an der peruanischen Küste transportieren durften. Demetrio Chávez, der für das Cali-Kartell pro Monat fünf Tonnen Kokapaste nach Kolumbien flog, handelte mit Montesinos einen Mengenrabatt aus. Er kam mit 50.000 US-Dollar pro Monat davon. Doch er ließ sich in Kolumbien schnappen und wurde ausgeliefert. Sein Geständnis, insgesamt 1,5 Millionen US-Dollar Schutzgelder an Montesinos und 300.000 US-Dollar an führende Armeegeneräle gezahlt zu haben, musste er mit Isolationshaft im berüchtigten Marinegefängnis zu Callao bezahlen, in dem auch Abimael Guzmán, der ehemalige Führer des Sendero Luminoso, und Victor Polay, der Gründer der Guerilla MRTA, sitzen.
Die Justiz kooperierte nicht nur im Fall Chávez mit Montesinos. Als der Zollfahnder Fernando Ruíz im Lastwagen eines Fischmehlunternehmens einige Säcke Kokain entdeckte, wurde ein gewisser Eudocio Martínez verhaftet. Ruíz zufolge soll Montesinos über einen Vermittler drei Millionen US-Dollar für Martínez’ Freilassung verlangt haben. Die sollten für Fujimoris Wahlkampf im Jahre 1995 verwendet werden. Als Martínez zahlte, öffneten sich für ihn prompt die Gefängnistore. Dafür kamen Ruíz und der Anwalt einer Zollagentur hinter Gitter.

Goldene Kriegszeiten

Jene 48 Millionen US-Dollar, die auf Montesinos Konten in der Schweiz gefunden wurden, sind vermutlich gewaschene Drogengelder. Ende November entdeckten die Schweizer Behörden weitere 22 Millionen US-Dollar auf anderen Konten des Ex-Geheimdienstchefs, die er als Provision für Waffenkäufe der peruanischen Regierung in Russland erhalten haben soll. Zusammen mit anderen Geschäftspartnern – unter anderem aus der Armeespitze – kontrollierte Montesinos ein Geflecht von Firmen, die mit dem Waffenkauf für die peruanischen Streitkräfte beauftragt wurden. Die Vorgaben für die Auftraggeber im Innen- und Verteidigungsministerium kamen ebenfalls von Montesinos. Allein in den Jahren 1995 bis 1998, vom Beginn des Konfliktes mit dem Nachbarland Ecuador bis zum vorläufigen Friedensvertrag, wurden nach Auskünften der Regierung vier Milliarden US-Dollar für Waffenkäufe ausgegeben. Ein besonderer Skandal war der Kauf von 18 MIG-29 Abfangjägern und 14 Sukhoi-25-Jagdbombern in Weißrussland. Das Geschäft wurde abgeschlossen, obwohl bessere Angebote aus der Ukraine und Russland vorlagen. Dafür gingen 760 Millionen US-Dollar Provisionen an eine peruanische Firma, die mit Montesinos’ Vermögensverwalter, dem Unternehmer Víctor Alberto Venero, in Verbindung steht.
Gelegentlich sind von der peruanischen Regierung erworbene Waffen mit Gewinn weiterverkauft oder gegen Drogen getauscht worden. Im Interesse des Geschäfts verschwammen sogar ideologische Gegensätze – wie zum Beispiel beim Verkauf von 10.000 Gewehren russischer Bauart an die kolumbianische FARC. Ein Deal, der den Zorn der US-Regierung hervorrief und daher vermutlich den Anfang vom Ende des Montesinos-Fujimori-Regimes markierte.

Staatliche Unternehmensberatung

Ein weiteres Instrument bei der Schutzgelderpressung war die Steuerbehörde SUNAT. Sie organisierte Betriebsprüfungen und stellte bei manchen Unternehmen Nachforderungen in Millionenhöhe. Bei Zahlungsunfähigkeit konnten die betroffenen Firmen zum Teil direkt mit Montesinos über mögliche Problemlösungen verhandeln. Direkte Zahlungen an den Präsidentenberater wurden als Honorare für Unternehmensberatung getarnt. Es ist noch längst nicht bekannt, wie viele Millionen US-Dollar Montesinos auf diese Weise einstrich. Allein die Modeschmuck-Unternehmerin Matilde Pinchi zahlte ihm zuletzt 90.000 US-Dollar monatlich für seine Beratungsdienste. Zeitungsverlage und Fernsehkanäle kamen auch mit folgsamer Programmgestaltung davon.
Zu Montesinos Diensten war auch die Zollbehörde SUNAD. Überführte Firmen, die Schmuggelware aus dem Ausland auf den peruanischen Markt brachten, durften ihren Geschäften bei regelmäßiger Schutzgeldzahlung in Ruhe weiter nachgehen. Jaime Mufarech, ehemaliger Regierungsbeamter, denunzierte Regierungsmitglieder, ihre schützende Hand über Schmuggeldelikte gelegt zu haben. Der ehemalige Wirtschaftsminister Victor Joy Way soll selbst Mitglied einer Mafia gewesen sein, die illegale Importe organisiert hat.
Montesinos, dessen Vermögen von der spanischen Zeitung El País auf eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird, mag derjenige gewesen sein, der am meisten geraubt hat. Kenner der Szene schätzen aber, dass sich etwa 50 Funktionäre des korrupten Regimes schamlos bereichert haben: die Führungsspitze der Armee und der Polizei, Richter, Staatsanwälte, hohe Beamte, Abgeordnete, Minister und nicht zuletzt der Präsident selbst. Zum Beispiel spülte die hemmungslose Privatisierungswut der neoliberalen Regierung 9,2 Milliarden US-Dollar in die öffentlichen Kassen. Doch die Unternehmen wurden in vielen Fällen angeblich wegen mangelnder Rentabilität unter Wert verkauft. Dabei sollen Abermillionen an Provisionen geflossen sein.

Kleingeld aus der Schwarzgeldkasse

Auch die vielen Wasserträger des Regimes und die Mitwisser wollten bezahlt werden. Der Mafiaboss Montesinos brauchte daher Kleingeld, um seine Anweisungen auf allen Ebenen von Armee, Justiz und Wahlbehörden umzusetzen. Oder um Abgeordnete, Verleger, Bürgermeister und Journalisten zu bestechen. Schätzungsweise kamen etwa 500 Personen, Zivilisten und Militärs, in den Genuss von regelmäßigen Zuwendungen. Montesinos verfügte zu diesem Zwecke über Schwarzgeld von schätzungsweise 100 Millionen US-Dollar jährlich, Geld aus der Staatskasse, von dem zumindest Fujimori und der Wirtschaftsminister wussten. Die Mittel stammen aus dem Verteidigungshaushalt, dessen genaue Aufteilung – dem an der Grenze lauernden Feind geschuldet – Staatsgeheimnis bleibt. Montesinos konnte mit diesem Geld agieren, wie es ihm beliebte, doch der Präsident war letztlich der Nutznießer: Seine Mehrheit im Kongress hatte er dem Kauf von Abgeordneten zu verdanken, seine Wahlerfolge einer gleichgeschalteten Justiz, der Hofberichterstattung in den Medien und den Manipulationen der zuständigen Behörden. Ohne eine zufriedene Armeespitze hätte er nicht zehn Jahre an der Macht überlebt.
Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen auch gegen Fujimori Ermittlungen aufgenommen. Unter anderem, weil er kurz vor seiner Flucht eine Wohnung des schon abgetauchten Montesinos durchkämmen und dessen Hab und Gut beschlagnahmen ließ. Ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl und ohne Staatsanwalt. Damit demonstrierte der Präsident öffentlich, worum es ihm bei der Jagd auf seinen Partner wirklich ging: um die Vernichtung von Beweisen. Bevor er sich in Japan niederließ soll er – der peruanischen Zeitung Liberación zufolge – bei einem Zwischenstopp in Singapur 18 Millionen US-Dollar auf japanische Banken transferiert haben.
„Ehrlichkeit, Technologie, Arbeit“ – so lautete die Botschaft, die Alberto Fujimori im Jahre 1990 den Präsidentensessel sicherte. Zehn Jahre später ist die Arbeitslosenquote in Peru höher denn je. Der Mann, den viele seiner Landsleute einst für „den besten peruanischen Präsidenten aller Zeiten“ hielten, institutionalisierte die Lüge und stand dem korruptesten Regime der peruanischen Geschichte vor. Die Illusionen des peruanischen Volkes nahm er in seinen Koffern mit ins hoch technisierte Japan.

KASTEN:
Dreitausend bewaffnete Männer

Der letzte Ministerpräsident des gestürzten Regimes, Federico Salas, sagte in der ersten Dezemberwoche vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission aus. Seinen Ausführungen zufolge traute sich Präsident Fujimori Ende September nicht, nach der Veröffentlichung des Videos, das Montesinos bei der Bestechung eines Abgeordneten zeigt, seinen allmächtigen Berater zu entlassen. Salas erzählte, auf Anweisung des Präsidenten habe er selbst Montesinos angerufen und diesem den Rücktritt nahe gelegt. „Kein Präsident und schon lange kein kleiner Ministerpräsident wie du besitzt die Macht mich abzusetzen“ soll Montesinos ihm damals geantwortet und damit gedroht haben, dass er über dreitausend bewaffnete Männer verfüge und einen Staatsstreich organisieren könne, wann immer er wolle. „Wenn du weiter insistierst, wirst du nicht einmal mehr bis zum Gitter des Präsidentenpalastes kommen“, waren laut Salas die letzten Worte Montesinos. Der Ex-Premier gab zu, völlig verängstigt gewesen zu sein. Montesinos Antwort soll der Grund dafür gewesen sein, dass Fujimori sich selbst zum Rücktritt entschlossen hat.

Erreichen Worte mehr als Gewehre?

Hier ist solch eine Veranstaltung viel bedeutender als in Bogotá oder einer anderen Großstadt des Landes“, urteilt der betagte kolumbianische Schriftsteller Elmo Valencia, während er seinen Blick über die Häuserdächer des kleinen Ortes Caicedonia schweifen lässt. „Wissen sie,“ sagt er mir im Flüsterton, „für uns ist es ein Ritual, uns hier zu treffen, unsere Meinungen auszutauschen und zu der Entwicklung im Land öffentlich Stellung zu nehmen.“
Vielleicht ist dies wirklich das angestrebte Ziel dieser Zusammenkunft, die eine Hand voll Schriftsteller an einem Novemberwochenende zum zweiten Mal nach Caicedonia verschlägt. Oder doch einfach nur ein Ritual in einer passenden Gegend?
Immerhin ein schöner Ort. Saftig grüne Hügel umrahmen das 35.000-Einwohnerstädtchen. Dunkelgrüne Plantagen aus der weiter nördlich gelegenen Kaffeezone erstrecken sich bis hierher. Kaffeesäcke werden aus kolonialen Lagerhäusern auf klapprige Lastwagen verladen, Jeeps bringen zufrieden dreinschauende Kaffee- und Bananenpflücker hinauf in die Berge zum Arbeiten. Romantisch.
Nur: Der Schein trügt. Anfang 1999 verlor Caicedonia bei einem schweren Erdbeben viele Häuser und Menschen. Als Wahrzeichen steht die von Mauerrissen durchzogene Kirche am Hauptplatz, die nun ohne Turm um den Status als höchstes Gebäude kämpft.
Auch politisch blieb der Ort seitdem nicht verschont. Einmal wurde er von den Paramilitärs heimgesucht, ein anderes Mal von der Guerilla attackiert. Zwölf Personen gelten seitdem als entführt. In einigen Ladenfenstern hängen kleine kopierte Anschläge mit den Bildern von den Verschwundenen. Nun, heisst es, wäre das Gebiet in den Händen der Paramilitärs. Man ist seitdem vorsichtig in der Wortwahl, aus Angst vor den autodefensas.

Ritual oder Debatte?

Es erscheint absurd, dass sich ausgerechnet hier zwanzig Schriftsteller unter dem Motto „Worte können mehr als Gewehre“ treffen, um über den kolumbianischen Konflikt zu sprechen. Andererseits findet aber gerade auf dem Land dieser scheinbar endlose Bürgerkrieg statt, der jährlich über 4000 Opfer fordert. Wo sonst sollte man also die Ohren für die Worte finden?
„Wir danken der Organisation Corpocaica….“ beginnt die viertelstündige Danksagung. Es ist Freitagabend, Einführungsveranstaltung. Hinter der Frau in dem roten Kostüm, die in stolzem Ton am Podium die Namen herunterliest, wartet gelangweilt die Blaskapelle des Departments Valle del Cauca auf ihren Einsatz.
An einem Tisch sitzen zum Publikum gewandt vier Herren und eine Frau. Der dickste von ihnen soll ein Kongressabgeordneter sein, der sich hierher verirrt hat. Jedenfalls macht er diesen Eindruck. Permanent schaut er auf die Uhr und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Pflichtveranstaltung. „Weiterer Dank gilt…“ Neben ihm kauert der Bürgermeister von Caicedonia, der zwischendurch eine kleine Ansprache hält, und – wie ich später erfahre – sich mit den Paramilitärs arrangieren soll.
Die Blaskapelle beginnt, die Nationalhymne zu spielen. Danach die Departmentshymne. Selbst dieser Ort hat sein eigenes Lied. Alle stehen auf, die meisten singen mit. Ein ungewohntes Szenario, wenn man solch einen Nationalstolz nicht nachvollziehen kann. Den lassen sich selbst die stärksten Kritiker des Landes nicht nehmen, obwohl es allen Grund dazu gäbe.
Am nächsten Morgen beginnen mit einstündiger Verzögerung die Lesungen der Schriftsteller. Bekannte Autoren wie Alfredo Molano, der sich nur noch im spanischen Exil erlauben darf, offene Konflikt-Analysen in der Zeitung El Espectador zu veröffentlichen, hat kurzfristig abgesagt. Viele der zwanzig Anwesenden halten sich in ihren Reden zurück – ob bewusst oder routiniert lässt sich nicht heraushören.Vielleicht entwickelt man in diesem Land im Laufe der Jahre einen eigenen Sprachmodus, den die Angst produziert. Denn wer den Kopf zu weit aus den Fenster lehnt, läuft Gefahr, ihn zu verlieren. Auf diesem schmalen Grat zwischen Angst und Mut bewegen sich die Schriftsteller auf der Podiumsveranstaltung.

Sprachmodus der Angst

„Es ist politische Tradition, nicht alles zu sagen“, verteidigt Julian Malatesta einige Reden seiner Kollegen. Er weiß, wovon er spricht. Schließlich arbeitete er für die linke Partei Union Patriótica, die in den achtziger Jahren über 3000 Kader durch Mordanschläge verlor und seitdem fast von der Bildfläche verschwunden ist. Trotzdem müsse man aber einen Weg zum Frieden anstreben, der die Gemeinden und die gesamte Gesellschaft einbezieht, so Malatesta.
Wie schwierig dieser Versuch ist, erleben die Autoren selbst. Der Saal im Theater Colegio Bolívar ist während der Reden nur spärlich besetzt. „Eine Lösung für den Konflikt liegt in den Kindern“, beschwört in großen Bahnen gestikulierend Miguel Fernando Caro die fehlende Masse. „Das ist die Aufgabe der Kultur“, sagt er und präsentiert sieben Bände der von Kindern verfassten Bücher, mit denen er in Cali zusammenarbeitet. Der Applaus ist auf seiner Seite, schließlich sitzen rund einhundert Schüler zwischen sieben und vierzehn Jahren in den Reihen. Während der weiteren Reden ist dann lieber Autogrammjagd angesagt, als der „Spirale der Gewalt“, einem möglichen „Blitzkrieg“ oder einer „Intervention der US-Amerikaner“ zuzuhören.
Die Abwesenheit der Bevölkerung lässt sich mit der gleichen Angst begründen, die einige Schriftsteller haben. Eine Lehrerin der örtlichen Schule nennt es schlicht Desinteresse. Woher auch die Energie nehmen, wenn man schon über 50 Jahre mit der Gewalt leben muss?
Für die lichten Sitzreihen ist sicherlich auch TV Señal Caicedonia mitverantwortlich, deren Kameramänner mit ihren grellen Scheinwerfern durch die Reihen streifen. Ein Regionalsender, der die Schriftsteller bis an den Essenstisch verfolgt und der Bevölkerung die Bilder in die Wohnzimmer sendet. „Die Leute sind zwar nicht hier, aber sie verfolgen das Treffen am Bildschirm. Auch sie haben Angst, hierher zu kommen und offene Fragen zu stellen, doch die Kommunikation funktioniert. Man erzählt es sich weiter. Tuschel, tuschel, tuschel,“ lacht Elmo Valencia über die offenbar verstrickten und geheimen Kommunikationswege in dem Ort. Zum Glück gibt es keine Einschaltquoten.

Kritische Kinderstimmen

Den ersten Anstoß zu einer Diskussion liefern nach Stunden die Kinder. Weniger durch ihre Fragen, die sie zuvor zugesteckt bekommen, sondern mit einer Sammelmappe über ihr Verständnis des Konfliktes, die sie den Autoren als Geschenk überreichen. Ein fiktives Interview mit Präsident Pastrana, FARC-Chef „Tirofijo“ und einem Armeegeneral zwingt Arturo Alape, einen der bedeutensten politischen Schriftsteller des Landes, Stellung zu nehmen. Die Darstellung der politischen Konfliktparteien sei so verschoben wie im ganzen Land. Er warnt die Lehrer davor, den Kindern ihre Meinung aufzuzwingen.
Die vorletzte Rede beginnt. Unter den Zuhörern herrscht angespannte Stille. Der deutsche Schriftsteller und Journalist Raul Zelik spricht in deutlichen Worten den Paramilitarismus, deren Massaker und die sozialen Ursachen für den kolumbianischen Konflikt an. Wohl mit dem beruhigenden Gefühl, als einziger ausländischer Teilnehmer ein Rückflugticket für den nächsten Tag in der Tasche zu haben. „Danach haben mir viele Leute erzählt, dass ich aufpassen soll, aber sie fanden es gut, dass ich das gesagt habe,“ so Zelik.
Am nächsten Morgen sitze ich mit ihm bereits in einem roten Kleinwagen auf dem Weg zum Flughafen. Eine halbe Autostunde bis Armenia, der nächst größeren Stadt. Wieder diese landschaftliche Romantik, die man nicht ernst nehmen will unter den gegebenen Umständen. Plötzlich ein lauter Knall, Zelik erstarrt und wird bleich im Gesicht. „Verdammt, diese Schlaglöcher“, stöhnt der untersetzte Fahrer, der ja eigentlich die Straße kennt. Ein Reifen ist geplatzt. Nur der Reifen. Angst ist in Kolumbien ansteckend.

Hühner, Ratten und Kamele

Freitags ist Waschtag in Lima. In einem symbolischen Akt reinigen DemonstrantInnen allwöchentlich vor dem Präsidentenpalast peruanische Fahnen, die sie vom korrupten Fujimori-Regime beschmutzt sehen. Beim letzten Termin im Oktober hielt eine resolute Frau den WäscherInnen eine Pfanne mit zwei Eiern entgegen. „Die fehlen, um Fujimori zu stürzen!“ rief sie und beklagte den fehlenden Kampfesmut der Opposition. Ganz Unrecht hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Obwohl der meistgehasste Mann Perus, der ehemalige Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, wenige Tage zuvor seelenruhig aus Panama zurückgekehrt war, hatte es nur wenig Protestaktionen gegen das Regime gegeben.
Eine Woche später, am nächsten Waschtag, konnte die Frau ihre Eier beruhigt zu Hause lassen. Denn die Nachricht, dass der zurückgekehrte Montesinos 48 Millionen US-Dollar auf Schweizer Konten deponiert hält, löste eine Lawine aus, die das Regime unter sich begraben wird. Außerdem hatte ein Oberstleutnant namens Ollanta Humala gezeigt, dass es sehr wohl ganze Männer in Peru gibt.
Humala probte mit fünfzig Soldaten und zwei Zivilisten – darunter sein Bruder – den Aufstand. In der Nähe der südperuanischen Stadt Tacna nahm er einen General und vier Minenarbeiter als Geiseln und machte sich auf einen „Marsch durch ganz Peru“.

Maiskörner für die Armee

In einem „Manifest an die peruanische Nation“ bezeichnete der 38-jährige Heeresoffizier die Präsidentschaft Alberto Fujimoris auf Grund dessen Wahlschwindels als illegal und klagte die von Montesinos eingesetzte Armeespitze wegen Drogenhandel, Waffenschmuggel und anderer schmutziger Geschäfte an. Humala verkündete, er würde die Autorität von „Verbrechern“ nicht mehr anerkennen und erst dann die Waffen niederlegen, wenn ein neuer Präsident im Amt sei.
Spontan solidarisierten sich Tausende von DemonstrantInnen im ganzen Land mit den Rebellen. Hunderte von Reservisten zogen los, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. In den Medien wurde Humala mit dem jungen Oberst Hugo Chávez verglichen, der im Jahre 1992 versuchte, die korrupte venezolanische Pérez-Regierung zu stürzen. Humalas Marsch durch ganz Peru kam indes nach einem Tag ins Stocken. Keine einzige zusätzliche Militäreinheit schloss sich der Rebellion an. In Tacna warf die mit Humala solidarische Bevölkerung empört Berge von Maiskörnern über die Kasernenzäune und beschimpfte die dort stationierten, untätigen Soldaten als feige Hühner.
Die meisten von Humalas Kämpfern verdienten sich ebenfalls ein paar Maiskolben. Sie ergriffen angesichts einer anrückenden Elitetruppe von 500 Mann die Flucht. Auch die Geiseln entkamen. Mit ganzen acht Männern hielt sich Humala zuletzt im peruanischen Hochland versteckt. Sein Bruder Antauro zog aus taktischen Gründen in eine andere Richtung. Er befehligt inzwischen rund 400 Reservisten, die mehr oder weniger schlecht bewaffnet sind. Die Armee traut sich nicht, gegen einen der beiden Brüder vorzugehen, denn sie kann sich kein Blutbad leisten. Wie auch immer das Abenteuer endet – die Rebellion zeigt, dass es in den Streitkräften brodelt.
Die Wut des Obersten Humala war durch die Rückkehr des Hauptverantwortlichen für die Korruption in der Armee entfacht worden – Vladimiro Montesinos. Der war Ende September nach Panama geflohen, weil die Veröffentlichung eines Videos, das ihn bei der Bestechung eines Abgeordneten zeigt, den Volkszorn erregt hatte.
Jetzt erhielt der Zivilist eine Landeerlaubnis auf einem Luftwaffenstützpunkt südlich von Lima. Dort wurde er von einer hochrangigen Militärdelegation empfangen und in einem Armeehubschrauber unter schwerer Bewachung in die Hauptstadt geflogen. Das war nicht nur für Offiziere wie Ollanta Humala schwer zu ertragen.
Auch Präsident Fujimori, den Montesinos offenbar erst bei einer Zwischenlandung im ecuadorianischen Guayaquil über seine bevorstehende Ankunft informiert hatte, fühlte sich brüskiert. Noch vor einem Monat hatte er den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), César Gaviria, gebeten, ihn bei der Suche nach Asyl für seinen Berater zu unterstützen, da dieser angeblich mit einem Putsch gedroht hatte , falls kein Land ihn aufnehmen wollte. Die Frage, wer eigentlich das Land regiert, wurde nach Montesinos Rückkehr immer lauter. Ebenso die Forderungen nach einem sofortigen Rücktritt Fujimoris. Der Präsident musste handeln.

Jagdszenen aus Chaclacayo

Fujimori organisierte ein Medienspektakel nach dem Muster einer Telenovela. Zwei Tage nach Montesinos Ankunft zog sich der Präsident Kampfstiefel an, streifte sich eine Lederjacke über und blies persönlich zur Jagd auf seinen ehemaligen Berater.
Acht Geländewagen der Polizei, besetzt mit schwer bewaffneten Eliteeinheiten und hohen Armeeoffizieren, brachen zur „Operation Chaclacayo“ auf, so benannt nach dem Wohnort Montesinos. Die Karawane bahnte sich mit Blaulicht und quietschenden Reifen einen Weg durch den dichten Feierabendverkehr der Hauptstadt – die Präsidentenlimousine und Kamerateams im Schlepptau. Am Ziel gab ein wild gestikulierender Fujimori seiner Einsatztruppe genaueste Anweisungen.
Für den nötigen Adrenalinspiegel der Fernsehzuschauer sorgten Gerüchte, der Präsident wolle seinen Berater um jeden Preis festnehmen – tot oder lebendig. Als Montesinos nach vier Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, rief Oberfahnder Fujimori zur Pressekonferenz. „Es gibt keinen Haftbefehl gegen Vladimiro Montesinos. Wir wollen ihn nur ausfindig machen,“ erklärte er den verdutzten JournalistInnen. Doch er versprach, die Suche werde fortgesetzt – Tag und Nacht, zu Lande und aus der Luft.
Am nächsten Tag ging der Präsident in Militäranlagen auf Spurensuche. Es hieß, Montesinos halte sich in der Kaserne der zweiten Heeresdivision auf, die von General Luís Cubas, Montesinos Schwager, befehligt wurde. Doch um diese Kaserne machte der Fahndungsleiter Fujimori einen Bogen. Dafür inspizierte er sie in einem seiner Lufteinsätze aus einem sicheren Hubschrauber von oben. Die Opposition begann sich über den Präsidenten lustig zu machen und bezeichnete seine Suchaktion als Show. Wieder bestand Handlungsbedarf für Fujimori.
Also besetzte er die Armeespitze neu. Der Chef der Streitkräfte, José Villanueva – wie Montesinos in Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC verwickelt –, Montesinos Schwager Cubas sowie die Oberkommandierenden von Heer, Luftwaffe und Marine mussten ihre Generalsmütze nehmen.
Doch die vom Präsidenten eingesetzten Nachfolger sind wie fast alle Generäle ebenfalls Gefolgsleute von Montesinos. Villanuevas Posten erbte ausgerechnet der bisherige Innenminister, General Walter Chacón, der Montesinos Abflug nach Panama organisiert hatte.
Der rebellierende Oberst Ollanta Humala und die Opposition bezeichneten die Umbesetzungen als reine Kosmetik. Fujimori wird seinen Schatten Montesinos nicht los: Wollte er dessen Verbündete ernsthaft aus der Armee entfernen, so rückten womöglich Oberste vom Schlage eines Humala nach und der Präsident wäre erledigt.

Die Ratten verlassen das Schiff

Es kracht nicht nur im Gefüge der Streitkräfte und in den Querstreben des Präsidentensessels. Das ganze Regime fällt auseinander. Wie Ratten verlassen die Gefolgsleute Montesinos und Fujimoris die sinkende Fregatte des Regimes: die Generalstaatsanwältin zu Montesinos Gnaden, Blanca Nélida Colán, die Vizepräsidenten Francisco Tudela und Ricardo Márquez, eine ganze Schar von Abgeordneten und der Chef der Wahlbehörde ONPE, der bei den letzten Wahlen noch mit seinen unnachahmlichen Rechenkunststücken geglänzt hatte.
Die erst vor wenigen Monaten für teures Geld von Montesinos zusammengekaufte Parlamentsmehrheit ist für Fujimori unwiderruflich dahin. Auch alle Bemühungen Fujimoris, den Wahltermin zu verzögern, fruchteten nicht mehr: Am 8. April 2001 wird definitiv zu den Urnen geschritten.

Der Superwaschtag

Am Freitag, dem 3. November spitzte sich die Lage weiter zu. Wieder war Waschtag in Lima. Während draußen abermals die gereinigten peruanischen Fahnen zum Trocknen im Wind flatterten, rief Präsident Fujimori im Inneren seines Palastes wegen einer Waschaktion ganz anderer Art zu einer Pressekonferenz. Soeben waren auf den Schweizer Konten seines Partners Montesinos 48 Millionen US-Dollar gefunden worden. „Es besteht kein Zweifel an der illegalen Herkunft dieses Geldes,“ bekannte Fujimori und räumte ein, dass es sich um gewaschene Drogengelder handelt.
Gleichzeitig schwor er: „Ich habe absolut nichts von Vorgängen dieser Art gewusst.“ Der Präsident wusch an diesem Tag seine Hände – in Unschuld.
An Fujimoris Seite saß während der Pressekonferenz ein Staatsanwalt, der mit der Aufnahme der Ermittlungen gegen Montesinos beauftragt wurde. Es handelt sich um José Ugaz, der im Gegensatz zu der von Montesinos bestellten, korrupten peruanischen Strafjustiz einen guten Ruf genießt.
Für Vladimiro Montesinos wird es eng. Denn auch Beamte des FBI und der Antidrogenbehörde DEA haben inzwischen Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Sie verhörten den ehemaligen Boss der Drogenbande „Los Camellos“ – „die Kamele“, Boris Foguel, in einem panamaischen Gefängnis. Foguel sagte aus, regelmäßig Schutzgeld in Millionenhöhe an Montesinos gezahlt zu haben. Im Gegenzug soll der Geheimdienstchef dafür den reibungslosen Ablauf des Kokainhandels der „Kamele“ in Peru garantiert haben.
Die aufgespürten 48 Millionen US-Dollar sind mit Sicherheit nur ein Teil des Vermögens, das Montesinos im Ausland angehäuft hat. Weitere Konten auf seinen Namen werden auf den Kaiman-Inseln, in Andorra, Spanien, Panama und in Peru selbst vermutet. Die spanische Zeitung El País schätzt sein Gesamtvermögen auf eine Milliarde US-Dollar. Damit wäre Vladimiro Montesinos einer der größten VerbrecherInnen der lateinamerikanischen Geschichte.
In den peruanischen Medien wurden 30.000 US-Dollar auf die Ergreifung Montesinos ausgesetzt – eine Summe, die der Verfolgte mit Leichtigkeit um zwei Nullen ergänzen kann, um seiner Verhaftung zu entgehen. Ein Haftbefehl für Montesinos war vier Tage nach Fujimoris Pressekonferenz immer noch nicht erlassen worden.
Am Sonntag, den 5. November, unterlief Justizminister Alberto Bustamante ein folgenschwerer Fehler: Der Mann, der gern etwas tiefer ins Glas schaut, verriet der Presse, dass der Aufenthaltsort Montesinos bekannt und die Verhaftung nur noch eine Frage von Stunden sei. Doch die Stunden und Tage verstrichen. Bis dann der Innenminister behauptete, Montesinos sei weiterhin unauffindbar.

Chino, du Ratte

In diesem Durcheinander steht nur eines fest: Der Ex-Geheimdienstchef wird – solange Fujimori Präsident ist – vor keinem unabhängigen Gericht aussagen. Anderenfalls würden ihn der Präsident, Minister und Abgeordnete der Regierungsfraktion sowie die Führungsspitze der Armee auf seinem Weg ins Zuchthaus begleiten. Aus diesem Grunde wird Fujimori auch die Ermittlungen seines Staatsanwaltes Ugaz behindern, wo er nur kann.
Das sehen auch die DemonstrantInnen so, die sich mit der Reinigung der peruanischen Fahnen abmühten. „Chino, rata, donde está la plata?“ – „Chino, du Ratte, wo ist das Geld?“ fragten sie den Präsidenten, indem sie ihn mit seinem Spitznamen anredeten. Andere reimten „No hay presidente, hay un delincuente!“ – „Es gibt keinen Präsidenten, es gibt nur einen Verbrecher!“ und verteilten Plastikbeutel mit den Fotos Fujimoris und Montesinos in Sträflingskleidung und der Aufschrift „Wirf den Abfall in den Müll“. Die rebellierenden Brüder Humala meldeten sich derweil aus den Bergen und verschärften ihre Forderungen. Sie wollen erst dann die Waffen niederlegen, wenn Montesinos und Fujimori zusammen im Gefängnis sind.

„Fujimori und Montesinos sind Komplizen“

Der ehemalige Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos ist nach Peru zurückgekehrt. Was hat ihn dazu veranlasst?

Es gibt verschiedene Hypothesen. Zunächst war die panamaische Regierung nicht bereit, Montesinos politisches Asyl zu gewähren. Die Frage ist also, warum Montesinos nicht in ein anderes Land gegangen ist. Wahrscheinlich wollte er noch einige Dinge regeln. Zum Beispiel machte die Regierung am 23. Oktober die Ausschreibung der Wahlen von einem Amnestiegesetz abhängig, das genau auf Montesinos zugeschnitten war. Danach sollten Armee- und Regierungsangehörige nicht nur bei Verstößen gegen die Menschenrechte freigesprochen werden, sondern auch bei Verwicklungen in den Drogen- oder Waffenhandel. Einen Tag später kam Montesinos zurück. Womöglich wollte er Druck ausüben, um die Verabschiedung dieses Gesetzes zu beschleunigen, denn die Zeit war knapp. Vielleicht fühlte er sich in Peru aber auch sicherer.
In Panama hat vor kurzem der dort inhaftierte Drogenhändler Boris Foguel Montesinos Verwicklung in Drogengeschäfte bestätigt. Montesinos weiß: Ein Mann, gegen den wegen Drogenhandel ermittelt wird, bekommt in keinem Land der Welt Asyl.

Was sind die Gründe für den Konflikt zwischen Fujimori und Montesinos?

Der Konflikt begann, als klar wurde, dass Montesinos in Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC verwickelt war. Von da an entzog die CIA ihrem ehemaligen Mitarbeiter Montesinos die Unterstützung, denn die USA hatten etwa zur gleichen Zeit den „Plan Kolumbien“ verabschiedet. Die USA übten Druck auf Fujimori aus, sich von Montesinos zu trennen. Fujimori konnte seinen Berater aber nicht entlassen, weil dieser der eigentlich mächtige Mann in Peru war. Nach der Veröffentlichung des Videos, das Montesinos bei der Bestechung des Abgeordneten Kouri zeigt, wurde der Druck auf Fujimori unerträglich. Doch Montesinos ging immer noch nicht. Daher musste Fujimori selbst zurücktreten.

Inzwischen ist bekannt geworden, dass Montesinos allein auf Schweizer Banken 48 Millionen Dollar deponiert hat. Die spanische Zeitung „El País“ schätzt sein Vermögen auf 1 Milliarde Dollar. Ist diese Zahl realistisch?

Hunderte von Millionen hat er sicherlich. Es handelt sich nicht nur um Geld aus Drogen- und Waffengeschäften. Montesinos stand zum Beispiel eine schwarze Kasse zur Verfügung, um Abgeordnete, Richter oder Militärs zu bestechen. Über diese Gelder hat er niemals Rechenschaft abgelegt. Dafür bekam er etwa 10 Millionen Dollar pro Jahr. Die Hälfte hat er in die eigene Tasche gesteckt. Außerdem hat er bei Beförderungen von Offizieren abkassiert.

Angesichts dieser Summen ist die Behauptung Fujimoris absurd, er habe von den Drogen- und Waffengeschäften seines Beraters nichts gewusst. Warum unterstützen die USA Fujimori immer noch?

Sie setzen auf Stabilität und sehen diese am ehesten garantiert, wenn Fujimori den Übergangsprozess leitet. Sie glauben, ein Rücktritt Fujimoris könnte zu einer unkontrollierbaren Situation führen. Dabei ist es den USA egal, ob Fujimori der Komplize Montesinos ist oder nicht. Der Präsident wird seine Konten in Japan haben. Dort leben seit dem Beginn seiner Präsidentschaft seine Schwester und sein Schwager. Die haben schon immer Fujimoris Geschäfte geführt.

Ist es aus Fujimoris Sicht nicht auch gefährlich, bis Juli im Amt zu bleiben? Sollte Montesinos aussagen, würde der Präsident doch wahrscheinlich selbst im Gefängnis landen.

Niemand kann sich vorstellen, dass Vladimiro Montesinos vor einem Gericht aussagt und seine Komplizen denunziert. Dann wäre nicht nur Fujimori. sondern ein Kreis von etwa 50 Personen erledigt: Minister, Generäle und Abgeordnete. Fujimori glaubt wahrscheinlich, dass er die Situation am besten lenken kann, wenn er selbst an der Macht bleibt. Er hat die Unterstützung der USA. Wenn es ihm gelingt, einen demokratischen Übergang zu organisieren, garantieren ihm die USA vielleicht sogar seine Straffreiheit.

Wie ist Fujimoris Suche nach Montesinos zu bewerten?

Natürlich weiß Fujimori, wo Montesinos steckt. Die Beteiligten verhandeln seit dessen Ankunft über eine mögliche Lösung. Aber die Regierung steckt in einer Klemme, denn die Möglichkeiten sind begrenzt. Wenn Montesinos entkommt, ist das schlecht. Noch schlechter ist es, wenn er festgenommen wird. Die beste Lösung wäre es für die Regierung, Montesinos umzubringen. Aber das geht natürlich nicht problemlos.

Was ist im Moment von den Verhandlungen am Runden Tisch zu halten?

Der Regierung bleibt nichts anderes übrig, als Zugeständnisse zu machen. Der Druck ist zu groß. Dennoch verzögert sie den Verhandlungsprozess, wo sie nur kann. Schon das Wahldatum hat sie so weit hinausgeschoben, wie es eben ging. Natürlich weiß Fujimori, dass kein Kandidat aus seinen Reihen die Wahlen gewinnen kann. Es geht also darum, eine möglichst große Fraktion im neuen Parlament zu bekommen, die sich später für eine Amnestie einsetzen kann. Außerdem wird die Regierung, solange sie die Medien, die Justiz und die Wahlorgane kontrolliert, den Oppositionskandidaten unterstützen, der ihr am freundlichsten gesinnt ist.

Zwischen den vielen Fronten

Am vergangenen Freitag war es soweit: Der US-Ölkonzern Oxy nahm die Probebohrungen in Nordostkolumbien auf – direkt neben dem Territorium der Uæwa-Indígenas, die seit Jahren vehement Widerstand gegen die „Vergewaltigung der Mutter Erde“ leisten. Doch die kolumbianische Regierung, die jedem ausländischen Investor hofiert, setzte sich über die Proteste der Ureinwoh-nerInnen hinweg. Damit nimmt sie den langsamen Untergang der Uæwa-Kultur in Kauf.

80 indigene Völker

Doch nicht nur Großprojekte dieser Art machen den über 80 indigenen Völkern zu schaffen, die rund zwei Prozent der 40 Millionen KolumbianerInnen ausmachen. Immer mehr von ihnen leiden unter dem seit Jahrzehnten andauernden Mehrfrontenkrieg. Über 300 tote Indígenas forderte der Konflikt in den letzten 10 Jahren, Tausende wurden vertrieben. So etwa in der Pazifikprovinz Chocó, wo sich rechtsextreme Paramilitärs und mehrere „linke“ Guerillagruppen einen Kampf um die Vorherrschaft in dieser strategisch wichtigen Region liefern.
Zwischen den Fronten steht auch hier die Landbevölkerung, vorwiegend Bauern und Fischer, darunter zehntausende Emberá-Indígenas.
Der Chocó lag lange abseits der politischen Gewalt. Doch staatliche Pläne sehen die Ausbeutung der Bodenschätze vor, den Bau von Straßen und einer weiteren Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik. Wie in anderen wirtschaftlich begehrten Gebieten des Landes gehen die „Paras“ auch hier brutal vor: Unter dem Vorwand, das soziale Umfeld der Guerillagruppen zerstören zu wollen, richten sie seit vier Jahren Massaker unter der Zivilbevölkerung an. Auftraggeber sind Großgrundbesitzer und Drogenbosse, unterstützt werden die Killer jedoch auch von Armee und Polizei und von anderen Teilen der lokalen Oberschicht.

Flucht in die Stadt

In den letzten Wochen wurden in der Nähe der Provinzhauptstadt Quibdó mehrere Emberás umgebracht, worauf 200 von ihnen in der Stadt Zuflucht suchten. Andere nahm die Polizei fest und beschimpfte sie als HelferInnen der Guerilla. „Alle indigenen Gemeinschaften vertreten Forderungen nach Autonomie“, sagt Balta-sar Mecha von der lokalen IndianerInnenorganisation OREWA. „Leider wird diese von allen Seiten verletzt: Guerilleros und Paramilitärs dringen ständig in unser Land ein und führen Zwangsrekrutierungen durch“. Unterstützung gebe es nicht von den staatlichen Stellen, sondern nur von der Kirche und einigen ausländischen Organisationen wie dem katholischen Hilfswerk Misereor.
Auch zweihundert Kilometer weiter nördlich sind Hunderte von Emberás auf der Flucht, ebenso wie viele schwarze Bauern und Fischer. Die Hauptverkehrsader der Region, der Atrato-Fluss, wird seit Monaten von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Einmal im Monat organisieren Kirchenleute aus Quibdó einen Lebensmitteltransport für die Menschen, die weit abgelegen an den Nebenflüssen des Atrato wohnen.

Mehr Krieg – mehr Vertreibungen

Der von Washington diktierte „Plan Colombia“ bedeutet für die Pazifikregion ebenfalls nichts Gutes. „Das heißt mehr Krieg, mehr Vertreibungen,“ sagen die OREWA-MitarbeiterInnen übereinstimmend, „vielleicht kommen die Kokabauern, die aus dem Amazonasgebiet gedrängt werden, dann zu uns.“
Der Chocó war schon immer das Armenhaus Kolumbiens, dessen EinwohnerInnen mit wenig Interesse von Seiten der Mächtigen in Bogotá oder Medellín rechnen konnten. Doch selten wurde die Entvölkerung ganzer Landstriche so unverfroren betrieben wie jetzt. Neoliberale Ausplünderung und Krieg gehen Hand in Hand. Davon profitieren viele – auch die FARC-Guerilla, die jetzt die „Besteuerung“ der Erdölfirma Oxy angekündigt hat. Im vergangenen Jahr hatten FARC-Guerilleros drei US-amerikanische Unterstützer der Uæwas entführt und kaltblütig ermordet.
„Der Plan Colombia wird nur den ausländischen Öl- und Bergbaukonzernen sowie den Großgrundbesitzern nützen, die Viehzucht betreiben oder Ölpalmen und Bananen anbauen“, warnten Sprecher der Nationalen Indígenaorganisation ONIC bereits vor einem halben Jahr. „Die Zerstörung des Urwalds und die Invasion in die Indianergebiete werden zunehmen.“ Sie haben Recht behalten.

Der peruanische Rasputin

In den frühen Morgenstunden des 24. September landete auf dem Flughafen von Panama-Stadt ein Privatjet aus Lima. Der Passagier, der zusammen mit einem Leibwächter und einer Sekretärin aus der Maschine stieg, stellte einen Antrag auf politisches Asyl. In einem persönlichen Brief an die panamaische Präsidentin Mireya Moscoso schrieb er: „Wie öffentlich bekannt ist, bin ich Opfer einer politischen Verfolgung, die meine physische Integrität bedroht und mich zwingt, mein Land zu verlassen.“ Der Reisepass des Antragstellers ist peruanischer Herkunft und auf den Namen Vladimiro Lenin Montesinos Torres ausgestellt.
Der Ankömmling selbst hätte sich diesen Namen vermutlich nicht gegeben, denn den Kommunismus hat er zeitlebens bekämpft. Sein russischer Spitzname charakterisiert ihn besser. Der lautet Rasputin und ist dem unheilvollen Einfluss dieses Mannes auf die peruanische Politik geschuldet. Denn Vladimiro Montesinos war über ein Jahrzehnt der Schatten des peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori. In den Achtzigerjahren betreute er Fujimori als Anwalt, und nach dem überraschenden Wahlsieg seines Mandanten im Jahre 1990 übernahm er als persönlicher Berater des Präsidenten die Leitung des Geheimdienstes SIN. Seine jetzige Flucht nach Panama markiert den Anfang vom Ende der Ära Fujimori.

Zehn und fünf macht fünfzehn

Montesinos stolperte über einen Videostreifen, dessen Schlüsselszene aus einem Kriminalfilm stammen könnte: Zwei dunkel gekleidete Männer verhandeln. Der eine ist offenbar der Boss. „Wie viel wollen Sie?“ fragt er und fügt hinzu: „Hier sind Zehntausend.“ Dabei zieht er ein Kuvert aus der linken Hosentasche und zählt ein paar Dollarscheine ab. Doch der andere besteht auf Fünfzehntausend. Lässig und ohne viel Aufhebens greift der Boss in seine rechte Hosentasche und befördert einen zweiten Umschlag hervor: „Gut. Zehn und fünf macht fünfzehn.“ Das Geld wechselt den Besitzer.
Der Boss ist Vladimiro Montesinos selbst. Das Video zeigt nämlich, wie Montesinos den Oppositionsabgeordneten Alberto Kouri besticht. Dieser lief als Gegenleistung für die ausgezahlten Dollars ins Regierungslager über. Als einer von insgesamt siebzehn Oppositionsabgeordneten. Und sicherte damit Fujimoris Liste, die bei den Wahlen nur 52 von 120 Sitzen errang, eine solide absolute Mehrheit. Der Geheimdienstchef wurde verraten, denn das Video ist durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt. Die Opposition behauptet sogar, sie könne mit weiteren Videoaufnahmen belegen, dass Montesinos auch die anderen Überläufer bestochen hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Videos demonstrierten Zehntausende im ganzen Land für die sofortige Verhaftung des Geheimdienstchefs. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die US-Regierung hatten schon vorher das Ausscheiden der grauen Eminenz gefordert. Sie werfen Montesinos unter anderem vor, den offensichtlichen Wahlschwindel im Mai koordiniert zu haben. Präsident Fujimori hatte keine andere Wahl: Er gab im Fernsehen die Entlassung seines Beraters bekannt. Inoffiziellen Berichten zufolge hatte Montesinos sich aber zuvor geweigert zurückzutreten. Deshalb zog der Präsident nach japanischer Kamikaze-Tradition seinen letzten, entscheidenden Trumpf aus dem Ärmel. Er kündigte in der gleichen Fernsehansprache mit der baldigen Ausschreibung von Neuwahlen seinen eigenen Rückzug an. Erst damit war Montesinos erledigt.

Vladimiro ist überall

Montesinos und Fujimori waren einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Geheimdienstchef konnte seine Fäden nur so lange im Hintergrund spinnen, wie der Präsident ihn deckte. Andererseits verfingen sich die Gegner des Fujimori-Regimes im dichten Netz der Verbindungen, die Montesinos geknüpft hatte. Der Präsident wusste: Montesinos war durch niemanden zu ersetzen.
Der ehemalige Hauptmann Montesinos sorgte für die Loyalität der Streitkräfte. Er schaffte es, die Armeespitze fast vollständig mit seinen Gefolgsleuten zu besetzen. Obwohl er einst wegen Urkundenfälschung ein Jahr im Militärgefängnis saß und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Neun von dreizehn Generälen aus dem heutigen Oberkommando der Streitkräfte haben Montesinos ihre Ernennung zu verdanken. Fast die gesamte militärische Führungsriege hat gemeinsam mit ihm die Offiziersschule besucht.
Die Kontakte aus seiner Anwaltszeit nutzte Montesinos für die Gleichschaltung von Justiz und Polizei. Schon in den Achtzigerjahren war es ihm gelungen, sich durch ausgezeichnete Verbindungen zu Polizei, Richtern und Staatsanwälten einen Namen als erfolgreicher Strafverteidiger zu machen. Seine Mandanten waren fast ausschließlich Drogenhändler. Von den heutigen Richtern und Staatsanwälten amtieren kraft eines Regierungsdekretes 80 Prozent auf Zeit. Sie werden von einer Regierungskommission ernannt, die ihre Anweisungen offenbar vom SIN erhält. So berichtete die Zeitung La República, dass nach Bekanntwerden des Videoskandals eine offene Panik unter Richtern und Staatsanwälten ausbrach, weil sie ohne die schützende Hand des Geheimdienstchefs um ihren Job fürchteten.
Auch die Gleichgeschaltung der Medien, der Fujimori einen Teil seiner Popularität verdankt, wurde von Montesinos gesteuert. Mit Ausnahme eines Kabelkanals liegen alle Fernsehprogramme und fast die gesamte Boulevardpresse auf Regierungslinie. Verschiedene Redakteure mussten sich ins Ausland absetzen, weil sie jene Institution beim Namen nannten, die offen in die Programmgestaltung und das Redigieren von Zeitungsartikeln eingreift: den Geheimdienst SIN.
Im „kleinen Pentagon“, dem Amtssitz des Geheimdienstchefs, liefen am Ende mehr Fäden zusammen als im Präsidentenpalast. In dem Gebäude von 46000 Quadratmetern arbeiteten 200 Funktionäre der Streitkräfte, 1.000 Polizisten und 350 Zivilisten. Montesinos, der auch als ehemaliger Mitarbeiter der CIA gehandelt wird, koordinierte für das Regime die Drecksarbeit hinter den Kulissen und organisierte einen Spitzeldienst nach dem Vorbild der Stasi. In unzähligen Witzen, die über den Geheimdienstchef kursierten, geht es genau darum: Vladimiro sieht alles. Vladimiro hört alles. Vladimiro weiß alles. Vladimiro ist überall.

Das System Montesinos

„Seit neun Jahren lebe ich hier, 24 Stunden am Tag. Das weiß auch Präsident Fujimori. Wir Männer vom Geheimdienst arbeiten immer im Stillen. Das ist unsere Mission.“ Diese Worte sprach Vladimiro Montesinos im April 1999 vor laufenden Fernsehkameras in seinem Büro. Doch er arbeitete nicht nur für das Regime. Sein Wissen und seine Kontakte nutzte er intensiv für private Zwecke. Seit seiner erfolgreichen Anwaltskarriere wird er immer wieder mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht. Und eine ganze Reihe von Indizien deuten darauf hin, dass führende Offiziere in Armee und Geheimdienst in Waffenschiebereien verwickelt sind.
Der neueste Waffenskandal, der Weiterverkauf von 10.000 Kalaschnikow-Gewehren aus Jordanien an die kolumbianischen FARC (siehe LN 315/316), brachte Montesinos und den Heereschef Villanueva Truesta sogar selbst in Bedrängnis. Auch bei Beförderungen von Offizieren soll der Rasputin des Regimes laut Zeugenaussagen regelmäßig die Hand aufgehalten haben.
Überhaupt ist die Liste der Verbrechen lang, mit denen Montesinos in Verbindung gebracht wird. Dazu zählen die Verschleppung und Hinrichtung von neun Studenten und einem Dozenten der Universität La Cantuta im Jahre 1993, das Massaker von Barrios Altos, einem Stadtteil von Lima, bei dem ein Jahr zuvor vierzehn Menschen starben, und die Ermordung des Gewerkschaftsführers Pedro Huilca. Zwei Agentinnen des militärischen Geheimdienstes, Mariela Barreto und Leonor de la Rosa, versuchten Einzelheiten der Verbrechen des SIN an die Öffentlichkeit zu bringen. Barreto wurde daraufhin gefoltert und ebenfalls ermordet. De la Rosa gelang es, nach schwerer Folter ins Ausland zu entkommen. Sie ist heute gelähmt und sitzt im Rollstuhl.
Das System Montesinos schien perfekt. Wer gegen den Geheimdienstchef aussagen wollte, wurde bedroht oder verschwand. Oder die Justiz griff selbst ein. Als der Oppositionsabgeordnete Jorge del Castillo aufdeckte, dass Montesinos auf einem seiner Konten Einnahmen von 2,6 Millionen US-Dollar pro Jahr verbuchte, leitete die Staatsanwaltschaft nicht etwa Ermittlungen über die Herkunft des Geldes ein, sondern sie brachte del Castillo selbst auf die Anklagebank – wegen Verletzung des Bankgeheimnisses.
Und als der landesweit bekannte Drogenhändler Demetrio Chávez vor Gericht gestand, monatlich 50.000 US-Dollar an den Geheimdienstchef für die Landeerlaubnis seiner Flugzeuge gezahlt zu haben, wurde er in Isolationshaft gesteckt und mit Elektroschocks behandelt. Seitdem leidet er unter Gedächtnisschwund.
Die Generalstaatsanwältin Blanca Nélida Colán, die schon mehrfach Anzeigen gegen Montesinos wegen Drogenhandel abgewehrt hatte, spurte noch bis zum Schluss. Sie vernahm den Geheimdienstchef kurz vor dessen Abflug nach Panama wegen des Videoskandals. Doch sie legte den Fall umgehend zu den Akten, weil Montesinos aussagte, er hätte dem Abgeordneten Kouri die strittigen 15.000 Dollar für den Kauf eines Lastwagens geliehen. Was machte es schon, dass der wahre Grund der Geldübergabe aus dem aufgezeichneten Gespräch zwischen Montesinos und Kouri eindeutig hervorgeht.
Der Geheimdienstchef scheiterte am Ende daran, dass er alles selbst in die Hand nahm. Und sich so sicher fühlte, dass er sich bei seinen Delikten sogar filmen ließ. Das wäre ihm fast schon einmal zum Verhängnis geworden. Der Journalist Fabián Salazar brachte kurz vor den Wahlen Videobänder in seinen Besitz, auf denen ein brisantes Gespräch zwischen dem Geheimdienstchef und dem Vorsitzenden der obersten Wahlbehörde über die Organisation des Wahlbetrugs aufgezeichnet war. Salazar wurde überfallen, bevor er sein Material veröffentlichen konnte. Mit einer elektrischen Säge zertrennten ihm die Täter mehrere Sehnen seiner Hand und verschwanden mit den Bändern.

Die Ratte geht von Bord

Montesinos Verbündete in der Armee hielten ihm bis zum Schluss die Treue. Sie schützten ihn noch eine Woche in seinem Büro, damit er Akten vernichten oder Festplatten löschen konnte. Nach seinem Abflug in Richtung Panama wollten Gerüchte nicht verstummen, eine Gruppe von Offizieren bereite einen Putsch vor, um Montesinos die Rückkehr zu ermöglichen. Der entlassene Berater selbst soll noch in Lima mit einem Staatsstreich gedroht haben. Für den Fall, dass er nirgendwo Asyl bekäme. Ernst kann Montesinos das nicht gemeint haben. Denn er weiß, dass seine Zeit ohne Fujimori unwiderruflich abgelaufen ist. Eine Militärregierung Montesinos würde den Volkszorn zum Kochen bringen.
Die Regierung in Panama hat noch nicht über Montesinos Asylantrag entschieden. Derweil wurde der Geheimdienstmann im Ruhestand von panamaischen Demonstranten als Mörder, Delinquent und Ratte beschimpft. Der Vergleich mit dem Nagetier trifft schon insofern zu, als Montesinos als Erster von Bord des sinkenden Regierungsschiffs ging und damit in Sicherheit ist. Falls es mit dem Asyl in Panama wider Erwarten nicht klappt, geht es voraussichtlich weiter nach Marokko oder Tunesien.
Bislang hat Montesinos aus Peru nichts zu befürchten. Denn solange seine Gefolgsleute dort die führenden Positionen in den Streitkräften, der Regierung und der Justiz besetzen, wird es keinen Auslieferungsantrag geben. Trotz aller Anträge und Forderungen der Opposition. Die peruanische Regierung sprach dem Mann im Exil sogar offiziell ihren Dank aus. Für seine besonderen Verdienste bei der Bekämpfung des Drogenhandels und des Terrorismus.

Für ein paar Dollar mehr

Federico Salas hat nicht viel mit einem Westernheld gemein. Dennoch zeigt sich der ehemalige Präsidentschaftskandidat gern hoch zu Ross. Mit kariertem Hemd, Jeans und Cowboyhut. So ritt er als Herausforderer Fujimoris während des Wahlkampfes noch vor wenigen Monaten durch die Armenviertel Limas. Der damalige Bürgermeister der Provinzhauptstadt Huancavélica wollte seine Verbundenheit mit der ländlichen Bevölkerung demonstrieren und sich als Anwalt der Armen profilieren. Er gab sich als aufrechter Streiter für die Demokratie, nannte Fujimori einen Diktator und schoss mit verbaler Munition gegen die Regierung. Angesichts der staatlich inszenierten Diffamierungskampagne gegen den erfolgreichsten Oppositionskandidaten Alejandro Toledo witzelte Salas: „Mir können sie höchstens nachweisen, dass mein Pferd schwul ist.“ In der Wahlnacht des 9. April stand der Reitersmann neben Toledo und den anderen Präsidentschaftskandidaten der Opposition auf der Terrasse des Sheraton-Hotels in Lima, um vor Tausenden seinen Protest gegen den Wahlbetrug der Regierung zu artikulieren.
Inzwischen hat Salas Cowboyhut und Reiterstiefel an den Nagel gehängt. Den schwulen Hengst hat er gegen eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben eingetauscht. Der Anwalt der Armen ist seit dem 28. Juli Ministerpräsident der Republik Peru. Als solcher darf er nun seinen Landsleuten aus Huancavélica selbst erklären, warum es sich für die Regierung nicht lohnt, in ihrer Region – der ärmsten des Landes – die Infrastruktur zu verbessern.
Die peruanische Geschichte hat leider zahlreiche Figuren vom Schlage eines Federico Salas hervorgebracht. Er steht auch jetzt nicht allein. Pünktlich zur ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments fanden achtzehn (!) Abgeordnete der Opposition an der Regierungspolitik Gefallen und wechselten für ein paar Dollar mehr die Reihen (siehe LN 313/314). Fujimoris Parlamentsgruppe Peru 2000, die bei den Wahlen nur 52 von 120 Sitzen erhielt, verfügt urplötzlich über eine komfortable Mehrheit.

Chronik eines angekündigten Todes

Ministerpräsident Salas bekam unmittelbar bei Dienstantritt Gelegenheit, seine neue Argumentation zu schleifen. Just an dem Tag, als er seine Hand zum Schwur hob, streifte sich nämlich sein Chef zum dritten Mal die Präsidentenschärpe über. Unter den Augen der Gesinnungsgenossen Banzer aus Bolivien und Naboa aus Ecuador, die als einzige der geladenen lateinamerikanischen Präsidenten den Weg nach Lima gefunden hatten. Hunderttausende protestierten gegen den Wahlbetrüger. Wie die Demonstration endete, lief über die Ticker der Nachrichtenagenturen in aller Welt: sechs Tote, Dutzende von Verschwundenen, Hunderte von Verletzten und über zweihundert Festnahmen. Die Verantwortlichen waren von Salas und seinen neuen Freunden im Handumdrehen ausgemacht: die OppositionsführerInnen Alejandro Toledo, Jorge del Castillo und Anel Townsend. Sie hatten die Demonstration angemeldet.
Die vom Geheimdienst SIN finanzierte Boulevardpresse war bei der Suche nach den Schuldigen noch schneller. Sie sah bereits voraus, was unter wessen Verantwortung geschehen würde. So warnte sie Toledo schon Tage vor dem Ereignis, mit der Mobilisierung zur Demonstration Gewalt in Kauf zu nehmen und für eventuelle Tote verantwortlich zu sein. In einer Sendung des gleichgeschalteten Fernsehkanals 4 wurde Toledo beschuldigt, die Beschaffung von Brandbomben und Sprengstoff veranlasst zu haben. Konsequenterweise war Toledo nach dem Gewaltausbruch für die Schmutzpresse ein Mörder. Abgeordnete von Fujimoris Bewegung Peru 2000 zeigten Toledo, del Castillo und Townsend an: wegen Anstiftung zur Gewalt. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf.
Was war wirklich geschehen am 28. Juli? Schon einen Tag zuvor hatten sich zur Marcha de los Cuatro Suyos, so genannt nach den vier Regionen des alten Inkareiches, Hunderttausende aus allen Regionen des Landes im Zentrum der Hauptstadt getroffen und friedlich demonstriert. Nicht ein einziger Zwischenfall war registriert worden. Am Morgen des 28. Juli wurden dann ein Bankgebäude, das Erziehungsministerium und der Sitz der obersten Wahlbehörde JNE in Brand gesteckt. Sechs Wachmänner, die sich im Inneren des Bankgebäudes aufhielten, starben bei dem Versuch, den Flammen zu entkommen. Polizei und Militär hatten sich zu diesem Zeitpunkt seltsamerweise von der Bewachung dieser Gebäude zurückgezogen und waren damit beschäftigt, auf die Demonstranten einzuknüppeln und sie mit Tränengas in die Flucht zu jagen. Zeugen beobachteten, wie bewaffnete Zivilisten Feuerwehrwagen an der Abfahrt hinderten, als die Brände gemeldet wurden. Unter den Demonstranten wurden von Privatpersonen zahlreiche Agenten des Geheimdienstes SIN und der Polizei gefilmt. Und eine Kamera, die gegenüber dem abgebrannten Bankgebäude installiert war, machte sogar Aufnahmen von den Tätern. Doch die Staatsanwaltschaft weigert sich, das Beweismaterial öffentlich zu machen.
Alles in allem drängt sich daher der Verdacht auf, Regierungsagenten könnten den Brand selbst gelegt haben. Zumal in der Wahlbehörde JNE das Beweismaterial für den Wahlbetrug den Flammen zum Opfer fiel.
Viele der Festgenommenen sind bis heute nicht wieder auf freiem Fuß. Ein Großteil von ihnen wurde von der Polizei gefoltert. Roberto Gómez war eines der Opfer. Der inzwischen freigelassene Student zeigte den Direktor der nationalen Polizeibehörde PNP, Fernando Dianderas, wegen der Folterungen an. Gómez erhielt prompt die Quittung: als er in einem Auto Lima durchquerte, wurde ein Attentat auf ihn verübt. An einer Tankstelle wurde aus einem anderen Wagen auf ihn geschossen. Gómez hatte Glück. Er konnte rechtzeitig in Deckung gehen, und die Kugeln prallten an seiner Autotür ab.

Nach dem Sturm lauer Wind

Inzwischen ist es wieder ruhiger geworden in Lima. Und es ist unwahrscheinlich, dass die Regierung es wirklich wagt, Toledo und anderen Oppositonsführern wegen der Ereignisse vom 28. Juli den Prozess zu machen. Oder sie gar ins Gefängnis zu werfen. Das Tandem Fujimori und Montesinos ist eher auf Schadensbegrenzung orientiert, und auf eine Normalisierung des Verhältnisses zu den USA, deren Regierung nach dem Wahlbetrug unverhohlen mit Sanktionen drohte. Die beschränken sich allerdings bislang darauf, dass Madeleine Albright bei ihrer Abschiedstournee durch Lateinamerika einen Bogen um Peru machte.
Um ihre Kompromissbereitschaft zu zeigen, hat sich die Regierung unter Vermittlung und auf Druck der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auf Verhandlungen mit der Opposition eingelassen. Während fanatische Regierungsanhänger Gefängnisstrafen für Toledo und andere Oppositionelle fordern, kann sich der Präsident moderat geben. Dabei deutet sich an, dass Fujimori und Montesinos sogar zu Zugeständnissen bereit sind. Wichtige Punkte in den Verhandlungen sind:
– die Rückgabe des Fernsehkanals 2 an den Unternehmer Baruch Ivcher, der nach kritischen Berichten über Montesinos Geheimdienst vor drei Jahren kriminalisiert und ins Exil getrieben wurde
– die Wiedereinsetzung des obersten Verfassungsgerichtes, das wegen Unterbesetzung nicht mehr zusammentritt, seit drei der fünf Richter in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurden, weil sie Fujimoris dritte Kandidatur als das bezeichneten, was sie ist: verfassungswidrig
– die erneute Anerkennung der Kompetenz des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José, Costa Rica, dessen Urteile die Regierung seit Juli 1999 nicht mehr akzeptiert, weil gegen Peru die meisten Verfahren anhängig sind.
Dass künftig ein lauerer Wind in Lima weht, möchte die Regierung auch mit einem anderen Coup demonstrieren: die von einem Militärgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte ehemalige MRTA-Aktivistin Lori Berenson soll einen neuen Prozess vor einem Zivilgericht bekommen. Berenson hat Glück, dass sie US-Bürgerin ist und Außenministerin Albright kürzlich in einem Brief an Fujimori auf die Klärung ihres Falles drängte. An den Fällen Tausender anderer Gefangener des MRTA und des Sendero Luminoso, die ebenfalls von der Militärjustiz in Scheinprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt wurden, wird indes nicht gerührt.

Zehntausend Kalaschnikows

In einem weiteren Punkt bewegt sich die Regierung keinen Millimeter. Opposition und OAS hatten den Kopf von Vladimiro Montesinos gefordert, des Architekten der Fujimori-Diktatur. In der letzten Augustwoche luden der Präsident und der ansonsten das Licht der Öffentlichkeit meidende Geheimdienstchef zu einer Pressekonferenz. Montesinos persönlich gab bekannt, dass ein Ring peruanischer Waffenschieber ausgehoben worden sei, der 10.000 Kalaschnikow-Gewehre in Jordanien gekauft und diese an die kolumbianische FARC-Guerilla weitergeliefert habe. Die Verantwortlichen, ehemalige Offiziere der peruanischen Streitkräfte, hätten Verträge mit der jordanischen Regierung gefälscht und seien nun zur Rechenschaft gezogen worden. Die Armee werde unter seiner, Montesinos Führung, die nötigen Maßnahmen ergreifen, um den Waffenhandel an der peruanisch-kolumbianischen Grenze künftig zu unterbinden. Ziel der Pressekonferenz war es, dem Ausland die Unentbehrlichkeit eines Mannes wie Montesinos zu demonstrieren. Die USA äußerten sich prompt anerkennend.
Etwas unglücklich war nur, dass Jordanien umgehend eine Protestnote einreichte. Die Waffen seien offiziell von der peruanischen Regierung gekauft worden und hochrangige peruanische Offiziere hätten den Vertrag unterzeichnet. Eine Fälschung sei völlig unmöglich. Sollte diese Version stimmen, dann müsste Montesinos selbst von den Waffenlieferungen gewusst haben, denn ohne seine Zustimmung läuft beim peruanischen Militär gar nichts. Überraschend wäre es nicht, wenn der skrupellose Geheimdienstchef, der als Anstifter zahlreicher Morde gilt und offensichtlich in Drogengeschäfte verwickelt ist, sich auch als Waffenschieber betätigte. Nur mag ihm niemand Lieferungen direkt an die FARC so Recht zutrauen.
Derweil feilt Alejandro Toledo daran, der Protestbewegung Struktur zu geben. Wie schwer es jedoch ist, eine starke Opposition um eine Partei herum aufzubauen, hat zuvor schon Limas Bürgermeister Alberto Andrade erfahren. Der hatte zunächst mit seinem Wahlbündnis Somos Perú bei diversen Kommunalwahlen Erfolg: Bis ihnen die Mafia um Montesinos und Fujimori den Etat kürzte. Schließlich gaben viele von ihnen entnervt auf oder wechselten wie die anderen Abgeordneten ins Regierungslager. Sicherlich für ein paar Dollar mehr.

Good morning, Colombia

Zehn Jahre sollte es dauern, bis ein US-amerikanischer Präsident wieder Kolumbien einen Besuch abstattete. Ende 1990 war es George Bush, der an einem Drogenbekämpfungsgipfel teilnahm, dieses Mal der scheidende Präsident Bill Clinton, der die Drogenbekämpfung in einem militärischen Feldzug gipfeln lassen will: Mit seiner achtstündigen Kurzvisite Ende August gab Clinton als Bestandteil des Plan Colombia den Startschuss für eine der umfangreichsten US-Militärhilfen, die je ein lateinamerikanisches Land erhalten hat. Knapp zwei Milliarden Mark sollen der kolumbianischen Armee in den kommenden zwei Jahren zur Verfügung gestellt werden, um es mit neuester Kriegstechnologie auszurüsten und neue Bataillone auszubilden. Offizielle Zielsetzung: die Bekämpfung des Drogenanbaus und -handels.
Doch Washington verfolgt noch ganz andere Ziele. Anstatt, wie noch in den achtziger Jahren, den düsteren Weltkommunismus, bemüht man heute die Gefahr des Drogenhandels, um sich in Kolumbien einzumischen und die militärischen Kräfteverhältnisse im jahrzehntelangen Bürgerkrieg zu verschieben. Zu alarmierend war wohl die Pentagon-Einschätzung vor einiger Zeit, die kolumbianische Guerilla könne mit ihrem Potenzial in fünf Jahren die Macht erobern. Der Friedensprozess und besonders die entmilitarisierte FARC-Zone liefen der Hegemonialpolitik in Washington von vornherein zuwider. Für die Propaganda zu Hause kommt Washington zugute, dass die FARC-Guerilla den Drogenhandel in ihrem Einflussgebiet besteuert und somit an den Gewinnen profitiert. Kommunistische Drogendealer also. Perfekt!

Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind fatal, zudem wurden weder die kolumbianische Öffentlichkeit noch das Parlament an seiner Ausarbeitung beteiligt. Der Plan ist offensichtlich ein Produkt kolumbianischer und US-amerikanischer Militärstrategen. Dem ohnehin stockenden Friedensprozess wird jedwedes Vertrauen entzogen. Während man in San Vicente halbherzig verhandelt, beginnt auf beiden Seiten das Wettrüsten.
Zudem wirft der Plan das militärische Gleichgewicht auf dem Kontinent und das Verhältnis zu den Nachbarländern aus der Bahn. Brasilien und Ecuador haben ihre Grenztruppen in den letzten Wochen bereits verstärkt, um riesige Flüchtlingsströme und ein Überschwappen der Kämpfe zu verhindern. Die befürchtete Internationalisierung des Konflikts hat sich somit schon längst vollzogen.

In dieser Entwicklung lassen sich einige Parallelen zu den Bürgerkriegsszenarien in Zentralamerika während der achtziger Jahre erkennen. Einige Beobachter gehen auf Grund der zunehmenden US-Präsenz gar von einer „Vietnamisierung“ des Konflikts aus. Würde Kolumbien aber ein zweites Vietnam, bedeutete dies ein Debakel für die US-Armee. Um solch ein Resultat zu vermeiden, lassen sich heute jedoch ganz andere Methoden anwenden. „Es gibt nichts, was man nicht outsourcen kann“, meinte vor einiger Zeit der Antidrogenchef der USA, General McCaffrey. Gemeint sind damit private und von Ex-US-Militärs geleitete Militärfirmen wie MPRI, die neben mehreren hundert offiziellen Ausbildern eigene Söldner nach Kolumbien schicken werden. Wenn man also die Kriegsführung privatisiert, kann man bei etwaigen Fehlschlägen und Gräueltaten formal eine weiße Weste bewahren.
Dabei sind die FARC seit einiger Zeit bereit, über einen – lange Zeit tabuisierten – Waffenstillstand zu verhandeln. Pastrana offiziell auch – aber nicht mehr die Armee. Die sieht sich durch die üppige US-Militärhilfe wieder im Aufwind und vergrößert ihren Einfluss. Sie ist damit der eigentliche Gewinner des Plan Colombia – und die USA, die aufgrund ihrer Militärhilfe noch mehr Einfluss in Kolumbien bekommen, als sie bisher schon hatten. Good Morning, Colombia – keine gute Aussicht für den Frieden in Kolumbien.

„Wenn man die Wahrheit kennt, heißt das noch nicht, dass sie siegen wird“

Wie verträgt sich Ihre journalistische Arbeit, die sehr eng mit der Realität und mit Fakten verbunden sein muss, mit der literarischen Arbeit? Können Sie beide klar von einander trennen?
Ich glaube, dass das Material, mit dem man arbeitet, das gleiche ist, nämlich die Sprache. Man möchte, dass die Sätze in sich stimmig sind und gut zusammenpassen, man vermeidet die Wiederholung von Adjektiven. Der Journalismus fordert die Konzentration auf das Wesentliche, man taucht nicht ab in ein Meer von sprachlichen Mitteln, die geradezu hypnotisieren, ablenken, sondern man erzählt die Dinge auf eine sehr direkte, klare und effiziente Weise. Und dies scheint mir für die Literatur, jedenfalls für die Literatur, die ich gerne schreiben möchte, nützlich zu sein. Der Journalismus gibt einem außerdem eine bestimmte Art von Lebenskenntnis. Man schaut sich die Welt sehr aufmerksam an, und das ist für einen Schriftsteller eine gute Sache.
Allerdings ist es in Kolumbien häufig ganz schwer herauszufinden, was in Wahrheit geschehen ist. Wenn so etwas passiert wie mit dieser Frau, die eine Bombe um den Hals gelegt bekam und so ermordet wurde, dann beschuldigt die eine Seite die andere. Jede Seite hat ihre Wahrheit und ihre Lügen. Nun spielt ihr Roman in Kolumbien und handelt zudem von einem Journalisten, der zum Schluss die Wahrheit über seinen speziellen Fall herausfindet. Das scheint mir ziemlich utopisch, dass das Buch mit einer fertigen Lösung endet. Wollten Sie etwas Utopisches schreiben?
Nein. Man kann in vielen Fällen herausfinden, was passiert ist. Wir wissen, was passiert, aber es folgt daraus nichts, keine Handlung. Deswegen war mir von Anfang an klar, dass mein Protagonist kein Detektiv sein würde, sondern ein Journalist. Ein Journalist kann die Wahrheit wissen, aber allein, dass man die Wahrheit kennt, bedeutet noch nicht, dass Wahrheit und Gerechtigkeit siegen werden. So sieht es in Kolumbien aus. In Kolumbien weißt du vielleicht, dass jemand ein Dieb ist, dass jemand korrupt ist, die ganze Welt weiß es, aber es passiert nichts. Der Typ bleibt im Kongress, behält seinen Posten. Es gibt keine offizielle Wahrheit, die gleichzeitig mit der Gerechtigkeit siegt. Das finde ich schlimmer. In vielen Fällen ist es aber auch schwierig mitzubekommen, was tatsächlich passiert, nämlich dann, wenn politische Interessen mit hineinspielen. Zum Beispiel im Fall der Frau mit dem „Halsband“. Ich glaube, dass hier eine Form der allgemeinen Konfusion herrscht, aber für mich liegt auf der Hand, dass die Nachbarn der Frau Recht haben. Sie haben eine Demonstration gegen die Farc-Guerilla organisiert, und sie wissen, wer es war. Die Bauern wissen es. Die Opfer haben Recht, die Wahrheit gehört den Opfern, den Bauern. Da gibt es für mich gar keinen Zweifel.
Ihr Buch changiert zwischen einem Krimi und einem Großstadtroman. Wie kommt das? Was hatten Sie mit dem Buch vor?
Ich wollte einen Krimi schreiben. Aber mir wurde schnell klar, dass mich das traditionelle Format des Krimis nicht befriedigt, weil es verschiedene Regeln hat, die ich nicht einhalten wollte. Zum Beispiel entwickeln sich im traditionellen Kriminalroman nur zwei bis drei Figuren, der Held und sein Gegenspieler. Manchmal hat er noch einen Kollegen. Die anderen Figuren sind wie eine Serie von Fantasmen, die nicht weiter ausgebaut werden. Das gefällt mir nicht. Mir gefällt es, wenn die Nebenfiguren wichtig sind. Und für mich sind gute Schriftsteller diejenigen, die Nebenfiguren darstellen können. Wir alle können Helden machen. Unvergesslich ist aber eben jene kleine Figur, die nur 20 Seiten lang in einem Roman auftaucht, die aber mit ihrer Anwesenheit plötzlich den ganzen Roman beeinflusst. Ich wollte die anderen Figuren so lebendig wie möglich machen, und ich wollte eine Nebenfigur wie den Hauptmann Moya streckenweise zur Hauptfigur machen, damit sie uns von ihrem Problem der Fettleibigkeit und ihre Lebensgeschichte im Zusammenhang mit dem Essen erzählt, obwohl diese Figur nur wenig mit der Hauptgeschichte zu tun hat. Ich wollte einen Roman schreiben, der wie ein Krimi aufgebaut ist, aber der außerdem noch viele andere Elemente beinhaltet, wie zum Beispiel die enorme Präsenz der Stadt, so dass das Buch einfach als Roman gesehen wird. Übrigens wurde dieser Roman in keinem Land als Teil einer Krimireihe publiziert!
Aber es gibt ja einen Toten und einen Detektiv-Journalisten. Wozu brauchen Sie überhaupt die Krimi-Anklänge?
Sie haben mir erleichtert, über aktuelle Probleme zu sprechen. Denn es gibt ein Problem der Zeiten. Wenn man einen Roman schreibt, der keinem bestimmten Genre zuzuordnen ist, einen normalen Roman, dann tendiert man fast immer dazu, weit zurückzugehen, 30 Jahre etwa. Wenn Schriftsteller 50 Jahre alt sind, dann schreiben sie meist über ihre Zwanziger. Krimiautoren hingegen schreiben Geschichten, die im Augenblick des Schreibens fast gegenwärtig sind. Mir erleichtert der Krimi auch, ein Thema wie Korruption, soziale Themen zu behandeln. Auf eine bestimmte Art ist dies ein engagiertes Buch, nicht aufgrund einer politischen Ideologie, nein, nichts dergleichen, sondern aufgrund einer bestimmten Form der Moral, die mir wichtig erscheint, eine städtisch-zivile Moral.
Víctor Silanpa, der Detektiv-Journalist, ist eine faszinierende Person. Er könnte ein neuer Pepe Carvalho, der Detektiv bei Vázquez Montalbán werden, er hätte das Zeug zum Helden einer Krimireihe. Wollen sie eine Silanpa-Reihe machen?
Nein, weil ich mich nicht als Krimiautor verstehe. Mehr noch, ich bin selbst kein großer Krimileser. Ich möchte keine Reihe machen, auch wenn mir die Figur sehr gut gefällt, und der andere, der Estupiñán auch. Womöglich nehme ich später in anderen Büchern diese Figuren wieder auf, aber nicht in einem Kriminalroman. Vielleicht in einer Liebesgeschichte, warum nicht?
Ich habe den Eindruck, dass viele kolumbianische Schriftsteller außerhalb ihres Landes leben und sich damit eine Situation wie in Kuba oder Haiti ergibt, vielleicht nicht ganz so stark, aber doch mit einer geteilten Literatur: die innerhalb und die außerhalb Kolumbiens.
In Kuba gibt es Schriftsteller innerhalb und außerhalb des Landes, weil es eine klare Grenze gibt, was die Themen angeht oder auch die Verlage. Im Fall Kolumbiens ist der einzige Unterschied der Verlag. Das, was ich schreibe, wird in Kolumbien, aber auch in Europa veröffentlicht. Es gibt auch Autoren, die nur in Kolumbien publizieren, aber nicht, weil es ihnen so lieber ist, sondern aus verlegerischen, ökonomischen Gründen. Ich stimme mit dieser Unterscheidung nicht ganz überein. Die neue kolumbianische Literatur, die neuen, jungen Schriftsteller, die Mehrzahl von ihnen jedenfalls, lebt in Kolumbien. Und fast alle von uns sind bei Verlagen in Europa, in Spanien, Frankreich, Portugal. Zum Beispiel Jorge Franco Ramos, der bestimmt bald in Deutschland publiziert wird, oder Enrique Serrano, Juan Carlos Botero. Denn meine Generation ist eine sehr reiche, sehr vielfältige Generation, die meisten Schriftsteller benutzen urbane Themen, aber mit sehr eigenwilligen Mitteln und auf sehr unterschiedliche Weise. Dies ist eine Generation, die bis jetzt noch nicht richtig als Generation bekannt ist. Ich bin mir sicher, wenn wir uns in drei Jahren wieder sprechen, dann werden wir über unheimlich viele Autoren reden, die bis dahin hier angekommen sein werden und die das Bild, dass man von der kolumbianischen Literatur hat, immens beeinflussen werden. In Spanien, wo die kolumbianischen Bücher am schnellsten ankommen, hat man mittlerweise schon ein völlig anderes Bild von der kolumbianischen Literatur, weil man die Vielfältigkeit schätzt. Früher konzentrierte sich die Literatur sehr auf García Márquez und Mutis. Heute gibt es ein viel größeres Spektrum.

Das Schiff ohne Besatzung

Toilettenpapier scheint in Kolumbien eine ganze Stange Geld zu kosten. Jedenfalls dann, wenn der Präsident des Abgeordnetenhauses Armando Pomárico einkaufen geht. Dieser gab gleich 49.119 Dollar dafür aus. Doch nicht nur das stand auf seiner Einkaufsliste: In nur zwei Tagen unterschrieb er ganze 62 gefälschte Verträge über 2,8 Millionen Dollar, die er aus der Staatskasse bezahlte. Ein neues Bad war da ebenso enthalten wie eine ausgedehnte Millenniumsfeier.
Dieser Fall von Korruption gehört zu einer ganzen Reihe von Skandalen, denen die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft seit dem 17. März nachgeht. Über ein dutzend Senatoren und Abgeordnete wurden bisher in Untersuchungshaft genommen. Mittlerweile vermuten die Ermittler Unregelmäßigkeiten von über elf Millionen Dollar. Ungewöhnlich sind diese Fälle nicht, schließlich gehört der kolumbianische Staatsapparat zu einem der korruptesten auf dem ganzen Kontinent. Überraschend aber war die darauf folgende politische Krise zwischen Regierung und Kongress, die Anfang April begann, teils groteske Züge angenommen hat und ein fast typisch kolumbianisches Ende nahm.

Eine ausgewachsene Krise

Als Reaktion auf die Nachforschungen der Ermittler kündigte der konservative Präsident Andrés Pastrana am 30. März ein Referendum gegen die Korruption und für eine Reform des Kongresses an. Dabei sollten unter anderem die 267 Sitze im Kongress auf 170 dezimiert werden, die Lohn- und Rentenprivilegien der Abgeordneten abgeschafft und das Finanzgebahren der Beamten stärker kontrolliert werden. Als Datum war der 16. Juli geplant.
Einige Tage später, als die Regierung den Referendumsentwurf dem korruptionsgeplagten Kongress vorlegte, wurde den Abgeordneten bewusst, dass damit auch eine vorzeitige Auflösung von Senat und Abgeordnetenhaus und eine Neuwahl beabsichtigt waren. “Ein Schritt in Richtung einer Diktatur”, nannte es Horacio Serpa erzürnt, Kopf der Liberalen Partei und unterlegener Konkurrent von Pastrana bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren.
Und dieser Schuss von Pastrana ging auch gleich nach hinten los: Um regierungsfähig zu sein gegen die liberale Mehrheit im Kongress, muss sich Pastrana seit seinem Amtsantritt 1998 auf seine so genannte Große Allianz für den Wandel stützen. Diese besteht neben den Abgeordneten seiner Konservativen Partei aus unabhängigen Abgeordneten und Abtrünnigen der Liberalen Partei. Letztere scherten nun aus, da das Referendum als ein Angriff gegen die Liberalen gewertet wurde und man persönliche Vorteile in Gefahr sah. Politik war in Kolumbien somit vorerst gelähmt, da Mehrheiten für Gesetzesentwürfe der Regierung blockiert waren.
Also besannen sich die Befürworter des Referendums auf das Gesetz 134 von 1994, mit dem sie die Abgeordneten unter Druck setzen wollten. Dieses erlaubt es, durch eine Unterschriftensammlung von zehn Prozent der eingetragenen Wähler das Referendum auch durchzuführen, wenn der Kongress den Entwurf ablehnt. Bei über 90 Prozent Zustimmung bei der Bevölkerung sah man keine Schwierigkeiten. In der zweiten Aprilwoche begann die Unterschriftensammlung.
Was Pastrana aber scheinbar bis dahin nicht gewusst hat: Die Wähler wollen nicht nur einen neuen Kongress, sondern gleichzeitig einen neuen Präsidenten. Die Zustimmung für Pastranas Politik erreichte im April mit 29 Prozent einen Tiefststand. Die Wirtschaft erholte sich schließlich bisher kaum von ihrem Einbruch aus dem letzten Jahr und die Arbeitslosenrate lag weiterhin bei über 20 Prozent. Das rief wiederum die Liberalen auf den Plan. Diese sahen nun ihre Chance, den Wahltermin komplett um ein Jahr auf das Jahr 2001 vorzuziehen. Also wurde ein eigener Entwurf für ein Referendum ausgearbeitet, das dem der Regierung entgegengestellt wurde und generelle Neuwahlen vorsah. Die Idee einer Reform des politischen Systems und der Korruptionsbekämpfung wurde nun – ob von Pastrana ernst gemeint oder nicht – zur Waffe, um sich eigene Vorteile zu erstreiten und sich gegenseitig zu demontieren.
Um gleichfalls Druck auszuüben, nahm der Kongress Mitglieder der Regierung ins Visier und leitete Misstrauensabstimmungen ein. So musste am 3. Mai Gesundheitsminister Virgilio Galvis seinen Hut nehmen. Er machte dubiose Verträge mit einer Klinik, deren Teilhaber er war. Kurz danach folgte der Generalsekretär des Präsidenten Juan Hernández, der seinen Einfluss für die Kleidungsfirma seiner Frau geltend machte. Dritter in der Reihe war der Innenminister Néstor Humberto Martínez am 9. Mai. Daraufhin wurde spekuliert, wer als nächstes in welcher Reihenfolge seinen Rücktritt ankündigen würde.
Nun war die Krise komplett für Pastrana. Er nahm den Entwurf aus dem Kongress, um ihn durch die Unterschriften durchzusetzen. Er bezichtigte die liberalen Abgeordneten, Chaos und Anarchie zu schaffen. “Der Kongress akzeptiert nicht den Wechsel”, den er sich 1998 ins Wahlprogramm geschrieben hat.

Einigung nach altem Vorbild

Die Auswirkungen des Konflikts blieben nicht aus, besonders wirtschaftlich. Die Finanzmärkte reagierten gereizt und der Peso verlor gegenüber dem US-Dollar über sieben Prozent an Wert im Zeitraum April/Mai. Um an einen vereinbarten 2,7 Milliarden Dollar-Kredit vom IWF zu kommen, mussten wichtige Reformen verabschiedet werden, die aber im Kongress blockiert wurden. So wurde Präsident Pastrana immer mehr von allen Seiten attackiert. “Seine langfristige Politikplanung reicht nur für die nächsten zwei Stunden”, so der Gewerkschaftsführer Luis Garzón. Die unabhängige Abgeordnete und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Noemí Sanín behauptete, Pastrana halte an “den alten, klientelistischen Praktiken fest”.
So kam es denn auch. Wie schon des öfteren in der rund 150-jährigen Geschichte der beiden dominierenden Parteien einigte man sich auf einen Konsens, wenn man in einer zu großen Krise steckt. Am 26. Mai erklärte Pastrana, dass er die Idee einer vorzeitigen Auflösung des Kongresses zurücknehmen und das Referendum vorerst ad acta legen will, um zunächst wichtigere Dinge in Angriff zu nehmen. Die Liberalen stimmten zu und nahmen ihren Referendumsentwurf ebenfalls zurück.
Dagegen verraten fühlten sich die unabhängigen Vertreter, die das Referendum des Präsidenten unterstützten. “Das ist eine neue Nationale Front, die die unabhängigen Kräfte aus dem Prozess ausschließt”, so der Politikwissenschaftler Francisco Leal. Die Nationale Front wurde als Reaktion auf die violencia in den 50er Jahren und den Machtverlust durch eine Militärdiktatur geschaffen. Man einigte sich ab 1957 auf ein Rotationsprinzip bei den Posten bis hin zum Präsidenten. Diese Nationale Front existierte offiziell bis 1974, aber an dem Grundprinzip des Zweiparteiensystems von Liberalen und Konservativen hat sich kaum etwas geändert.
So ohne weiteres ließ sich die Idee des Referendums aber nicht von der Tagesordnung streichen. Eine Gruppe von acht unabhängigen Abgeordneten protestierte gegen die Entscheidung und kündigte an, die Unterschriftensammlung weiter zu verfolgen. Sie gehen davon aus, dass sie bis Anfang Juni die benötigten 2,1 Millionen Unterschriften zusammenbekommen, um das Referendum und die gewünschte Auflösung des Kongresses durchführen zu können.

Friedensprozess im “Urlaub”

Dass Pastrana im Mai die Kontrolle verlor, bekam auch der Friedensprozess mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) zu spüren. Nach einem makabren Mordanschlag durch eine “Halskettenbombe” an einer 56-jährigen Bäuerin, der am 15. Mai stattgefunden hatte, verkündeten der neue Friedensbeauftragte der Regierung Camilo Gómez und der Präsident eine Unterbrechung der Gespräche. Unbekannte hatten der Frau eine “Halskettenbombe” mit Zeitzünder angelegt und sie erpresst, binnen weniger Stunden 7.500 US-Dollar Lösegeld aufzutreiben. Die Bombe explodierte während der Entschärfung, neben der Frau kam ein Sprengstoffexperte dabei ums Leben.
In ungewöhnlich scharfem Tonfall machte Pastrana daraufhin die Guerilla dafür verantwortlich, obwohl der Vorfall noch immer nicht aufgeklärt ist. Die Regierung gestand mittlerweile zu, dass die Unschuld der FARC immer offensichtlicher wird. Trotzdem blieb der Friedensprozess en receso – im Urlaub, wie die kolumbianischen Zeitungen titelten. Die FARC bestritten sofort energisch eine Verantwortung für diese Bluttat und verurteilten die Urheber. Sie nannten den Mord einen “ersten Anschlag auf die Verhandlungsrunde”. Die Schuldigen liegen ihrer Ansicht nach in Kreisen, die den Friedensprozess behindern wollen. Gemeint sind sowohl ultrarechte Paramilitärs als auch Militärkreise. Zudem war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten keine Guerillaeinheit mehr in dieser Gegend gewesen.
Es ist das erste Mal, dass der 18-monatige Friedensprozess von Regierungsseite unterbrochen wurde. Im Januar 1999 wurde dieser von den FARC ausgesetzt, weil die Paramilitärs zu Beginn der offiziellen Gespräche das Land mit einer Gewaltwelle überzogen hatten. Über 150 Zivilisten waren in kürzester Zeit bei Massakern ums Leben gekommen. Die Entscheidung Pastranas hat verschiedene Ursachen. Zum einen haben die FARC mit einer Art “paralleler Gesetzgebung” Beschlüsse gefasst, die der kolumbianischen Oberschicht den Schweiß auf die Stirn treiben. Das “Gesetz 002” etwa droht allen Dollarmillionären im Land direkt mit Entführung und Erpressung, sollten sie nicht freiwillig eine Steuer an die Guerilla zahlen. Dieses Thema will Pastrana bei neuerlichen Gesprächen behandelt wissen. Kurioserweise passte der Anschlag dafür wie die Faust aufs Auge.

Europa mischt sich ein

Größeres Aufsehen aber hat die fragwürdige Regierungsentscheidung erregt, ein internationales Treffen über Drogensubstitution und Umweltfragen abzusagen. 22 Länder, überwiegend europäische, unter der Schirmherrschaft von Norwegen und Spanien, wollten sich am 29. Und 30. Mai mit Regierungsvertretern und den FARC am Verhandlungstisch treffen, um über friedliche Wege der Drogenbekämpfung zu sprechen. Eine italienische Kommission hatte sich kurz darauf eingeschaltet, um zu vermitteln. “Wir wollen keine Internationalisierung des Konflikts und noch weniger eine Militarisierung”, sagte Marco Pezzoni, Abgeordneter im Europaparlament. Die Befürchtung scheint nun auch bei den Europäern zu wachsen, dass es durch US-Milliardenhilfen für den Plan Kolumbien zur Aufrüstung des kolumbianischen Militärs für den “Antidrogenkampf” kommt (siehe LN 308, 310).
Die Abstimmung dazu im US-Senat verzögert sich allerdings weiter. Nachdem keine Mehrheit abzusehen war, hat eine Senatskommission Kürzungen in Höhe von etwa 300 Millionen US-Dollar vorgenommen. Dagegen hat die US-Regierung protestiert. Außenministerin Madeleine Albright drohte am 17. Mai gar mit einem Veto des Präsidenten, sollte nicht das ursprüngliche Paket verabschiedet werden. Sie sieht “nationale Interessen” bedroht. Der “Anti-Drogenzar” Barry McCaffrey äußerte gegenüber der Zeitung El Colombiano, dass das Finanzpaket in der ersten Juniwoche abgestimmt werden soll.
Vor diesem Hintergrund würde es nicht verwundern, wenn der angeschlagene Präsident Pastrana das Treffen über Drogensubstitution bewusst verzögern wollte. Ihm wäre es lieber, erst die Milliarden aus den USA für sein Militär einzusacken und dann das internationale Treffen abzuhalten. Dessen scheinen sich die FARC bewusst zu sein und kommen der Regierung ungewöhnlich entgegen. Sie haben angekündigt, dass sie bereit sind, über Erpressung und Entführung zu reden. Und nicht nur das: erstmals besteht die Aussicht auf einen ausgehandelten Waffenstillstand. Ende Mai gab es wieder nach fast zwei Wochen ein Treffen zwischen den Konfliktparteien. Als neuer Termin für das internationale Treffen wurden der 29. und 30. Juni genannt. Mal sehen, ob nicht wieder etwas dazwischen kommt.

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