Wiedervereinigung auf kubanisch

„Sozialismus ist die einzige Garantie für unsere Unabhängigkeit“, mahnte der 82-jährige Präsident Raúl Castro leicht verkatert die 3.500 festlich geladenen Gäste am Rathaus von Santiago de Cuba zum Jahresbeginn. Dort hatte sein Bruder am 1. Januar 1959 den Sieg im Kampf gegen die Diktatur verkündet. In Havanna blieb der Revolutionsplatz diesmal leer und dunkel, nur die Konterfeis Che Gueveras und Camilo Cienfuegos‘ leuchteten vom Innenministerium herab. Anders auf der antiimperialistischen Tribüne am Malecón. Dort ist die Botschaft musikalisch: Meterhohe Boxen sorgen dafür, dass der Reggaeton auch Kilometer entfernt noch zu hören ist. Ein Zeichen der neuen kulturellen Hegemonie? Verschiedene Lesarten sind möglich.
Die Reden des Staatspräsidenten werden inzwischen nur noch auf einem der fünf Fernsehkanäle übertragen. Der Staat zahlt, um auch das anzubieten, was populär ist. „Wir müssen unser Gehör wieder auf den Boden richten, in Dialog mit der Bevölkerung treten“, hatte Raúl in einer anderen Rede fast hegemonietheoretisch formuliert. Öffentliche Räume und Inhalte werden neu verhandelt. Als der Jazzmusiker Roberto Carcassés im Oktober auf seinem live übertragenen Konzert von mehr direkter Demokratie sprach, wurde ihm zunächst untersagt, auf staatlichen Bühnen zu spielen. Dann schritt der renommierte Musiker Silvio Rodríguez ein, der Ende der 60er Jahre selber Auftrittsverbote erlitt, und verteidigte ihn auf seinem Blog. Das Verbot wurde zurückgenommen.
Im November verkündete die Parteizeitung Granma die Schließung der privaten, sehr beliebten 3D-Kinos wegen der dort gezeigten „Banalität“ und „niederen Kultur“. Ein Aufschrei des Publikums und vieler Intellektueller wie des Essayisten Victor Fowler folgte. Sie gestanden dem Staat das Recht der Regulierung, nicht aber der inhaltlichen Zensur zu. Kurze Zeit später war in derselben Zeitung zu lesen, die Maßnahme werde überdacht und wahrscheinlich revidiert.
Probleme werden in Kuba inzwischen offener diskutiert. Die Regierung Raúl Castros versucht, die unterschiedlichen Kulturen, die sich seit den Öffnungen, Veränderungen und Widersprüchen der 1990er Jahre ergeben haben, wieder zusammenzuführen. Und dies nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Wirtschaft.
Als Fidels Bruder Raúl 2008 zum Präsidenten gewählt wurde und der Druck einer wachsenden Mittelschicht stieg, beendete er Teile der Restriktionen, wie das Verbot für normale Kubaner_innen, Hotels zu frequentieren, Mietautos zu fahren oder Mobiltelefone zu besitzen. Die Aufhebung der Verbote sorgte zugleich für sprudelnde Staatseinnahmen. Inzwischen können auch Friseure wie Leo ihren Weihnachtsurlaub wieder in der Touristenhochburg Varadero verbringen. Leo hat bereits seinen zweiten Salon eröffnet – auf den Namen seiner Mutter, weil die Gesetzeslage bisher den Besitz auf eine Immobilie pro Person begrenzt. Einen institutionellen Rahmen auszutarieren, in dem die sozialistische Staatswirtschaft in Symbiose mit einer wachsenden Privatwirtschaft ein nachhaltiges Modell sozialer Gerechtigkeit ermöglicht, ist die Aufgabe, der sich die gegenwärtige Regierung stellt.
„Kuba legalisiert den freien Kauf von Autos“ war die Neujahrsschlagzeile 2014. Am 19. Dezember 2013 vom Ministerrat beschlossen, trat das Gesetz am 3. Januar in Kraft. Es ist Thema Nummer eins auf den Straßen Kubas. „Hast du schon die Preise gesehen?“ beginnt meist das Gespräch. „Wahnsinn!“ lautet die Antwort. Die Niederlassungen von Mercedes, Fiat und anderen internationalen Produzenten ziehen Neugierige vor die Schaufenster. Der Traum vom eigenen Auto war in Kuba mit der Revolution und dem folgenden US-Embargo in weite Ferne gerückt. 50 Jahre später ist dieser Traum „nur“ noch vom Portemonnaie abhängig. Damit bleibt es aber für die meisten vorläufig ein Traum: Lieblingsbeispiel der Kubaner ist der neue Peugeot 508, mit 262 000 CUC (etwa 191 000 Euro) veranschlagt, aber auch 51 000 CUC (etwa 37 000 Euro) für einen VW Jetta von 2010 sind astronomisch.
2013 hieß die Neujahrsbotschaft der Verzicht auf Ausreisegenehmigungen. Praktisch hatte sie für die Mehrheit der Inselbewohner_innen jedoch nur geringe Bedeutung, da für fast alle Reiseziele, die von der Insel direkt angeflogen werden, ein Einreisevisum benötigt wird. Symbolisch allerdings war es eine Errungenschaft, nicht mehr den Staat fragen zu müssen, wenn man das Land verlassen wollte. Informatiker Jorge hatte sich deshalb gleich im Januar ein teures Flugticket nach Ecuador gekauft – „nur um auszuprobieren, ob das wirklich stimmt“. Es stimmte. Sogar erklärte Regierungsgegner_innen wie Yoani Sánchez können inzwischen frei ein- und ausreisen. Das ist Teil der neuen kubanischen Normalität. Zur alten Normalität gehören politisch motivierte vor allem Kurzzeit-Festnahmen – meist für 24 bis 72 Stunden –, deren anhaltend hohes Niveau Regierungsgegner_innen gerade wieder beklagten. 2013 sollen es über 6000 gewesen sein.
Jorge ist inzwischen nach seinem Studium in Kuba nach Quito ausgewandert und plant, eine Software-Firma zu gründen. Aber auch er kann anders als früher zurückkehren und mit dem verdienten Geld seine Familie unterstützen. Bereits in Kuba hatte er für spanische Hotelketten Kontrollprogramme entwickelt, ohne offizielle Genehmigung, denn Informatiker_in steht nicht auf der Liste der 178 Berufe, die inzwischen legal in Eigenbeschäftigung ausgeübt werden können. Die fünf CUC (etwa 3,70 Euro) Stundenlohn, die er erhielt, gingen daher am Fiskus vorbei. Dem soll künftig mit der Einführung eines Steuersystems ein Riegel vorgeschoben werden.
Nach einem halben Jahrhundert steuerfreien Lebens erinnern sich nur noch die Ältesten an das republikanische – und hochkorrupte – Steuersystem vor der Revolution. Kein Wunder, dass von den inzwischen 440 000 Selbständigen – etwa ein Zehntel der arbeitenden Bevölkerung, die inoffizielle Zahl ist weitaus höher – nur rund die Hälfte überhaupt eine Steuerklärung machten. »Wir müssen erst wieder eine neue Kultur dafür entwickeln«, sagt Saira, die als Ökonomin an der Universität Havanna zu Kubas Steuersystem promoviert. Laut einer kürzlich in der Parteizeitung veröffentlichten Fallstudie für die Provinz Granma zahlen dort 92 Prozent nicht den korrekten Betrag.
Kräftiger als die Steuern fließen trotz des Embargos Gelder aus den USA. Soziologen wie der US-Amerikaner Nelson Valdés argumentieren, dass das Embargo schon deshalb aufgehoben werden müsse, weil es die exilkubanische Gemeinde ungerechtfertigt bevorteilt. Laut Valdés sind es vor allem die fast zwei Millionen Kubaner_innen in der Diaspora, insbesondere in den USA, die lukrativen Handel mit Kuba treiben, Grundstücke durch Familienangehörige erwerben und den neuen Privatsektor in Kuba wesentlich mitbestimmen. Zehn Flüge täglich bringen Unmengen an Konsumgütern auf die Insel und oftmals abgeschöpfte Gewinne zurück nach Florida. Alle anderen US-Amerikaner sind davon per Gesetz bei Strafe ausgenommen.
Kubas wirtschaftliche Prognose für 2014 ist mit 2,2 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes bescheiden. Nachdem 2013 der Zuwachs mit 2,7 Prozent fast ein Prozent geringer ausfiel als geplant und prognostiziert, ist man diesmal vorsichtiger. Stagnation des Tourismus, allgemeine Ineffizienz, andauernde Wirtschaftssanktionen und Verzerrungen durch die doppelte Währung sind einige der Hauptprobleme, die deshalb angegangen werden.
Für 2014 befürchten Ökonomen wie Pavel Vidal einen Liquiditätsengpass, der zu weiteren Reformen führen könnte, um notwendige Aus­landsinvestitionen zu erleichtern. Zwar hat Kuba zum Jahresende erfolgreich seine historischen Schulden mit Russland neu verhandelt – und zu 80 Prozent erlassen bekommen. Nach wie vor ist die Regierung aber auf Druck der USA von zinsgünstigen Krediten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank abgeschnitten. Deswegen kann die Karibikinsel zumeist nur sehr teure und kurzfristige Kredite bekommen.
Präsident Raúl Castro kündigte zudem die schrittweise Zusammenführung der zwei Währungen an, des kubanischen Pesos und der devisengebundenen CUC-Währung, die sein Bruder vor gut 20 Jahren als Antwort auf die Krise einführte. Pilotprojekte wurden bereits begonnen, bei denen der Wechselkurs zwischen CUC und Peso nicht mehr 1:24, sondern 1:10 ist. Schrittweise soll dies auf weitere Staatsbetriebe, dann auf Kooperativen ausgeweitet werden, bevor es für die gesamte Bevölkerung gelte, verkündete Castro in seiner Parlamentsansprache am 21. Dezember. Angekündigt sind für dieses Jahr zudem spürbare Gehaltserhöhungen, zunächst im Gesundheits- und Bildungssektor, dann auch darüber hinaus.
Mit venezolanischer, chinesischer, aber auch brasilianischer Hilfe wurden zudem wichtige Infrastrukturprojekte begonnen, wie der etwa 50 Kilometer westlich von Havanna gelegene Containerhafen von Mariel, der als Freihandelszone für Auslandsinvestitionen und inländische Beschäftigung sorgen soll. Ein erster Teil der Zone soll von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef und Raúl Castro im Rahmen des zweiten Gipfeltreffens der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten CELAC Ende Januar eröffnet werden.
Außenpolitisch ist Kuba weiter auf Erfolgskurs. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt – folgenlos – seit mehr als zwei Jahrzehnten mit überwältigender Mehrheit das Embargo der USA, das seit einem halben Jahrhundert die kubanische Wirtschaft drangsaliert. Kuba führte das CELAC-Präsidium und leitet erfolgversprechende Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung in Havanna. Die CELAC-Staaten haben bereits angekündigt, dass ein weiteres Gipfeltreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ohne das seit 1962 auf Betreiben der USA ausgeschlossene Kuba weitgehend boykottiert würde. Vielleicht auch deshalb sagte ihr Generalsekretär José Miguel Insulza seine Teilnahme am CELAC-Treffen in Havanna zu. Das Jahr 2014 könnte also mehr als nur zwei Währungen wieder zusammenführen.

Die Versprechen der Michelle Bachelet

Für die Medien war es eine schöne Steilvorlage: Das Duell der Generalstöchter Michelle Bachelet und Evelyn Matthei. Erstere trat für die Mitte-Links-Koalition Neue Mehrheit an, Zweitere für das rechte Parteienbündnis Allianz für Chile. Töchter von Vätern, die befreundet waren und die der Putsch gegen Salvador Allende 1973 entzweite. Bachelets Vater wurde zum Opfer der Pinochet-Diktatur, Mattheis Vater machte unter Pinochet weiter Karriere. Michelle Bachelet hatte den Wettstreit um die Wähler_innenstimmen im ersten Wahlgang am 17. November klar gewonnen und bekam 46,7 Prozent der gültigen Stimmen. Matthei konnte lediglich 25 Prozent der Stimmen für sich behaupten. Die Ausgangslage für den zweiten Wahlgang war damit klar: Alles andere als ein Sieg von Bachelet wäre eine Sensation.
Auch wenn die klare Stimmenverteilung beeindruckt, bleibt festzuhalten, dass die Wahlbeteiligung bei lediglich 49 Prozent lag. Damit hat mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Chilen_innen nicht teilgenommen. Die im Vergleich zu den Wahlen 2009 äußerst geringe offizielle Beteiligung – diese lag damals bei 86,7 Prozent – hängt auch damit zusammen, dass nun zum ersten Mal alle Wahlberechtigten automatisch in das Wahlregister eingetragen wurden und zudem keine Wahlpflicht herrschte. Aber auch in absoluten Zahlen nahm die Beteiligung um etwa 500.000 Wähler_innen ab. Chile ist damit das lateinamerikanische Land mit der geringsten Wahlbeteiligung. Neben dem klaren Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen konnte das Mitte-Links-Bündnis Neue Mehrheit auch bei den Parlamentswahlen Erfolge verbuchen. Im Senat stellt sie nun 20 der 38 Senator_innen und im Abgeordnetenhaus 67 der 120 Parlamentarier_innen. Die uneindeutigen Mehrheitsverhältnisse sind dem in Chile gültigen binomialen Wahlrecht geschuldet, bei dem pro Wahlkreis die Kandidat_innen mit den meisten und den zweitmeisten Stimmen ins Parlament einziehen. Dies führt dazu, dass es äußerst schwierig ist, klare Mehrheiten im Parlament zu erlangen.
Neben den Abgeordneten, die für Parteien kandidierten oder sich als unabhängige Kandidat_innen einem Parteienbündnis anschlossen, sind auch drei unabhängige Kandidat_innen ins Abgeordnetenhaus eingezogen: Alejandra Sepúlveda, Giorgio Jackson und Gabriel Boric. Boric und Jackson bilden zusammen mit Camila Vallejo und Karol Cariola den Block der ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen, die sich bei den seit 2011 andauernden Protesten einen Namen gemacht haben. Dabei ist die Wahl des unabhängigen Boric eine kleine Sensation: „Entgegen aller Prognosen haben wir es geschafft gegen beide Bündnisse zu gewinnen und das binomiale Wahlrecht zu brechen“, so Boric. Vallejo und Cariola traten hingegen für die Kommunistische Partei an, die Teil der Neuen Mehrheit ist. Der innerhalb der Studierendenbewegung als moderat geltende Jackson wurde von der Neuen Mehrheit dadurch unterstützt, dass diese in seinem Wahlkreis keine_n Kandidat_in aufstellte.
Wenn alles wie erwartet läuft und Michelle Bachelet Präsidentin wird, hat sie sich mit ihrem Programm große Aufgaben gegeben: Die zentralen Punkte ihres Programms, eine Bildungsreform, eine Steuerreform und eine neue Verfassung sind die Versprechen, mit denen sie antrat. Vor allem bei der Umsetzung der Bildungsreform ist sie allerdings auf die Stimmen der unabhängigen Abgeordneten angewiesen. Ob und wie sich die versprochenen Reformen verwirklichen lassen, ist fraglich. Schon 2006, während ihrer ersten Amtszeit, versprach sie als Reaktion auf die Proteste der Sekundarschüler_innen eine Bildungsreform. Diese entpuppte sich jedoch als absolut unzureichend. Von Seiten der Studierendenbewegung, die die Beteiligung am Wahlprozess teilweise kritisch betrachtet, ist bereits jetzt Skepsis zu vernehmen. Melissa Sepúlveda, Präsidentin der FeCh, der Organisation der Studierenden der Universidad de Chile äußerte im Interview mit der Zeitschrift Punto Final: „Die guten Absichten von Michelle Bachelet und der Kommunistischen und Sozialistischen Partei sind wenig wert. Um zu wissen, was sie wirklich wollen, müssen wir abwarten und beobachten wie sie agieren.“
Auf die Frage, wie denn die Erarbeitung einer Verfassungsreform ausehen könnte, hat Bachelet bisher auch keine konkrete Antwort gegeben. Im Zuge der Wahl forderte eine Kampagne, auf den Wahlzettel ein „AC“ für „Asamblea Constituyente“ zu schreiben und dadurch dem Wunsch nach einer Verfassunggebenden Versammlung Ausdruck zu verleihen. Die derzeit geltende Verfassung, die für viele Probleme verantwortlich gemacht wird, wurde 1980 von der Militärdiktatur geschaffen. Auf die Frage, ob Bachelet eine solche Verfassunggebende Versammlung befürworte, antwortet sie stets ausweichend, dass sie für eine neue Verfassung sei. Ob dies im Rahmen der Institutionen möglich ist, wird sich noch zeigen. Sicher ist, dass es bei diesem Thema auch innerhalb der Neuen Mehrheit Konflikte geben wird. So hat Camila Vallejo ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie sich ausdrücklich für eine solche Versammlung ausspricht.
Teile der sozialen Bewegungen betrachten eine potenzielle Regierung Bachelet kritisch. Während der Gewerkschaftsdachverband CUT das Mitte-Links-Bündnis unterstützt, sind die Stimmen aus der eher syndikalistischen Gewerkschaft CGT verhaltener: „Die Neue Mehrheit ist nicht die Stimme der Arbeiter“, so deren Präsident Manuel Ahumado. Auch die Fraktionen innerhalb der Studierendenbewegung, die sich wie Melissa Sepúlveda gegen eine Institutionalisierung der Bewegung aussprechen, betrachten die neue Regierung mit Skepsis. Aus ihren Reihen war eine Kampagne gestartet worden, die dazu aufrief, nicht an den Wahlen teilzunehmen.
Von Seiten der linken Mapuche-Organisationen ist ebenfalls wenig Begeisterung über eine zukünftige Präsidentin Bachelet zu hören. In ihre erste Amtszeit fallen unzählige Verfahren gegen Mapuche, bei denen das aus der Militärdiktatur geerbte Antiterrorgesetz Anwendung fand. Außerdem wurden während ihrer Amtszeit die jungen Aktivisten Matías Catrileo, Jaime Mendoza und Johnny Cariqueo von der Polizei ermordet, ohne dass die dafür verantwortlichen Polizeibeamten zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Rahmen der Veröffentlichungen von Wikileaks ist zudem ans Licht gekommen, dass die Regierung von Bachelet den US-Geheimdienst FBI um Hilfe gebeten hatte, um Verbindungen zwischen Mapuche-Organisationen und der kolumbianischen Guerilla FARC sowie der baskischen Untergrundorganisation ETA zu ermitteln. Damit wurde klar, dass die Regierung den Konflikt lediglich unter dem Aspekt der Repression betrachtete.
Sollte Bachelet wie zu erwarten den zweiten Wahlgang gewinnen, die gemachten Versprechen allerdings nicht einhalten, könnte eine unruhige Regierungszeit auf sie zukommen – oder wie es Melissa Sepúlveda ausdrückte: „In Chile müssen Veränderungen passieren oder Michelle Bachelet wird ein Land mit steigender politischer Instabilität regieren müssen.“

„Eine Tür in Richtung Frieden“

Die Friedensverhandlungen begannen im Herbst 2012, zehn Jahre nachdem die letzten Gespräche zwischen FARC und der damaligen Regierung unter Andrés Pastrana im kolumbianischen San Vicente de Caguán gescheitert waren. Zum ersten Mal wird nun auch die Entwaffnung der Guerillakämpfer_innen verhandelt. Ziel ist, anhand von fünf Diskussionspunkten einen dauerhaften Friedensprozess in Kolumbien einzuleiten.
Nach zähen Verhandlungen verkündeten die Repräsentant_innen von FARC und Regierung im Mai 2013 eine Einigung im ersten Punkt der Agenda, der Agrarreform. Das Thema der Landverteilung gilt als Dreh- und Angelpunkt, um den bewaffneten Konflikt zu lösen. Bis heute befinden sich laut einem Bericht der Vereinten Nationen mehr als 50 Prozent des Landes in den Händen von 1,15 Prozent der Bevölkerung. Der Landkonflikt zieht sich durch die letzten Jahrzehnte der kolumbianischen Geschichte – die FARC hatten sich 1964 gerade wegen dieser Problematik aus einer ursprünglich bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppe gegründet.
Doch bereits kurz nach der Einigung im Juli 2013 unterzeichnete die Regierung ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das als Fortsetzung ihrer bisherigen Wirtschaftspolitik gesehen werden kann und die ungleiche Landverteilung eher zementiert als auflöst. Wenige Tage nach Inkrafttreten der Freihandelsbeschlüsse legte daher ein landesweiter Agrarstreik große Teile Kolumbiens lahm. Unzählige weitere Berufsgruppen und soziale Bewegungen solidarisierten sich mit den bäuerlichen Protesten, sodass die Regierung keine andere Lösung sah, als Teile der Bestimmungen zurückzunehmen. Nicht jedoch, ohne vorher die Proteste gewaltsam niederzuschlagen und die Hauptstadt Bogotá mit 50.000 Soldat_innen besetzen zu lassen – was einem faktischen Ausnahmezustand gleichkam. Abilio Peña, Aktivist der ökumenischen Nichtregierungsorganisation Justicia y Paz (Gerechtigkeit und Frieden), kommentierte dies kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin mit den Worten: „Die Verhandlungen sind eine Tür, die sich in Richtung Frieden öffnet. Man sollte meinen, auch die Politik will den Frieden. Aber die Niederschlagung sozialer Proteste lässt uns immer wieder daran zweifeln.“
Genau jene Kriminalisierung des zivilen Protests war dann einer der Hauptdiskussionsgegenstände bei der Verhandlung des zweiten Punkts der Friedensagenda. Nach Ablauf der mittlerweile 16. Gesprächsrunde verkündeten Vertreter_innen der FARC und der Regierung Anfang November eine Einigung im Bereich der politischen Partizipation (siehe dazu die Interviews in der aktuellen Ausgabe). Vor allem die Sicherheitsgarantien und Rechte für oppositionelle Parteien waren lange diskutiert worden. Die FARC-Guerilla beharrte auf der Entkriminalisierung des sozialen Protests und einer stärkeren Kontrolle der staatlichen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Letztere kam auch im Zusammenhang mit den Agrarprotesten zum Einsatz und ist laut internationalen Menschenrechtsorganisationen für ihre extreme Gewaltbereitschaft bekannt. In den erst teilweise veröffentlichten Entwürfen des gemeinsamen Berichts werden verschiedene Methoden vorgeschlagen, um soziale Bewegungen verstärkt in die Politik mit einzubeziehen. Dennoch bemängeln Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, dass die Bevölkerung immer noch nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt werde. Iván Mar­quéz, Vertreter der FARC, betonte, es müsse Raum gelassen werden, damit „die Öffentlichkeit die definitive Ausrichtung [der politischen Partizipation] vorgeben“ könne. Auch sitzt die zweitgrößte Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (ELN) trotz gegenteiliger Bekundungen ihrerseits noch immer nicht mit am Verhandlungstisch.
Überschattet wurden die Verhandlungen von Anfang an von einer Reihe militärischer Auseinandersetzungen zwischen den FARC und dem kolumbianischen Militär. Trotz einer zu Beginn des Prozesses vereinbarten Waffenruhe kam es seit Anfang 2013 immer wieder zu gewaltsamen Offensiven zwischen Militär und FARC, in deren Verlauf Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren. So wurde die Glaubwürdigkeit des Friedensprozesses immer wieder nachhaltig untergraben.
Dennoch verkündete die linke Partei Patriotische Union (UP) kurz nach der Veröffentlichung der Entwürfe zur politischen Partizipation, dass sie wieder auf die politische Bühne treten werde. Die Partei war in Zusammenhang mit Amnestievereinbarungen 1984 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der kommunistischen Partei hervorgegangen. Seit Ende der 1980er Jahre war sie einer beispiellosen Verfolgung ausgesetzt. Neben ihren beiden Präsidentschaftskandidaten Bernardo Jaramillo und Jaime Pardo Leal wurden mehr als 5.000 ihrer Mitglieder ermordet; die Mehrzahl von Paramilitärs. Nachdem sie ihre Spitzenkandidat_innen verloren hatte, versank die UP in den 1990er Jahren in der politischen Bedeutungslosigkeit, bis ihr 2002 die Anerkennung als Partei entzogen wurde. Durch einen langen juristischen Prozess hat sie diese nun wiedererlangt und will im nächsten Jahr mit der Kandidatin Aída Abella zur Präsidentschaftswahl antreten. Seit einem Attentatversuch im Jahr 1996 hatte Abella im Exil in Genf gelebt. Piedad Cordóba, Vertreterin der Basisorganisation Marcha Patriótica, verkündete: „Aída ist ein Hoffnungssymbol. Ihre Kandidatur ist ein Symbol der Würde und zeigt, dass der Frieden tatsächlich in greifbare Nähe rückt. Es ist ein Schritt zur Einheit aller linken Bewegungen“. So wird, auch wenn das geltende Wahlrecht Koalitionen verbietet, aktuell die Möglichkeit einer gemeinsamen Kandidatur der drei linken Parteien nicht ausgeschlossen: UP, die Grüne Partei und der demokratische Pol (PDA) könnten demnach gemeinsam antreten.
Kürzlich begannen nun die Diskussionen zum eigentlich vierten Punkt der Friedensagenda, der Drogenpolitik. Die anderen beiden Themen, die Entschädigungen der Opfer des bewaffneten Konfliktes und die Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, wurden bereits im Rahmen der bisherigen Verhandlungen teilweise verhandelt, aber nicht abgeschlossen. Angesichts der Wahlen im kommenden Frühjahr gerät die Regierung Santos nun zunehmend unter Zeitdruck.

„Vier Generationen wissen nicht, was Frieden ist“

Was sind die Inhalte der Entwürfe zur politischen Partizipation im gemeinsamen Bericht der FARC und der kolumbianischen Regierung?
Abilio Peña: Die Vorschläge des Berichts betreffen drei Themenfelder. Zunächst geht es um allgemeine Garantien und eine spezifische Rechtsprechung, sowohl in Bezug auf Wahlen als auch für oppositionelle Gruppen.
Gleichzeitig beinhaltet dieser Punkt eine Anerkennung der friedlichen Proteste und sozialen Bewegungen und ein Sicherheitsversprechen für Menschen, die in der Politik mitwirken. Zweitens geht es um den Zugang zu Medien, vor allem in ländlichen Regionen. Der letzte Aspekt ist die Reform des Wahlsystems.

Was halten Sie von den Entwürfen?
Abilio Peña: Wir halten die drei genannten Themenfelder für sehr wichtig. Was jedoch in der veröffentlichten Version völlig fehlt, ist der Paramilitarismus (Anm. d. Red. gemeint ist das Fortbestehen paramilitärischer Gruppierung trotz deren offizieller Demobilisierung). Ohne eine Lösung dieses Problems kann es keine Sicherheitsgarantien für politisch aktive Personen aus den oppositionellen Gruppen geben. Auch ist noch nicht klar, wie die Umsetzung der Entwürfe erfolgen soll. Dies liegt aber auch daran, dass nach wie vor kaum Details bekannt sind.

Was wären mögliche Auswirkungen der Entwürfe für Bäuerinnen und Bauern und die Bevölkerung der ländlichen Regionen?
Abilio Peña: Die Regel lautet, es gibt keine Einigung, bis eine Einigung in allen Punkten besteht. Die Verhandlungen haben bis jetzt überhaupt keine reale Auswirkung.
Man kann allerdings spekulieren. Zum Beispiel könnten soziale Organisationen unter einer speziellen Regelung zur Wahl antreten und Präsidentschaftskandidaten stellen – allein durch die Tatsache, dass sie aus einer Konfliktregion stammen.
Juan Pablo Soler: Genau, denn es gibt in den Entwürfen eine Art Anerkennung der sozialen Bewegungen als Akteure des Wandels. Also nimmt die Politik erstmals auch die friedlichen Gruppen als Akteure wahr, nicht nur die bewaffneten. Die Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten friedlich für ihre Rechte kämpfen, wurden bis dato stets unsichtbar gemacht – wenn nicht sogar verurteilt oder ermordet. Es wird aber immer notwendiger, die zivilen Akteure in die politischen Entscheidungen und den Friedensprozess miteinzubeziehen. Vielleicht eröffnen die Entwürfe neue Möglichkeiten, dies zu erreichen.

Kürzlich verkündete die Partei Patriotische Union (UP), die 1985 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der Kommunistischen Partei hervorging, ihren Wiederantritt bei den kommenden Wahlen. Was haltet ihr von dieser Entwicklung?
Abilio Peña: Das ist eine sehr gute Nachricht. Tausende UP-Mitglieder wurden Ende der 1980er Jahre ermordet. Dass die Partei auf die politische Bühne zurückkehrt, ist ein sehr positives Zeichen für die kolumbianische Demokratie. Die Präsidentschaftskandidatin Aída Abella lebte die letzten 16 Jahre im Exil in Genf. Dass sie nun zurückgekommen ist und die Botschaft einer Einheit der gesamten linken Parteien des Landes verkündete, erscheint uns sehr bedeutsam. Auch wenn der Schatten der Vergangenheit nach wie vor über der UP hängt.

Es gab nun mehrere Agrarproteste und -streiks in Kolumbien. Welche Auswirkungen haben diese auf die Friedensverhandlungen?
Abilio Peña: Ich glaube, dass die Agrarproteste sehr hilfreich sind. Auf diese Weise machen die Menschen ihre Bedürfnisse und Probleme öffentlich. Eigentlich wäre es Aufgabe des kolumbianischen Staates, sich von selbst um diese Themen zu kümmern. Aber er erfüllt seine Pflichten oft nur, wenn es Druck von außen gibt. So entstand nicht eine der Friedensverhandlungen, die bis dato geführt wurden, aus Eigeninitiative der Regierung.
Juan Pablo Soler: Die Agrarproteste haben ein sehr starkes Zeichen hinterlassen. Sie haben die Regierung daran erinnert, dass nicht alle Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, am Verhandlungstisch vertreten sind. Bis dato haben zum Beispiel soziale Gruppen mehr als 3.800 Vorschläge für die Verhandlungen eingebracht. Noch ist nicht deutlich, welche davon bei den Dialogen aufgegriffen wurden. Die Friedensverhandlungen sind der Beginn eines Prozesses, der noch lange nicht beendet ist. Denn der bewaffnete Konflikt wurde durch bestimmte Gründe ausgelöst und auf die große Mehrheit der Gründe wird bei den Verhandlungen überhaupt nicht eingegangen.

Was fehlt noch auf dem Verhandlungstisch?
Juan Pablo Soler: Das Wirtschaftsmodell, vor allem das Thema der Großprojekte. Es gibt bislang keinen gesetzlichen Rahmen für die Rechte der Betroffenen von Bergbau-, Erdöl- und Staudammprojekten. Bei Konflikten wird stets zu Gunsten der Großunternehmen entschieden, nicht zu Gunsten der Betroffenen. Außerdem müssen das Grundrecht auf zivilen Protest und damit verbundene Schutzgarantien in der Verfassung verankert werden.
Abilio Peña: Grundlegend ist außerdem, dass die Nationale Befreiungsarmee (ELN) sich mit an den Verhandlungstisch setzt. Sonst gibt es einen Frieden mit der einen Guerilla, aber die andere führt den bewaffneten Kampf fort.

Wie stellen Sie sich ein friedliches Kolumbien vor?
Abilio Peña: Ich glaube, dass wir uns zuerst daran gewöhnen müssen. Weil ich keinen einzigen Tag meines Lebens kenne, an dem Frieden in Kolumbien herrschte. Ich denke, vier kolumbianische Generationen wissen nicht, was Frieden ist. Wie wäre es?
Juan Pablo Soler: Ja, das ist eine schwierige Frage. Kolumbien ist ein multikulturelles Land und uns ist jetzt klar, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, wenn die Kultur und Lebensweise der Menschen nicht respektiert und bewahrt wird. Das gilt zum Beispiel für indigene Gruppen, afrokolumbianische Gemeinden oder auch Bauerngemeinden mit nicht-kapitalistischen Wirtschaftsmodellen. All diese Menschen haben verschiedene Ideen, Wirtschaftsweisen und Traditionen. Die Regierungen glaubten stets, ein einziges politisches Modell für das ganze Land finden zu können. Man muss aber auch alternative Möglichkeiten bedenken.

Infokasten:

Abilio Peña und Juan Pablo Soler
Abilio Peña ist bei der ökumenischen Organisation Justicia y Paz tätig, die in verschiedenen Regionen Kolumbiens Vertriebene bei der Rückkehr auf ihr Land begleitet und durch Beratung, Bildung und juristischen Beistand unterstützt.
Juan Pablo Soler arbeit bei CENSAT – Agua Viva (Friends of the Earth Kolumbien) zur Rolle von Bergbau für Landgrabbing sowie zu ökologischen und sozialen Konflikten, die aufgrund von Bergbauprojekten entstehen.

„Der Frieden ist nicht das Schweigen der Gewehre“

Ein Jahr nach Beginn der Friedensgespräche: Wie nah ist Kolumbien heute dem Frieden?
Die Einigung im zweiten Punkt der Agenda, der “politischen Beteiligung”, war ein wichtiger Schritt Richtung Frieden, für den wir lange verhandelt haben. Der Ausschluss der Menschen aus den politischen Entscheidungsprozessen in Kolumbien ist der Grund, warum dieser Krieg vor fünf Jahrzehnten begonnen hat. Den Kampf für eine Agrarreform mussten wir aufnehmen, weil uns die friedlichen Wege der politischen Teilhabe verschlossen wurden. Die Einigung hat gezeigt, dass die Regierung wirklich willens ist, den Konflikt zu beenden. Aber noch stehen vier Punkte auf der Verhandlungsagenda. Die Einigung in der Frage der ländlichen Entwicklung war partiell, weil die Regierung nicht über das Wirtschaftsmodell diskutieren will. Wir denken, dass diese Themen in einer verfassungsgebenden Versammlung gelöst werden müssen.

Die Regierung hat sich jedoch mehrfach gegen eine verfassungsgebende Versammlung ausgesprochen und will stattdessen die Bevölkerung in einem Referendum abstimmen lassen.
Dieses Thema müssen wir im sechsten Punkt der Agenda, der Abstimmung und Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen diskutieren. Die jetzigen Vereinbarungen in der Frage der Landverteilung und der politischen Teilhabe sind jeweils fast 20 Seiten lang. Wir denken, dass diese Themen zu komplex sind, als dass man sie einfach mit einem „Ja“ oder „Nein“ beantworten könnte. Eine Verfassungsversammlung wäre schlicht demokratischer.

Wie werden die FARC als politische Partei Kolumbien verändern?
Wir werden versuchen, Verteidiger der unteren Klassen zu sein. Wenn die materiellen Bedingungen der kolumbianischen Bevölkerung sich verbessern, und nicht nur die einer kleinen Gruppe, kann man mit dem Aufbau einer völlig anderen Gesellschaft beginnen, die auf Brüderlichkeit, Solidarität und wirtschaftlicher Gleichheit basiert. Kostenlose und hochwertige Bildung sind der Schlüssel für eine Gesellschaft mit qualifizierten Menschen, die kritisch, nachdenklich und in der Lage sind, Politik zu gestalten und an der Planung und Organisation der Gesellschaft mitzuwirken.

Wird es Fotos der FARC geben, wie sie ihre Waffen abgeben?
Wir haben immer gesagt, dass wir keine Angst vor diesem Thema haben. In der Vereinbarung zu den Friedensgesprächen ist der Punkt der Niederlegung der Waffen verankert und das hat auch seinen Sinn. Aber Niederlegung der Waffen ist nicht dasselbe wie deren Übergabe. Niederlegung bedeutet, die Waffen nicht mehr zu benutzen. Es gibt viele Möglichkeiten das umzusetzen. Nicht, dass wir dieses Modell vorschlagen, aber beispielsweise hat das “außer Gebrauch setzen” der Waffen der Irish Republican Army (IRA), also die Lagerung der Waffen an vereinbarten Orten, auch funktioniert. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die herrschende Klasse in Kolumbien linke Bewegungen wiederholt mit Versprechungen betrogen hat, wie zuletzt im Falle der Linkspartei Unión Patriótica. Wir als FARC wollen den Frieden, aber wir sind auch keine Dummköpfe.

Der FARC werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, unter anderem die Praxis der Entführungen. Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, diese Praxis erst 2012 zu beenden, war ein Fehler?
Ich denke, jeder Guerillero der FARC wäre einverstanden zu sagen, dass wir die Praxis der „geldgebenden Einbehaltung“ von Personen zu lange aufrecht erhalten haben. Deshalb haben wir sie auch im Februar 2012 eingestellt. Etwas anderes ist die Gefangennahme von Soldaten. Das sind Kriegsgefangene. Dennoch denke ich, dass die „geldgebenden Einbehaltungen“ in ihrem Moment notwendig waren. Der kolumbianische Staat fordert von seinen Bürgern auch Steuern ein, um den Krieg zu finanzieren. Also erheben wir auch Steuern auf Vermögen über eine Million Dollar.

Aber der Staat sperrt sie nicht jahrelang im Dschungel hinter Stacheldraht ein.
Naja, wenn man sich als Bürger weigert, seine Steuern zu bezahlen, dann landet man auch im Gefängnis. Also haben auch wir unsere Gefängnisse. Ich kann sagen, dass unsere Gefangenen immer respektvoll behandelt wurden. Sie haben immer dasselbe Essen bekommen, was nicht heißen soll, dass es keine schwierige Situation für diese Leute war, gegen ihren Willen im Dschungel eingesperrt zu sein.

Der nächste Punkt auf der Verhandlungsagenda ist der Drogenhandel. Was schlagen die FARC zur Lösung des Problems des Drogenhandels vor?
Das Thema des illegalen Anbaus muss als soziales Problem verstanden und behandelt werden und nicht als Problem der Bauern, die vom Kokaanbau leben, weil sie nicht wissen, wie sie sonst über die Runden kommen sollen. Wir haben uns immer für Substitutionsprogramme eingesetzt, aber diese müssen von Investitionen im Sozialbereich begleitet werden. Die Besprühung der Pflanzungen mit Glyphosat richten zudem große soziale und ökologische Schäden an. Doch die Verantwortung liegt auch bei den Konsumenten in den USA und Europa. Eine Legalisierung der Drogen wäre sicherlich nicht die schlechteste Idee, um zu verhindern, dass die Kriminellen dieser Welt solche enormen Gewinne damit machen.

Die FARC erheben nach eigenen Angaben Steuern auf Koka-Blätter oder Kokain, das in von ihnen kontrollierten Territorien angebaut bzw. produziert wird. Besteht nicht die Gefahr, dass im Falle einer Demobilisierung ein Machtvakuum entsteht und Kriminelle die Lücke besetzen?
Ihre Frage impliziert, dass die FARC Drogenhändler seien. Das stimmt nicht. Wir sind eine militärisch-politische Organisation die in einem Land existiert, dessen Strukturen komplett vom Drogenhandel durchsetzt sind. Deshalb hat sich die Auffassung durchgesetzt: Wenn die FARC die Waffen niederlegen, dann löst sich auch das Problem des Drogenhandels. Dem ist nicht so. Das Problem des Drogenhandels geht viel weiter darüber hinaus. Wir sind weder die Ursache des Drogenhandels noch diejenigen, die ihn kontrollieren oder vorantreiben.

Wie hoch ist die Gefahr einer Kriminalisierung einzelner Einheiten im Post-Konflikt-Prozess?
Wenn sich die FARC durch eines in ihrer Geschichte ausgezeichnet haben, dann ist es durch das Funktionieren ihrer Kommandostrukturen. Die Welt kann sich nicht vorstellen, wie oft die kolumbianischen Regierungen versucht haben, Keile zwischen uns zu treiben: Sie haben Spione eingeschleust, uns für besiegt erklärt und so weiter. Zum Beispiel hieß es zu Beginn der Friedensgespräche, der Bloque Sur (eine Subdivision der FARC, Anm. d. Red.) sei nicht mit den Friedensverhandlungen einverstanden. Die Kommandanten dieses Bloques mussten sogar eine Erklärung veröffentlichen, dass sie sehr wohl damit einverstanden sind. Allerdings ist diese Erklärung in den Medien kaum beachtet worden. So funktioniert´s. Die Medien sagen das eine, die FARC dementieren, aber im Kopf der Leute bleibt das zurück, was zuerst gesagt wurde.

Was ist, wenn die Verhandlungen scheitern?
Die große Mehrheit der Kolumbianer will einen Frieden mit sozialer Gerechtigkeit. Eine kleine Gruppe der extremen Rechten will ihn nicht, weil sie am Krieg mitverdient. Doch der Krieg kann nicht ewig weitergehen. Das haben schon Alfonso Cano und auch Timochenko gesagt. Aber nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist. Das ist eine Regel der Friedensverhandlungen. Wir müssen eine finale Einigung erzielen um die Teil-Vereinbarungen umzusetzen. Aber das wichtigste ist, dass wir als FARC die unbeirrbare Entscheidung getroffen haben, uns nicht vom Verhandlungstisch zu erheben, bis ein Frieden mit sozialer Gerechtigkeit erreicht ist.

Gegen Sie liegen in Kolumbien mehrere Haftbefehle vor. Würden Sie – um des Friedens Willen – für Ihre Verbrechen ins Gefängnis gehen?
Dieses Thema werden wir im dritten Punkt der Verhandlungen besprechen. Diese Diskussion wird bis jetzt sehr einseitig geführt. Wenn damit die Probleme der sozialen Ungleichheit in Kolumbien gelöst würden… Aber dem ist nicht so. Man kann nicht erwarten, dass die FARC sich angesichts der Manipulation in diesem Thema und der Korruption der Justiz in Kolumbien einer solchen Strafe unterwerfen. Zu allererst muss eine unabhängige Wahrheitskommission die wirklichen Geschehnisse untersuchen und die Verantwortung klären.

Spüren Sie den Druck der Regierungsseite, Ergebnisse präsentieren zu müssen?
Wenn beide Seiten wollten, könnten wir von uns aus nächste Woche den Friedensvertrag unterzeichnen. Wir haben fast 200 Vorschläge zu allen Themenbereichen vorgelegt. Wenn die Regierung wirklich wollte, könnten wir diese demokratischen Vorschläge umsetzen und unterzeichnen. Aber es sind nun mal zwei gegensätzliche Positionen und manchmal gibt es wirklich heftige Diskussionen. Aber das ist normal nach fast einem halben Jahrhundert des Konfliktes.

Hängt der Erfolg des Prozesses auch von der Wiederwahl von Präsident Santos ab?
Ich würde den Frieden nicht an einer Person festmachen. Das Wichtige ist, dass das kolumbianische Volk in einer Gesellschaft lebt, die sich durch Frieden mit sozialer Gerechtigkeit auszeichnet.

Wird es eine Einigung vor den Präsidentschaftswahlen im Mai geben?
Der Frieden lässt sich nicht innerhalb eines festgelegten Zeitraums machen. Das hat es in keinem Friedensprozess in der Geschichte gegeben. Damit es ein stabiler und dauerhafter Frieden ist, muss eine gewisse Zeit vergehen. Es muss eine Diskussion über die Ursachen des Konflikts stattfinden. Wenn es nicht zu den notwendigen Veränderungen in der kolumbianischen Gesellschaft kommt, um beispielsweise den Wohlstand der Bevölkerung sicherzustellen, wird die Situation sehr günstig dafür sein, dass neue Guerillas oder Bewegungen entstehen. Der Frieden ist nicht das Schweigen der Gewehre. Es muss ein wirklicher Frieden sein.

Verkleideter Staatsstreich

Bogotás linksgerichtete Bürgermeister haben eine kurze Halbwertszeit: Erst im Mai 2011 hatte die Oberstaatsanwaltschaft den damaligen Bürgermeister Samuel Moreno Rojas vom Amt suspendiert, da er die Rechte privater Firmen verletzt haben soll. Nun sieht sich Gustavo Petro, der 2011 mit 32 Prozent zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt worden war, mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert. Der ehemalige Guerillero der Bewegung des 19. April (M19) begann gleich zu Beginn seiner Amtszeit Anfang 2012 mit umfangreichen Umwelt- und Sozialreformen. Im Rahmen seines Programms „Menschliches Bogotá“ ließ er unter anderem die Stadt begrünen, Fahrradwege anlegen und die Müllentsorgung grundlegend reformieren. Petro beendete die Verträge mit den alten, privaten Müllabfuhrunternehmen, da diese, wie er der Tageszeitung El Espectador gegenüber äußerte, mit kartellähnlichen Methoden überhöhte Tarife abgerechnet und dadurch die Rechte der Bevölkerung verletzt hätten. Er vergab deren Konzessionen an die öffentliche Wasserversorgungsanstalt.
Genau dies wurde ihm nun zum Verhängnis: Er habe die Müllentsorgung bewusst einem Unternehmen überlassen, das über „keinerlei Erfahrung, Wissen und Leistungsfähigkeit“ verfüge. Damit habe er den „schlimmen Notstand, den die Stadt zwischen dem 18. und 20. Dezember 2012 erleiden musste“ verursacht, wie der erzkonservative Oberstaatsanwalt Alejandro Ordóñez in seinem Bericht schreibt. An jenen drei Tagen wurde der Müll nicht abgeholt, wodurch Petro die Gesundheit der Bewohner Bogotás und die Umwelt in Gefahr gebracht habe. Auch käme dies einer Verstaatlichung der Müllentsorgung gleich und verstoße somit gegen die kolumbianische Verfassung. Allerdings ist öffentlich noch nicht geklärt, ob jener Zeitraum überhaupt bereits in die Zuständigkeit der Wasserversorgungsanstalt fiel, wie Ordóñez behauptet.
Für den Oberstaatsanwalt sind Amtsenthebungen einerseits Routineangelegenheiten. In seiner ersten Amtszeit von 2009 bis 2012 hat er 828 Bürgermeister_innen abgesetzt. Andererseits hat es Ordóñez besonders auf linke Amtsträger_innen hat abgesehen. So enthob er die bekannte Oppositionspolitikerin Piedad Córdoba ihres Amtes als Senatorin und untersagte ihr, in den nächsten 18 Jahren ein öffentliches Amt zu bekleiden. Sie soll angeblich Verbindungen zu der Guerilla FARC gehabt haben.
Die jetzige Amtsenthebung Petros ist ebenfalls mit einer fünfzehnjährigen Sperre für politische Ämter verbunden. Die Entscheidung sorgte für große Empörung in der kolumbianischen Hauptstadt. Nach aktuellen Zahlen des Nachrichtenportals CMI sind mehr als zwei Drittel der Hauptstadtbewohner_innen gegen die Absetzung. Tausende protestierten tagelang friedlich im Zentrum der Stadt. Auch die Bürgermeister_innen mehrerer lateinamerikanischer Hauptstädte drückten in einer gemeinsamen Erklärung ihre Solidarität mit Gustavo Petro aus: „Wir betrachten [die Amtsenthebung und Sperre] als sehr ernst, da sie der Stadt Bogotá einen schweren Schlag versetzen und ihre Regierbarkeit aufs Spiel setzen“. Nichtregierungsorganisationen wie die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH) schlossen sich ebenfalls der Kritik an. Petro äußerte gegenüber BBC Mundo, dass es sich bei dem Vorgehen gegen ihn um einen „Staatsstreich“ handle, der den Willen des Volkes ignoriere. „Wir befinden uns am Beginn einer großen öffentlichen Bewegung im ganzen Land. Die Prozesse der letzten Monate, wie der große Agrarstreik, könnten für eine umfangreiche demokratische Transformation der kolumbianischen Institutionen sorgen“, sagte er im Interview und kündigte an, die Amtsenthebung mit allen Mitteln anzufechten.

Bauern bauen Barrikaden

Nairo Quintana hatte aufregende Wochen hinter sich. Der kolumbianische Radprofi, der als bester Jungprofi bei der diesjährigen Tour de France überraschend den zweiten Platz belegte und zudem eine schwere Bergetappe gewann, war Ende Juli ein gefeierter Held gewesen. Reporter_innenmassen belagerten die kleine Heimatstadt Quintanas in der zentralen Hochlandprovinz Boyacá und befragten Familienmitglieder und Freund_innen live nach ihren Emotionen, während der Radprofi stilecht mit Champagner in der Hand über die Pariser Champs Élysées fuhr.
Dabei wirkte Quintana, der aus einfachen Verhältnissen einer bäuerlichen Familie stammt, die vom Kartoffelanbau lebt, immer etwas erschrocken ob des Mediengetöses um ihn herum. Den großen Fernsehsendern war er über mehrere Tage die erste halbe Stunde der Nachrichtensendung wert, während es im Catatumbo, einer abgelegenen Region im Nordosten Kolumbiens, zu schweren Zusammenstößen von Bauern und Bäuerinnen mit der Polizei kam. Doch dieser regionale Protest, der sich vor allem gegen die wenig nachhaltigen Maßnahmen zur Vernichtung von Kokapflanzungen richtete, war nur der Vorbote. Einen Monat später begann ein großer landesweiter Agrarstreik: Reis-, Milch- und Kaffeebauern und -bäuerinnen blockierten wichtige Überlandstraßen, Minenarbeiter_innen, Angestellte des Gesundheitssektors und LKW-Fahrer_innen zogen nach. Und eben auch die Kartoffelbauern und -bäuerinnen aus Boyacá waren dabei und zeigten einen hohen Organisationsgrad. Genau in diesem Moment erschien auch Nairo Quintana, frisch in der Heimat gelandet, wieder auf der Mattscheibe. Diesmal allerdings aus eigenem Antrieb: „Es ist traurig einen Sack Kartoffeln bis zum Markt zu schleppen und damit nicht einmal das Geld für die Transportkosten herauszubekommen“, sagte er mit Verweis auf die Probleme seiner Familie, gewinnbringend zu wirtschaften. Zugleich kritisierte er das harte Eingreifen der polizeilichen Aufstandsbekämpfungseinheiten (ESMAD), die kompromisslos gegen die Protestierenden vorgingen, welche durch Straßenblockaden das halbe Land lahmlegten. Seinen Höhepunkt erreichte der Streik Ende August, nachdem sich auch Studierende und Gewerkschaften sowie Teile der urbanen Mittelschicht, insbesondere in Bogotá, mit den Bauern und Bäuerinnen solidarisiert hatten und rund 20.000 Menschen allein in der Hauptstadt ihren Protest auf die Straße trugen. Mit lautstarken cacerolazos forderten sie unter anderem dazu auf, vermehrt Agrarprodukte kolumbianischer Provenienz zu konsumieren und damit die kolumbianischen Bauern und Bäuerinnen zu unterstützen.
Wenngleich die Gründe für den Protest der einzelnen Sektoren sehr unterschiedlich sind, so lassen sie sich insbesondere im Agrarbereich auf den gemeinsamen Nenner einer jahrzehntelangen verfehlten Agrar- und Wirtschaftspolitik der jeweiligen Regierungen bringen. Der sukzessive Wegfall von Handelsbeschränkungen der letzten Jahre durch Freihandelsabkommen mit Ländern des Mercosur, der Andengemeinschaft und der Pazifikallianz, den USA, Kanada und Ländern Mittelamerikas hat dazu geführt, dass traditionelle Lebensmittel wie Bohnen, Hafer, Kartoffeln, Zwiebeln und Milch teilweise importiert werden. Selbst den Kaffee, den die Kolumbianer_innen trinken, stammt meist nicht aus nationalem Anbau sondern teilweise sogar aus Vietnam. Ernährungssouveränität sieht anders aus, denn zugleich liegen die Produktionskosten innerhalb Kolumbiens auf hohem Niveau. So war eine der zentralen Forderungen der Bauern und Bäuerinnen während der Anfang September abgeschlossenen Verhandlungen mit der Regierung, der Staat möge stärker regulierend eingreifen, beispielsweise dadurch, mehr finanzielle Unterstützung bereitzustellen, eine Deckelung der Preise für Düngemittel festzulegen sowie, entgegen der Vereinbarungen in den Handelsabkommen, eine Einfuhrbeschränkung für landwirtschaftliche Produkte aus dem Ausland einzuführen. Vizepräsident Argelino Garzón versprach im Rahmen des nun nach wochenlangen Verhandlungen vereinbarten Nationalen Agrarpaktes, für die Umsetzung bis 2014 Finanzmittel von umgerechnet rund 50 Millionen Euro bereitzustellen. Zudem soll eine umstrittene Resolution zur Verwendung von Saatgut eingefroren werden. Der 2010 gefasste Beschluss Nummer 970 sieht vor, den Einsatz traditionellen nativen Saatgutes, wie im Reis- oder Baumwollbereich, stark einzuschränken. Wie Recherchen von Journalist_innen ergeben haben, werden durch das Kolumbianische Landwirtschaftsinstitut seit Jahren tonnenweise Lebensmittel zerstört, die mit traditionellem Saatgut gezüchtet worden sind. Die Behörde wies diese Vorwürfe zurück und verweist auf hygienische Mängel als Grund für die Maßnahmen. Unbestreitbar ist jedoch, dass im Vorfeld des nun sukzessive inkrafttretenden Freihandelsabkommens mit den USA zunehmend genmanipuliertes Saatgut auch nach Kolumbien drängt und der Einsatz bestimmter Sorten strenger Reglementierung unterworfen ist, was wiederum für Unmut bei vielen Produzent_innen sorgt.
Während der Agrarstreik nun auch Teile der Mittelschicht für das Thema sensibilisierte, Prominente wie Nairo Quintana oder der Popsänger Carlos Vives sich solidarisierten, Expert_innen den Bauern und Bäuerinnen recht gaben und die Medien das Thema aufgriffen und diskutierten, zeigte Präsident Juan Manuel Santos eine äußerst mangelhafte Leistung. Als bereits das halbe Land stillstand und in Bogotá die cacerolazos unüberhörbar waren, sagte der Staatschef im Rahmen einer Ansprache, es existiere kein nationaler Agrarstreik. Eine Äußerung, die er später als Fehler bezeichnen musste, kurz nachdem des Volkes Zuneigung für ihn in einer zeitnahen Umfrage auf den historischen Tiefstand von 21 Prozent gerauscht war.
Umso tatkräftiger zeigte sich Santos in den Tagen darauf: Eiligst tauschte er Direktor_innen mehrerer Institutionen des Agrarsektors aus, Tage später präsentierte er sein „Kabinett für den Frieden“; eine weitreichende Kabinettsumbildung, bei der unter anderem die erst vor wenigen Monaten ernannten Agrar- und Innenminister ihren Hut nehmen mussten. Hinsichtlich der 2014 angestrebten Wiederwahl stellt die Besetzung dabei bereits großteils das Schattenkabinett dar. Trotzdem startet der Präsident stark angeschlagen in die entscheidende letzte Phase seiner Amtszeit und den allmählich beginnenden Wahlkampf vor den Kongress- und Präsidentschaftswahlen im März beziehungsweise Mai nächsten Jahres. Denn auch die Friedensverhandlungen mit den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) scheinen nur mühsam voranzukommen, in einigen zentralen Punkten können sich die Verhandlungsparteien offenbar nicht annähern. Ein zentraler Streitpunkt stellt beispielsweise immer noch die Frage dar, wie eine mögliche Einigung ratifiziert und umgesetzt werden soll. Die FARC fordern eine verfassunggebende Versammlung. Die Regierung will, so enthüllte FARC-Chef Timochenko kürzlich, via Referendum den Präsidenten mit der Vollmacht ausstatten, einen Mini-Kongress ins Leben zu rufen. Diesem sollen neben Vertreter_innen der Kongressparteien auch FARC-Mitglieder angehören und die in den Verhandlungen vereinbarten Maßnahmen dann in Gesetze gießen.

Zweifelhafter Verhandlungserfolg

Es war die Nachricht des Tages in Kolumbien. Die Verhandlungsdelegationen konnten sich sicher sein, an einem Sonntagvormittag die mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, die der erste greifbare Fortschritt der seit November andauernden Friedensgespräche verdient zu haben schien.
„Historisch” sei diese Einigung, jubelte nicht nur die Presse sondern auch zahlreiche Politiker_innen aller Couleur. Die internationale Staatengemeinschaft, von den lateinamerikanischen Nachbarn bis zu den USA, nahm die Botschaft nach eigenem Bekunden mit Wohlwollen bis Freude auf. Grund dazu gibt es formal allemal: Wenn sich die einst als Bauernguerilla gegründete und sich bis heute in ihrem Selbstverständnis noch immer als Verfechter der Interessen der kolumbianischen Bäuerinnen und Bauern gerierende FARC und eine kolumbianische Regierung nach 50 Jahren Krieg, wenn auch nur auf dem Papier, auf eine Agrarreform einigen, dann ist das nicht unbedeutend.
Entsprechend vollmundig und selbstbewusst verlautbarten dann auch die Verhandlungsparteien, man habe mit der Einigung den „Beginn einer radikalen Umwälzung der ländlichen und landwirtschaftlichen Realität Kolumbiens hin zu Gleichheit und Demokratie” eingeleitet.
Mit den Präzisierungen, über was genau man sich geeinigt hatte, enttäuschten beide Seiten allerdings: In einem gemeinsamen Kommuniqué erklärten FARC und Regierung die erreichten Ergebnisse. Man habe sich über den Nutzen und Zugang zu Land verständigt, wolle Eigentumsrechte formalisieren und die kleinbäuerlichen Schutzzonen ausweiten.
Über einen staatlichen Landfonds, in den, so der Plan, öffentliches Brachland und illegal angeeignete und von den Behörden zurückgewonnene Flächen einfließen werden, sollen zudem Ländereien an Kleinbäuerinnen und -bauern verteilt werden. Darüber hinaus soll es Entwicklungsprogramme geben, die Infrastruktur in ländlichen Regionen soll verbessert und die soziale Situation der Kleinbäuerinnen und -bauern durch Investitionen in Bildung, Wohnraum und Gesundheit sowie der Ausbau der solidarischen und kooperativen Wirtschaft vorangetrieben werden.
Konkreter wurde das Kommuniqué nicht. Wer die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und FARC in den letzten Monaten aufmerksam verfolgt hatte, der hat mit der Verkündung einer Einigung inhaltlich wenig Überraschendes erfahren und wenige Antworten auf drängende Fragen erhalten: Was geschieht beispielsweise mit dem Großgrundbesitz? Wie soll die ungleiche Landverteilung beziehungsweise die Nutzung eines Großteils der Ländereien für die unproduktive und oftmals inadäquate Viehwirtschaft bekämpft werden? Inwieweit wird Landbesitz ausländischer Investoren begrenzt?
Humberto de la Calle, Verhandlungsführer der Regierung beeilte sich jedenfalls zu betonen, dass alle Maßnahmen unter vollständigem Respekt des Privateigentums und des Rechtsstaates durchgeführt würden. „Die legalen Besitzer haben nichts zu befürchten,” sagte er. Ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Großgrundbesitzer_innenelite, die die Friedensverhandlungen mit der Guerilla sehr kritisch sieht.
Wie Vertreter_innen der FARC auf einer Universitätskonferenz im südkolumbianischen Neiva am Mittwoch sagten, bestehe zu eben diesen Punkten noch Uneinigkeit mit der Regierung. Diese müssten daher bis zum Abschluss der Gespräche noch geklärt werden.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Regierungsseite möglicherweise auf die Verkündigung einer Einigung gedrängt hatte, die Einigkeit aber tatsächlich nur partiell besteht. Nachdem sechs lange Monate kaum wahrnehmbare Fortschritte mitgeteilt worden waren und das Murren der Kritiker _innen bereits lauter geworden war, musste Präsident Santos schnellstmöglich Ergebnisse vorweisen. Je länger die Verhandlungen insgesamt dauern, um so skeptischer wird die kolumbianische Öffentlichkeit und finden die Gegner_innen des Friedensprozesses Zuspruch.
Generell bleibt der Eindruck bestehen, dass beide Seiten die Tragweite eines Friedensschlusses überschätzen beziehungsweise für ihre Zwecke nutzen. Die FARC sind bemüht zu vermitteln, dass sie in Havanna die Interessen und Forderungen aller sozial und wirtschaftlich benachteiligter Kolumbianer_innen vertreten und dabei sind, den kolumbianischen Staat dazu zu bringen, endlich für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Dass dem nicht so ist, liegt angesichts der Ablehnung und Vorbehalte zahlreicher linker Organisationen gegenüber der FARC und dem Friedensprozess auf der Hand.
Die Regierung Santos wiederum scheint die Friedensverhandlungen und eine daraus hervorgehende „neue“ Agrarpolitik für eine Modernisierung des Staates nutzen zu wollen, das heißt bürokratische Defizite im Agrarbereich zu beheben und die fehlende Staatlichkeit durch stärkere Bürokratisierung und Institutionalisierung sowie Wohlfahrts- und Infrastrukturmaßnahmen bis in die letzten Winkel des Landes durchsetzen zu wollen. Die in Havanna beschlossene Formalisierung von kleinbäuerlichem Landbesitz (eine historische Forderung der FARC, die aus den die „Agrargrenze“ überschreitenden Kolonist_innen entstand und bei denen sie bis heute ihren stärksten ideologischen Rückhalt hat) und die Schaffung eines Landfonds sind mit anderen Maßnahmen der Regierung politisch kongruent.
Die zuständigen Behörden sind dabei, das staatliche Brachland zu erfassen und das Kataster zu aktualisieren. Zudem meldet das dem Landwirtschaftsministerium unterstellte Institut zur ländlichen Entwicklung regelmäßig die erfolgreiche Wiedergewinnung illegal angeeigneter Ländereien. Jedoch ist fraglich, ob dies in der Konsequenz zur Stärkung kleinbäuerlicher Produktionsstrukturen führt oder vielmehr zu einer Erschließung dieser Regionen für die Ausbeutung der vorhandenen Ressourcen oder die Etablierung großindustrieller Agrarprojekte.
Der Beitritt Kolumbiens zur OECD vor einigen Tagen lässt daran ebenso zweifeln wie die Tatsache, dass die Regierung Santos derzeit versucht, den großflächigen Besitz von staatlichem Brachland durch Großunternehmen mit einer Gesetzesreform neu zu regeln. Nach derzeitiger Rechtslage darf der Staat Brachland lediglich in kleinen Einheiten und nur Einzelpersonen zusprechen.

Für die vollständige Übersetzung der Kommuniqués der FARC und der Regierung ins Deutsche siehe: http://amerika21.de/blog/2013/05/83052/kommunique-farc-regierung

Mine frisst Dorf und Land

Die Kohleproduktion in Kolumbien liegt komplett in den Händen von multinationalen Konzernen. So gehört Cerrejón, der mit 69.000 Hektar größte Tagebau Lateinamerikas, den Firmen Xtrata, BHP Billington und Anglo American. Aus Cesar exportieren hauptsächlich Drummond und Glencore. Der Rohstoff landet schließlich zum großen Teil bei den Energieversorgern RWE, E.ON, EnBW, STEAG und Vattenfall. Auf Einladung von FIAN (Food First Informations- und Aktions-Netzwerk) und Urgewald berichteten Óscar Guariyú und Petra Langheinrich in Deutschland über die hohen Kosten der deutschen Energie für Menschen und Umwelt in Kolumbien. Guariyú ist der Präsident von AACIWASUG, der Vereinigung der indigenen Wayúu-Räte aus dem Süden von Guajira, und Langheinrich arbeitet für das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo CAJAR.
Eines der gravierenden Probleme des Tagebaus Cerrejón in La Guajira ist die „unheimlich hohe Staubbelastung“ durch die täglichen Sprengungen, erklärt Langheinrich. Laut Guariyú seien allein im benachbarten indigenen Schutzgebiet Provincial zwischen 2000 und 2010 zehn Menschen wegen des Kohlestaubs an Erkrankungen der Atemwege gestorben. Hinzu kommt nach 30 Jahren Existenz von El Cerrejón die Zerstörung der Lebensgrundlage der Bevölkerung in dieser Region. „Vor der Ankunft des multinationalen Unternehmens haben wir gut gelebt“, berichtet Guariyú. „Wir lebten von der Fischerei, wir züchteten Tiere, jagten und betrieben Nahrungsmittelanbau. Wir mussten keine Not leiden“. Aber die Mine hat rund 60.000 Menschen vertrieben, ihre Abfälle haben das knappe Wasser der Wüste verschmutzt und ihr Staub hat Pflanzen ausgerottet. 64 Prozent der Provinzbevölkerung leben heute in Armut.
Die Mine hat Dörfer „gefressen“. Ganze Ortschaften sind unter den Baggern verschwunden, während ihre Einwohner gewaltsam vertrieben wurden. Die Erweiterungsprojekte brachten das Fass zum Überlaufen. Die Umleitung des Flusses Ranchería auf einer Länge von 25 Kilometern, um die darunter liegende Kohle abzubauen, rief die Bevölkerung von La Guajira auf den Plan. Den illegalen Versuchen der Firma, die Zustimmung der Wayúus mit Geschenken zu erkaufen, traten die Indigenen mit dem selbstorganisierten AACIWASUG entgegen. „Wir sind jetzt alle vereint und entschlossen, die Umleitung des Flusses bis zur letzten Konsequenz zu verhindern“, versichert Guariyú. Cerrejón hat zwar das Projekt eingestellt, aber „es geht ja um den Abbau von 500 Millionen Tonnen Kohle; die Firma wird dies mit Sicherheit nicht aus den Augen verlieren“, fügt der indigene Anführer hinzu.
Gerade das sei der Grund, vermutet Gurariyú, weshalb im letzten Monat die Militarisierung um Provincial herum zugenommen hat. Das Unternehmen und das Militär beschuldigen die Gemeinde, Kämpfer_innen der FARC-Guerilla bei sich zu beherbergen. „Aus den Hubschraubern leuchten sie uns in der Nacht mit leistungsstarken Lampen an. Sie bewachen uns ständig. Auch tagsüber. So will das Unternehmen Druck auf uns ausüben“, klagt der Präsident von AACIWASUG. Er befürchtet, die Einschüchterungsversuche könnten sich noch verschlimmern. „Sie wollen, dass wir wegziehen. Aber das werden wir nicht tun“.
Die Sorgen der Gemeinde Provincial sind nicht unbegründet. Menschen und Organisationen, die den Bergbauunternehmen in die Quere kommen, werden oft von Paramilitärs angegriffen. Nach einem Streik der Gewerkschaft von Cerrejón Sintracarbón wurde Anfang April ein Attentat auf eines ihrer Mitglieder verübt und im Monat davor wurde neben dem Gebäude der Gewerkschaft der Drummond Sintramienergética in der Provinz Cesar eine Bombe gelegt, so Langheinrich. Zeitgleich erklärten die Paramilitärs „Los Rastrojos“, dass das Anwaltskollektiv CAJAR sowie beide Steinkohlegewerkschaften neben einer langen Reihe von Aktivist_innen und sozialen Organisationen nun militärische Ziele seien. Sie würden „an irgendeinem Ort Kolumbiens sterben“, kündigt das Komuniquée der rechten Gruppe an. Dass solche Drohungen gerade bei Arbeiter_innen der Drummond nicht einfach ignoriert werden können, zeigt der Mord an den Gewerkschaftern der Sintramienergética Valmore Locarno, Victor Hugo Orcasita und Gustavo Soler im Jahr 2001.
Laut Langheinrich hat die Untätigkeit der kolumbianischen Regierung gegenüber den Konzernen mit dem als „Drehtür“ bezeichneten Phänomen zu tun. „Die Politiker wechseln als Führungskräfte zu den Multis und auch umgekehrt“. Beim Bergbausektor erfolge das systematisch. Solche Wechsel seien auch im internationalen Bereich zu beobachten. Zum Beispiel gehört die Ex-Direktorin der Abteilung für „soziale Standards“ von Cerrejón ironischerweise zur UNO-Arbeitsgruppe für „Menschenrechte und internationale Unternehmen.“
Aber auch die deutsche Politik schaut nur zu, obwohl Kolumbien nach dem Stand von 2011 der größte Kohlelieferant Deutschlands geworden ist. Trotz der „Energiewende wollen Bundesregierung und Energieversorger in den kommenden Jahren die Energieerzeugung durch Steinkohle massiv ausbauen“, bemerken die Nichtregierungsorganisationen (NRO) FIAN und Urgewald in ihrem Dossier Bitter Coal. Deshalb ist ein Schreiben von RWE vom Februar nicht verwunderlich, in dem die Firma äußert, sie „sehe derzeit keinen Grund, die Vertragsbeziehungen mit Drummond auszusetzen“. Dabei kontrollieren die Kommunen an Rhein und Ruhr circa ein Viertel der RWE-Anteile, so die Recherchen der NRO. Kurz vor der erwähnten Mitteilung hatte ein kolumbianisches Gericht einen Subunternehmer der Drummond zu 38 Jahre Freiheitsentzug verurteilt und Ermittlungen gegen Führungskräfte der Firma, einschließlich dem CEO (geschäftsführende Vorstandsmitglied) Gary Drummond, angeordnet.
Laut jüngsten Bekundungen von RWE soll die Firma die vertraglichen Beziehungen zu Drummond zunächst bis Ende April eingestellt haben, bis die Rechtslage der Drummond klarer wird. Die Situation der Wayúus hingegen scheint kein Grund für eine mögliche Beendigung des Vertrags mit Cerrejón zu sein. Das ist der Eindruck von Langheinrich, nachdem sie und Guariyú der Aktionärsversammlung des Stromproduzenten beigewohnt haben. Doch auch E.ON, EnBW, Vattenfall oder STEAG weichen in der Praxis der sozialen Verantwortung aus, über die sie in ihren Firmenpräsentationen gerne reden. „Generell spricht man hier in Deutschland viel über grüne und ökologische Produkte, aber wenn es um die Vertreibung von Indigenen oder gravierende Umweltschäden weit weg geht, dann wird weggeschaut“, klagt Lang­heinrich. „Und das nur, damit hier in einem Industrieland alles perfekt am Laufen bleibt.“

Großunternehmen statt kleinbäuerlicher Betriebe

Bislang war die Altillanura, eine Tiefebene im Osten Kolumbiens, eine relativ verschlafene Ecke des Landes. Doch immer mehr Agrarinvestor_innen zieht es in die Region, was zu einem regelrechten Boom der Altillanura geführt hat:. Sie verfügt nicht nur über Erdölvorkommen, sondern auch über wertvolles Ackerland. Nahezu 70.000 km² Fläche (etwa die Größe Bayerns) stehen hier für die Landwirtschaft zur Verfügung. Und da das Land nicht bewaldet ist, muss man es nicht roden, freuen sich die Investor_innen.
Die kolumbianische Regierung hat es sich zum Ziel gemacht, die Tiefebene wirtschaftlich zu erschließen und so das nationale Wachstum anzukurbeln. Bereits im Dezember 2011 fand in Puerto Gaitan, einer Kleinstadt im Zentrum der Altillanura das „Forum für die Entwicklung der Altillanura“ statt. Staatspräsident Juan Manuel Santos nahm persönlich daran teil. Nicht nur der Lärm des Präsidentenhelikopters riss das Städtchen aus seinem Tiefschlaf, die ganze Regierungspolitik Kolumbiens ist darauf ausgerichtet, dass die Altillanura nicht so bleibt, wie sie ist.
Die wirtschaftliche Förderung durch die kolumbianische Regierung verdeutlicht auf anschauliche Weise wie umfassend die staatliche Unterstützung der Agrarindustrie in Kolumbien ist. Carlos Alberto Suescún, Wirtschaftswissenschaftler der Universidad Nacional de Colombia sowie Berater der oppositionellen Partei Pólo Democrático, sagt hierzu: „Für mich ist das ‚Business-Diplomatie‘. Die persönliche Teilnahme des Präsidenten an internationalen Konferenzen, auf welchen die Investition im Land gefördert werden, zeigt, wie stark die Politik der Regierung auf die Agrarindustrie ausgerichtet ist.“
Seit Langem gilt der kolumbianischen Regierung die brasilianische Cerrado-Region als Vorbild. Diese wird mittlerweile als Motor der brasilianischen Agrarindustrie bezeichnet. Beide Regionen, Altillanura und Cerrado, sind Savannenlandschaften mit ähnlichen Ausgangsbedingungen: Ihre Böden waren ursprünglich arm an Nährstoffen und somit ungeeignet zur landwirtschaftlichen Bestellung. Durch massive staatliche Förderung und durch technologische Entwicklungen des brasilianischen Agrarforschungsinstitut EMBRAPA ist es gelungen, der Cerrado-Region wirtschaftlichen Wert zu verleihen. Inzwischen ist die typische Feuchtsavanne des Cerrados nahezu völlig verschwunden und riesigen Soja-, Baumwoll- und Maisfeldern gewichen.
Diese Entwicklung würde Kolumbien gerne nachahmen. Hierbei nimmt die Regierung negative Folgen wie Vertreibung, Mord an Indigenen und Umweltzerstörung wie sie im Cerrado aufgetreten sind, in Kauf. Die landwirtschaftliche Nutzfläche Kolumbiens hat im Verlauf des bewaffneten Konfliktes und der damit verbundenen Vertreibung stark abgenommen. Die Aussicht, die derzeitige landwirtschaftliche Nutzfläche um vier Millionen Hektar auszudehnen und somit zu verdoppeln, hat die kolumbianische Regierung daher veranlasst eine Kooperation mit EMBRAPA einzugehen.
Dieses Regierungsvorhaben geht mit einer nationalen Agrar- und Landpolitik einher, welche nationalen und internationalen Investoren positiv gegenüber steht und die Gefahr einer zunehmenden Konzentration von Landbesitz in Kauf nimmt. Der Nationale Entwicklungsplan (2010 bis 2014) mit dem Titel „Wohlstand für alle“ bringt klar zum Ausdruck: Das übergeordnete Ziel des wirtschaftlichen Wachstums soll durch fünf so genannte „Lokomotiven“ erreicht werden (siehe LN 439). Neben Bergbau, Wohnungsbau, Infrastruktur und Innovation stellt die Landwirtschaft eine dieser „Lokomotiven“ dar. Damit die kolumbianische Landwirtschaft ihr Wachstumspotential vollständig entfalten kann, soll dem Entwicklungsplan nach ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Die Regierung spricht selber von der „Kapitalisierung des ländlichen Sektors“.
„Diese so genannte ‚Unternehmisierung‘ des ländlichen Raumes bekräftigt, dass das Land an den produktiven Sektor übergeben werden soll, da die kleinbäuerliche Wirtschaft keinen Profit erwirtschaftet. Das Finanzkapital ist daher der zentrale Akteur im Agrarbusiness“, sagt Paula Álvarez von der kolumbianischen NRO Grupo Semillas. Seit der Präsidentschaft Álvaro Uribes (2002 bis 2010) beobachtet sie mit Besorgnis die zunehmende agrarindustrielle Ausrichtung der Regierung bei gleichzeitiger Schwächung des Kleinbauerntums. Dabei leisten gerade die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe den wesentlichen Beitrag zur Ernährungssouveränität und produzieren bis heute den Großteil der in Kolumbien konsumierten Lebensmittel.
„Die Auffassung, dass man mit der Entwicklung des ländlichen Raumes wie mit einem Unternehmen umgehen muss, können wir an den umfassenden Anreizen für agrarindustrielle Projekte wie zum Beispiel der Zollderegulierung erkennen“, beschreibt Paula Álvarez die aktuelle Situation weiter und fügt hinzu: „Die industrielle Landwirtschaft wird auf diese Weise immer mehr zur einzigen Produktionsweise auf dem Land, was zur Auflösung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft führt.“
Hierzu wird auch das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union beitragen, das bereits im Juni 2013 in Kraft treten könnte. Es sieht unter anderem vor, die Einfuhrzölle auf 90 Prozent aller landwirtschaftlichen Produkte aus der EU abzuschaffen. Vor allem die Milchbäuerinnen und -bauern werden hiervon betroffen sein, das Abkommen ermöglicht nämlich die zollfreie Einfuhr von 60 Millionen Litern Milch, zum Beispiel in Form von Milchpulver. Kolumbianische Kleinbäuerinnen und -bauern, die zumeist nur eine Handvoll Kühe besitzen, werden mit der subventionierten Milch aus Europa nicht konkurrieren können.
Um die Wettbewerbsfähigkeit der kolumbianischen Kleinbäuerinnen und -bauern zu verbessern, will die Regierung in Bogotá, dass sie mit großen Unternehmen kooperieren. Die Kleinproduzent_innen sollen sich in „Produktiven Allianzen“ den großen agrarindustriellen Unternehmen anschließen: „In diesen Allianzen sind es die Kleinbauern, die ihr Land und ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Die großen Unternehmer sichern sich so ein permanentes Angebot an Rohstoffen, ohne dabei ein Arbeitsverhältnis mit den Kleinbauern einzugehen“, erklärt Paula Álvarez. Für die Kleinbäuerinnen und -bauern bedeutet dies, dass sie ihre Unabhängigkeit verlieren: „Die Unternehmen sind es, die den gesamten Prozess der Produktion, Verarbeitung und der Vermarktung kontrollieren.“ Zwar sollen die Kleinbäuerinnen und -bauern einen Teil des erwirtschafteten Einkommens erhalten, doch bekommen sie keinerlei soziale Absicherung von Seiten der Großunternehmer_innen. Durch die direkte Abhängigkeit vom Weltmarkt sind Erstere dann oftmals schlechter gestellt als zuvor.
So besteht weiter die Gefahr, dass die kleinen Produzent_innen ihr Land verlieren: „Die Regierung fördert die Flexibilisierung des Bodenmarktes, so dass der Boden für die produktivsten Aktivitäten von den effizientesten Nutzern genutzt werden kann“, erklärt Paula Álvarez. Wenn die Kleinbäuerinnen und -bauern sich auf dem Markt nicht durchsetzen, müssen sie ihr Land aufgeben und in die Städte abwandern. Diese Problematik hat wiederum das Potential den bewaffneten Konflikt zwischen Guerrilla, Paramilitärs und Armee anzuheizen.
Präsident Santos hat zumindest die Existenz des Konflikts anerkannt, während frühere Präsidenten einfach geleugnet haben, dass es ihn gibt. Vordergründig scheint er sich auch mit den Folgen und Bedingungen des Konflikts zu beschäftigen. Im Jahr 2011 hat seine Regierung ein Opfer- und Landrückgabegesetz vorgelegt (siehe LN 454). Obgleich dies zunächst als historischer Schritt betrachtet wurde, zeigen sich die negativen Folgen immer mehr. Es wird deutlich, dass hiervon insbesondere die Agrarindustrie auf Kosten der Kleinproduzentinnen und -produzenten profitiert: Um Investoren anzuziehen, bedarf es einer gewissen Rechtssicherheit hinsichtlich des Besitzes von Land. Durch die millionenfache Vertreibung der Landbevölkerung im Zuge des bewaffneten Konfliktes wurden rund sechseineinhalb Millionen Hektar Land aufgegeben. Wenn auch das Opfergesetz dafür sorgen wird, dass ein Teil davon an die Opfer zurückgegeben wird, wird angenommen, dass dies nur ökonomisch weniger rentables Land betreffen wird. Angesichts der vielerorts angespannten Sicherheitssituation werden viele Familien außerdem nicht bereit sein, zu ihrem Besitz zurückzukehren. So hat sich in der Zwischenzeit eine paramilitärische Gruppe gegründet, die für die Ermordung einer Reihe von Führungspersonen auf Seiten der Landrückgabe-Befürworter_innen verantwortlich gemacht wird.
Klarer Nutznießer des Opfer- und Landrückgabegesetzes wird also die Agrarindustrie sein: Einerseits wird die Formalisierung von Landbesitz durch die Festschreibung von Landtiteln zur Ankurbelung des Bodenmarktes führen. Andererseits schützt das Opfergesetz agrarindustrielle Projekte auf „geraubtem“ Land. Die_der aktuelle Besitzer_in kann nur enteignet werden, wenn nachgewiesen wird, dass er_sie selbst in die gewaltsame Landaneignung involviert war.
Dennoch hat die agrarindustrielle Politik der Regierung im August 2012 einen Rückschlag erlitten, als das Verfassungsgericht einige Artikel des Entwicklungsplans für verfassungswidrig erklärt hat. Im Sinne einer sozialen Land-Umverteilung erlaubt es die Verfassung nicht, Staatsland an landwirtschaftliche Großunternehmen zu verkaufen. Da die Altillanura-Region größtenteils staatliches Land ist, ist das Projekt der agrarindustriellen Entwicklung der Altillanura ins Stocken geraten. Die Regierung ist dennoch entschlossen, dieses Projekt zu realisieren und entwickelt derzeit einen Plan B. So wird Puerto Gaitan als Zentrum der Altillanura wohl auch weiterhin an einigen Tagen im Jahr aus seinem Tiefschlaf gerissen werden. Ob ein nachhaltiger sozialer Frieden im Land auf Grundlage eines extraktivistischen Wirtschafts- und Agrarmodells möglich ist, scheint ungeachtet des Ausgangs der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der FARC dagegen eher fragwürdig.

Kleine Schritte in Havanna

Das Datum des „Marsches für den Frieden” war bewusst gewählt: Am 9. April wird in Kolumbien jenes Tages im Jahr 1948 gedacht, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der liberale Caudillo und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat, im Zentrum Bogotás erschossen wurde. Der daraufhin ausbrechende Aufstand in der Hauptstadt, der Bogotazo, mündete in den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Aufgrund seiner Grausamkeit sollte dieser schlicht als La Violencia in die Geschichtsbücher eingehen.
65 Jahre später schoben sich mehr als eine Million Menschen durch die Straßen Bogotas, um ihre Unterstützung für die Friedensverhandlungen zu zeigen. Dies war das Ergebnis einer politischen Dynamik, an deren Beginn der Aufruf der linken Sammelbewegung Patriotischer Marsch gestanden hatte. Doch schnell hatten auch andere Teile der Gesellschaft und das politische Establishment erkannt, dass man der Marcha Patriótica, ihr nahestehenden Organisationen und damit in gewisser Weise auch der FARC bei der Massenmobilisierung für den Frieden nicht das Feld überlassen konnte. So riefen nicht nur die vom ehemaligen Mitglied der Guerillabewegung M19 Gustavo Petro geführte Stadtverwaltung Bogotás, die katholische Kirche und Unternehmen zur Teilnahme auf, sondern auch die Regierung von Präsident Santos selbst.
Begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit ging es der Regierung wohl vor allem darum, sich von den Massen ihren politischen Kurs noch einmal bestätigen zu lassen. Man wolle die Verhandlungen in Kuba gegen „die Feinde des Friedens” schützen, hatte Santos am Abend zuvor in einer Fernsehansprache gesagt und meinte damit vor allem das rechte Lager um Ex-Präsident Álvaro Uribe. „Dieser versuche“, so Santos, „die Stimmung in der Bevölkerung zu vergiften und den Friedensprozess zu sabotieren.”
Seit die Delegationen von Regierung und Guerilla in Havanna zusammensitzen und verhandeln, vergeht kaum ein Tag, an dem Uribe nicht gegen die Regierungspolitik und ihre Entscheidung für den Friedensprozess wettert. Uribe, der allmählich seine Bewegung Demokratisches Zentrum für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2014 zu positionieren scheint, findet mit seinem Diskurs vor allem bei den Regionaleliten, aber auch bei Militär und Polizei Gehör. Diese stehen zwar offiziell hinter den Friedensverhandlungen, politisch aber tendieren sie eher zur Kriegsrhetorik des umstrittenen Ex-Präsidenten als zur Politik Santos‘. Auch deshalb dürfte die Regierung zweigleisig fahren: Während sie mit der FARC über den Frieden verhandelt, gehen die Kämpfe zwischen Militär und Guerilla weiter. Einen beidseitigen Waffenstillstand, wie die FARC und zivilgesellschaftliche Organisationen ihn gefordert haben, lehnt Santos ab.
Seit November, dem Beginn der Gespräche, geht es im Konferenzzentrum in Havanna bis heute, Anfang Mai, um den ersten der insgesamt sechs Verhandlungspunkte auf der zuvor vereinbarten Agenda: die integrale ländliche Entwicklung.
Ein schwieriges Thema, denn die ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist ein seit Jahrzehnten ungelöstes soziales Problem. Dementsprechend umfangreich sind die Forderungen der FARC, die eine Neuausrichtung der Agrarpolitik fordern, um Armut und Gewalt im ländlichen Kolumbien entgegenzuwirken. Insgesamt präsentierte die Guerilla in den letzten Monaten ganze 100 Vorschläge für eine neue Agrarpolitik. Zu einem großen Teil berief sie sich dabei nach eigenen Angaben auf jene Vorschläge, die Organisationen und Einzelpersonen im Rahmen mehrerer Foren zur Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess an die Verhandlungsparteien herangetragen hatten.
Die zahlenmäßig größte Veranstaltung hatte Mitte Dezember stattgefunden: Mehr als 1300 Vertreter_innen verschiedener Organisationen hatten an einem auf Bitten der Verhandlungsdelegationen von der Organisation der Vereinten Nationen und der Nationale Universität organisierten Forum teilgenommen und über die ländliche Entwicklung diskutiert. Sie erarbeiteten mehr als 400 Vorschläge, die dann nach Havanna übersandt wurden. Anwesend waren bei der dreitägigen Veranstaltung nicht nur kleinbäuerliche, afro-kolumbianische und indigene Gemeinden und Gewerkschaften, sondern auch Vertreter_innen der Agrarindustrie.
Für großes mediales Echo sorgten allerdings nicht die Anwesenden, sondern die Abstinenz des mächtigen Viehzüchterverbandes FEDEGAN. Dessen Präsident José Felix Lafaurie sagte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, es sei unnütz angesichts der offensichtlich antagonistische Positionen mit der FARC über ländliche Entwicklung zu diskutieren. Während Lafaurie dafür Kritik aus fast allen politischen Lagern einstecken musste, wurde er von Uribe für seine Entscheidung gefeiert. Das ist wenig verwunderlich: Uribe sowie vielen Regionalverbänden der Viehzüchter werden enge Beziehungen zu Paramilitärs vor allem im Nordwesten Kolumbiens nachgesagt.
Wie viele der 100 Vorschläge der FARC letztendlich den Weg in einen Friedensvertrag schaffen werden, ist völlig unklar. Denn obwohl sich die Guerilla im Gegensatz zur Regierungsdelegation äußerst kommunikativ zeigt, ist bis jetzt wenig über substanzielle Verhandlungserfolge bekannt. Zwar unterhält die Verhandlungsdelegation der Guerilla einen eigenen Internet-Blog und tritt regelmäßig vor die Presse. Genaues über den Stand der Verhandlungen oder eventuelle Zwischenergebnisse wird hingegen nur selten oder lediglich ansatzweise bekannt. Beispiel Zonas de Reserva Campesina: Das bereits 1994 verabschiedete Gesetz Nr. 160 ermöglicht es, auf Antrag kleinbäuerlicher Gemeinden, bestimmte Schutzzonen einzurichten. Über deren wirtschaftliche Struktur können die Gemeinden weitestgehend autonom entscheiden. Damit soll die Konzentration von Landbesitz und die Ausbeutung des Landes, beispielsweise durch Bergbauprojekte, gestoppt werden.
Die FARC begrüßten die Forderung nach der Einrichtung von 50 derartiger Schutzzonen, eine Zahl, die der Nationale Verband der kleinbäuerlichen Schutzzonen ANZORC an die Verhandlungsdelegationen herangetragen hatten. Regierungsmitglieder, Großgrundbesitzer und Agrarindustrie lehnten ab. Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Reservas Campesinas bei der Umsetzung einer aus den Verhandlungen hervorgehenden neuen Agrarpolitik eine wichtige Rolle spielen werden. Unklar ist jedoch, wie viele solcher Schutzzonen eingerichtet werden sollen und wie hoch die finanzielle Unterstützung der Regierung für deren Einrichtung und Etablierung sein wird.
Doch trotz aller Unklarheiten über substanzielle Ergebnisse scheint es voranzugehen: Die Vertreter_innen beider Verhandlungsdelegationen betonen regelmäßig, dass die Verhandlungen auf einem guten Weg seien. Ein weiteres Indiz ist, dass Ende April bereits das Forum zum zweiten Thema auf der Verhandlungsagenda stattfand, der politischen Teilhabe. Für die FARC stehen dabei vor allem politische Garantien im Vordergrund. Der letzte Versuch, mit der Partei Patriotische Union innerhalb des gesetzlichen Rahmens an der Politik teilzuhaben, endete in der systematischen Ermordung tausender ihrer Mitglieder. Zündstoff, nicht nur bei den Verhandlungen in Havanna, dürfte auch das Thema der Rechtsverletzungen durch FARC-Mitglieder bergen. Kritiker_innen befürchten, dass insbesondere die Führungskräfte der FARC straffrei ausgehen könnten. In einem Brief an 62 Abgeordnete des US-Kongresses schlug die Guerilla ihrerseits die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor.
Ein weiteres Thema wird im Rahmen des zweiten Verhandlungspunktes auch sein, wie im Falle erfolgreicher Friedensverhandlungen mit den Ergebnissen verfahren werden soll. FARC und die Bewegung Patriotischer Marsch fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, die die aktuelle Charta von 1991 reformiert. Die Regierung spricht von einem Referendum, welches im Falle einer Einigung in Havanna notwendig werden würde.
Unabhängig von den Friedensgesprächen in Havanna fand im April zudem der „Kongress für den Frieden“ statt, der von der linken Sammelbewegung Kongress der Völker veranstaltet wurde. Diese ist ein Zusammenschluss verschiedener Basisorganisationen, der jedoch der FARC weniger nahe steht als die Patriotischer Marsch. In der Abschlusserklärung des dreitägigen Kongresses mit über 20.000 nationalen und internationalen Teilnehmer_innen wies der Congreso erneut darauf hin, dass „Frieden nicht nur im Schweigen der Gewehre“ bestehe, sondern tiefgreifende soziale Veränderungen notwendig seien. Seiner Ansicht nach ist die Zivilgesellschaft derzeit nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt: „Wenn das Ende des bewaffneten Konfliktes der Konsolidierung einer demokratische Gesellschaft bedarf, ist es notwendig, die Suche nach dem Frieden zu demokratisieren“ heißt es in der Erklärung.
Lange wird für strukturelle Veränderungen der Friedensgespräche allerdings keine Zeit mehr sein: Aller Voraussicht nach wird Präsident Santos sich 2014 für eine zweite Amtszeit bewerben wollen. Das heißt, dass er spätestens Ende des Jahres Ergebnisse vorlegen muss. Danach werden die Friedensgespräche endgültig zum Wahlkampfthema.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Viel hätte im Dezember letzten Jahres nicht gefehlt, und Evo Morales hätte die bolivianische Bevölkerung öffentlich dazu aufgerufen, für das Leben von Hugo Chávez zu beten. Auch Uruguays atheistischer Präsident, Pepe Mujica, ließ vorsichtshalber eine Messe für dessen Gesundheit verlesen. Denn dass Lateinamerika plötzlich ohne Chávez dastünde, war für viele Menschen in der Region unvorstellbar.
Um zu ermessen, wie ein Lateinamerika ohne Hugo Chávez aussieht, schaut man sich zunächst am besten an, wie es mit ihm aussah. Venezuelas Außenpolitik der letzten 14 Jahre hat sich maßgeblich auf die Region konzentriert und verfolgte dabei vor allem zwei Hauptanliegen: den Kontinent im Sinne Simon Bolívars, dem „Befreier“ Südamerikas, in Solidarität und Selbstbestimmung zu vereinen und den imperialistischen Einfluss der USA in der Region zu beenden.
In der Praxis bedeutete das etwa, den Aufbau regionaler Integrationsstrukturen zu fördern, die unter Ausschluss der USA als Gegengewicht zu von Washington gegründeten regionalen Organisationen agieren sollten. Darunter fallen beispielsweise die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) oder die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC), in der erstmals alle Länder Amerikas außer den USA und Kanada vertreten sind. Auch der Aufbau einer Südamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank des Südens, wurde von Chávez angestoßen. Weiterhin gründete er die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), ein regionales Wirtschaftsabkommen mit den engsten Verbündeten Venezuelas. Dieses stellte ursprünglich eine Alternative zur von den USA propagierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) dar, die auch durch Venezuelas Ablehnung 2005 scheiterte. Bisweilen trieb die Regierung in Caracas ihr anti-imperialistisches Prinzip bis zur Absurdität, übersetzte sie es doch mit einer Politik, die all das gut zu heißen schien, was Washington für schlecht befand. Getreu dem Motto, der Feind meines Feindes ist mein Freund, sorgte Chávez durch seine Freundschaften zu von der westlichen Welt geächteten Despoten für internationale Aufregung.
Waren solche Aktionen hauptsächlich als Provokationen mit symbolischem Charakter zu verstehen, trieb Chávez mit seiner Politik jedoch auch einen aktiven, spürbaren Wandel in der Region voran. Ausgestattet mit einem praktisch nie versiegenden Fluss an Öleinnahmen verbreitete er seine Revolution durch ostentative Einmischung in die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse anderer Länder. So begünstigten die finanziellen Mittel Venezuelas die Wahlerfolge linker Regierungen in Ländern wie Bolivien, Nicaragua und Ecuador. Boliviens Evo Morales etwa finanzierte große Teile seines staatlichen Sozialprogramms mit venezolanischen Geldern, was in den turbulenten ersten Jahren seiner Amtszeit maßgeblich zur Stabilisierung der Regierung beitrug. Selbst Kolumbien, das stets als enger Verbündeter Washingtons galt, hat durch Druck Venezuelas seine Position ein wenig von den USA weggerückt. Chávez hatte nicht zuletzt eine wichtige Rolle als Wegbereiter der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksradikalen Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) gespielt.
Durch Petrocaribe verbündete sich Venezuela auch mit der Karibik. Insgesamt 18 Mitgliedsstaaten haben diese Hilfe bisher genossen, allen voran Kuba und Nicaragua. Als Gegenleistung für verbilligtes Öl schickt Kuba Ärzte und Lehrer nach Venezuela, die anderen karibischen Länder liefern Güter wie Kaffee, Zucker, Reis und Getreide ebenso wie Geld, was daran erinnert, dass die Hilfe nicht völlig umsonst kommt. Aber Venezuela hat sich stets großzügig gezeigt und stark vereinfachte Zahlungsbedingungen mit niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten ermöglicht. Würde diese Hilfeleistung aufhören, träfe das die karibischen Partnerländer hart.
Es bleibt also außer Frage, dass Chávez einen deutlichen Abdruck in der Region hinterlassen hat. Wie tief dieser Abdruck ist und wie es nun ohne ihn weitergeht, ist hingegen ungewiss. Viel hängt ab von dem zukünftigen Präsidenten Venezuelas, der am 14. April gewählt wird. In aktuellen Umfragen liegt Chávez’ Wunschnachfolger, Nicolás Maduro, weit vorne. Als ehemaliger Außenminister Venezuelas kennt er die internationalen Gefilde von Chávez’ Politik wie kein zweiter. Aber ob er als neuer Präsident die Fußstapfen seines Vorgängers ausfüllen kann, ist fraglich. Oft wird bemängelt, es fehle ihm dazu an Charisma und Führungsentschlossenheit, mit denen der verstorbene Präsident so vieles bewegt habe.
Dabei hätte Maduro auch so genug Gründe, die außenpolitische Präsenz Venezuelas in Lateinamerika einzudämmen. Denn die nächsten Monate werden für ihn besonders durch innenpolitische Herausforderungen geprägt sein. Neben der Frage um politische Legitimität des Chavismus ohne Chávez, hat das Land interne Probleme, wie etwa eine verbreitete Gewaltkriminalität. Auch die wirtschaftliche Produktivität ist gering, die Ökonomie vom Ölexport dominiert. Dass Maduro angesichts solcher Probleme auf die Idee kommen könnte, die großzügige Vergabe finanzieller Mittel an ausländische Verbündete zu reduzieren, ist daher nicht unwahrscheinlich.
Trotz allem zeigen sich lateinamerikanische Beobachter_innen angesichts der Aussichten recht gelassen. Zwar ist abzusehen, dass mit einer reduzierten politischen und wirtschaftlichen Präsenz Venezuelas das Kräfteverhältnis in Lateinamerika verschoben wird. So erwarten manche, dass Evo Morales mit Rafael Correa und Nicolás Maduro Chávez’ politisches Vakuum auffüllen wird. Andere wiederum zweifeln an deren politischem Gewicht und erwarten eine Verschiebung der regionalen Machtverhältnisse zugunsten Brasiliens.
Auch innenpolitisch stehen Venezuelas Verbündete ohne Chávez nicht zwangsläufig verloren da. Ecuador und Bolivien beispielsweise haben ihren politischen und wirtschaftlichen Horizont mittlerweile gefestigt und sind nicht mehr so stark auf Venezuelas Unterstützung angewiesen, wie noch in den ersten Jahren. Weniger gut ist es um Länder wie Kuba und Nicaragua bestellt, denn sie sind auf die großzügigen Öllieferungen Venezuelas dringend angewiesen.
So gesehen zeichnet sich zwar ein Bild ab, in dem sich die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika insgesamt verschieben werden. Jedoch scheint der Tod von Hugo Chávez noch lange nicht das zwangsläufige Ende seiner Revolution in Lateinamerika einzuläuten. Wie und in welchem Umfang sich sein Projekt jedoch fortsetzt, hängt zu großen Teilen von der zukünftigen Regierung in Caracas ab.

Humanitäre Krise in Kolumbiens Kohleabbaugebieten

„Erst nachdem einige Dorfbewohner beinahe verhungert oder an Krankheiten gestorben sind, haben die Unternehmen gehandelt. Und jetzt fällt ihnen nichts Besseres ein, als uns ein Hühnerzuchtprojekt zu präsentieren, von dem sie wissen, dass wir es gar nicht wollen!“, drückt José Suarez* die allgemein herrschende Unzufriedenheit aus. Und setzt gleich noch einen drauf: „Wir befürchten, dass die Projekte nicht oder nur mit viel Verzögerung anlaufen, und in drei Monaten, wenn die Nothilfe zu Ende geht, unsere Nahrungsmittelsicherheit erneut bedroht sein wird.“
Im Jahr 2010 hat der kolumbianische Staat die internationalen Bergbauunternehmen Glencore, Drummond, Columbian Natural Ressources (CNR) und Vale beauftragt, die drei unter den negativen Auswirkungen des Bergbaus leidenden Gemeinden El Hatillo, El Boquerón und Plan Bonito umzusiedeln. Doch das Umsiedlungsverfahren kommt nur schleppend voran. Die ursprünglich auf Ende 2012 festgesetzte Frist lief ab, ohne dass konkrete Schritte umgesetzt werden konnten. Da es bis zum Umzug ins neue Dorf noch Jahre dauern wird, pocht die Gemeinde El Hatillo seit längerem darauf, dass die Umsiedlung einen Übergangsplan enthält, der ihnen Nahrungsmittel und medizinische Grundversorgung gewährleistet. Zwar haben die Unternehmen vor sechs Monaten entsprechenden Massnahmen zugestimmt, diese aber bisher nicht ausgeführt.
„Früher lebten die Menschen von der Landwirtschaft, Viehzucht und Baumwollproduktion, heute sind alle direkt oder indirekt vom Bergbau abhängig“, erklärt Mariana Suarez*. Wie die restlichen Dörfer im Umfeld der Bergwerke hat sich auch El Hatillo in einen Ort verwandelt, wo Landlose darauf warten, einen der begehrten Posten im Bergbau zu ergattern. Meist vergebens. Die Unternehmen stellen bevorzugt gut ausgebildete und von aussen kommende Arbeiter_innen ein. Einer Mehrheit der Dorfbewohner_innen bleibt nichts anderes übrig, als sich mit Tätigkeiten im informellen Sektor durchzuschlagen oder eine viel schlechter entlohnte Anstellung auf der nahen Palmölplantage anzunehmen.
In den ersten Wochen dieses Jahres hat sich die Ernährungsnot vieler Familien dramatisch zugespitzt. „Dorfbewohner, die Wert darauf legen, eigenständig zu leben, sahen sich dazu gezwungen, die Nachbarn um Reis oder Mais zu bitten. So etwas hat es hier noch nie gegeben!“, kommentiert Suarez*. Der aussergewöhnlich lange Sommer – vier Monate ohne einen einzigen Tropfen Regen – hat dazu geführt, dass die ohnehin schon geringe Ernte noch dürftiger ausgefallen ist. Nachdem Mitte Januar zehn Mitarbeiter aus El Hatillo entlassen wurden, haben aktuell nur noch Angehörige von 13 der 130 Familien eine Stelle im Bergbau inne. Gloria Holguín von der die Gemeinde begleitenden NGO „Pensamiento y Acción Social“ erklärt: „Krank und unter Hunger leidend ist es unmöglich, sich auf das Ausarbeiten eines Umsiedlungsplanes zu konzentrieren! Du musst gegessen haben und gesund sein, damit du dich für mittel- und langfristige Anliegen interessieren kannst.“
El Hatillo liegt fünf Fahrminuten von der heute 22.000 Einwohner_innen zählenden Stadt La Loma entfernt. Vor 15 Jahren noch ein Weiler mit drei Häuserblocks, ist La Loma seither explosionsartig gewachsen und hat sich dementsprechend gewandelt: Prostitution, Drogenkonsum sowie unzählige Bars und Nachtclubs für die Tausenden von Minenarbeiter_innen prägen das Leben der Kleinstadt. El Hatillo und La Loma, auf Deutsch „die kleine Finca“ und „der Hügel“, sind heute von viel grösseren Hügeln, gar Bergen umgeben. Unmittelbar hinter den letzten Häusern erhebt sich die erste mehrerer Abraumhalden, auf denen das Aushubmaterial der Bergwerke gelagert wird. Diese sind in der Regel mehrere Kilometer lang, 200 bis 500 Meter breit und 60 Meter hoch. Riesige Staubwolken entstehen, wenn der aus Nordosten kommende Wind über das lose Gesteinsmaterial weht. Die Folgen sind fatal: Die äusserst gefährlichen Kohlepartikel werden von den Menschen eingeatmet und setzen sich in der Lunge fest. Die ganze Landschaft ist mit Staub überzogen. Dieser verschmutzt das Trinkwasser und in den Flüssen sterben die Fische. Tonio Alvear*, ein älterer Mann aus El Hatillo bringt die Problematik auf den Punkt: „Ich bin Fischer. Es gibt keine Fische mehr. Wie soll ich überleben?“
Padre Wilson, der drei Tage die Woche in der katholischen Kirche von La Loma und die restliche Zeit in den umliegenden Weilern arbeitet, fügt hinzu: „Die Auswirkungen des Bergbaus sind verhängnisvoll: Wir töten uns hier gegenseitig für ein bisschen Geld.“
Selbst Alfonso Coronado, staatlicher Beamter der Departementsverwaltung in Valledupar, gibt zu, dass „es ein Fehler des Staates war, die Situation der sich im Bergbaugebiet befindenden Dörfer nicht im Voraus geregelt zu haben.“ Stattdessen habe man frohlockend Lizenzen verteilt und mit dem Kohleabbau losgelegt.
Der Staat muss per Gesetz die Einhaltung der an die Bergbaulizenzen gebundenen Umweltschutzvorlagen überprüfen und notfalls Maßnahmen ergreifen. Doch die staatlichen Institutionen fallen überwiegend durch ihre Abwesenheit auf. Dominique Rothen von der „Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien“ sagt dazu: „Der von Präsident Santos als Entwicklungsmotor gepriesene Bergbau erweist sich für eine Mehrheit der lokalen Anwohner als Bumerang. Und anstatt die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, nimmt sich der Staat wie im Fall von El Hatillo vollends aus der Pflicht und verweist auf die Verantwortung der Unternehmen. Schlussendlich bleibt die Bevölkerung sich selber überlassen.“
Wie die Bergbauunternehmen reagieren, wenn ihr Fehlverhalten vom Staat einmal sanktioniert wird, zeigt folgendes Beispiel: Vor wenigen Wochen sind in einem der Glencore-Bergwerke mehrere Abbaulizenzen suspendiert worden, da das Unternehmen jahrelang die Umweltschutzvorschriften verletzt hatte. Die Antwort von Glencore kam postwendend: 700 Arbeiter_innen wurden entlassen. Mit dieser Massnahme versucht Glencore den Staat zu erpressen, damit dieser seine Sanktionen rückgängig macht. Das Unternehmen nimmt dabei in Kauf, dass sich die sowieso schon angespannte Lage in den Werken weiter zuspitzt. Glencore – in der Branche bekannt für seine Risikoinvestitionen in Konfliktgebieten – ist mit ihrer Filiale Prodeco in zwei Kohlebergwerken in der Region tätig. Entgegen der gesetzlichen Pflicht hat es das grösste Rohstoffunternehmen der Welt lange Zeit unterlassen, sich in Kolumbien als Firmengruppe zu deklarieren. Glencore gehören 40 Prozent der bis an die Küste führenden Eisenbahnlinie sowie zwei Häfen nahe Santa Marta. Aktuell baut der Schweizer Konzern im Cesar jährlich geschätzte 18 Millionen Tonnen Steinkohle ab. Zusammen mit den 11 Millionen Tonnen der Firma Xstrata – Glencore und Xstrata haben im November 2012 fusioniert – resultieren aus dem Bergwerk Cerrejón beinahe 30 Millionen Tonnen Steinkohle. Glencore ist damit der grösste Kohleexporteur Kolumbiens.
In der Provinz Cesar, wo heute auf einer Fläche von rund 30-40 Kilometern die mit Abstand grösste Steinkohletagbaumine der Welt entsteht, wird seit langem Bergbau betrieben, früher jedoch ausschließlich für den lokalen Verbrauch. Dies änderte sich in den achtziger Jahren, als der Vorsitzende des US-Amerikanischen Familienunternehmens Drummond, Garry Drummond, höchstpersönlich die Region aufsuchte. Die Ankunft des Gringos mit dem klangvollen Namen und ausgezeichneten Kontakten zu Valledupars reichen Familien, Großgrundbesitzer_innen und Paramilitärs läutete den exportorientierten Steinkohletagbau transnationaler Unternehmen ein. Im Jahr 1995 nahm die erste Drummond-Mine ihren Betrieb auf, weitere Bergbauunternehmen folgten. Die qualitativ hochwertige Steinkohle wird per Eisenbahn ins nur 150 Kilometer entfernte Santa Marta transportiert und von dort nach Europa und Asien verschifft. 1994 machte die im Cesar gewonnene Kohle 8 Prozent der nationalen Produktion aus, zehn Jahre später waren es bereits 46 Prozent. Im Jahr 2010 wurden in der Region 36 Millionen Tonnen Steinkohle abgebaut, 95 Prozent davon für den Export.
Zum Zeitpunkt konstanter Zunahme des zum Kohleabbau bestimmten Gebiets wurde jeglicher sozialer Widerstand mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen. Der Cesar gilt seit den achtziger Jahren als eine der landesweit am stärksten umkämpften Regionen. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zur Serranía del Perijá, ein strategisch wichtiger Punkt für den Schmuggel von Waffen und Drogen von und nach Venezuela, aber auch die Tatsache, dass die weiten und fruchtbaren Ebenen praktisch ausschliesslich Eigentum von Großgrundbesitzer_innen waren – und auch heute noch sind – hat die Guerilla der Farc ihre Präsenz in dem Gebiet intensiviert. Die Antwort des Staates ließ nicht lange auf sich warten: Mit Hilfe der Paramilitärs unter der Führung von alias „Jorge 40“ wurden unzählige Syndikalist_innen, Menschenrechtsaktivist_innen und linke Politiker_innen umgebracht. Der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragene Konflikt hat Wunden hinterlassen, die auch heute noch spürbar sind. So zum Beispiel in der Gemeinde El Hatillo, wo sich im Verlauf der blutigen Auseinandersetzungen Mitglieder verschiedener Familien gegenseitig umgebracht haben. Die Feindseligkeiten und Spannungen innerhalb der Gemeinde erschweren ein einheitliches Auftreten in den Verhandlungen mit den Bergbauunternehmen und damit eine erfolgreiche Umsiedlung im Interesse der 130 Familien.

*Namen vom Autor aus Sicherheitsgründen geändert.

Vorläufiger Meilenstein

Die Gemeinde von Las Pavas bekommt Recht. Das kolumbianische Institut für ländliche Entwicklung Incoder teilte Mitte November 2012 mit, die 2661 Hektar Land der Finca Las Pavas im Nordosten Kolumbiens an die Bauernorganisation Asocab zu übertragen. In ihrem mehr als sechsjährigen Kampf um die Landtitel haben die Bäuerinnen und Bauern somit einen Meilenstein erreicht. Allerdings hat der aktuelle Besitzer, die Palmölfirma Aportes San Isidro, gegen das Urteil Einspruch eingelegt, was einen definitiven Entscheid nochmals um Jahre hinauszögern wird.
„Dieser Beschluss ist von großer Bedeutung für die Kleinbauern in Las Pavas und Kolumbien“, sagt Misael Payares, einer der Vorsitzenden von Asocab. Der gewaltlose Widerstand von Las Pavas gilt als Präzedenzfall im Kampf gegen den Ausverkauf des Landes an transnationale Unternehmen. Dem Urteil des Incoder wird deshalb Beispielcharakter eingeräumt. Die Regierung Santos kündigte ein Programm der Landrückgabe an. Bauern und Bäuerinnen in ganz Kolumbien, die im Laufe des gewaltsamen Konfliktes vertrieben und enteignet worden sind, hoffen, nun endlich entschädigt zu werden.
Der Beschluss des Incoder resultierte aus einer weiteren Inspektion vor Ort, bei der es um die Besitzfrage der letzten drei Grundstücke ging. Zuvor sind schon elf Grundstücke als brachliegend deklariert worden. Brachland gehört dem Staat und darf per Gesetz ausschließlich an Kleinbauern und -bäuerinnen zur Nutzung, aber nicht an Private verkauft werden. Zudem wies das Verfassungsgericht einen Einspruch von Aportes San Isidro gegen das Urteil T-267 aus dem Jahr 2011 ab. Dieses Urteil besagt, dass die Kleinbäuerinnen und -bauern von Asocab als Landvertreibungsopfer das Recht haben, das Gebiet der Finca so lange zu bewohnen und zu bewirtschaften, bis das Incoder im Landrechtsstreit einen Entschluss gefasst und diesen umgesetzt hat.
Die positiven Nachrichten aus Bogotá kontrastieren jedoch mit der angespannten Situation auf dem Feld, wo Aportes San Isidro systematisch gegen das Urteil T-267 verstößt. „In Kolumbien gilt das Gesetz nur für die einen“, beklagt sich Luis Carlos Mercado, ein Mitglied von Asocab. „Das Verfassungsgericht und das Incoder entscheiden zu unseren Gunsten, aber die palmeros setzen nach wie vor alles daran, uns vom Gebiet zu vertreiben!“ Die Kleinbauern und -bäuerinnen werden täglich bedroht und mit gezückten Waffen am Arbeiten gehindert. Auf ihren zur Saat vorbereiteten Feldern pflanzt das Unternehmen stattdessen Palmen an. Die wenigen Ernten werden systematisch zerstört. „Am 31. Dezember haben sie den Zaun meiner Parzelle durchschnitten und eine Viehherde in das Maisfeld getrieben. Innerhalb eines Tages war die ganze Ernte dahin“, erzählt Robelio Puerta Peña.
Seit mehreren Monaten blockiert Aportes San Isidro die öffentliche Zufahrtsstraße auf die Finca mit zwei Toren. Dies zwingt die Bauern und Bäuerinnen dazu, einen großen Umweg zu machen. Die Polizei schaut dem Treiben des Unternehmens tatenlos zu. Sogar das Innenministerium hat gegenüber den rechtlichen Vertreter_innen der Gemeinde zugegeben, dass gegen die Macht der regionalen Oligarchen nichts unternommen werden könne. Die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Pensamiento y Acción Social übt in diesem Zusammenhang heftige Kritik an der Regierung: „Bis heute gibt es kein staatliches Programm zum kollektiven Schutz von ganzen Gemeinden. Die Kleinbauern von Asocab werden den Drohungen und Attacken durch das Unternehmen weiterhin schutzlos ausgeliefert sein.“
Die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen für die Gemeinde haben einen direkten Einfluss auf deren Ernährungslage. Wer nicht erntet, produziert keine Nahrungsmittel und hat dementsprechend nichts zu essen. Die von dem Palmölunternehmen angewandte Strategie des systematischen Aushungerns scheint vollends aufzugehen. „Unter Hunger Widerstand zu leisten, ist sehr schwierig. Die Menschen verlassen das Dorf auf der Suche nach Alternativen. Das wiederum schwächt die Organisation“, erklärt Payares.
Auch wenn viele Kleinbäuerinnen und -bauern es satt haben, zu säen obwohl die Saat mit großer Wahrscheinlichkeit zerstört wird, haben einige die Hoffnung nicht verloren. So auch Puerta Peña: „Wir werden uns neu organisieren und in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen arbeiten. Tag und Nacht wird jemand auf der Parzelle sein und die Saat beziehungsweise die Ernte schützen.“ Puerta Peña hat wie viele der Kleinbauern und -bäuerinnen keine andere Wahl. Er besitzt kein weiteres Land. Momentan sichern Hühner das Überleben seiner siebenköpfigen Familie: „Mit dem Geld der Eier kaufen wir uns ein bisschen Reis, zudem gehe ich fischen. Manchmal frage ich mich, von wo meine Frau das Essen herzaubert. Aber irgendetwas haben wir bisher immer auf dem Teller gehabt.“ Das Dorf zu verlassen kommt für ihn nicht in Frage. „Ein Bruder hat mir zwar angeboten, mit meiner Familie in die Region La Guajira zu ziehen. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen und kämpfe um diese Parzelle!“
Das Palmölunternehmen erhebt vor dem Incoder mit dem Argument Einspruch, die Kleinbauern und -bäuerinnen seien sogenannte falsche Vertriebene und hätten daher kein Anrecht auf die Landtitel. Währenddessen versuchen die rechtlichen Vertreter_innen von Asocab den Prozess zu beschleunigen. „Wir fordern vom Staat, dass er das Einspruchsverfahren abkürzt, weil das Unternehmen die Grundrechte der lokalen Bevölkerung aufs Gröbste verletzt, und sofort mit der Überschreibung der Landtitel beginnt. Ansonsten wird es zwischen fünf und zehn Jahre dauern, bis ein definitiver Entschluss feststeht“, sagt Vanessa Estrada.
Der Fall der landlosen Bauern und Bäuerinnen von Las Pavas sorgte vor dreieinhalb Jahren in Europa für Aufruhr. Verschiedene Medien berichteten von der illegalen Vertreibung von 123 Bauernfamilien zugunsten eines Konsortiums von Palmölfirmen. Darunter war ein Tochterunternehmen von Daabon Organics, Biopalmölzulieferer für The Body Shop, Alnatura, Rapunzel und Biosuisse. Payares hatte daraufhin die Möglichkeit, die Situation seiner Gemeinde vor dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Genf zu schildern. Der nationale und internationale Druck auf Daabon Organics nahm in der Folge zu. Eine vor Ort eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass die Region aus ökologischen und sozialen Gründen für die Palmölmonokultur nicht geeignet ist. Schließlich kündigte The Body Shop die Zusammenarbeit mit Daabon Organics auf. Am 22. März 2011 zog sich Daabon aus Las Pavas zurück und überließ ihren Anteil der Firma Aportes San Isidro, die seither als Alleinbesitzer fungiert.
Die Finca Las Pavas befindet sich im Delta des Río Magdalena im Nordosten Kolumbiens, einer der fruchtbarsten Zonen des Landes. In den 1980er Jahren kaufte der frühere Besitzer Jesús Emilio Escobar unter dubiosen Umständen verschiedene Gebietsstücke von den lokalen Kleinbäuerinnen und -bauern auf, um darauf extensive Viehzucht zu betreiben. Mit dem Tod seines Neffen Pablo Escobar und dem Ende des Drogenkartells von Medellín im Jahr 1993 verließ der Besitzer die Finca. In der Folge wurde das Gebiet wiederum von den Bäuerinnen und Bauern aus der angrenzenden Gemeinde Buenos Aires landwirtschaftlich genutzt und es wurde reichlich Mais, Yucca und Reis produziert. Dies änderte sich um die Jahrtausendwende. Damals nahmen paramilitärische Einheiten, von Großgrundbesitzern finanziert und durch die staatlichen Behörden unterstützt, die bis dahin von der Guerilla des ELN kontrollierte Region ein. An der Zivilbevölkerung wurden Gräueltaten verübt, Morde und Verschwindenlassen gehörten zum Alltag. Paramilitärs tauchten wiederholt auf dem Großgrundbesitz von Las Pavas auf und vertrieben die Bäuerinnen und Bauern unter der Androhung von Gewalt. Dass diese ihre Drohungen in die Tat umsetzen würden, bewiesen die Leichenteile, die im durch das Dorf führenden Fluss trieben.
Im Jahr 2006 reichte die Vereinigung Asocab bei Incoder ein Gesuch auf Übertragung der Landtitel ein. Doch Escobar verkaufte das Gebiet wenige Monate später an das Konsortium El Labrador. Dieser Verkauf wurde von den staatlichen Behörden fälschlicherweise abgesegnet. Im Juli 2009 kam es nach dem Entscheid eines lokalen Richters zu einer abermaligen Vertreibung der Bäuerinnen und Bauern, diesmal durch den Staat. Sie zogen sich in das fünf Kilometer entfernte Buenos Aires zurück, wo mit der Unterstützung nationaler und internationaler Organisationen der gewaltlose Widerstand weitergeführt und ausgebaut wurde. Zu jenem Zeitpunkt griffen europäische Medien den Fall auf und brachten ihn neu ins Rollen. Der Prozess vor dem Incoder wurde neu aufgerollt und auf staatlicher Ebene gegen die Vertreibung Einspruch eingelegt. Nachdem das Verfassungsgericht mit dem Urteil T-267 zugunsten der Bauern und Bäuerinnen entschieden hatte, kehrten im April 2011 116 Familien ein weiteres Mal nach Las Pavas zurück, wo sie seither ausharren und auf konkrete Handlungen aus Bogotá warten.
Die ungleiche Landverteilung ist ein strukturelles Problem und der Auslöser für die sozialen Missstände und Konflikte in Kolumbien. Die Guerilla der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) hat sich vor fünfzig Jahren aus diesem Grund für den bewaffneten Kampf entschieden. Heute steht die Forderung nach einer Agrarreform ganz oben auf der Agenda der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC. Ein langfristiger und nachhaltiger Frieden ist nur möglich, wenn den Millionen von Binnen-vertriebenen Landtitel zugesprochen und diese vom Staat auch eingehalten und geschützt werden. Menschenrechtsorganisationen begrüßen den positiven Entscheid im Fall von Las Pavas. Allerdings vermuten sie, dass die Regierung von Präsident Santos ihr groß angekündigtes Programm der Landrückerstattung bei solchen einzelnen Beispielen belassen wird, statt es umfassend umzusetzen.

„Jetzt oder nie!“

In einem Interview mit einer kolumbianischen Zeitung haben Sie sich zu den aktuellen Friedensbemühungen zwischen der FARC und der kolumbianischen Regierung mit dem Satz „Jetzt oder Nie“ geäußert. Weshalb?
Blicken wir auf die vergangenen Friedensprozesse mit der FARC zurück, so stellen wir fest, dass diese bisher alle gescheitert sind. Was von ihnen in Erinnerung bleibt ist die jeweilige Frustration. In vielen Fällen hatte dabei weder die FARC noch die Regierung einen ernsthaften Willen zum Frieden. Hinzu kamen oft noch viele andere Störfaktoren. Dieses Mal sind die Rahmenbedingungen jedoch bessere; eine Einigung zwischen Regierung und FARC, die es ermöglicht, einen echten Transformationsprozess innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft in Gang zu setzen, erscheint tatsächlich als ein mögliches Szenario.

Die Frustration wurde also überwunden?
Das Vertrauen für diesen neuen Versuch des Dialogs zu bekommen war sehr schwierig. Viel Überzeugungsarbeit musste geleistet werden, sowohl innerhalb der medial stark manipulierten kolumbianischen Zivilgesellschaft als auch bei der internationalen Gemeinschaft. Momentan allerdings setzt die kolumbianische Zivilgesellschaft noch einmal ihre Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts; das gilt ebenso für die Europäische Union, die Obama-Administration und die lateinamerikanischen Staaten.
Noch einmal ein solch umfassendes Vertrauen zu bekommen, falls die aktuelle Chance auf einen erfolgreichen Friedensprozess verspielt wird, erscheint undenkbar. Deshalb habe ich gesagt: Jetzt oder nie!

Der Friedensprozess von 1984 wurde von dem darauffolgenden Massaker an Mitgliedern der Partei Patriotische Union (UP) überschattet, in der viele FARC-Angehörige die Möglichkeit gesehen hatten, ihre Ziele auf legalem Wege umzusetzen. Versuche den Konflikt politisch zu lösen sind in Kolumbien daher mit düsteren Erinnerungen verknüpft. Weshalb ist die Zeit jetzt dennoch reif für einen neuen Versuch?
Vieles hat sich geändert. Heute wäre so etwas wie ein Massaker an den Mitgliedern einer politischen Partei undenkbar. Die internationale Staatengemeinschaft übt heute viel mehr Druck auf die kolumbianische Regierung aus, die politische Bühne in Lateinamerika hat sich grundlegend verändert und weltweit haben NGOs, Kollektive, Forschungszentren und sonstige Organisationen, die im Bereich der Menschenrechte tätig sind, eine enorme Arbeit geleistet.

Was für Folgen hat das in Kolumbien?
Die kolumbianische Regierung sah sich dadurch unter anderem gezwungen, Verbrechen zunehmend aufzuklären und der Arbeit der Justiz wirksamen Schutz zu gewähren. Die Verurteilung eines hohen Offiziers oder eines wichtigen Politikers wäre in den 1980er und den 1990er Jahren noch völlig undenkbar gewesen. Eigentlich wurden derartige Prozesse erst in den letzten sieben Jahren wirklich führbar.

Gab es auch Prozesse gegen hochrangige Mitverantwortliche der paramilitärischen Gewalt in Kolumbien?
Die gab es. Eine ganze Reihe von Politikern, die eine klare Verbindung mit paramilitärischen Gruppen hatten, sind verurteilt worden. Dies hat eine wichtige Abschreckungswirkung; die einstige Straflosigkeit ist heute nicht mehr garantiert. Zwar werden in Kolumbien nach wie vor immer wieder Gewerkschaftsmitglieder und Menschenrechtsverteidiger ermordet und linke Organisationen sind nach wie vor gezwungen, besondere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, aber die völlig zügellose Gewalt der 1980er Jahre existiert nicht mehr.
Vor diesem Hintergrund bin ich der Ansicht, dass für eine Gruppe wie die FARC heute die notwendigen Garantien gegeben sind, um ihren militärischen Weg zu verlassen und einen politischen einzuschlagen. Ob dies tatsächlich geschieht, hängt meiner Ansicht nach sehr vom Druck ab, den die internationale Gemeinschaft auf den aktuellen Friedensprozess ausübt. Ich bin da allerdings guter Dinge.

Es ist momentan oft die Rede davon, dass die FARC eventuell geschwächt sei und nur deshalb mit der Regierung in erneute Friedensverhandlungen getreten wäre.
Ich teile diese Meinung nicht. Zwar hat die FARC in den letzten Jahren tatsächlich schwere Niederlagen erlitten, dennoch verfügt sie weiterhin über eine starke militärische und logistische Kapazität. Sie stellt nach wie vor eine ernstzunehmende militärische Gegnerin dar. In bestimmten Gebieten des Landes spielt die FARC weiterhin eine zentrale militärische, politische und organisatorische Rolle. Lediglich in Gebieten, in denen ihre Präsenz nicht konsolidiert war, ist sie von den staatlichen oder paramilitärischen Kräften vertrieben worden. Derzeit fokussiert sich die FARC absichtlich darauf, sich in strategischen Gebieten des Landes zu etablieren, in Grenzgebieten, in ressourcenreichen Zonen, im Amazonasgebiet und an der pazifischen Küste.

Wie könnte ein Friedensschluss zwischen Regierung und der FARC aussehen? Ist eine Abgabe der Waffen durch die FARC dabei ein realistisches Szenario ?
In Kolumbien stellen sich viele die Frage, ob es irgendwann möglich wird, die FARC bei einer ernsthaften Waffenabgabezeremonie zu sehen. Ich denke, verschiedene Varianten sind denkbar. Eine Waffenabgabe inklusive einer entsprechenden Zeremonie und einer Zeugenkommission sollte keine Grundvoraussetzung für den Erfolg der Friedensverhandlungen sein. Schauen wir uns den Nordirlandkonflikt an: Dort gab es keine offizielle Waffenabgabe, es gibt kein einziges Foto davon. Ein endgültiger Waffenstillstand wurde tatsächlich ausgerufen und die Waffen sind irgendwann auch abgegeben worden, wenn auch ohne Zeremonie.
Bei dem jetzigen kolumbianischen Friedensprozess liegt die Schwierigkeit jedoch weniger in dem Akt der Waffenabgabe an sich. Viel zentraler ist es zu erreichen, dass die FARC in Zukunft grundsätzlich auf den Einsatz von Waffengewalt verzichtet.

Was könnte hierfür den Ausschlag geben?
Sollte die FARC tatsächlich davon überzeugt werden können, noch einmal den politischen Weg zu beschreiten, dann werden die Waffen unverzüglich keine Rolle mehr spielen. Aber die FARC verfügt in manchen Regionen des Landes immer noch über das Gewaltmonopol. Lokale Gemeinden begrüßen ihre Präsenz als einen Ersatz des staatlichen Apparats. Ihre Präsenz gibt ihnen Sicherheit, etwas, wonach sie sich enorm sehnen. Diese Situation darf nicht von heute auf morgen aufgehoben werden. Man muss dabei bedenken, dass in vielen dieser Regionen des Landes der Staat nie existiert hat oder irgendwann aufhörte, zu existieren.

Ist es möglich die demobilisierten FARC-Mitglieder politisch zu rehabilitieren und in die Gesellschaft zu integrieren?
Wieso sollten die 8.000 oder 10.000 FARC-Mitglieder nach einem Demobilisierungsprozess von der politischen Landkarte verschwinden? Sie könnten durchaus ihre politische und soziale Arbeit fortsetzen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass diese Kämpfer sich nach einer Demobilisierung verloren fühlen. Die FARC besteht zu 80 Prozent aus Bauern, die genau aus den Regionen stammen, von denen wir gerade sprechen. Sie in den urbanen Raum zu drängen, wäre ein großer Fehler. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dann infolge einer sich einstellenden Armut und Perspektivlosigkeit kriminellen Organisationen anschließen oder selbst illegale Strukturen bilden, ist viel zu groß.

YEZID ARTETA
war 13 Jahre lang führendes Mitglied der FARC, erst als Anführer der Front 29 im Südlichen Cauca und später als Ideologe des Südblocks. In einer militärischen Operation im Jahr 1996 wurde er verletzt, festgenommen und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Seit seiner Haftentlassung lebt er in Barcelona, hat von der Guerillaorganisation Abstand genommen und arbeitet als Gastwissenschaftler am Institut für Friedenskultur der Autonomen Universität Barcelonas, wo er sich mit der Lösung von Konflikten beschäftigt.

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