Psycho-Krieg gegen Menschenrechtsarbeit

Sie eröffnen in Berlin die Kampagne „Mit Sicherheit in Lebensgefahr. Menschenrechtsverteidiger/innen in Kolumbien“. Was ist der aktuelle Anlass für eine solche Kampagne in Europa?
Angesichts der Morde und Inhaftierungen von MenschenrechtsverteidigerInnen, mussten wir Menschenrechtsaktivisten uns in den letzten Jahren immer mehr mit der Verteidigung unserer eigenen Rechte beschäftigen, anstatt andere in rechtlichen Belangen zu begleiten. Sicherheitsdienste wurden zur Spionage und illegalen Überwachung gegen uns genutzt. Man will damit die Arbeit der Menschenrechtsaktivisten in Kolumbien neutralisieren. So wurde eine Kampagne notwendig, mit der man auf diese Angriffe reagieren und Garantien einfordern kann, damit wir weiter unsere Arbeit machen können. In Europa, den USA und Kanada gibt es viele Organisationen und Netzwerke wie etwa kolko in Berlin, die an dieser Kampagne mitarbeiten.

In den letzten Monaten gab es verstärkt Angriffe von Sicherheitsdiensten gegen euch …
Ja, wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass staatliche Geheimdienste militärische Formen der Informationsbeschaffung dazu genutzt haben, Menschenrechtsaktivisten anzugreifen. In Kolumbien, das können wir aus Erfahrung sagen, ist das die erste Phase des schmutzigen Krieges. Jetzt kam heraus, dass der Geheimdienst DAS über Jahre hinweg illegal Spionage betrieben hat. Eines der so genannten Sicherheitsziele waren die Menschenrechtsaktivisten. Der DAS untersteht direkt dem Präsidenten. Die haben uns über Jahre abgehört, die Emails gelesen, uns auf der Arbeit und privat überwacht, unsere Familien, Angehörige und Freunde verfolgt, unsere Finanzen und Konten kontrolliert – und sie haben „offensive Geheimdienstarbeit“ betrieben. Es gibt sogar Dossiers über uns mit Instruktionen darüber, wie die Leute bedroht werden sollen. Jetzt, da wir diese Berichte kennen, ist uns klar geworden, dass viele Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger sich mit Details decken, die in den Berichten vorkommen. Es wurden verfälschende Berichte geschrieben, um Menschenrechtsverteidiger in die Nähe des Terrorismus, der Guerilla oder von bewaffneten Gruppen zu rücken. Auf Grundlage dieser Berichte wurden Menschenrechtsverteidiger inhaftiert.

Du selbst wurdest auch überwacht …
Ja, das war unglaublich. Sie mieteten eine Wohnung gegenüber von uns, durchwühlten sogar den Müll. Wir wissen, dass sie ins Haus eindrangen, wenn wir nicht da waren. Sie haben meine Kinder zu ihren Universitäten verfolgt und meine Frau auf der Arbeit fotografiert. Es gibt Berichte über alles, was in unserem Haus passierte, Tag für Tag. Auch Journalisten und Oppositionspolitiker wurden abgehört. Sogar Richter des Obersten Gerichts wurden überwacht, die mit den Ermittlungen gegen Politiker mit Verbindungen zu Paramilitärs zu tun hatten. Aber das wirkliche Ausmaß dieser Schikanen des „psychologischen Krieges“, wie sie das in ihren Handbüchern nennen, ist nicht bekannt.

Wie kam die Überwachung ans Licht?
Durch Zufall. Der größte Zufall ist, dass wir offensichtlich zum gleichen „Paket“ gehörten wie die Richter des Obersten Gerichts. Deshalb tauchten bei den Ermittlungen wegen der Richter auch Berichte über uns Menschenrechtsaktivisten auf. Das Oberste Gericht saß tagelang mit dem Bundesstaatsanwalt über einer Strategie zusammen, die Klarheit verschaffen sollte über das Ausspionieren des Gerichts. Wäre das nicht gewesen, hätten wir es nie erfahren. Die Staatsanwaltschaft entschied, eine Hausdurchsuchung beim DAS zu machen und all diese Dokumente zu konfiszieren. Natürlich dauerte es, bis die Durchsuchung stattfand, und in dieser Zeit wurden viele Informationen vernichtet oder weggebracht. Das konnte man später sogar in der Presse sehen: Es wurden Aufnahmen von den Überwachungskameras im DAS gezeigt, auf denen Funktionäre mit Computern, Ordnern und Dokumenten hin und her rennen und alles verstecken, bevor die Staatsanwaltschaft kommt.

Als ihr euch über die Überwachungen klar wurdet, was habt ihr da gemacht?
Die aktuelle Kampagne zur Unterstützung der Menschenrechtsverteidiger ist eine Reaktion auf diese Ereignisse. Wir haben die Situation öffentlich gemacht, auf nationaler und internationaler Ebene, im interamerikanischen Justizsystem, bei den Vereinten Nationen, beim Strafgerichtshof. Und wir sind Kläger im Strafprozess gegen Jorge Noguera. Er war Direktor des DAS und rechte Hand des Präsidenten und verantwortet sich gerade vor dem Obersten Gericht. Denn mit Hilfe der Informationen aus den Spionagetätigkeiten wurden Listen erstellt, die er an den paramilitärischen Kommandanten Jorge 40 weitergab. Wir wissen konkret von drei Personen, die auf Grundlage dieser Listen ermordet wurden: Alfredo Correa de Andreis, ein Professor und Menschenrechtsaktivist, die Gewerkschafterin Zully Condina und der oppositionelle Politiker Fernando Pisciotti. Es ist möglich, dass das Oberste Gericht Jorge Noguera für bis zu 40 Jahren verurteilt. Momentan sind etwa 15 Mitarbeiter des DAS im Gefängnis. Auf die Frage, wo diese Dossiers hin gingen, sagten sie aus, die Berichte seien wöchentlich direkt an den Präsidenten gegangen – das heißt, diese Aktivitäten fanden auf höchster staatlicher Ebene statt.

Gab es für den Geheimdienst außer diesem Prozess gegen Einzelne irgendwelche Konsequenzen?
Es wurde davon geredet, den Geheimdienst zu schließen, aber das kennen wir schon. 1998 wurde die Brigada 20, der Armeegeheimdienst, aus ähnlichen Gründen geschlossen. Wenn sich die Sicherheitspolitik der Regierung nicht ändert, wird diese Art der Überwachung von anderen Institutionen weiter betrieben, das machen ja schon Polizei, Militär und so weiter. Der DAS ist ja nur einer von mehreren Geheimdiensten in Kolumbien.

In welchem politischen Kontext spielt sich dieser Skandal ab?
Die Ergebnisse der Kongresswahlen vom März sind alarmierend. Obwohl in den letzten acht Jahren sehr viel über die Verbindungen zwischen Politikern und den Paramilitärs öffentlich wurde, obwohl es bei 130 Parlamentsabgeordneten bereits Beweise für solche Verbindungen gibt und 50 von ihnen deswegen schon vor Gericht standen, zeigen die Wahlen vor allem eines: die Kontinuität des Phänomens der „Parapolitik“, wie das in Kolumbien genannt wird. Was die Opposition angeht, die Liberalen haben nur knapp 18 Prozent bekommen, der Polo circa 9 Prozent. Die grüne Partei – das war eine große Überraschung – schaffte es auf 5 Prozent.
Ganz klar wurden in den Wahlen systematisch Stimmen gekauft und Leute unter Druck gesetzt. Hinter diesen Wahlen stehen enorme Pfründe, Verträge, Posten – die Regierung hat hunderttausende Leute in soziale Transferprogramme eingebunden. Diesen Menschen wurde vermittelt, dass die staatlichen Hilfen aufgehoben würden, wenn sie nicht für bestimmte Politiker stimmen. Es gibt eine Kombination von Faktoren aus Gewalt, Korruption und dieser Art von Zahlungen. Das Geld zum Stimmenkauf haben nur Leute, die mit dem Drogenhandel zu tun haben. Deshalb denken wir, dass sich in Kolumbien immer mehr ein mafioser, paramilitärisch agierender Staat festigt.
Erklärt sich so auch die neue Partei der Nationalen Integration (PIN)?
Nun, es wurden ja mehrere Parteien in den letzten acht Jahren neu gegründet, eine Menge politischer Zusammenschlüsse. Wegen der Verbindungen zwischen Politik und Paramilitärs wurde gegen sehr viele Parlamentarier ermittelt, und einige dieser Parteien lösten sich deshalb auf. Die Kandidaten wurden nicht einfach in anderen Parteien aufgenommen. Also brauchten sie eine Partei und gründeten dafür die PIN. Es war offensichtlich, dass der Sohn der „Gata“ – einer Frau der Mafia, die im Gefängnis sitzt und für die Ermordung vieler Menschen verantwortlich ist – nicht einfach zu einer Partei gehen konnte und die dann sagen, diesen Kandidaten nehmen wir in unsere Liste mit auf. Die politischen Kosten für die Parteien wären viel zu hoch. In Sucre tritt die Schwester des „Gordo García“ für die PIN an, der vor kurzem wegen eines Massakers und Verbindungen zum Paramilitarismus zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde – das sind Figuren, die bekanntermaßen schon so finster sind, dass sie in keine Partei mehr hinein kamen, nicht mal in die der Regierung. In Kolumbien sagt man: Bei Tisch hasst sie die ganze Welt, aber unter dem Tisch bedeuten sie eine Million Stimmen. Damit sind sie politischer Ausdruck der Legalisierung des Paramilitarismus in Kolumbien, die die Regierung Uribe ermöglicht hat.

Was bedeuten die vergangenen Parlamentswahlen für die Präsidentschaftswahlen im Mai?
Das Panorama für die Präsidentschaftswahlen hat sich schon verändert. Im März hatten mehrere Parteien gewonnen, die sich als „rechtmäßige Erben des Uribismo“ bezeichnen und sich dieses Erbe streitig machen. Juan Manuel Santos bezeichnet sich als Sohn von Uribe, Noemí Sanín als Erbin der Politik der Demokratischen Sicherheit. Diese beiden haben bis vor kurzem die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen angeführt. Aber es gibt eine politische Überraschung: der Sprecher der Grünen, Antanas Mockus, hat plötzlich in den Umfragen dazu gewonnen und ist jetzt an zweiter Stelle hinter Juan Manuel Santos. Dieses Szenario der letzten zwei Wochen war überhaupt nicht vorhersehbar. Es ist denkbar, dass die Wahlen der Abgeordneten für das Parlament enger mit regionalen Interessen verbunden sind, und dass auf nationaler Ebene der Präsident eher programmatisch gewählt werden kann. Das führt möglicherweise zu dieser Veränderung in den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen. Aber wir wissen nicht, was passieren wird. Wenn die Maschinerie funktioniert, wie sie für die Parlamentswahlen funktioniert hat, wäre es logisch, dass Juan Manuel Santos der nächste Präsident wird. Doch Mockus ist für mich nicht chancenlos.

Welches Profil hat Mockus denn?
Er ist ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und Akademiker. Bei uns sagt man, er habe zwei gute Eigenschaften: Erstens hat er noch niemanden ermorden lassen oder paramilitärische Gruppen mitfinanziert. Zweitens wurden während seiner Amtszeiten in Bogotá keine Korruptionsskandale bekannt. Aber seine politische Haltung zu vielen Themen ist unklar. Mir scheint, er macht viele sehr allgemeine, schwer zu fassende Äußerungen, ein sehr eigenwilliger Typ, der viel auf Momente reagiert, aber nicht so sehr einen politischen Standpunkt klarmacht. Er könnte eine Art Ausweg sein für unabhängige Wähler oder Protestwähler – für diejenigen, die mit dem Staat und dem, was in Kolumbien in den letzten Jahren geschehen ist, nicht einverstanden sind. Wir wissen aber nicht, wohin eine Kandidatur und eben eine Präsidentschaft von jemandem wie Mockus führen könnte. Die Meinungen in Kolumbien darüber, ob er eine Alternative darstellt, gehen auseinander. Aber ich würde natürlich nicht sagen, dass er zur Linken gehört.

Würdest du denn sagen, dass es in Kolumbien momentan eine Linke gibt, die ein Gegengewicht zum Uribismo darstellen kann?
Ich könnte mir vorstellen, dass es da noch mehr Koalitionen um Mockus herum geben kann, mit den Liberalen, Teilen des Polo (Polo Democrático Alternativo, Mitte-Links-Partei in Kolumbien, Anm.d.Red.) und natürlich den Grünen. Aber ich glaube, was die Regierung wirklich geschafft hat – vor allem der Präsident – war den Leuten weiszumachen, der Polo und die FARC seien ein und dasselbe. Zudem wäre der Polo mit Chávez verbündet. In dieser ganzen Antiterror-Propaganda wurden die Mitglieder des Polo als Terroristen hingestellt und teilweise hatte das Erfolg. Aber der Polo hat seine Wählerschaft nicht besonders gut bei der Stange gehalten. 2006 galt Carlos Gaviria als Präsidentschaftskandidat des Polo wirklich als demokratische Alternative. Diese politische Kraft wurde leider verschleudert. In den Parlamentswahlen hat der Polo drei Senatssitze verloren, zwei in der Kammer. Das ist ziemlich besorgniserregend: Zum ersten Mal gab es in Kolumbien ein Oppositionsbündnis mit Chancen auf Einfluss, und dann dieses Scheitern.

Welche weiteren Erklärungen gibt es dafür?
Vor allem historische: Oppositionsparteien sind in Kolumbien immer wieder schlicht ausgelöscht worden. Es gibt deshalb keine Kultur der Partizipation an politischen Prozessen. Das kann man ja nicht per Dekret machen, sondern es hat mit politischer Kultur und mit demokratischen Vorstellungen einer Gesellschaft zu tun. Das, zusammen mit den Stigmatisierungen und Angriffen und internen Streitigkeiten, hat meiner Meinung nach zu den Verlusten des Polo beigetragen. Und die öffentliche Meinung, die sich in Wahlstimmen überträgt und die vor vier Jahren Carlos Gaviria zugute kam, zeigt sich jetzt mit Antanas Mockus wieder, das ist mein Eindruck.

Informationen zur Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ unter www.kolko.de

Kasten:
Alirio Uribe Muñoz ist Anwalt und Menschenrechtsaktivist beim Anwaltskollektiv José Álvear Restrepo (CCAJAR) in Bogotá. Im April eröffnete er in Berlin eine internationale Kampagne, die den Blick auf die Verfolgung von AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen in Kolumbien richten soll.

Nein zur Wiederwahl

Die Entscheidung war in Kolumbien mit großer Spannung erwartet worden. Am 26. Februar entschied das Verfassungsgericht, dass eine dritte Kandidatur des amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe Vélez nicht zulässig ist. Dazu hätte wie schon vor den Wahlen 2006 die Verfassung geändert werden müssen, doch das dafür notwendige Referendum wird nun nicht stattfinden. Das Verfassungsgericht ist zwar inzwischen großteils mit Richtern aus Uribes Anhängerschaft besetzt. Dennoch entschied es, eine erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten sei nicht nur wegen Verfahrensfehlern nicht zulässig, sondern verletze demokratische Prinzipien. Lange Zeit hatten Anhänger wie Gegner der Regierung die Wiederwahl Uribes bereits für sicher gehalten. In seiner Reaktion auf das Urteil beeilte sich der Präsident, den funktionierenden Rechtsstaat zu loben und rief dazu auf, den „eingeschlagenen Weg weiterzugehen“. Somit kann er bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Mai nicht wieder antreten. Die Parlamentswahlen finden bereits am 14. März statt.Aus verschiedenen Gründen schwindet erstmals die Popularität der Regierung. Grund für Proteste ist zum einen die umstrittene Gesundheitsreform. Angesichts völlig überlasteter Krankenhäuser und einer Finanzkrise im Gesundheitssystem rief Uribe im November 2009 den sozialen Notstand aus. Der Notstand ermöglichte der Regierung, geplante Neuerungen im Gesundheitssystem in 10 Dekreten – ohne den lästigen Umweg über die parlamentarische Debatte – festzuschreiben. Das Vorhaben hat für heftige Diskussionen im Land gesorgt.
Während Gesundheitsminister Diego Palacios erklärte, das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung werde nicht eingeschränkt, versammeln sich immer wieder Menschen zu Protesten gegen die „Reform“ auf der Straße. So gab es am 6. Februar zeitgleich in Bogotá, Cali, Medellín und anderen Städten Großdemonstrationen, bei denen das Recht auf Gesundheitsversorgung symbolisch zu Grabe getragen wurde. Durch die Umstrukturierungen würden laut Palacios 683,5 Millionen US-Dollar frei, die einen finanziellen Kollaps des Systems verhindern könnten. Die angebliche Liquiditätskrise ergibt sich aber eher daraus, dass die Gelder aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu circa 90 Prozent im Finanzsektor investiert sind und nicht für Zahlungen zur Verfügung stehen.
War es bisher möglich, sich „außergewöhnliche“ Behandlungen vor Gericht zu erstreiten, sollen die Kosten nun in vielen Fällen vollständig vom Patienten übernommen werden. Die Behandlung muss von einem „technischen Ausschuss“ autorisiert werden. Die Beweislast liegt beim Patienten: Wer keine Mittel hat, die eigene Behandlung zu bezahlen, muss dies nachweisen und ansonsten mit Erspartem oder sogar mit Krediten für die Krankenhausrechnung einstehen. Für Mittellose wurde ein neuer Fonds eingerichtet, der allerdings nur eine bestimmte Geldmenge pro Jahr zur Verfügung hat. Wenn diese aufgebraucht ist, werden für niemanden mehr Kosten übernommen. Überweisungen zu Fachärzten sollen nur noch erfolgen, wenn sie „das Gesundheitssystem nicht finanziell belasten“. Krankenhäuser, die nicht profitabel arbeiten, werden vom Staat geschlossen. ÄrzteInnen, die PatientInnen über einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen hinaus behandeln, hätten mit Sanktionen rechnen müssen – mit dieser Maßnahme brachte die Regierung auch die ÄrztInnen gegen sich auf. Sie musste bereits zurückgenommen werden. Bereits Anfang der 1990er Jahre war das kolumbianische Gesundheitssystem privatisiert worden, die Versorgung hatte sich seitdem verschlechtert. PatientInnen waren entweder einem Beitragssystem oder bei sehr niedrigen Einkommen dem staatlich subventionierten System Sisbén zugeordnet, das einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen umfasst. Diese Art, das Problem lösen zu wollen, scheint sich für die Regierung Uribe aber eher zu einem Bumerang zu entwickeln. ÄrztInnen, PatientInnenvereinigungen und GegnerInnen der Regierung fordern ein gerechteres Versorgungsmodell, zu dem möglichst Viele Zugang haben. Gesundheit dürfe nicht zum reinen Geschäft verkommen, so der Tenor auf den Demonstrationen.
Auch die katastrophale Menschenrechtslage spielt offenbar eine Rolle in der aktuellen politischen Debatte. Der Anfang Februar veröffentlichte kritische Jahresbericht von Human Rights Watch, der auch für die Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien einiges an Gewicht hat, löste bei der kolumbianischen Regierung heftige Reaktionen aus: Der Bericht sei ideologisch gefärbt, man müsse endlich die Angst vor den Menschenrechtsorganisationen verlieren, wetterte Verteidigungsminister Gabriel Silva in einem Interview. Er war zudem vergebens nach Washington gereist: Die finanziellen Mittel der USA für Kolumbiens Militär im Rahmen des Plan Colombia wurden just in der gleichen Woche um 55 Mio. US-Dollar gekürzt. Auch der Freihandelsvertrag zwischen USA und Kolumbien ist – in Erwartung einer verbesserten Menschenrechtssituation – vom US-Kongress noch immer nicht ratifiziert worden und liegt seit inzwischen drei Jahren in der Schublade.
All dies führt selbstverständlich nicht zu einer Wende in der Regierungspolitik. Obwohl sich der Skandal um den Geheimdienst DAS, der JournalistInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen ausspioniert hatte, kaum beruhigt hat und die strafrechtlichen Ermittlungen erst anlaufen, wartete Uribe bereits mit einer neuen Idee auf: ein Netz von 1000 als InformantInnen bezahlten Studierenden in Medellín sollte zur Terrorismusbekämpfung beitragen, wurde aber in der Öffentlichkeit rundweg abgelehnt. Die Mordrate in Medellín steigt wieder, und es zeigt sich deutlich, dass die militarisierte Politik der letzten Jahre die eigentlichen, strukturellen Probleme städtischer Sicherheit nicht lösen kann.
Die unklare Haltung der Regierung gegenüber möglichen Verhandlungen mit den sogenannten aufstrebenden Banden (die „neuen Paramilitärs“), die unter Leitung der katholischen Kirche stattfinden sollen, und die Verzögerungen bei der anstehenden Freilassung zweier von der FARC-Guerilla entführten Soldaten tragen zur Irritation bei. Währenddessen gehen repressive Maßnahmen gegen Oppositionelle wie gewohnt weiter: Am 6. Februar beispielsweise wurden bei einer Massenverhaftung durch Militärs in der Region Catatumbo einmal mehr 16 Aktivisten der Bauernorganisation ASCAMCAT festgenommen.
Geradezu bizarr wirkt die fortgeführte „Sicherheitspolitik“: In Massengräbern werden immer wieder als verschwunden gemeldete ZivilistInnen gefunden, die als angebliche Gueriller@s in Gefechten mit dem Militär umgekommen sein sollen. Diese Praxis, ZivilistInnen zu verschleppen und zu ermorden, ist nicht neu, aber ganz offenbar systematisch geworden, seit die Regierung Uribe Bonuszahlungen für Soldaten eingeführt hat, die getötete Gueriller@s präsentieren. Laut Staatsanwaltschaft sind in den letzten Jahren vermutlich über 3.000 meist junge Männer aus den Slums der Hauptstadt Bogotá und anderer Städte in diesem Zusammenhang ermordet worden.
Mehrere Mütter von Verschwundenen aus Soacha bei Bogotá wollten sich nicht damit abfinden, dass ihre Söhne Mitglieder der Guerilla gewesen sein sollten und erreichten in den vergangenen Monaten ein gewisses Maß an öffentlichem Interesse. Wegen des Verdachts der Ermordung von 19 jungen Männern aus Soacha und Ciudad Bolívar stehen nun 46 verantwortliche Soldaten bis auf weiteres auf einer Militärbasis in Bogotá „unter Arrest.“ Dorthin wurden sie aus einem Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Nun wurde öffentlich, welche Art Willkommen das Militär den immerhin des Mordes Verdächtigen ausgerichtet hatte: Ihre Familien waren anwesend, die Soldaten bekamen aromatherapeutische Massagen, ihre Kinder wurden von Clowns unterhalten und die Frauen der Soldaten von KosmetikerInnen verschönert. Derartige Wohltaten hat wohl nicht jedes Militär zu bieten. Die „Mütter von Soacha“, wie sie inzwischen genannt werden, haben dagegen nicht einmal eine finanzielle Entschädigung erhalten. Der Vorfall sorgte selbst in der kolumbianischen Presse, die nicht gerade für kritische Berichterstattung bekannt ist, für scharfe Kritik. Die eher kritische Zeitschrift Cambio wurde im Februar von ihrem Verlag geschlossen, offiziell aus Gründen der Wirtschaftlichkeit. Erschienen war die Zeitschrift in der Verlagsgruppe Editorial El Tiempo, die der einflussreichen Santos-Familie gehört.
Zwar nutzte Uribe in den letzten Wochen seinen Präsidentenstatus, um fast täglich in allen erdenklichen Kommunikationsmedien aufzutreten und intensiv Wahlkampf für sein Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ zu betreiben. In der kolumbianischen Presse wird allerdings gemunkelt, der Präsident habe seinen „Teflon-Effekt“ verloren – schien doch früher jeder Skandal an seiner Popularität abzuperlen: Selbst viele, denen Uribes enge Verbindungen zu paramilitärischen Terrorgruppen bewusst waren, zuckten während seiner ersten Legislaturperiode gern mit den Schultern. „Paraco, pero veraco“, etwa, „er mag ja ein Paramilitär sein, aber immerhin räumt er hier mal auf“. Ganz so leicht scheint es heute nicht mehr zu sein, über den Sicherheitsdiskurs und das Schüren von Ängsten die autoritäre und ultraliberale Politik zu legitimieren. Denn diese schadet möglicherweise inzwischen auch der kleinen, aber für die Wahlen wichtigen kolumbianischen Mittelschicht. Gerade die Dekrete zum Gesundheitssystem treffen nicht nur völlig mittellose Bevölkerungsgruppen auf dem Land, die ohnehin einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, sondern sind auch unter ÄrztInnen und städtischer Bevölkerung auf große Ablehnung gestoßen.
Dennoch: Selbst angesichts der Tatsache, dass Uribe für die kommende Legislaturperiode nicht mehr selbst als Präsidentschaftskandidat antritt. Sein aggressives Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ kann mit einer Fortsetzung rechnen. Der autoritäre Umbau der Gesellschaft der letzten acht Jahre, die Legalisierung paramilitärischer Gruppen und die utraliberale Politik zugunsten ausländischer Investoren sind angesichts der Kräfteverhältnisse im Land kaum rückgängig zu machen. Aus Uribes Lager hat der ehemalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos bereits vor Monaten vorsorglich seine Kandidatur erklärt, sollte Uribe nicht selbst antreten können. Zwar wird eine Stichwahl für möglich gehalten, aber kaum eineR der zahlreichen GegenkandidatInnen wird wohl genug Stimmen für sich gewinnen. Santos dürfte ein „würdiger“ Nachfolger Uribes sein. Als Verteidigungsminister zeichnete er unter anderem verantwortlich für die Ermordung von als Aufständischen ausgegebenen ZivilistInnen und für den Bombenangriff auf ein Lager der FARC auf ecuadorianischem Boden 2008.

Ein Gespenst geht um

Ganz Asunción schien in Weiß gehüllt zu sein. Es war jedoch kein Schnee, sondern eine Vielzahl von Schleifen, Plakaten und Aufklebern, die das Hauptstadtpanorama derart prägten. Geziert mit Schriftzügen wie „Wir alle sind Fidel“, „Kraft für Fidel“ oder „Für ein friedliches Paraguay“ sollten diese Solidarität mit dem Großgrundbeseitzer und Viehzüchter Fidel Zavala demonstrieren. Dieser erlangte dann Mitte Januar seine Freiheit wieder, nachdem er 94 Tage zuvor von einer Guerilla, die sich Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) nennt, entführt worden war. Lösegeld in Höhe von einer halben Million US-Dollar sowie die Übergabe 30 geschlachteter Rinder an arme Gemeinden ließen seine EntführerInnen schließlich einlenken.
Es war nicht das erste Mal, dass die EPP in Erscheinung trat. Doch das meiste, was über sie bekannt ist, bleibt Spekulation, die meisten ihrer aktiven Mitglieder in Freiheit ohne Gesicht. Ihre Zahl wird auf 15 bis 60 geschätzt. Der Kreis der SympathisantInnen und UnterstützerInnen sei um einiges größer. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft, da diese laut EPP auf der extremen Armut der Massen aufbaue.
Die Wurzeln der Gruppe liegen in der linksradikalen Partei Patria Libre. In den 1990er Jahren beteiligte sich die Partei auf legale Weise am politischen Geschehen und wurde geleitet von den Führungsfiguren Juan Arrom und Anuncio Martí. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wechselten sie 2001 die Strategie: Teile der Partei waren in die Entführung von María Bordón de Debernardi verwickelt, der Schwiegertochter des ehemaligen Direktors des Wasserkraftwerks Itaipú, Enzo Debernardi. Die Entführte wurde nach Zahlung von zwei Millionen US-Dollar Lösegeld freigelassen.
Die Staatsgewalt wusste sich damals nicht anders zu helfen, als ihrerseits Arrom und Martí zu entführen und in einer leerstehenden Wohnung in den Außenbezirken von Asunción zu foltern. Dunkle Erinnerungen an die Militärdiktaturen werden hier wach. Beide kamen schließlich auf Druck von Angehörigen und der Presse frei, und flüchteten kurz darauf nach Brasilien.
Doch die Entführungen gingen weiter. Im September 2004 traf es Cecilia Cubas, die Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Verhandlungen blieben erfolglos, und fünf Monate später wurde die tote Cubas nackt und gefesselt in einem Erdloch aufgefunden. Angehörige von Patria Libre bestreiten bis heute ihre Beteiligung an der Tat. Osmar Martínez wurde als Drahtzieher zu 35 Jahren Haft verurteilt, doch er bezeichnet die gegen ihn vorliegenden Beweise als fingiert. Ein angeblich aufgefundenes Instruktionsvideo sowie diverse Emails sollen außerdem die Verwicklung der kolumbianischen FARC beweisen. Doch die ehemalige Guerillera Carmen Villalba widerspricht dem. Nach der Debernardi-Entführung wurde sie verhaftet und zu 18 Jahren hinter Gittern verurteilt und stellt seitdem aus dem Gefängnis heraus eine Art Stimme der bewaffneten Gruppe dar. Sie behauptet, die Verbindung zur FARC sei erfunden worden, um Gelder aus Kolumbien und den USA zur Terrorismusbekämpfung einzuwerben.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Im März 2008 trat sie dann unter ihrem heutigen Namen EPP erneut in Erscheinung. Damals zerstörten die gueriller@s mehrere Produktions‑
anlagen einer Sojaplantage, gegen deren Besitzer zuvor Vorwürfe wegen Pestizideinsatzes erhoben worden waren. Einen Monat später folgte ein Überfall auf eine Polizeistation in Hugua Ñandu, bei dem Waffen erbeutet wurden. Im Juli wurde der Großgrundbesitzer Luis Lindstroem entführt, der nach einer Zahlung von 350.000 US-Dollar freigelassen wurde. Ende 2008 attackierte die Gruppe einen Militärposten in Tacuatí und ließ diesen in Flammen aufgehen. Auf massiven Druck der Medien hin wurde von staatlicher Seite der „Plan Jerovia“ (Guaraní für „Glaube“) ins Leben gerufen. Eine Hundertschaft von Polizisten und Spezial‑
einheiten durchpflügte den Norden des Landes. Während es dabei zu Misshandlungen von campesin@s kam, konnten die Sicherheitskräfte keine Spuren der Guerilla finden. Zuletzt war im März 2009 von der EPP zu hören, als ihr ein glimpflich abgelaufener Bombenanschlag auf den Justizpalast von Asunción zugeschrieben wurde.
Das operative Zentrum der Gruppe soll sich im Norden des Landes befinden. In dieser Region im Dreieck der Departamentos San Pedro, Concepción und Amambay ist die ungleiche Landverteilung besonders ausgeprägt, es gibt viele GroßgrundbesitzerInnen, die Wälder abholzen, sich der extensiven Viehzucht und dem Anbau von gentechnisch manipulierten Soja widmen. Präsident Fernando Lugo machte sich vor seinem Wahlsieg in diesem Gebiet als Armenbischof einen Namen. Die Armut der Masse der Kleinbäuerinnen und -bauern stellt einen reichen Nährboden für politische Gruppierungen dar, die Besserung versprechen. Ihre sozialrevolutionäre Rhetorik verschafft der EPP natürlich auch Sympathie von Seiten der Kleinbäuerinnen und -bauern. Manche sprechen gar von einer Symbiose à la Robin Hood. Nach dieser Interpretation steckt die EPP das von ihr erbeutete Geld in Hilfsprojekte und finanziert soziale Proteste. Zu dieser Darstellung der Guerilla passt die Forderung der EPP, die Familie Zavalas solle 30 geschlachtete Rinder an indigene Gemeinden und Armensiedlungen abgeben. Dass es aber erst einer Guerilla für solch ein soziales Engagement bedürfe, spricht Bände über die schwache Zivilgesellschaft des Landes.
Die staatliche Seite spricht der Gruppe dennoch jegliche politische Intention ab. Keine Guerilla, sondern eine verbrecherische Bande treibe ihr Unwesen in einem Land, in dem Entführungen gut betuchter Personen so unüblich ja auch nicht sind. So wird behauptet, die EPP sei in Wirklichkeit eine Drogenmafia, die für ihre kriminellen Machenschaften nur ein politisches Käppchen aufgesetzt habe. Eigentlich legitime soziale Forderungen lassen sich so natürlich leicht kriminalisieren.
Präsident Fernando Lugo bleibt bei all dieser Spekulation auch nicht verschont. Rechte Kreise in Paraguay werfen ihm wegen seiner vermeintlich klassenkämpferischen Rhetorik die Anstachelung sozialer Verwerfungen und eine Mitschuld an der Gewalt vor. Andere sehen seine angebliche Tatenlosigkeit als Beweis für eine Sympathie mit der Guerilla oder meinen gar persönliche Kontakte zwischen ihm und der Gruppe ausmachen zu können, da einige der Beteiligten ehemalige Schüler seines Priesterseminars sein sollen. Arrom, der charismatische, ehemalige Chef von Patria Libre, den viele trotz seines Exils in Brasilien in Verbindung mit den Entführungen sehen, wird ebenfalls eine sehr enge Beziehung zum Präsident nachgesagt. Angeblich soll er auf einer Feier einer der Frauen gesehen worden sein, die den ehemaligen Bischof Lugo als Vater ihres Kindes proklamieren. Der Sinn einer solchen Verbindung dürfte sich allerdings ausschließlich MitarbeiterInnen der Regenbogenpresse erschließen.
Die einzigen Zusammenhänge, die sich zwischen Lugo und der Guerilla ausmachen lassen, liegen in den Stellungnahmen der EPP. Dort wird die sehr unbefriedigend verlaufende Agrarreform als einer der Gründe für die Aktionen genannt. Der Präsident seinerseits distanziert sich von jeglichem gewaltsamen Extremismus.
Die Linke nimmt Lugo dagegen die von dem ihm treuen Innenminister Rafael Fillizola eingeleitete „Operativo Triangulo“ übel, die ähnlich dem „Plan Jerovia“ erneut mehrere hundert Spezialkräfte in den Norden verlagert. Bei vielen weckt dies schlimme Erinnerungen an vergangene Tage. Erst nach der Zahlung des Lösegeldes im Fall Zavalas kam es zur Verhaftung einer Reihe vermeintlicher gueriller@s, welche die EPP logistisch unterstützt haben sollen. Es traf unter anderem die Tochter eines bekannten Funktionärs der Bauernorganisation OCN, die in Kuba studiert hatte.
Mag die Erfolglosigkeit bei der Suche nach den zentralen Aktiven der EPP vielleicht daran liegen, dass die EPP letztlich gar nicht existiert? Ist sie gar eine Fantasiegeburt der Presse und konservativer Kräfte, um Lugo in Verlegenheit zu bringen? Allzu dünn seien die Beweise, die auf die Existenz der Guerilla hinweisen, glauben die VertreterInnen dieser Theorie. Auch wenn diese Version sich einigen Zuspruchs erfreut, scheint sie angesichts des betriebenen Aufwands doch sehr abwegig.
Auf jeden Fall nutzt die Rechte dieses Durcheinander nur allzu gerne aus, um das schon seit einiger Zeit in der Luft schwebende Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo voranzutreiben. Neben dem Wirken der Guerilla – die jedoch schon lange vor Lugo aktiv war – werfen sie Lugo den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Dabei wird unterschlagen, dass Reformen nun einmal Zeit brauchen und Lugo mit der Neuaushandlung des Vertrages mit Brasilien über den Itaipú-Staudamm, sowie den Maßnahmen im Gesundheitsbereich wichtige Schritte gelungen sind. Sein „Programa Abrazo“ brachte außerdem bis heute über tausend Straßenkinder in sozialen Heimen unter.
Trotz der gezielt verzerrten Berichterstattung der mit den UnternehmerInnen des Landes verflochtenen Massenmedien fehlen für das Amtsenthebungsverfahren bisher noch die notwendigen Stimmen. Teile der Liberalen Partei PRLA, die Lugo ursprünglich unterstützte, fahren daher weiterhin schwere Angriffe gegen ihn. Vizepräsident Federico Franco, der als Teil der Exekutive den Präsidenten zwar kontrollieren, aber eigentlich unterstützen sollte, spinnt fleißig Intrigen und sieht sich wohl bereits als Lugos Erbe. Damit will die Colorado-Partei, die wegen Lugo ihre 68 Jahre dauernde Alleinherrschaft beenden musste, nicht leben. Doch mit der Ankündigung ihres Angeordneten Luis Alberto Castiglioni, mit seiner Gefolgschaft künftig das Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen, könnte Francos Wunsch bald in Erfüllung gehen.
Offen ist, wie sich das Militär verhalten wird. Die Streitkräfte halten sich zwar seit den verheerenden Ereignissen um ihren damaligen Oberbefehlshaber Lino Oviedo, der 1996 und 1999 beinahe putschte, mit ihrer Einflussnahme auf die Politik zurück. Aber Spannungen zwischen Lugo und den Streitkräften sind offensichtlich. Und seit seinem Amtsantritt besetzte Lugo bereits mehrfach führende Generalsposten in den Streikräften neu.
Gerade die jüngsten Ereignisse in Honduras haben auch gezeigt, wie verfassungswidrige militärische Einflussnahme innerhalb kurzer Zeit per Wahlen nachträglich legitimiert werden kann. Diese Erfahrung könnte die Militärs zusätzlich anstacheln. Mit oder ohne Guerilla, dem Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.

Spannungen an der Grenze

Die aktuellen Auseinandersetzungen begannen während eines Fußballspiels. Am 11. Oktober wurde eine Gruppe von kolumbianischen Straßenhändlern entführt, die sich zu einem Fußballturnier auf der venezolanischen Seite der Grenze getroffen hatte. Während das Amateur-Derby lief, fuhren Kleintransporter auf den Platz und 25 Bewaffnete in schwarzen Uniformen umstellten die Spieler. Mit Namenslisten wurden zwölf Männer, darunter acht Kolumbianer, ausgesondert, auf die Autos geladen und mitgenommen. Die Entführung machte zu diesem Zeitpunkt nur in den lokalen Medien Schlagzeilen. Erst als die Entführten zwei Wochen später in der venezolanischen Ortschaft Chururú erschossen aufgefunden wurden, beachtete auch die internationale Presse den Fall. Am schnellsten äußerte sich der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe. Er behauptete, die Mörder seien Mitglieder der kolumbianischen Guerilla Heer der Nationalen Befreiung (ELN) und Venezuela biete den Aufständischen Unterschlupf. Ihm sekundierte der Gouverneur Tachiras, César Pérez Vivas. Der Oppositionspolitiker der christlich-sozialen Partei COPEI hatte vor wenigen Wochen Schlagzeilen gemacht, als er behauptete, der venezolanische Innenminister sei ein Kommandant der ELN.
Inzwischen steht Pérez Vivas selber im Mittelpunkt der Ermittlungen. Der Gouverneur hat in seinem Bundesstaat ein Gesetz erlassen, dass paramilitärische Sicherheitsinitiativen legalisiert und soll sich laut Informationen der Bundesregierung in Kolumbien mit Vertretern der dortigen Paramilitärs getroffen haben. „Wir werden nicht zulassen, dass Pérez Vivas die Souveränität des venezolanischen Staates untergräbt“, hatte Vizepräsident Ramón Carrizales schon im September angekündigt. Auch Iris Varela, in Sicherheitsfragen stets gut informierte Parlamentarierin der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (Psuv), beschuldigt den Gouverneur, die Paramilitärs zu unterstützen. Es würden Foto- und Tonaufnahmen existieren, die Funktionäre der Landesregierung Tachira zusammen mit Paramilitärs zeigen. „César Pérez Vivas ist dabei, informelle Sicherheitsstrukturen aufzubauen und den Privatunternehmen zur Verfügung zu stellen.“ Dabei würde die Regionalregierung auf die selben kolumbianischen Paramilitärs zurückgreifen, die in der Region zu sozialen Säuberungen aufgerufen hätten.
Varela bezog sich dabei auf die Flugblätter, die Paramilitärs unmittelbar nach dem Mord an den Straßenhändlern verteilt hatten. Darin drohten sie Menschen, die „mit den Streitkräften kollaborieren“, mit „sozialen Säuberungen“ – ein Begriff, der in Kolumbien für die Ermordung sozial unerwünschter Personen verwendet wird. Außerdem forderten die anonymen VerfasserInnen die LadenbesitzerInnen, Unternehmen und Schulen in der Region auf, am 30. Oktober zu schließen. Wer der Forderung nicht nachkomme, müsse die Konsequenzen tragen. Die Drohung wirkte: Etwa tausend und damit rund 90 Prozent der Läden blieben nach Schätzungen lokaler Medien in den Orten an der Grenze zu Kolumbien geschlossen. Laut der örtlichen Nationalgarde ist dies ein einmaliger Vorgang. Zwar habe es in den letzten Monaten immer wieder Drohungen gegeben, aber niemals hätten sie eine solche Wirkung gehabt. Das Militär verstärkte am Wochenende die Präsenz in drei der betroffenen Gemeinden und verhaftete acht Kolumbianer sowie zwei Venezolaner. Unter den Verhafteten befindet sich ein bekannter Führer der Paramilitärs.
Bereits zwei Tage später kam es zum nächsten Zwischenfall: In der Gemeinde Pedro María Ureña schossen unbekannte Motorradfahrer auf einen Kontrollpunkt der Nationalgarde. Die Kugeln trafen zwei der Gardisten in den Rücken. Sie starben an den Verletzungen. Der für die Region zuständige Brigadegeneral, Franklin Márquez, bezeichnete die Täter als Angehörige von „irregulären Gruppen, die Angst und Unsicherheit in der Region verbreiten wollen“ – ein deutlicher Hinweis, dass er damit Paramilitärs meinte. Dieser Überfall brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Präsident Hugo Chávez forderte César Pérez Vivas auf, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken und riet dem Oppositionspolitiker, sich um ein Asyl in Peru zu kümmern. Dort sind mehrere venezolanische Oppositionspolitiker untergetaucht, gegen die in Venezuela Strafverfahren laufen.
Die Vorgänge weisen darauf hin, dass sich irreguläre rechte Milizen an der Grenze zu Kolumbien so fest etabliert haben, dass sie die sozialistische Regierung in Caracas offen herausfordern können. Damit rückt das Problem des Paramilitarismus nun ins Zentrum der venezolanischen Politik. Untrennbar verbunden ist der Konflikt mit dem Nachbarland Kolumbien. Die venezolanischen Behörden sprechen zwar von „irregulären Kräften“, „Bandenkriminalität“ oder „Paramilitärs“, gemeint sind aber die Nachfolgeorganisationen der Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC), die dort nach einer aktuellen Bilanz der Staatsanwaltschaft für mindestens 25.000 Morde verantwortlich sind. Als scheinbar unabhängiger Kriegsakteur haben sie im Auftrag der Regierung Uribe den Konflikt mit Guerilla entscheidend beeinflusst. BeobachterInnen fühlen sich unterdessen an die 1980er Jahre in Nicaragua erinnert. Dort hatten mit den Contras ähnliche informelle Verbände, die mit Hilfe der USA von den rechts regierten Nachbarländern aus agierten, die sozialistische Regierung der FSLN in einen zermürbenden Kleinkrieg verwickelt. Auch aktuell kann die rechte Regierung in Kolumbien mit Unterstützung der USA rechnen. Erst Ende Oktober unterzeichneten Barack Obama und Alvaro Uribe eine Vereinbarung über sieben neue Militärstützpunkte für die USA in Kolumbien.
Ein weiteres Indiz für die zunehmenden Spannungen zwischen den Nachbarländern ist die Verhaftung von drei Kolumbianern Ende November, die als Mitarbeiter der kolumbianischen Geheimpolizei (DAS) in Venezuela spioniert haben sollen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Verhafteten zahlreiche Unterlagen sichergestellt, welche die Tätigkeit der mutmaßlichen Agenten belegen. Ihr Ziel sei gewesen, Informationen über die venezolanische Armee zu beschaffen. Die kolumbianische Regierung dementierte umgehend die Zugehörigkeit der Verhafteten zur Geheimpolizei. Die kolumbianische Seite hatte auf ähnliche Vorwürfe immer wieder geantwortet, dass Mitarbeiter der DAS ein „ausdrückliches Verbot“ hätten, sich nach Venezuela zu bewegen.
Die jüngsten Ereignisse bedeuten eine weiteren Tiefpunkt in den diplomatischen Beziehungen beider Länder, die seit Monaten auf Eis liegen, nachdem die kolumbianische Regierung behauptet hatte, die Chávez-Regierung habe Waffen an die kolumbianische Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbien (Farc) verkauft. Die mutmaßlichen Beweistücke entpuppten sich zwar tatsächlich als venezolanische Waffen. Sie waren allerdings bereits vor Chávez‘ Amtszeit durch die andere Guerilla ELN bei einem Angriff auf das venezolanische Militär erbeutet worden.

Vorsicht mit den fremden Mächten

„Vorsicht walten lassen und Suppe essen hat noch niemandem geschadet!“ Der brasilianische Präsident Luis Inácio „Lula“ da Silva liebt es, seine politische Position in der Form von Sprichwörtern auszudrücken. Und so erklärte er auch seine Skepsis gegenüber dem „Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen“ zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August mit einer so genannten Volksweisheit. Grund für die Vorsicht sieht Lula in der langen Grenze im Amazonasgebiet, die Brasilien mit Kolumbien teilt. Er wies darauf hin, dass Industrienationen an den natürlichen Ressourcen in der Region interessiert sein könnten.
Mit dem Abkommen bekommt das US-Militär Zugang zu drei Luftwaffenstützpunkten der kolumbianischen Luftwaffe, zwei Stützpunkten der Armee, sowie zu zwei Marinestützpunkten. Offiziell ist es „nur“ eine Ausweitung des Plan Colombia aus dem Jahr 2000, mit dem die USA Kolumbien bei der Bekämpfung von Drogenhandel und der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) helfen wollten. Doch schon der Plan Colombia hat vehemente Kritik aus allen Teilen der Welt, insbesondere natürlich in Lateinamerika, hervorgerufen.
So verwundert es nicht, dass die Skepsis gegenüber der militärischen Kooperation zwischen den USA und Kolumbien nicht nur von Lula ausging. Auf dem außerordentlichen Gipfel der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der am 28. August in San Carlos de Bariloche tagte, äußerten sich fast alle anwesenden Regierungschefs kritisch über die wachsende Präsenz US-amerikanischer Militärs in Kolumbien.
Insbesondere die Präsidenten Ecuadors und Boliviens, Rafael Correa und Evo Morales, verurteilten das Kooperationsabkommen. Evo Morales verlangte, dass die UNASUR generell den Aufbau von fremden Militärbasen in Südamerika unterbinden solle. „Wenn hier niemand eine Militärbasis will, warum können wir nicht einfach hier und jetzt ein Dokument unterschreiben, das besagt, dass die südamerikanischen Präsidenten keine ausländischen Basen akzeptieren?“ fragte er. Wohl um Kolumbien nicht zu eindeutig zu verärgern, einigte man sich im Abschlussdokument der Konferenz auf die diplomatischere Formel, dass Südamerika eine „Friedenszone“ bleiben solle und fremde Basen zu verurteilen seien, die den Frieden der Region gefährden könnten.
Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe verteidigte auf dem Treffen in Bariloche den Deal mit den USA. Er richte sich ausschließlich gegen Drogenhändler und die FARC-Guerilla. Und schließlich sei nichts Besonderes dabei. Immerhin seien seit 1952 US-Truppen in Kolumbien anwesend. Darauf fragte Lula, wie effizient denn dann diese Militärhilfe sei: „Wenn uns unser Kollege Uribe zeigt, dass die US-Basen bereits seit 1952 in Kolumbien existieren, dann will ich – ganz liebevoll – sagen, dass, wenn die Basen seit 1952 existieren und es noch immer keine Lösung für die Probleme gibt, wir über eine andere Möglichkeit nachdenken sollten, um die Probleme zu lösen.“
Uribe verwies auch darauf, dass laut dem Abkommen zwischen den USA und Kolumbien die Kontrolle der Basen bei den kolumbianischen Streitkräften verbleiben würde. „Was auch immer der Inhalt des Vertrags zwischen den USA und Kolumbien besagt, die kolumbianische Verfassung erlaubt nicht, dass [von diesen Basen aus] Truppenverschiebungen getätigt werden“, erklärte er weiter. Es gehe also, so Uribes Schlussfolgerung, keine Gefahr für die anderen südamerikanischen Ländern von der US-Militärpräsenz in Kolumbien aus.
Dagegen hielt Rafael Correa, dass Kolumbien dies nicht kontrollieren könne. Er verwies auf eine Klausel im Abkommen zwischen den USA und Kolumbien, wonach Mitglieder der US-Streitkräfte nicht von einem kolumbianischen Gericht verurteilt werden dürften. Wenn ein US-Militär gegen geltendes Recht verstoße, müsse er, nach dem Vertrag vom 14. August, in den USA verurteilt werden. So sichert sich das US-Militär – trotz der so sehr betonten kolumbianischen Kontrolle der Stützpunkte – extraterritoriale Gerichtsbarkeit für ihre Angehörigen. Wenn nun, so spekulierte Correa, von den US-Basen in Kolumbien Ecuador oder ein anderes Land angegriffen werden sollte, könnten die Militärs ebenfalls nicht von einem lateinamerikanischen Tribunal verurteilt werden.
Ebenso sieht der venezolanische Präsident Hugo Chávez sich von der wachsenden US-Militärpräsenz bedroht. Er fühle sich „im Blickpunkt der Basen“, sagte er, als am 14. August die Nachricht über das neue Abkommen veröffentlicht wurde. Er glaube, dass die Basen der Auslöser für einen Krieg in Südamerika sein könnten.
Die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien haben sich zusätzlich verstärkt, als Kolumbien Venezuela beschuldigte, die Guerilleros von der FARC mit schwedischen Waffen ausgestattet zu haben. Daraufhin rief Caracas seinen Botschafter in Bogotá zurück – inzwischen veröffentlichte der südamerikanische Fernsehsender Telesur Videoaufnahmen, die belegen, dass kolumbianische Guerilleros von dem Nationalen Befreiungsheer ELN die Waffen von venezolanischen Grenztruppen erbeutet hätten. Wie sie danach zur FARC gekommen sind, ist aber immer noch ungeklärt.
Die anderen südamerikanischen Staatschefs haben durchaus Recht zu hinterfragen, ob sich die US-Militärpräsenz nur gegen die Guerilla FARC und den Drogenhandel in Kolumbien richtet. Insbesondere der venezolanische Präsident Hugo Chávez verwies auf eine veröffentlichte Studien des Aerial Mobility Command der USA. In diesem Papier werden die kolumbianischen Stützpunkte als wichtige Posten für strategische Flugzeuge genannt. Zwar seien die Basen gar nicht für größere Truppenverschiebungen ausgelegt, aber auf dem Weg nach Afrika und in andere Regionen Südamerikas könnten strategische Transportflugzeuge des Typs C 17 von den Basen aus aufgetankt werden. Und solche Tankstellen brauchen die USA derzeit. Im November läuft nämlich das Nutzungsabkommen zwischen Ecuador und den USA über den Militärstützpunkt Manta aus und wird nicht verlängert, da die neue ecuadorianische Verfassung ausländische Militärbasen in dem Andenstaat verbietet. Wollen die USA nicht ihre militärische Mobilität auf der Südhalbkugel verlieren, brauchen sie also dringend Ersatz. Kleinere „Expeditionsbasen“ wie die in Kolumbien, können dabei also von Nutzen sein. Überhaupt plant das US-Militär eine Verschiebung ihrer Strategie, weg von großen Basen überall auf der Welt, hin zu mehr Mobilität. Dadurch wächst gerade die Bedeutung kleinerer Basen wie der in Kolumbien.
Solche Veröffentlichungen aus den Führungskreisen des US-Militärs selbst verstärken natürlich die Skepsis der südamerikanischen Staatschefs, ob die Basen wirklich nur für den Gebrauch innerhalb Kolumbiens gedacht sind. Deshalb forderten mehrere Staatschefs, darunter Lula und Correa, dass Präsident Obama sich mit den Präsidenten der UNASUR treffen und seine Pläne für die Lateinamerikapolitik erklären sollte. Zusätzliche Spannung in das Thema bringt die Tatsache, dass Uribe regelmäßig die Regierungen Ecuadors und Venezuelas beschuldigt, die Guerilla FARC zu unterstützen. Auf dem Gipfel in Bariloche behauptete er erneut, dass zwei hochrangige FARC-Funktionäre sich in Venezuela aufhalten würden. Die Nachbarn Kolumbiens befürchten nun, dass die vorgebliche Unterstützung der FARC den USA als Anlass dienen könnte, sie von den kolumbianischen Basen aus anzugreifen. Deshalb wies auch Rafael Correa die Vorwürfe, Ecuador biete der FARC einen sicheren Hafen, vehement zurück: Die Präsenz der FARC in der Grenzregion sei ein kolumbianisches Problem, sagte er auf dem Gipfel. Er verlangte dagegen, dass Kolumbien gefälligst die Grenzen besser bewache.
Obwohl die Staatschefs sich über sieben Stunden in Bariloche austauschten, blieb es am Ende bei dem besagten Abschlussdokument, dass nur indirekt das Abkommen zwischen USA und Kolumbien verurteilte. Schuld daran, dass keine endgültige Lösung für den Konflikt gefunden wurden, sei die Tatsache, dass die Verhandlungen im südamerikanischen Fernsehen direkt übertragen wurde, meinte Lula. Alle Staatschefs wären zu sehr darum bemüht gewesen, in ihren jeweiligen Ländern den richtigen Eindruck zu hinterlassen, anstatt wirklich auf eine Lösung hinzuarbeiten. „Wenn alles übertragen wird, sagen die Leute nicht, was sie wirklich denken“, meinte der brasilianische Staatschef.
Doch auch ohne verschlossene Türen zeigte sich, wie isoliert der engste Verbündete der USA in Lateinamerika, Álvaro Uribe, inzwischen auf dem Subkontinent ist. Seine Stimmung wird sich bestimmt nicht verbessert haben, als er kurz nach dem Treffen an der Schweinegrippe erkrankte. Vielleicht hört er ja auf Lulas Rat: Hühnersuppe soll sehr gut bei grippalen Infekten helfen.

„Eine nachhaltige Produktion von Palmöl gibt es nicht“

Gibt es Ihrer Meinung nach eine nachhaltige Produktion von Palmöl?
Nein. Um rentabel zu produzieren, und das wollen die Unternehmen schließlich, sind Monokulturen nötig. Dadurch wird immer Umwelt zerstört und werden immer Bauern und Bäuerinnen gewaltsam vertrieben werden. Und damit wird auch die Produktion von Nahrungsmitteln beendet, mit denen sich die Kleinbauern selbst und das ganze Land ernähren könnten. Das bedeutet für Kolumbien: Anstatt einen Großteil für den Eigenbedarf zu produzieren, müssen wir nun importieren. Wir glauben weder daran, dass eine nachhaltige Produktion möglich ist, noch an die Sozialverantwortlichkeit der Unternehmen. Deren Kriterien übergehen immer die Bedürfnisse und das Leben der Gemeinschaften, die die eigentlichen „Besitzer“ des Landes sind.

Von ihrem Land wurden die Gemeinschaften bereits mehrfach vertrieben, oder?
Ja. Nach der ersten Vertreibung von 1996 versuchten einzelne Grüppchen in die Region zurück zu kehren. Doch 2001 wurden sie erneut vertrieben. Von Curvaradó sind alle geflohen, dort wurde dann damit begonnen, Palmölplantagen zu errichten. Die Vertreibung fällt genau mit dem Beginn der Pflanzungen zusammen. Sie fingen am Fluss Curvaradó an und setzten sich fort bis zum Gebiet des Jiguamiandó.
Die Firmen haben immer behauptet, dass sie Besitztitel für dieses Land hätten. Doch wir haben beweisen können, dass sich die Plantagen auf dem Land der afrokolumbianischen Gemeinschaften befinden. Die Palmölunternehmen haben auch behauptet, tausende Hektar gekauft zu haben. Auch hier konnte bewiesen werden, dass notarielle Dokumente und Unterschriften gefälscht worden sind, so dass die Unternehmen das Land zurück geben müssten, was jedoch bislang nicht geschehen ist.

Gab es auch Menschenrechtsverletzungen im Verlauf der Vertreibungen?
Wir haben seit 1996 an die 120 Fälle von Ermordungen und Verschwindenlassen dokumentiert. Als letztes wurde vergangenes Jahr Wilberto Hoyos in der so genannten Humanitären Zone von Caño Manso ermordet. Die Menschen an diesen beiden Flussläufen haben 15 Vertreibungen erlitten: für 13 sind Paramilitärs und Armee verantwortlich, für eine die Guerilla und eine geschah durch Gefechte.

Gibt es Verbindungen zwischen den Palmölunternehmen und Paramilitärs und der Armee?
Seit Beginn der Aussaat der Ölpalmen haben Armee und Paramilitärs die Plantagen bewacht. Die Zugangswege zum Gebiet des Curvaradó wurden von den Paras versperrt. Außerdem haben wir herausgefunden, dass in Caño Manso die Vereinigung ASOPROBEBA aktiv ist, deren Vertreterin Sor Teresa Gómez ist. Diese hat enge Verbindungen zur Familie Castaño [führende Paramilitärs; Anm. d. A.]. Zurzeit wird gegen sie wegen der Ermordung einer Bauernführerin in der Provinz Córdoba im Januar 2007 ermittelt. Außerdem ist sie die legale Vertreterin von FUNPASCOR, einer Organisation, die schon in den 1980er Jahren von der Familie Castaño gegründet wurde. Darüber hinaus sind auch einige Familien, zum Beispiel die Familie Zúñiga Caballero, hier aktiv, die mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht werden.

Und was haben die PalmölproduzentInnen damit zu tun?
Die Familie Zúñiga Caballero ist im Vorstand der zwei Unternehmen Urapalma und Palmado. Sie sind auch an der Ölmühle in Bajirá beteiligt, wo das Palmöl gepresst wird. Es gibt Indizien dafür, dass hier Drogengeld gewaschen wurde. Wenn Du in der Region bist, siehst Du ständig Leute mit Motorrädern, die von den Menschen hier als Paramilitärs wiedererkannt werden. Oft sind sie die Vorarbeiter in den Plantagen.

Wird gegen diese Leute ermittelt?
Seit Dezember 2007 wird gegen 23 Unternehmer wegen Vertreibung und Mord ermittelt. Doch das läuft sehr langsam, obwohl es mehr als 100 Zeugen gibt. Gegen die Vertreter der afrokolumbianischen Gemeinschaften wird auf der anderen Seite aber sehr wohl ermittelt. Sie werden als Terroristen der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) angeklagt.

Was ist mit der Verantwortung der Militärs?
Gegen Rito Alejo del Río wird gerade prozessiert. Der Fall betrifft die Gemeinschaft am Fluss Cacarica und die Ermordung von Marino López. Es wäre ein erster Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit, wenn Rito Alejo für die Verbrechen verurteilt würde, für die er als Kommandant der 17. Brigade verantwortlich war. Und es ist wichtig, die paramilitärischen Strukturen zu zerschlagen, die weiterhin operieren. Nicht mehr in Tarnuniformen und mit automatischen Gewehren, sondern in zivil, mit Pistolen bewaffnet. Sie verbreiten weiterhin Angst und Schrecken und bedrohen die Leute.

Auch Justicia y Paz wurde schon massiv bedroht. Nützen internationale Proteste etwas?
Wir glauben, dass sie sehr geholfen haben. Bei den Treffen mit der Regierung wurden internationale Protestbriefe erwähnt und kurze Zeit später sank das Niveau der Repression und der Bedrohung. Deshalb konnten wir im Curvaradó weitermachen, wir mussten die Region nicht verlassen. Ohne den internationalen Druck wäre es für uns sehr schwer, die Gemeinschaften weiter zu begleiten.

Und ist mittlerweile schon Land zurück gegeben worden?
Im Februar 2009 haben sie einen Teil des Landes der Gemeinschaften El Cetino und Camelia an das Landwirtschaftsministerium übergeben, das wiederum die Rückgabe regeln müsste. Doch auch das ist bislang nicht geschehen. Außerdem gibt es ein Problem mit den Plantagen auf diesem Land, die teilweise an einem Parasit erkrankt sind. Die Gemeinschaften wollen das Land mit den erkrankten Palmen und den damit verbundenen Kosten nicht übernehmen oder womöglich sogar für die weitere Ausbreitung der Plage verantwortlich gemacht werden. Das Ministerium muss dieses Problem lösen, da es nicht von den Gemeinschaften verursacht wurde.

Was genau sind die Forderungen der Gemeinschaften?
Dass ihnen das Land „gesund“ zurück gegeben wird. Ich bin keine Expertin in dieser Frage, aber man müsste die Palmen wohl fällen. Das ist die Erfahrung aus anderen Landesteilen, wo sich diese Plage ausgebreitet hat. Generell wollen die Leute aber überhaupt keine Palmölpflanzungen. Doch die Palmölunternehmen schlagen „strategische Allianzen“ vor. Die Leute sollen die Palmen behalten und ins Geschäft einsteigen. Wir kennen das aus anderen Regionen. Die Leute verlieren ihr Land wieder, weil sie diese Art des Anbaus nicht kennen und nicht beherrschen. Es sind ja keine Nahrungsmittel. Und die großen Unternehmen beherrschen den Markt und bestimmen den Kaufpreis. Aber das Palmölprojekt schreitet immer weiter voran, anstatt gestoppt zu werden. Bagger, Laster und Arbeiter tun weiterhin ihre Arbeit. Richtung Süden, im Gebiet des Jiguamiandó wird weiter der Urwald abgeholzt und es gibt eine neue Baumschule. Soweit wir wissen, hat der Unternehmer Jaime Sierra von Urapalma sie angelegt.

Was ist mit der Frage nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung?
Die Gemeinschaften fordern Gerechtigkeit für all die Verbrechen, die seit 1996 geschehen sind. Für die Leute bedeutet das in erster Linie, dass sie wieder so leben können wie früher, dass sie Bildung bekommen und auf ihrem Land säen und ernten können. Wir versuchen gerade einen Bewusstseinsprozess anzustoßen, dass die Leute sich darüber klar werden, was alles zerstört wurde, um eine „integrale“ Wiedergutmachung zu erreichen. Denn für die Regierung heißt Wiedergutmachung lediglich eine monatliche Zahlung an die Betroffenen. Doch die Leute wollen ein würdevolles Leben leben, auf ihrem Land, wo sie selbst entscheiden, was und wie sie dort anbauen.

Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für die Zukunft, um den Konflikt zu lösen?
Es ist wichtig zu begreifen, dass die Agrokraftstoffe weder für den Klimawandel noch für die Energieproduktion eine Lösung sind. In einer Diskussion hat einmal ein Experte erklärt, dass wir drei Planeten bräuchten, um die Masse an Energie aus Agrokraftstoffen zu produzieren, wenn wir das aktuelle Modell des Energieverbrauchs beibehalten wollten. Das ist also nicht die Lösung! In Kolumbien bedeutet die Produktion von Agrokraftstoffen eine große Zahl an Menschenrechtsverletzungen, viele Menschen werden ermordet oder verlieren ihre Lebensgrundlage. Es sollte nichts gekauft werden, durch das die Menschenrechte verletzt werden, wie das bei Agrokraftstoffen geschieht.

// Interview: Jochen Schüller

Kampf um Land
Die afrokolumbianischen Gemeinschaften an den Flüssen Curvaradó und Jiguamiandó im Nordwesten Kolumbiens besitzen kollektive Landtitel. Im Fall Curvaradó sind es offiziell 46.084 Hektar und im Fall Jiguamiandó 54.973 Hektar kollektiver Gemeindebesitz. Doch trotz offizieller Landtitel werden auf dem Land illegal Ölpalmen angebaut. Ein großer Teil des Palmöl ist für den Export nach Eruopa bestimmt. Die Gemeinden wurden mehrmals vertrieben. Der Urwald, die kleinen Felder und Weiler der afrokolumbianischen Kleinbauernfamilien wurden zerstört. Der Staat setzt die Landrechte der Gemeinden nicht durch, im Gegenteil, die Plantagen werden von den staatlichen Streitkräften geschützt. Die Kleinbauernfamilien haben sich organisiert und fordern ihr Land zurück. Bislang haben sie jedoch keinen Zentimeter Land zurück bekommen.

Freiheit für Miguel Beltrán

Dr. Miguel Angel Beltrán, Soziologe an der UNAM in Mexiko, wurde am 22. Mai unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der kolumbianischen Guerilla FARC nach Kolumbien abgeschoben und dort inhaftiert. Die wenigen Informationen, die in Deutschland zu diesem Fall bekannt geworden sind, zeigen eine weitere skandalöse Kriminalisierung von kritischen Wissenschaftler/innen im Namen des angeblichen „Kampfes gegen den Terrorismus“.
Die Abschiebung und Verhaftung von Dr. Miguel Angel Beltrán erfolgte auf der Basis einer selbst von internationalen Polizeibehörden umstrittenen Auswertung von Computerdaten, die einem FARC-Kommandanten zugeschrieben werden. Der konkrete Vorwurf gegen ihn ist die angebliche Infiltration akademischer Zirkel in Lateinamerika, um diese unter die Führung der FARC zu stellen. Dass dabei seine wissenschaftlichen Arbeiten zu einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg in Kolumbien als Indizien herbeigezogen werden, zeigt, dass hier eine kritische und für den Staat unliebsame Forschungsarbeit kriminalisiert werden soll.
Auch in Europa wurden in den vergangenen Jahren mehrere Wissenschaftler wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten festgenommen. Im Mai 2008 wurden zwei Wissenschaftler der Universität Nottingham unter Anwendung des britischen „Terrorism Act“ festgenommen und mit Abschiebung bedroht. Anlaß war der Ausdruck von legal erhältlichem Material für die Forschung über Al-Quaida. Im November 2008 wurden im französischen Tarnac 10 Personen im Rahmen von sogenannten Anti-Terrorermittlungen festgenommen. Unter ihnen der Philosoph Julien Coupat, der über 6 Monate in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Begründung war in seinem Fall unter anderem eine vermutete Herausgeberschaft eines als linksextremistisch eingeschätzten Buches „L“insurrection qui vient“ (Der kommende Aufstand) sowie die nicht bewiesene Beteiligung an einer Unterbrechung des Schienenverkehrs .
Julien Coupat musste inzwischen wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden. Ich selbst wurde im Juli 2007 als angeblich „intellektueller Kopf“ einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Indizien auch hier meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen sowie eine nie verborgene linke Gesinnung. Der Bundesgerichtshof hat den Haftbefehl gegen mich inzwischen aufgehoben und den ‚dringenden Tatverdacht‘ verneint.
In all diesen Verfahren gerieten Wissenschaftler/innen und ihre Arbeitsweisen in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Kritische Wissenschaft darf nicht auf dem Altar des internationalen „War on Terror“ geopfert werden.
Die von der mexikanischen Regierung vollzogene Abschiebung in dass immer noch von Menschenrechtsverletzungen geprägte Kolumbien erfolgte ohne jede Rechtsgrundlage. Ich protestiere gegen diese illegale Abschiebung durch die mexikanische Regierung und fordere die unverzügliche und unversehrte Rückkehr von Dr. Miguel Angel Beltrán nach Mexiko.

// Dr. Andrej Holm,
Universität Frankfurt am Main, 04. Juni 2009
Weitere Informationen finden sich unter
http://libertadmiguelangelbeltran.blogspot.com/ und http://colombiasolidarity.net/?q=node/141.

Dritte Amtszeit für Uribe?

Offen ausgesprochen hat er es nicht. Es sind sein diesbezügliches Schweigen und seine mehrdeutige Anspielungen, die den Verdacht nähren, dass der rechte Präsident Álvaro Uribe Vélez vorhat, für eine weitere Amtszeit zu kandieren. Nach aktueller Gesetzeslage dürfte der Präsident kein weiteres Mal kandidieren und in der ursprünglichen Fassung sah sie überhaupt nur eine Amtszeit vor. Doch die Vorzeichen für eine erneute Kandidatur Uribes mehren sich. In Sondersitzungen ließ Uribes Innenminister Valencia Cossio den Kongress über eine Volksbefragung abstimmen, die durch eine Verfassungsänderung eine dritte Legislaturperiode zulassen will. Dazu präsentierten im September letzten Jahres die OrganisatorInnen der geplanten Volksabstimmung über vier Millionen Unterschriften, die sich für ein Referendum aussprachen, und brachten das Vorhaben dadurch in den Kongress. Ende 2008 stimmte das Repräsentantenhaus zu und nun im Mai passierte es den zustimmungspflichtigen Senat trotz heftiger Vorwürfe der Opposition. Diese sprach von Stimmenkäufen und beanstandete die Einflussnahme des Innenministers, der bis zuletzt die Abgeordneten der Regierungskoalition auf das Vorhaben einschwor.
Überhaupt hat das Referendum von Beginn an für Aufsehen gesorgt. So sind der Finanzierung derartiger Initiativen gesetzliche Obergrenzen gesetzt, die die OrganisatorInnen jedoch zu umgehen wussten. Eigentlich liegt die Obergrenze bei 335 Millionen Peso (ca. 110.000 Euro) und einzelne Spenden dürfen nicht mehr als ein Prozent dieses Volumens ausmachen. Allerdings erhielten die Referendum-OrganisatorInnen von einer Asociación Colombia Primero (Vereinigung Kolumbien Zuerst) einen so genannten Kredit von 1.900 Millionen Peso. Dieser Kredit wurde wiederum überwiegend durch Spenden von Unternehmen aufgebracht, darunter zahlreiche Konzessionäre öffentlicher Infrastrukturmaßnahmen, welche ebenfalls ein Vielfaches über dem erlaubten Limit lagen. Pikanterweise sitzen die OrganisatorInnen des Referendums zudem teilweise im Vorstand von Colombia Primero. Alles deutet auf eine nur notdürftig durch das Gebilde zweier Vereinigungen verdeckte Einflussnahme kolumbianischer Wirtschaftskreise zugunsten des Präsidenten hin, unter offenkundiger Missachtung geltender Gesetze.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Recht gebrochen wird. Vieles erinnert an den so genannten Yidispolítica-Skandal, der fünf Jahre zuvor Uribe Vélez seine zweite Amtszeit ermöglichte. Im Juni 2008 wurde die einstige Senatorin Yidis Medina wegen Bestechung verurteilt, weil sie 2004 ihre Zustimmung für die damalige Verfassungsänderung verkauft hatte. Gegen die von ihr benannten Urheber, die damaligen Minister Diego Palacio und Sabas Pretelt, laufen dagegen noch die Ermittlungsverfahren. Bis heute ist daher umstritten, ob die erste Wiederwahl Uribes überhaupt rechtmäßig gewesen ist.
Doch derlei Bedenken interessiert die Mehrheit des kolumbianischen Kongresses wenig. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Volksbefragung rechtzeitig in den verbleibenden Sitzungen zu beschließen. Ganz einfach ist das nicht, denn anscheinend ist den OrganisatorInnen der Unterschriftensammlung ein Formulierungsfehler unterlaufen. Nach der ursprünglichen Fassung müsste der Präsident eine Amtsperiode lang pausieren und könnte erst 2014 wieder antreten. Das widerspricht natürlich dem eigentlichen Ansinnen, die Kontinuität der Regierung von Uribe zu gewährleisten. Deswegen werden zurzeit zwei unterschiedliche Versionen eines Referendums debattiert. Das Repräsentantenhaus beschloss den ursprünglichen Text, während ihn der Senat dagegen modifizierte, um eine sofortige Wiederwahl zu ermöglichen. Jetzt hat zunächst der Vermittlungsausschuss beider Kammern das Sagen darüber, welche der Versionen zugelassen wird. Dann entscheidet das Verfassungsgericht, ob das Referendum überhaupt abgehalten wird.
Die Zustimmung des Verfassungsgerichtes ist durchaus fraglich, denn eigentlich hatte es bei seiner positiven Entscheidung über eine zweite Amtszeit von Uribe eine dritte nachdrücklich ausgeschlossen. Aber damit ist bereits die derzeitige Problematik des Machtgleichgewichts im politischen System Kolumbiens aufgeworfen. Der Präsident hat das Recht, KandidatInnen für das Verfassungsgericht sowie den so genannten Procurador, zuständig für die Aufsicht von StaatsfunktionärInnen, vorzuschlagen. Für das Amt des Generalstaatsanwalts oder der Generalstaatsanwältin, dem staatlichen Ombudsamt und dem Vorstand der Zentralbank hat er sogar das alleinige Vorschlagsrecht. Im Verein mit einer Kongressmehrheit hat der Präsident damit Gelegenheit, diese Posten an loyale AnhängerInnen zu vergeben und je länger er im Amt bleibt, desto stärker kann die Regierung die Kontrolle ihrer eigenen Politik aushebeln.
Ein anschauliches Fallbeispiel ist die Besetzung des Verfassungsgerichtes selber. Im August 2007 wurde Mauricio González in den Magistrat berufen, der vorher als juristischer Sekretär für Präsident Uribe tätig war. Damit scheint die regierungsfreundliche Fraktion im Gericht gestärkt. Zumindest ist es seither in den Beziehungen zur Regierung auffällig ruhig geworden, denn in der Vergangenheit hatte das Gericht etliche Gesetze aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken für ungültig erklärt. Besonders in der ersten Amtszeit von Uribe war es heftigen Anfeindungen ausgesetzt als es die geschnürten Antiterrorismuspakete für ungültig erklärte, welche die Guerilla mithilfe von massiven Grundrechtseinschränkungen zu bekämpfen suchte, und dem autoritären Gebaren der Regierung somit Grenzen setzte.
Gegenwärtig macht der Regierung eher der Oberste Gerichtshof zu schaffen. Hintergrund ist der so genannte Parapolítica-Skandal, die systematische Zusammenarbeit von ParlamentspolitikerInnen und Paramilitärs, mit dessen Untersuchung das Gericht befasst ist und dessen Ende nicht absehbar ist (siehe LN 408). Er verdeutlicht zudem, was für eine politische Elite zusammen mit dem Präsidenten an die Macht kam: politische Kartelle, die ihre VertreterInnen mithilfe regionaler Abkommen mit den rechten Paramilitärs in den Kongress entsenden konnten.
Aber der Parapolítica-Skandal ist nicht Uribes einziges Problem. Während er seine erste Amtszeit strahlend mit Verweis auf seine Erfolge in der Guerillabekämpfung beenden konnte, ist seine Regierung nun immer mehr mit der eigenen Verteidigung beschäftigt. Im Februar, kam heraus, dass der direkt dem Präsidentenamt unterstehende Inlandgeheimdienst DAS jahrelang in illegaler Weise OppositionspolitikerInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen überwachte sowie Richter des Obersten Gerichtes, genau dem Gremium, das mit dem Parapolítica-Skandal befasst ist. Das Verhältnis zur Regierung ist grundsätzlich erschüttert und der Besuch eines UN-Sonderberichterstatters zur Überprüfung der Unabhängigkeit der Justiz ist im Gespräch. Inzwischen lud die Generalstaatsanwaltschaft vier ehemalige Direktoren des DAS vor und ermittelt ebenfalls gegen drei Mitarbeiter des Präsidentenpalastes. All diese Untersuchungen finden immer wieder im nächsten Umfeld von Uribe statt und oftmals scheint es als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis er selber belangt wird. Darüber hinaus gerät er in einem seiner zentralen Anliegen unter Druck: der Sicherheit. Nachrichten über extralegale Hinrichtungen durch das Militär, dem Wiedererstarken paramilitärischer Gruppen und die zunehmende Mordrate in den Großstädten Kolumbiens schmälern die Bilanz seiner Regierungspolitik. So kritisiert inzwischen selbst die traditionell regierungsfreundliche El Tiempo, die als größte Tageszeitung Kolumbiens durchaus Einfluss besitzt, eine mögliche erneute Kandidatur Uribes.
Allerdings muss für die Perspektive Kolumbiens gefragt werden, was der eigentliche Kern des Problems ist: Ein Verbleib von Uribe oder des Uribismus an der Regierung? Zahlreiche NachfolgekandidatInnen haben sich bereit erklärt, seine Politik ganz oder mit Abstrichen weiterführen zu wollen. Da PräsidentschaftskandidatInnen in Kolumbien bis zu den Wahlen ein Jahr lang kein politisches Amt ausüben dürfen, legte der Landwirtschaftsminister Andrés Felipe Arias, auch bekannt als „Uribito“, seine Geschäfte nieder. Drei Monate später folgte ihm der Verteidigungsminister Juan Manuel Santos. Ersterer profilierte sich mit heftigen Äußerungen gegen eine demilitarisierte Zone um Verhandlungen mit der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) aufzunehmen, letzterer war für die Bekämpfung dieser Guerillaorganisation zuständig. Sie hätten Gelegenheit in einem Umfeld zu regieren, in dem Gerichte und andere Kontrollorgane bereits mit loyalen Anhängern besetzt sind. Zudem wären sie von den Skandalen um die Person Uribe befreit. Ein neues Gesicht hätte also durchaus Vorteile. Ob die jüngste Kritik an Uribe von El Tiempo, die im Besitz des oligarchischen Santos-Clans ist, im Zusammenhang mit der Kandidatur des Clansprösslings Juan Manuel steht, ist allerdings unklar. Laut Umfragen liegt die WählerInnengunst jedoch deutlich beim gegenwärtigen Präsidenten, was durchaus verständlich ist, da Uribe einen personalisierten Regierungsstil pflegt. Eventuell hat er sich aber damit keinen Gefallen getan, denn nur er selbst kann mit Sicherheit die Fortdauer seiner Politik garantieren. Im Falle eines Wahlsieges der Opposition müsste er zumindest mit ernsthaften Untersuchungen der Verbindung seiner Regierung zum Paramilitarismus rechnen, ein Unterfangen, was er sicherlich verhindern möchte.
Doch ein optimistischer Blick auf die parlamentarische Opposition Kolumbiens fällt zurzeit schwer. Die Liberale Partei ist selber vom Parapolítica-Skandal betroffen. Zudem tendieren einige ihrer Abgeordneten immer wieder dazu, Uribe zu unterstützen. Einer ihrer aussichtsreichsten Kandidaten ist Rafael Prado, der anfänglich selber ein Anhänger des Uribismus war, sich jedoch später von ihm lossagte. Der linke Polo Democrático Alternativo scheint hingegen von internen Machtkämpfen geschwächt. Die Kommunistische Partei, die Fraktion des Senators Gustavo Petro sowie die des Bürgermeisters von Bogotá, Samuel Moreno, streiten in ihm um Einfluss und vernachlässigen darüber ihre Oppositionsarbeit. Etwas mehr Erfolg scheint laut Umfragen die unabhängige Kandidatur des ehemaligen Bürgermeisters von Medellín, Sergio Fajardo, zu versprechen; zumindest wenn er nicht gegen Uribe antreten müsste. Dabei gäbe es für eine neue Regierung in Kolumbien viel zu tun. Nach Jahren der Usurpation der politischen Macht gilt es den Einfluss der uribistischen Eliten zurückzudrängen, den Friedensprozess mit der Guerilla wiederaufzunehmen, die Rechte der Opfer des paramilitärischen Terrors zu verteidigen und einen sozialen Ausgleich im Land herbeizuführen. Diese Punkte eines oppositionellen Wahlprogramms geraten jedoch durch die personifizierte Debatte um eine Wiederwahl des Präsidenten in den Hintergrund.

Signale ohne Wert

Der Argwohn innerhalb der kolumbianischen Regierung sitzt tief. Auch nach der Freilassung von sechs Geiseln – drei Polizisten, zwei Politiker und ein Soldat – in den ersten Februartagen durch die Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) schwor der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe seine Landsleute weiter auf seinen harten Kurs gegen die Rebellen ein. Die Regierung werde trotz der Freilassungen auch weiterhin versuchen, die verbliebenen Entführten durch Armeeoperationen zu befreien und die RebellInnen militärisch in die Enge zu treiben. „Wir sind bereit zum Frieden, aber nicht zur Täuschung. Wir sind bereit für einen Gefangenenaustausch, jedoch nicht zum Erstarken des Terrorismus“, so Uribe.
Die Geschehnisse während des Prozesses der Freilassungen ließen anmerken, dass sich die Regierung als Beobachterin in der zweiten Reihe unsicher fühlte. Die Zivilorganisation Kolumbianer für den Frieden, die sich aus Intellektuellen des Landes zusammensetzt, leitete gemeinsam mit Brasilien als Unterstützerland und dem Internationalen Roten Kreuz IRK die Freilassungsaktion, während die Regierung keine konstruktive Rolle spielte . Schon bei der ersten Freilassung am 1. Februar brachte die kolumbianische Luftwaffe die Übergabe beinahe zum Scheitern. Denn ihre Aufklärungsflüge über dem Gebiet ließen Angst vor der Präsenz regulärer Truppen unter den RebellInnen aufkommen und verzögerten die Übergabe der drei entführten Polizisten und des Soldaten. Verteidigungsminister Santos entschuldigte sich öffentlich für den Zwischenfall, erklärte aber, dass sich die Maschinen oberhalb von rund 3500 Höhenmeter befanden, was als Toleranzbereich ausgemacht worden sei. Dagegen erklärten Vertreter des IRK, dass zuvor absolutes Flugverbot vereinbart worden sei.
Damit wurde deutlich, dass die Regierung den Prozess zu torpedieren versuchte. Denn schon in der gleichen Nacht legte Präsident Uribe nach. Er erkannte der Organisation Kolumbianer für den Frieden ihre Rolle als Vermittlerin ab und erlaubte nur noch Brasilien und dem IRK die Begleitung der noch ausstehenden Freilassungen. Begründung: Allen voran die Gründerin der Organisation, Senatorin Piedad Córdoba, die schon vor eineinhalb Jahren gemeinsam mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Freilassungen ermöglichte, sei daran interessiert, den FARC eine „politische Show“ zu gestatten, erklärte Uribe. Ausschlaggebend sei die Präsenz zweier Journalisten gewesen, was die Regierung als „Vertrauensbruch“ seitens der Vermittlungskommission bezeichnete, da sie darüber nicht informiert worden sei. So hatte der Journalist Jorge Botero die Vermittlungskommission im Hubschrauber begleitet und anschließend die Aktionen der Luftwaffe denunziert. Allerdings stellte sich später heraus, dass Botero zuvor um Erlaubnis gefragt hatte und diese auch bekommen hatte.
Außerdem befand sich der Journalist Hollman Morris im Guerillacamp, um RebellInnen und Entführte zu interviewen, was die Regierung als eine von langer Hand geplante Kampagne darstellte, obwohl sie zuvor von der Pressebegleitung informiert worden war.
Zwar erklärte Morris seinerseits, dass er weder von der Ankunft der Vermittlungskommission noch von der unmittelbar bevorstehenden Freilassung seiner Interviewpartner genau an diesem Ort gewusst habe, doch derzeit lässt die Regierung prüfen, ob sie gegen Morris ein Verfahren anstrengt und ihm den staatlichen Begleitschutz aberkennt.
„Hollman Morris verschanzt sich hinter seinem Titel eines Journalisten, um Komplize des Terrorismus zu sein“, erklärte Uribe, der daraufhin prompt von UNO und VertreterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten zurechtgewiesen wurde, da seine Äußerungen das Leben des Journalisten in Gefahr brächten. Doch auch die Organisation um Piedad Córdoba ließ Uribe bei seinem Rundumschlag nicht aus: Die FARC hätten eine „intellektuelle Kampffront“ gegründet, die für sie arbeite. Zwar nannte der Präsident die Organisation nicht beim Namen, doch ist klar, dass Uribe auf ebendiese mit seinen verhängnisvollen Anschuldigungen abzielte. Erst auf Druck des IRK und Familienangehöriger von Entführten ließ Uribe von seiner Blockadehaltung ab und gab Córdoba ihr Mandat zur Fortführung der Befreiungen zurück.
Der nächste Eklat folgte am 3. Februar. Der kolumbianische Hochkommissar für Frieden, Luis Carlos Restrepo, wollte verhindern, dass die von Uribe vermutete „politische Show“ innerhalb der Medien eine Fortsetzung findet und verbot der Presse „aus Sicherheitsgründen“ den Zugang zum Flugplatz in der Stadt Villavicencio, wo der entführte Politiker und Ex-Gouverneur Alan Jara erwartet wurde. Selbst die regierungstreuen Kanäle RCN und Caracol nannten das Verbot eine klare Einschränkung der Pressefreiheit, worauf Bogotá seinen Hochkommissar in die Schranken wies. Dieser kündigte seinen umgehenden Rücktritt an und Uribe sollte Tage benötigen, um den gekränkten Restrepo zur Rückkehr in sein Amt zu bewegen.
Unterdessen landete Alan Jara in Villavicencio und sparte nicht mit Kritik an der Regierung. „Die Regierung hat nichts für die Freilassung der Entführten unternommen“, erklärte Jara und versicherte, dass sich die FARC und Uribe gegenseitig nützten. Er rief die Regierung zu einem Gefangenenaustausch auf, der die einzige sichere Möglichkeit sei, die noch verbliebenen Entführten lebend frei zu bekommen.
Am 5. Februar folgte mit Sigifredo López die Befreiung des letzten Politikers in den Händen der FARC. López war der einzige Überlebende aus einer Gruppe von zwölf LokalpolitikerInnen aus Cali, welche die FARC 2001 aus dem Stadtrat im Herzen der Metropole entführt hatten. 2007 erschossen die RebellInnen elf von ihnen, da sie eine Befreiungsaktion der Armee vermuteten, die sich aber schließlich als irrtümliches Gefecht unter zwei FARC-Einheiten herausstellte. Nach der Freilassung von Sigifredo López bleiben neben hunderten „kommerzieller“ Geiseln 22 Militärs und Polizisten in den Händen der FARC, die für einen Gefangenenaustausch gegen inhaftierte RebellInnen in Frage kommen. In einem Kommuniqué erklärte die Guerilla, dass es keine weiteren einseitigen Freilassungen geben wird und ein Austausch an Verhandlungen sowie eine entmilitarisierte Zone geknüpft seien. Piedad Córdoba rief die Rebellen zwar dazu auf, weitere Entführte auf freien Fuß zu setzen, doch damit ist nicht mehr zu rechnen.
Für die Ex-Geisel Luis Eladio Pérez hatte die Freilassung der drei Polizisten, des Soldaten und den letzten zwei Politikern strategische und politische Bedeutung. Der Soldat und die Polizisten seien unter den entführten Sicherheitskräften diejenigen mit dem niedrigsten Rang gewesen, womit nun nur noch Offiziere und Unteroffiziere in Gefangenschaft verbleiben würden, die für einen geforderten Gefangenenaustausch unter Einhaltung internationaler Regeln in Frage kämen. Die einseitige Freilassung lässt sich daher als Versuch der FARC verstehen, ihr international ramponiertes Image aufzupolieren.
Dies wird ihr kaum gelingen: Denn noch während der Freilassungen richteten die RebellInnen vermutlich zwei Massaker unter Indígenas an. Am 4. Februar hatten laut Angaben des linksorientierten Gouverneurs der Provinz Nariño, Antonio Navarro Wolff, RebellInnen der FARC ein Massaker an Indígenas der Awa verübt. „Ich bin absolut sicher, dass es sich bei den Tätern um die FARC gehandelt hat“, erklärte Navarro, der sich auf ZeugInnenberichte bezog. Demnach besetzten RebellInnen eine Siedlung der Indígenas im Bezirk Barbacoas nahe der Pazifikküste und töteten 17 BewohnerInnen, nachdem diese zuvor stundenlang gefoltert worden seien. Die RebellInnen hätten die Indígenas als KollaborateurInnen der Armee bezeichnet und sie wegen fehlender Unterstützung bestraft. Nur drei Tage zuvor soll eine Armeeeinheit durch die Gegend gezogen sein, was als Auslöser der Guerillaaktion vermutet wird.
Kurz nachdem das Massaker bekannt wurde, meldeten die lokalen Behörden und Indígenaverbände ein weiteres: Zehn Awa-Indígenas, die wegen der Morde geflüchtet waren, seien von den Rebellen eingeholt und ebenfalls umgebracht worden. Allerdings konnten bisher keine der Opfer geborgen werden, da die Region mit Landminen kontaminiert ist und seit Jahren sowohl von RebellInnen, neuen Paramilitär-Gruppen und DrogenhändleInnen beherrscht wird. Bereits 2007 sendeten Behörden, welche die Situation der Menschenrechte im Land beobachten, Warnungen vor möglichen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung an die Regierung. Mehr als 60.000 Menschen hätten in der Region inmitten von Gefechten und vermintem Land auszuharren, ohne dass der Staat außer durch mobile Armee-Einheiten Präsenz zeige.
Doch auch nach dem Massaker zeigte die Regierung wenig Verständnis. „Ich glaube, die Awa-Indígenas sind nicht zur Kollaboration bereit, um die Toten zu bergen“, erklärte Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der Armeeeinheiten in die Region sandte. Sollten die Indígenas nicht zu einem Dialog bereit sein, so Santos, könne die Armee nicht deren Rechte schützen. Was die Indígenas strikt ablehnen: Seit Jahren kämpfen sie darum, dass bewaffnete Kräfte nicht ihr Territorium betreten, was auch die Armee einschließt und auf Ablehnung innerhalb der Regierung stößt.
Die Organisation Kolumbianer für den Frieden forderte von den RebellInnen Aufklärung über die „beschämende Tat“: „Das ist weit davon entfernt, Wege hin zum Frieden zu konstruieren“, erklärte Luis Eladio Pérez. „Das Einzige, was es bestätigt, ist der terroristische Geist, der die FARC beherrscht.“ Die Rebellen bekannten sich wenige Tage später zu der Tat, erklärten aber, dass nur acht Indígenas hingerichtet wurden. „Unsere Aktion war nicht gegen Indígenas gerichtet, sondern gegen Personen, die – unabhängig ihrer Rasse, Religion oder sozialen Position etc. – Geld akzeptierten und sich in die Dienste der Armee in einem Gebiet stellten, das Ziel militärischer Operationen ist“, hieß es. Die Beschuldigten hätten zugegeben, die Armee mit Informationen über Rebellenstellungen versorgt zu haben. Eine Indígena-Kommission wollte Ende Februar in das betreffende Gebiet vordringen, um die Leichen zu bergen und um Klarheit über das Ausmaß der Gräueltat zu erhalten. Dagegen nutzte Präsident Uribe die Gunst der Stunde, um seinen Kurs gegen die FARC zu verschärfen. Einen Dialog gäbe es erst dann, wenn die Rebellen alle Geiseln freilassen und von Gewalt und Entführungen Abstand nehmen würden.

//Tommy Ramm

Traumjob Soldat?

Knappe 90 Kilometer Luftlinie und satte 2.000 Höhenmeter liegen zwischen Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und dem 400.000 Einwohner großen Villavicencio. Angeblich soll die Anfahrt auf der preisgekrönten „Autopista al Llano“ gerade mal anderthalb Stunden dauern. Doch dank regelmäßiger Erdrutsche, Bauarbeiten und Konvois von Öltankwagen braucht man oft dreimal so lange. Zumindest an der Straßensperre der Armee geht es zügig voran. Außerdem ist dieser Stopp ja nur zum eigenen Besten, „für die Sicherheit Kolumbiens“, wie ein Banner den wartenden Autofahrern mitteilt. Über dem Schriftzug wachen drei zu allem entschlossene Soldatenkonterfeis. Die Tarnfarbe ist dicker aufgetragen als in einem schlechten Vietnamfilm.
Die Uniformierten an der Straßensperre dagegen wirken wenig bedrohlich, selbst dann, wenn sie versuchen böse zu gucken. Sie sehen einfach zu jung aus für diesen Job, sind sicher nicht viel älter als 18 Jahre. Ernst mustern sie die beiden weißen Geländewagen des Amts für Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission (ECHO) und der Diakonie Katastrophenhilfe. Ein halbes Dutzend JournalistInnen schaut ausdruckslos von den Rücksitzen aus zurück. Dann werden wir durchgewunken, hinab in die Feuchtsavanne der Region Meta, die noch bis vor kurzem zu den wichtigsten Kokaanbaugebieten Kolumbiens gehörte.
Knapp die Hälfte der Menschen hier lebt in der Provinzmetropole Villavicencio, dem künftigen „Zweitwohnsitz der Oberschicht aus Bogotá“. So zumindest wünscht sich das die Lokalzeitung Llano 7 Días die deshalb seitenweise für einen Ausbau der Autobahn wirbt. Der übrige Inhalt des Blatts kreist um sportliche Spitzenleistungen, Familiendramen und halbherzige Korruptionsvorwürfe. Irgendwo dazwischen die Überschrift „Guerilleros in eigenem Minenfeld verwundet“. Bei einer der Verwundeten soll es sich um ein 15-jähriges Mädchen handeln, die jetzt im Militärhospital von Villavicencio liegt. Dann werden weitere Verwundete (3) und vom Militär getötete Guerilleros der FARC (3) aufgeführt – alles verfasst im Duktus der lokalen Fußballergebnisse.
„Immerhin ist ihnen das junge Mädchen überhaupt eine Nachricht wert“, sagt José Luis Campos, Gründer der Nichtregierungsorganisation (NRO) Benposta in Kolumbien, Partnerorganisation von ECHO und der Diakonie. „Noch bis vor kurzem wurde so gut wie gar nicht über die 11.000 Kinder und Jugendlichen informiert, die permanent in den bewaffneten Konflikt Kolumbiens verwickelt sind. Dabei ist die Situation so schlimm wie seit drei Jahren nicht mehr.“ Torjubel unterbricht Campos, er blickt hinüber zum Fußballfeld, wo ein paar Jungen bereits den nächsten Angriff laufen. Die meisten von ihnen kommen aus den Dörfern Metas und sind hier in Villavicencio, um zumindest für ein Jahr vom Krieg zu verschnaufen. In der seit 1982 bestehenden Kinderkommune von Benposta leben heute 63 Kinder und Jugendliche, die vom Dienst bei paramilitärischen Gruppen oder der Guerilla geflüchtet sind oder ihr Zuhause verließen, bevor sie von den bewaffneten Gruppen gewaltsam rekrutiert werden konnten. 400 weitere Kinder und Jugendliche besuchen den regulären Schul- und Förderunterricht in der von Benposta unterhaltenen Schule.
Wir schauen uns auf dem grünen Areal ein bisschen um. Die Schulräume der Kinderkommune sind am späten Nachmittag bereits leer. Reges Treiben herrscht dafür im Speisesaal, wo die jungen BewohnerInnen gerade kochen und Tische decken. „Für uns ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen das Leben in der Kommune größtenteils selbst organisieren“, spricht uns eine Frau an, die sich als Carmen, Leiterin der Einrichtung vorstellt. „Wir regeln hauptsächlich Schulbetrieb, Workshops, psychologische Betreuung und kümmern uns um die Verwaltung. Die Kinderkommune ist alles, bloß kein Heim für arme Kinder.“
Drei solcher pädagogischen Einrichtungen unterhält Benposta inzwischen in den verschiedenen Regionen Kolumbiens. Befreiungstheologische Ideen treffen sich mit denen einer kollektiven Erziehung, nach Vorbild des russischen Pädagogen Anton Makarenko. Tischgebet und Selbstverwaltung sind an der Tagesordnung. „Sich selbst einzubringen und in zivilen Strukturen auszudrücken fällt vielen anfangs sehr schwer, die unter kriegsähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind oder eine zeitlang die Befehlstrukturen der bewaffneten Gruppen gelebt haben“, erzählt Campos beim Abendessen. „Alle die hier sind, haben viel zu früh eine viel zu große Portion Wirklichkeit abbekommen. Frag doch einfach mal jemanden.“
In der nächsten Stunde werden wir, erst zaghaft, dann offen heraus mit Wirklichkeit überschüttet. „Mein Dorf wurde zwei Jahre lang von der FARC kontrolliert und wenn man fünfzehn wurde, entschied die Guerilla ob man mitkommen musste oder nicht“, erzählt ein Junge. „Bei uns wurden schon Kinder ab neun Jahren mitgenommen“, fällt ihm ein älteres Mädchen ins Wort und fügt hinzu: „Meine Eltern leben noch im Dorf und manchmal, wenn sie hier in der Stadt sind, erzählen sie mir, wer von meinen rekrutierten Freunden noch lebt und wer nicht. Viele halten nicht mal die ersten Monate durch.“
In den ländlichen Gemeinden Metas ist es vor allem die von den Militärschlägen der Regierung stark geschwächte FARC-Guerilla, welche Kinder als InformantInnen, Drogenkuriere und MinensucherInnen rekrutiert. Mädchen werden zu Köchinnen und Putzfrauen gemacht, oft zu Sex mit den Kämpfern gezwungen. Doch auch die in den Siedlungen operierenden Paramilitärs sollen solche Praktiken anwenden, erzählt ein anderes Mädchen. Und nicht immer stecke reiner Zwang hinter dem Beitritt zu einer bewaffneten Gruppe. „Eine Freundin, die heute auch in der Kinderkommune ist, erhoffte sich mehr Geld und Freiheit von ihrem Beitritt zu den Paras. Ein junger Kämpfer riet ihr, lieber wieder auszusteigen, denn ein besseres Leben würde sie so nicht finden“, beginnt sie ihren Bericht. „Als sie einem Kommandanten der Paras davon erzählte, erschossen sie anschließend den jungen Kämpfer vor ihren Augen und ließen sie sein Grab schaufeln.“
Am nächsten Tag fahren wir weiter aufs Land. Bis zum Amtsantritt von Álvaro Uribe im Jahr 2002 war die gesamte Gegend eine neutrale Zone für Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla. Die FARC nutzte die Zone jedoch auch für den massiven Anbau von Kokakulturen. Dann eroberten zunächst paramilitärische Gruppen und Militärs die Dörfer und Felder zurück und drängten die Guerilla in die nahen Bergketten ab. Anfang dieses Jahres setzten dann Sprühflugzeuge und Brandrodungen den Kokapflanzungen ein Ende. Seitdem leben viele ehemalige Kokabauern hier vom Anbau von Yams und Bananen für den Eigenbedarf, manchmal auch vom Fischfang und vereinzelten Hilfslieferungen der Regierung.
Am Fenster ziehen jetzt endlose Weideflächen und frische Pflanzungen von kniehohen Ölpalmenstecklingen vorbei. Auch François Duboc, Regionalleiter von ECHO im Bereich Information in Lateinamerika und der Karibik macht Photos. Er ist gespannt darauf zu sehen, wie die Kooperationsprojekte in den Dörfern laufen. „Die Kinderkommunen von Benposta sind nur ein Teil des umfassenden Schutzprogramms, an dem wir und die Diakonie Katastrophenhilfe uns beteiligen“, erzählt Duboc. „Gemeinsam werden wir aber auch in ländlichen Gegenden aktiv, wo der kolumbianische Staat bisher wenig tut.“
Keine leichte Mission, denn die anhaltende Präsenz bewaffneter Gruppen in der Region hat die sozialen Strukturen in den Dörfern aufgelöst, Angst und Misstrauen geschürt. Wöchentliche Nachbarschaftstreffen in den Dörfern anzuregen, offen über Probleme zu reden ist deshalb ein wichtiger erster Schritt. Nur so ist es auch möglich Einblick in konkrete Gefahrensituationen der Kinder und Jugendlichen zu bekommen und zu reagieren. „In jedem Fall sind unsere Projekte aber auf einen kurzen Zeitraum ausgelegt. Früher oder später muss diese Arbeit von kolumbianischen Institutionen übernommen werden“, sagt François. Gerade deshalb ist er auf das anstehende Treffen mit dem Stadtrat der Gemeinde Vista Hermosa gespannt. Die Straßensperre am Ortseingang ist bereits in Sicht.
Noch vor der Ankunft in Vista Hermosa werden wir gewarnt unsere Fragen vorsichtig zu formulieren, weil nicht so ganz klar sei, ob der Bürgermeister ein ehemaliger Kommandant der Paramilitärs ist oder nicht. Im Gespräch erweist sich Hector Montoya dann jedenfalls als sehr umgänglich. Ja, er kenne das Problem der Zwangsrekrutierungen, es sei jedoch sehr schwer etwas zu tun. „Die Leute haben über Jahre nichts anderes getan als Koka anzubauen. Alternativen zu schaffen wird Zeit brauchen. Und die Jugendlichen, die hier die Schule besuchen oder eine Ausbildung machen, müssen später auch wirklich eine Jobaussicht haben, sonst bringen Bildungsprogramme wenig“, sagt Montoya. An gutem Willen scheint es nicht zu fehlen, wohl aber an finanzieller Unterstützung aus Bogotá.
Je länger das Treffen mit dem Stadtrat anhält, umso schwieriger stellt sich die Situation in der Gemeinde dar. Der personero Alejenadro Valdéz, Zuständiger der lokalen Ombudsstelle, erzählt davon, dass die paramilitärischen Gruppen, die offiziell als aufgelöst gelten, unter neuem Namen weiterhin aktiv seien. „Die Rekrutierungen von Kindern und die Geschäfte gehen weiter. Heute versuchen diese Gruppen ein Monopol im Bereich der Ölpalmenkulturen aufzubauen“, meint Valdéz und fügt hinzu: „Die staatlichen Subventionen für nachwachsende Kraftstoffe bringen deshalb wenig, wir brauchen Produktionsinitiativen für die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie jugendliche UnternehmerInnen.“
Die örtliche Psychologin Angela Paz wiederum versucht den Blick auf das ländliche Familienleben zu richten, das sie als wenig idyllisch beschreibt. „Insbesondere als Mädchen hier aufzuwachsen ist nicht leicht. Missbrauch innerhalb der Familien kommt häufig vor und ab dem siebten Lebensjahr werden Mädchen auf eine untergeordnete Rolle als Frau vorbereitet“, sagt Paz und resümiert bitter: „Ein Para oder Guerillero erscheint so affektiv betrachtet oft auch als ein Retter.“
Nicht weniger als all diese komplexen Probleme zu lösen, erwarten auch viele der Bewohner Vista Hermosas auf einem anschließenden Nachbarschaftstreffen von den anwesenden Hilfsorganisationen. Schulen, eine Molkerei, ein Kühlhaus, Zugang zu lokalen Märkten, Ausbildungsplätze und ein Ende der Kämpfe: all das zu schaffen traut man ihnen zu. Marta Elena Zapata von der Diakonie Katastrophenhilfe sitzt in der letzten Reihe und macht Notizen. „Die Erwartungshaltung ist riesig, aber unser Arbeitsbereich ist eben nicht Entwicklungshilfe sondern ein schnelles Eingreifen in Notsituationen“, sagt Zapata. „Das zeichnet unsere Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen ja auch aus. Und daran halten wir fest. Gerade deshalb weil in diesem Land immer mehr Familien auf der Flucht sind, um ihre Kinder zu schützen.“
Darüber hinaus stehen die Initiatoren des Schutzprogramms für inzwischen über 3.000 Kinder und Jugendliche in ständigem Kontakt mit entwicklungspolitischen Organisationen. Und man sucht emsig nach neuen Partnern, denn das Budget von ECHO beispielsweise wird im kommenden Jahr um ein Sechstel gekürzt werden. Positiv sei deshalb, dass man, was die Entwicklung von Schutzprogrammen angeht, als Experten wahrgenommen wird. „Ab Ende dieses Jahres beispielsweise werden wir ein zweijähriges Kooperationsprojekt mit der Kanadischen Agentur für Internationale Entwicklung beginnen“, freut sich Zapata. „Auf diese Weise werden wir mit 80 weiteren Kindern im Meta arbeiten können.“
Beim Abschied fragen wir die Kinder und Jugendlichen nach ihren späteren Berufswünschen. „Sänger wäre nicht schlecht“, kreischt ein Junge. „Fußballstar“, ein anderer. „Nein, Architektin oder Designerin, das ist ein guter Job“, meint ein Mädchen. Und dann immer wieder Karrierewünsche wie Forensikerin, Kriminologe, Polizistin und Soldat. „Ich gehe zur Schule, weil ich mit 18 in die Polizeiakademie eintreten will“, sagt eine 13-jährige entschlossen. „Dann kann ich meine Familie und unser Land vor dem Krieg beschützen.“
Auf dem Rückweg nach Bogotá konfrontieren wir José Luis Campos mit den gesammelten Berufswünschen. „Ja, das ist ein echtes Problem“, meint Campos. „Leider wird im Fernsehen der Soldat als eine Art Prototyp von Bürger verkauft, mit hehren Werten und Verpflichtungen fürs Vaterland.“ Und außerdem herrsche in Kolumbien Wehrpflicht, Ersatzdienst ausgeschlossen. Einen dauerhaften Ausstieg der kolumbianischen Jugend aus dem bewaffneten Konflikt könne ohnehin nur eines garantieren: ein Ende der Kämpfe und die Rückkehr der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch. Dann fährt Campos fort, von Hinweisen zu sprechen, dass auch das Militär Jugendliche als Informanten und Botenjungen beschäftige, dass auch Soldaten in der Grundausbildung bereits in Kampfeinsätze geschickt werden. Und dann stoppt unser Wagen. Straßensperre. Zwei jugendliche Augenpaare mustern uns unterm gelben Scheinwerferlicht. Ich versuche mich in einem Lächeln, die Gesichter unter den Militärmützen lächeln zurück, geben das Zeichen zur Weiterfahrt.
// Nils Brock

„Der Staat ist verantwortlich!”

Die „Koordination Kolumbien Europa/USA” (CCEEU), hat einen Bericht veröffentlicht, laut dem Sicherheitskräfte zwischen Januar 2007 und Juli 2008 535 Personen durch außergerichtliche Hinrichtungen töteten. Aufgrund dieses Skandals hat Präsident Uribe die Absetzung von 27 Offizieren und Unteroffizieren der Streitkräfte wegen „gefälschter Erfolgsmeldungen” bekannt gegeben. Was bedeutet das?
In Kolumbien betreibt die Regierung eine „Politik der Demokratischen Sicherheit” – so nennt sie es. Sie verlangt von den Sicherheitskräften eine härtere Vorgehensweise und vergibt Prämien für im Kampf getötete Guerilleros. Militär und die Polizei haben einige Regionen des Landes eingenommen und die Guerilla zu einem taktischen Rückzug gezwungen. Deswegen sind die direkten militärischen Konfrontationen zwischen der Guerilla und dem Militär nicht mehr so häufig, wie die Medien es teilweise dargestellen. Trotz des Rückzugs der Guerrilla behaupten die Militärs jedoch, dass sie mehr als 13.600 Guerilleros getötet hätten. Diese hohe Zahl hat unsere Aufmerksamkeit erregt, denn das würde heißen, dass es praktisch keine Guerilleros mehr gibt.

…was ja nicht der Fall ist.
Genau. Wir forschten nach und erhielten eine alarmierend hohe Zahl von Anzeigen wegen außergerichtlicher Hinrichtungen. Einige Leute erzählten uns, dass das Militär behauptete, ihre toten Familienangehörigen seien im Kampf umgekommen, obwohl sie in Wirklichkeit festgenommen worden waren. Manche waren von der Polizei oder vom Militär aufgefordert worden, Informationen preiszugeben, und später tauchten sie tot auf und es wurde behauptet, sie seien im Kampf gefallen. Mit diesen Informationen erstellten wir einen ersten Bericht. Als wir ihn der Interamerikanischem Kommission präsentierten, beschuldigte uns die Regierung, den Terrorismus zu unterstützen und die im Kampf Umgekommenen auf Seiten der Guerilla als Opfer von Menschenrechtsverletzungen zählen zu wollen.

Ist all dies eine direkte Konsequenz der Umsetzung der „Politik der demokratischen Sicherheit”?
Wir haben immer gesagt, dass die „Politik der Demokratischen Sicherheit” eine Gefahr für die Sicherheit des Landes ist. Erstens ist sie unmenschlich und zweites verletzt es alle internationalen Abkommen, wenn man Tote als Beweis für positive Ergebnisse im Kampf gegen die Guerilla präsentiert. So gibt man den Militärs einen Anreiz, Menschenrechtsverbrechen zu begehen. Diese gesamte Politik hat dazu geführt, dass die willkürlichen Festnahahmen zugenommen haben. Das Militär ist gar nicht so sehr dazu bereit, die Guerilla in den Wäldern anzugreifen, wie der Präsident glaubt. In den Wäldern könnte es die Schlacht verlieren. Das wissen die Soldaten. Deswegen täuschen sie lieber „Erfolge” vor, indem sie wehrlose BürgerInnen in bewohnten Gebieten umbringen.

Zielt die Gesetzgebung darauf ab, dass so etwas passiert, oder sind die Gesetze einfach schlecht formuliert?
Klar ist, dass es eine Politik der Anreize gibt. Die Regierung fordert vom Militär Ergebnisse um jeden Preis. Der Staat ist also verantwortlich, auch wenn wir keinen direkten Befehl dokumentieren können. Es gibt aber andere Beweise. Zum Beispiel sind in bestimmten Departements die außergerichtlichen Hinrichtungen zurück gegangen, nachdem wir das Problem öffentlich gemacht hatten. Im Nachbardepartement gab es dafür mehr Hinrichtungen. Auch in den Städten kam diese Art von Morden vor. Als wir aufklärten, was für Menschen das waren, die ermordet wurden, veränderte sich die Situation. Nun wurden Drogenabhängige und Obdachlose ausgewählt, von denen die Täter dachten, dass sie nicht von ihren Familien gesucht würden. All das weist darauf hin, dass es einen Plan gibt.
Wir haben bei unseren Recherchen entdeckt, dass das Militär Vorbereitungen traf, um außergerichtliche Hinrichtungen durchzuführen. Sie nahmen extra Waffen und Munition mit und auch neue Uniformen, die sie nach den Morden anzogen, um so den Verdacht von sich zu weisen.

Können Sie einen Ihrer Fälle beschreiben?
Die Stiftung betreut einen Fall, in dem ein junger Bettler vom Marktplatz in der Stadt Tunja, den die VerkäuferInnen alle sehr gut kannten, als ein im Kampf gefallener Wirtschaftskommandant der FARC präsentiert wurde. Angeblich war er die Person, die sich um die Geldangelegenheiten bei der FARC kümmerte. Inzwischen haben wir viele ZeugInnen, die bereit sind zu sagen, was dieser junge Mann wirklich tat. Als wir weiter forschten, kamen mehr als acht Familien zu uns, die ihre Familienangehörigen suchten, die BettlerInnen in Tunja waren und ebenfalls ermordet und als Guerilleros bezeichnet worden waren.
Und dann ist da noch ein 16-jähriger Jugendlicher, der Zeuge des Mordes an seinem Freund war. Wir haben ihn nach Bogotá gebracht, er sagte an verschiedenen Orten aus, und die Regierung verpflichtete sich, ihn zu schützen. Deswegen erlaubten wir, dass er in seine Region zurückkehrte. Drei Monaten nach seiner Rückkehr brachten sie ihn und seinen Vater um, und das Militär stellte ihn als im Kampf gefallenen Guerillero dar.

General Mario Montoya ist wegen dieser Angelegenheit zurückgetreten, und Präsident Uribe hat an seine Stelle General Peña González gesetzt. Wird sich die Situation in Kolumbien mit dieser Ernennung ändern? Hat die Regierung die Absicht, Ihre Politik zu ändern?
Nein. Das muss ganz klar gesagt werden. Die Regierung will ihre „Politik der Demokratischen Sicherheit” nicht ändern. Sie hat sie öffentlich als die beste Form, die Menschenrechte zu schützen, verteidigt.

Und die Menschenrechte werden in Kolumbien an vielen Stellen verletzt. Sie sind auch Mitglied der Stiftung Solidaritätskomitee mit den Politischen Gefangenen (FCSPP). Wie viele politische Gefangene gibt es momentan in Kolumbien?
Laut der Stiftung befinden sich in Kolumbien ungefähr 6.000 Personen in Gefangenschaft wegen politischer Vergehen oder Verbindungen dazu. Ungefähr die Hälfte dieser Personen wurde während der bewaffneten Konflikte festgenommen, das heißt, dass sie in den Guerillagruppen aktiv waren. Um die 1.800 Gefangene sind Personen, die in den Einflussgebieten der Guerilla leben. Die Regierung beschuldigt sie nur deswegen, der Guerilla anzugehören. Die Mehrzahl von ihnen sind Bauern und Bäuerinnen oder BewohnerInnen von kleinen Städten, die sich gezwungen sehen, auf die eine oder andere Weise Beziehungen zur Guerilla zu unterhalten. Die Regierung meint, sie gehörten dadurch automatisch zur Guerilla. Und über 1.000 der gefangenen Personen sind Führungpersonen der sozialen Bewegungen. Wegen ihrer Aktivitäten und ihrer Position werden sie beschuldigt, der Guerilla angzugehören oder sie zu unterstützen.

Der Plan Colombia der USA hat dazu gedient, einen Großteil der Operationen des kolumbianischen Militärs zu finanzieren. Hoffen Sie, dass sich die Situation mit Obama verändern wird?
Wir wissen eines: Die Politik in Kolumbien hängt von den USA ab, weil die kolumbianische Elite sich leider vor langer Zeit an Washington gebunden hat. Bis jetzt hatte das nur negative Auswirkungen. Wir wissen nicht, wie die Politik von Obama sein wird, aber uns macht es viel Hoffnung, dass er dem Tod der GewerkschafterInnen und der Gewalt gegen MenschenrechtsaktivistInnen im Land Beachtung geschenkt hat. Dies deutet auf eine Veränderung hin. Aber wir wissen auch, dass noch viel zu tun ist, um von dort aus zu einer konkreten Politik zu gelangen. Die SenatorInnen in den USA müssen verstehen, dass sie seit mehr als acht Jahren Geld spenden, das einzig und allein den bewaffneten Konflikt in Kolumbien hat eskalieren lassen. Sollten die USA ihre Politik in Kolumbien tatsächlich verändern, wird es der kolumbianischen Elite schwerfallen, sich weiter gegen eine politische Lösung zu sperren. Und hoffentlich nutzt die Guerrilla dann diese Dialogsituation, um die Probleme Kolumbiens zu lösen.
// Interview: Luis Montilla
// Übersetzung: Katja Schatte

Töten für mehr Urlaubstage

Bisher ist nur die Spitze des Eisberges freigelegt. Im Januar dieses Jahres meldeten mehrere Familien in der Stadt Soacha, einem Vorort südlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, insgesamt 20 Jugendliche als vermisst. Die Behörden der Stadt, die mittlerweile mit den Ausläufern großflächiger Armutsviertel Bogotás ein weitläufiges Häusermeer bildet, schenkten den Meldungen wenig Bedeutung. Acht Monate später jedoch sollten diese Anzeigen den Anstoß zu einem der größten Skandale liefern, den die kolumbianische Armee in den letzten Jahren erlebt hat und der vielen hochrangigen Militärs ihre Posten kostete. Im August meldeten sich MitarbeiterInnen einer Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft, die mit der Identifizierung von in Massengräbern verscharrten Unbekannten beauftragt ist, bei einem der Familienangehörigen. Demnach hätten die Merkmale des Verschwundenen mit denen eines Opfers übereingestimmt, was durch ein neu eingeführtes System zur Opferidentifizierung aufgedeckt wurde. Wenige Tage später bestätigten die Familienangehörigen, dass es sich bei mehreren Toten in einem Massengrab um ihre Verwandten handelte.
Elf Jugendliche aus Soacha wurden nur einen Tag nach der Vermisstenanzeige 400 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort nahe der venezolanischen Grenze entdeckt. Laut Armee handelte es sich um im Gefecht gefallene Rebellen.
Nachdem der Fall immer höhere Wellen in den Medien schlug, berief das kolumbianische Verteidigungsministerium unter Minister Juan Manuel Santos eilig eine Kommission ein, welche die genaue Rolle der Armee bei den eklatanten Unstimmigkeiten des Falls untersuchen sollte. Dabei ging es allerdings nicht darum, Schuldige in einem klaren Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen zu suchen, sondern offensichtliche Kontrollschwächen innerhalb des Militärapparats ausfindig zu machen. Ende Oktober legte die Kommission ihre Schlussfolgerungen vor, die es in sich hatten: Demnach analysierten die Vorgesetzten verschiedener Militäreinheiten weder die militärischen Ziele und die vermeintlichen GegnerInnen, die für Gefechte ausgewählt wurden, noch wurden die Gefechtsberichte im Nachhinein geprüft. Bei einem der Jugendlichen aus Soacha, der das Opfer eines Scharmützels gewesen sein soll, wurden drei Schusswunden gefunden. Allerdings erklärte der Militärbericht der involvierten Einheit, dass mehr als 1.000 Patronen verschossen worden seien. An mangelnder Zielgenauigkeit lag das nicht. Laut der Kommission hätten Angehörige mehrerer Einheiten in enger Beziehung mit kriminellen Banden und der Mafia gestanden, denen sie die Munition verkauft oder als Gegenleistung vermacht hätten. Und zwar dafür, ihnen das Kanonenfutter in Form von Zivilisten zu liefern, um angebliche Erfolge gegen Rebellen oder Paramilitärs aufweisen zu können.
Am gleichen Tag, als Präsident Uribe und Verteidigungsminister Santos reumütig die Absetzung von 27 Militärs verkündeten, rief die Koordinationsgruppe Kolumbien-Europa-USA, die mehrere Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus dem Menschenrechtsbereich umfasst, zu einer Pressekonferenz. Dort legte sie Zahlen dar, die belegen, dass der Fall Soacha keine Ausnahme ist, sondern die Hinrichtung von ZivilistInnen durch die kolumbianische Armee System hat. Demnach seien sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch dem Generalstaatsanwalt Untersuchungen gegen mehr als 3.000 Militärs wegen extralegaler Hinrichtungen anhängig. Laut den NRO sind zwischen Juni 2002 und Juni 2007 bisher 955 Fälle solcher Exekutionen durch Sicherheitsbehörden registriert worden. Das ist ein Anstieg von fast 70 Prozent zum gleichen Zeitraum davor. Neu ist nicht, dass die Armee in Hinrichtungen von ZivilistInnen verstrickt ist, sondern die massive Steigerung dieser Zahlen und deren Qualität. In den 90er Jahren tauchten in den Todeslisten der Armee meist Angehörige von Bauernorganisationen oder GewerkschafterInnen auf, denen die Mitgliedschaft in der Guerilla vorgeworfen wurde und die oft Zielscheibe der gefürchteten paramilitärischen Verbände waren. Nun sind es in großem Stil Namenlose, die eilig in Massengräbern verscharrt werden.
Laut einem ausführlichen Bericht der kolumbianischen Wochenzeitung Semana lassen sich bei den extralegalen Hinrichtungen vier Opfergruppen unterscheiden: Erstens ermordete Unschuldige, die wegen möglicher Konsequenzen durch die Militärjustiz verborgen oder als gefallene Rebellen oder Kriminelle deklariert werden. Die zweite Gruppe gehört zu den „sozialen Säuberungen“. Drogenabhängige, StadtstreicherInnen oder strafrechtlich vorbelastete Jugendliche werden ermordet und als Gefallene präsentiert, da das Risiko, dass jemand die Identität des Opfers untersucht, äußerst gering ist. Die dritte Gruppe sind AktivistInnen oder Personen, die der Angehörigkeit zu einer Rebellengruppe verdächtig sind, aber gegen die keine Beweise für eine Festnahme vorliegen. Stattdessen werden diese kurzerhand unter dem Vorwand eines Gefechts ermordet. Besonders diese Gruppe war in der Vergangenheit Zielscheibe der berüchtigten Paramilitärs, die sich zwar als nationaler Verband in den letzten Jahren aufgelöst haben, sich aber in vielen Landesteilen wieder neu formieren. Der Anstieg der Hinrichtungen der Armee in den letzten Jahren legt deshalb die Vermutung nahe, dass nun wieder vermehrt die Streitkräfte die Drecksarbeit der Todesschwadronen übernommen haben. Zur vierten Gruppe gehören Jugendliche wie aus Soacha, die in enger Zusammenarbeit zwischen Militäreinheiten und kriminellen Banden wie der Mafia auf makabere Weise rekrutiert werden und die Aufdeckung ihrer Identität ebenfalls als unwahrscheinlich galt, da sie meist aus den Armenvierteln der Metropolen des Landes verschleppt wurden.
Die Rekrutierungsmethoden der Banden ähneln sich landesweit: Jugendliche Tagelöhner oder Personen, die sich ihr Geld im informellen Sektor verdienen, werden von Mittelsmännern mit einfachen und lukrativen Jobs angeworben. Doch statt Arbeit erwartet sie der Tod in Scheingefechten der Armee. Rund 100 Euro sollen die Mittelsmänner laut Semana für jede Person verdient haben, die den involvierten Armeeeinheiten als Zielscheibe übergeben wurde. „Die Opfer wurden wie Vieh ins Schlachthaus geführt“, brachte es der kolumbianische Analyst Álvaro Camacho auf den Punkt.
Der Anreiz für einige Militärs, auf extralegale Hinrichtungen zurückzugreifen, kommt letztlich von oben: Die kolumbianische Regierung vergibt verstärkt Geldprämien für die Denunzierung vermutlicher Rebellen, um so dem Kampf gegen die Guerilla mehr Ansporn zu geben. Zwar werden diese ausschließlich an ZivilistInnen ausgezahlt, doch vermutet wird nun, dass sich korrupte Militärs in Zusammenarbeit mit eingeschworenen ZivilistInnen eine Scheibe von den saftigen Prämien abgeschnitten haben könnten. Doch auch für weniger lässt man Unschuldige über die Klinge springen: In vielen Bataillonen werden Soldaten extra Urlaubstage für präsentierte Tote zugeteilt. Während sich einfache Soldaten auf diese Art Erholung verschaffen, erhöhen sich dagegen deren Kommandanten so deutlich ihre Aufstiegschancen innerhalb der Armee. Eine Hand wäscht die andere.
Obwohl die kolumbianische Regierung mehrfach beteuert hat, dass sie die Gefechtsmentalität innerhalb der Armee verändert habe und die Gefangennahme statt Tötung von Rebellen, Paramilitärs oder Kriminellen bevorzuge, hat sich die Mentalität des „Body count“ bisher nicht verdrängen lassen. Einige Beobachter erklären dies mit der Obsession Uribes, aussagekräftige Ergebnisse in Sachen Guerillabekämpfung vorzulegen. So erklären sich die erhöhten Zahlen extralegaler Hinrichtungen mit dem Beginn der Offensive gegen die Guerilla im Jahr 2002. „Theoretisch verlangt die Regierung nicht literweise Blut auf dem Schlachtfeld, aber in der Praxis sieht das anders aus“, erklärte der Ex-Militärberater Andrés Villamizar gegenüber BBC Mundo. „Vor wenigen Jahren wurde der begehrte Orden der Öffentlichen Ordnung an Soldaten vergeben, wenn diese fünf oder mehr Rebellen erledigt hatten“, so Villamizar. „Ich glaube nicht, dass sich daran etwas geändert hat.“
Im Zentrum des Skandals steht nun Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der Rücktrittsforderungen der Opposition bisher an sich abprallen ließ. „Ich gebe zu: Es gab extralegale Hinrichtungen durch die Armee, aber nicht in dem Umfang, wie es dargestellt wird“, spielte der Minister die Auswirkungen des Skandals herunter. Dass es der Minister in Detailfragen nicht so genau nimmt und lieber klotzt statt kleckert, zeigte er dieses Jahr. Unter seiner Führung konnte die Armee zwar ihre größten Erfolge feiern, doch gingen mit diesen stets Skandale einher. Die Ermordung von Raul Reyes, einem der höchsten Kommandanten der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC), auf ecuadorianischem Territorium und der widerrechtliche Einmarsch der kolumbianischen Armee beendete jäh die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Wenige Wochen nach der Befreiungsaktion von Ingrid Betancourt kam ans Tageslicht, dass die Agenten Symbole internationaler Hilfsorganisationen und Medien benutzten, um die Guerilla zu täuschen, was laut den Genfer Konventionen einem Verbrechen gleichkommt. Die Meuterei eines FARC-Kämpfers schließlich, der seinen Vorgesetzten tötete und dessen Hand als Beweis abschnitt, um ein ausgesetztes Kopfgeld zu kassieren, stieß eine Diskussion um diese von der Armee angebotenen Zahlungen an. Für Santos waren das bisher nur Nebenerscheinungen, wo der Zweck die Mittel heiligt. Die extralegalen Hinrichtungen offenbar auch.
Dennoch könnten diese Fälle zukünftig schwere juristische und militärpolitische Konsequenzen nach sich ziehen. Der Generalstaatsanwalt Mario Iguarán erklärte, dass seine MitarbeiterInnen zwar bereits mehr als 1.000 Fälle untersuchen würden, diese aber womöglich in die Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofs fallen könnten. „Sollte sich herausstellen, dass die Erschießungen systematisch erfolgten, was schwere Menschenrechtsverletzungen bedeuten würde, fielen diese Fälle in den Aufgabenbereich des Internationalen Strafgerichts“, so Iguarán. Die Koordinationsgruppe Kolumbien-Europa-USA kündigte an, ihren Bericht dem Gericht in Den Haag vorzulegen, um so einen Prozess anzustrengen.
Auch in Washington stieß die Nachricht der Hinrichtungen auf wenig Begeisterung. Der US-Botschafter in Bogotá, William Brownfield, kündigte an, dass drei in diese Fälle verstrickte Einheiten keine US-Beratung und Ausbildung erhalten werden. Allerdings ist diese Maßnahme symbolischer Natur, da diese Einheiten auch zuvor keine direkte logistische US-Hilfe in Anspruch nahmen. Weit folgenreicher für die Uribe-Regierung ist jedoch die Ankündigung Washingtons, die Militärhilfe innerhalb des seit acht Jahren laufenden Plan Colombia zu reduzieren. „Ich sehe für die Zukunft nicht eine Beendigung unserer Hilfe, sondern eher eine graduelle Reduzierung“, erklärte Brownfield Ende Oktober. „Ich habe die Hoffnung, dass diese Kürzungen nicht allzu brutal ausfallen.“ Zwar wurden die US-Ausgaben für den Plan Colombia in Kolumbien für 2009 bereits beschlossen und sind mit 543 Millionen US-Dollar etwas geringer als in diesem Jahr. Aber bereits für 2010 befürchtet Bogotá eine substanzielle Kürzung, die das Land mit seinem aufgeblasenen Militärapparat nicht kompensieren kann. Der Skandal um die Hinrichtungen könnte unter dem kommenden US-Präsident Obama diese Reduzierung beschleunigen, genauso wie die sich vertiefende weltweite Wirtschaftskrise, die die US-Ausgaben für Militärhilfen sinken lassen dürfte. Wie teuer der Kampf des Plan Colombia ist, der sich vor allem gegen den Drogenhandel richten soll, zeigt die Studie von zwei Wissenschaftlern der kolumbianischen Universität Los Andes: Allein die Verhinderung, dass ein Kilo Kokain auf den Straßen der USA angeboten wird, kostet Washington rund 15.000 US-Dollar, während Kolumbien selbst bis zu 6.000 US-Dollar aufzubringen hat.
// Tommy Ramm

Zeugen unerwünscht

Am 15. September 2008 waren über 12.000 ErntearbeiterInnen der großen Zuckerrohrplantagen in der kolumbianischen Provinz Valle del Cauca im Südwesten des Landes in den Streik getreten. Doch weder die Arbeitgeberseite noch das kolumbianische Sozialministerium, das in diesem Fall hätte vermitteln sollen, zeigten Gesprächsbereitschaft. Monatelang hatten die Gewerkschaften erfolglos versucht, die Zustände auf den Plantagen zu thematisieren und Verhandlungen durchzusetzen. Die meisten ErntearbeiterInnen haben keine Arbeitsverträge mit den Unternehmen, sondern sind unter prekären Beschäftigungsverhältnissen in sogenannten Arbeitskooperativen organisiert – ein Modell, für das arbeitsrechtliche Ausnahmebestimmungen gelten. Weder Sozialleistungen, noch der staatliche Mindestlohn sind garantiert. Die ArbeiterInnen müssen Lohnnebenkosten und das Risiko von Arbeitsausfall und Krankheit selbst tragen. Sie werden nach erbrachter Leistung bezahlt. Transportkosten, Arbeitsmaterial, Service und Verwaltungskosten werden vom Lohn abgezogen. Vielen bleibt nach einem Monat schwerer Arbeit und Arbeitstagen von 14 Stunden und mehr deutlich weniger als der Mindestlohn von umgerechnet circa 150 Euro. Die Forderungen der streikenden ArbeiterInnen klingen nicht radikal: Sie möchten vor allem ihre Direktanstellung durchsetzen, damit ihnen der Mindestlohn und Sozialleistungen garantiert sind. Da sie formell keine ArbeiterInnen sondern Kooperativenmitglieder sind, haben sie kein Streikrecht. Die staatlichen Autoritäten reagierten vom ersten Tag des Streiks an außerordentlich nervös und angespannt auf die neue Lage. Der Arbeitskampf wurde von einer deutlichen Mehrheit der etwa 19.000 PlantagenarbeiterInnen getragen, stoppte nahezu den gesamten Zuckerrohrschlag der Region und beeinträchtigte effektiv die Bio-Ethanol-Produktion. Doch weil ArbeitgeberInnen und Regierung Gespräche mit den Streikenden verweigerten, war eine Lösung des Konflikts nicht absehbar. Der Streik wurde für illegal erklärt und als Angriff auf die Nationale Sicherheit bewertet. SprecherInnen des Unternehmerverbandes der Zuckerproduzenten ASOCAÑA und VertreterInnen des Sozialministeriums unterstellten den Streikkomitees, sie seien von Aufrührern der Guerilla gesteuert. Polizei und Militär wurden auf die Plantagen geschickt.
Vor Ort waren auch MenschenrechtsaktivistInnen und internationale BeobachterInnen des Solidaritätsnetzwerkes Red de Hermandad, die als ZeugInnen die Menschenrechtssituation und das Vorgehen der Aufstandsbekämpfungseinheiten und des privaten Sicherheitsdienstes dokumentierten. Damit trafen sie einen empfindlichen Nerv der Regierung. In der nationalen Presselandschaft wurde der Streik einhellig abgelehnt, als Werk der Guerilla diffamiert und kriminalisiert. Internationale Aufmerksamkeit, die das repressive Vorgehen der Staatsmacht kritisieren und den berechtigten Forderungen der ErntearbeiterInnen Nachdruck verleihen könnte, war in diesem Kontext ausdrücklich nicht gewünscht. Polizei und Geheimdienst suchten gezielt nach internationalen BeobachterInnen, um sie zu verhaften und vom Geschehen fern zu halten. Am ersten Oktober wurde die Menschenrechtlerin und Aktivistin der Berliner Kolumbienkampagne, Friederike Müller, in Cali von Agenten der staatlichen Sicherheitsbehörde DAS verhaftet, wenige Stunden später zum Flughafen gebracht und unter dem Vorwurf der „politischen Betätigung und Einmischung in innere Angelegenheiten“ des Landes verwiesen (siehe Interview in dieser Ausgabe). Nachdem dieser Vorfall ab dem 2. Oktober öffentlich gemacht und internationale Protestaktionen gegen die Ausweisung in die Wege geleitet wurden, erhielten die Netzwerkgruppen des Red de Hermandad am 6. Oktober per Email eine Drohung der paramilitärischen Todesschwadronen Aguilas Negras. In dem Schreiben heißt es: „Schweigt – oder wir bringen euch zum Schweigen“ und: „Wir erklären euch zum militärischen Ziel der Aguilas Negras“.
Zunächst entschieden die BegleiterInnen des Red de Hermandad ihre Arbeit im Südwesten des Landes fortzusetzen. Am 13. Oktober wurde ein französisches Video-Dokumentationsteam auf der Zuckerrohrplantage Tumaco bei Palmira wieder von Beamten der Sicherheitsbehörde DAS aufgegriffen, als sie an einem Bericht zur dortigen Blockade arbeiteten. Julien Dubois und Joris Prot wurden mit der gleichen Argumentation wie Müller am folgenden Tag ausgewiesen, während der Journalist Damien Fellous nach einer Intervention der französischen Botschaft in Bogotá wieder frei kam. Am 18. Oktober verhaftete der Polizeigeheimdienst den italienischen Fotoreporter Massimo Boldrini in der Nähe der Plantage Providencia und hielt ihn bis in die späten Abendstunden unter Arrest. Am selben Abend hielt der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez eine Fernsehansprache, in der er zu den drei Ausweisungen Stellung bezog: „Diese ausländischen Personen sollten im Gefängnis sitzen. Wir hätten sie nicht abschieben, sondern verurteilen und in das Gefängnis stecken sollen, denn sie sind schuldig, zur Gewalt aufgerufen zu haben“. Er fügte hinzu: „Hier verteidigen sie das Verbrechen und im Ausland verzerren sie die Wahrheit“. Nach diesen Geschehnissen wurde die Vor-Ort-Begleitung des Streiks durch internationale BeobachterInnen aufgegeben. In Kolumbien sind Ausweisungen von europäischen MenschenrechtsarbeiterInnen eine ungewöhnliche Maßnahme des Staates. Die wenigen internationalen BeobachterInnen im Land konnten sich bisher relativ sicher sein, ihre Arbeit durchführen zu können, ohne selbst Opfer von Repression zu werden. Entsprechend beunruhigten die Ereignisse nicht nur die MitarbeiterInnen des Red de Hermandad sondern auch andere internationale Organisationen. Gemeinsam forderten sie Garantien und Sicherheit für die eigene Arbeit. Auch auf diplomatischer Ebene war man irritiert. Die Vertretungen der europäischen Staaten baten das Außenministerium um Erklärung. Über 30 Europaabgeordnetete protestierten in einem offenen Brief gegen das ungerechtfertigte und willkürliche Vorgehen der Sicherheitsbehörden.
Das Ansehen der kolumbianischen Regierung war beschädigt und ein weiterer ungelöster sozialer Konflikt entwickelte sich zeitgleich zu einem manifesten Problem. Aus Wut auf den Hohn und die Ignoranz mit der staatliche Vertreter den Forderungen der Indigenengemeinden begegnet waren, formierte sich ein beeindruckender Protestmarsch, mit dem Ziel den Präsidenten Álvaro Uribe Vélez persönlich zu Gesprächen und Zugeständnissen zu bewegen. Die Indigenen verlangen die Rückgabe von geraubtem Land, die Respektierung ihrer Rechte und mehr kulturelle Selbstbestimmung. 25.000 Indigene setzten sich von La Maria/Piendamó (Cauca) in Bewegung und zogen auf der wichtigsten Straßenverbindung, der Panamericana, in Richtung Cali und „wenn nötig bis nach Bogotá“. Als die Polizei auf die DemonstrantInnen traf, wurden mehrere Indigene getötet. Anschaulich ließ die Regierung erklären, dass die FARC (Revolutionäre Bewaffnete Streitkräfte Kolumbiens) sich unter die Demonstration gemischt hätte. Uribe persönlich verkündete in den Nachrichtensendungen, die Polizei hätte zu keinem Zeitpunkt das Feuer auf Demonstranten eröffnet. International nahm die Glaubwürdigkeit der kolumbianischen Regierung Schaden, als auf CNN die Bilder der Zusammenstöße ausgestrahlt wurden, welche Polizeibeamte mit Gewehren in die Menge schießend zeigten.
// Kristofer Lengert

Militärs im Wald

Amazonien hat in den letzten Monaten eine Aufwertung in der internationalen Politik und Aufmerksamkeit erfahren. Spätestens seit der Klimakonferenz in Bali im Dezember 2007 ist die Frage der Walderhaltung in die erste Reihe der Prioritäten für ein neues Klimaregime gerückt. Und Brasilien hat in Bali zumindest Verhandlungsbereitschaft signalisiert, eine Kehrtwende zu der bisherigen Politik, die keine internationalen Mechanismen zu Fragen der Entwaldung diskutieren wollte. Allerdings führt die Veröffentlichung von neuen Zahlen in diesem Jahr, die einen drastischen Anstieg der Entwaldung in Amazonien anzeigen, eine eigentlich altbekannte Tatsache vor Augen: Es gibt keine integrierte Amazonienpolitik Brasiliens, die auf Walderhaltung ausgerichtet ist.
Dies weist auf die höchst unterschiedlichen Interessen in Brasilien hin, die beim Thema Amazonien aufeinanderprallen. Denn der Kampf um Amazonien ist nicht nur ein Kampf um Bäume, es ist zunächst ein Kampf um die Definitionsmacht. Sehen die einen einen großen Wald mit Biodiversität und indigenem Kulturraum, sehen andere das große Potential für Wasserkraft. Brave WaldschützerInnen stehen Personen wie Blairo Maggi, Gouverneur des Bundesstaats Mato Grosso gegenüber, der auf den entwaldeten Flächen mit Sojaanbau glänzende Geschäfte macht. Die Holzlobby hingegen sieht in Amazonien eine „Berufung zur Holzwirtschaft” – nachhaltig natürlich.
In diesem Debattenfeld haben sich in letzter Zeit alte Bekannte wieder massiv zu Wort gemeldet: die Militärs. Für sie ist Amazonien zunächst ein riesiges, schwer kontrollierbares Grenzgebiet, das Unterschlupf für SchmugglerInnen und ausländische Guerillas – besonders der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC – bietet und Ort permanenter Landkonflikte ist. Finstere Mächte könnten gar Amazonien internationalisieren wollen. Kurz: Amazonien ist primär eine Frage der nationalen Sicherheit und Souveränität, und zwar die wichtigste für ein Land ohne feindliche Nachbarn.
Diese Sichtweise hat eine Geschichte, die weit in die Militärdiktatur (1964-1985) zurückreicht. Aber auch die erste zivile Regierung unter José Sarney (1985-1990) hat die Militarisierung Amazoniens durch das Projekt Calha Norte (PCN) weiter betrieben (siehe LN 174). Das Vorhaben definiert ein riesiges Gebiet entlang der 6.500 km langen Landesgrenzen im Amazonasgebiet als militärisches Entwicklungsgebiet. 14 Prozent der Fläche Brasiliens und 24 Prozent der Fläche Amazoniens sind betroffen. Wie viele Großvorhaben blieb PCN Stückwerk und geriet schließlich in Vergessenheit. Doch die wiederaufflammenden internationalen Debatten und neue Entwicklungen in der Region haben die Militärs dazu gebracht, sich wieder lautstark zu Wort zu melden.
Mit überraschender Deutlichkeit hat der oberste Kommandeur der Streitkräfte in Amazonien, General Augusto Heleno, die Indigenenpolitik der Regierung kritisiert: „Die brasilianische Indigenenpolitik ist völlig losgelöst vom historischen Prozess der Kolonialisierung unseres Landes. Sie muss dringend korrigiert werden.“ Ein anderer hoher Militär, General Mario Madureira, ließ im April dieses Jahres in der Tageszeitung O Globo keine Zweifel, warum die Militärs alarmiert sind: „Die Gefahr für die Souveränität besteht in den Gebieten, die vom brasilianischen Territorium abgetrennt werden können. Internationale Nichtregierungsorganisationen und indigene Gruppen können eine Aufteilung des Territoriums fordern. Es könnte dasselbe wie im Kosovo passieren.“
Amazonien – ein neues Kosovo? Das ist eine erstaunliche Sichtweise auf den Kosovokonflikt und die Situation in Amazonien. Die Äußerungen der Militärs haben durchaus politische Unterstützung bekommen. Im Regierungslager haben sich Verteidigungsminister Nelson Jobim und die Kommunistische Partei von Brasilien (PCdoB), ein treuer Bündnispartner der Regierung, zustimmend geäußert. Gerade vom linken Flügel, der stark linksnationalistisch geprägt ist, gab es viel Beifall für die Äußerungen der Militärs. Das Eingreifen der Militärs in Amazonien wird so auch von zwei neuen zivilen Ministern der Regierung Lula unterstützt, welche ihre Wurzeln im linken politischen Spektrum haben. Der neue Umweltminister Carlos Minc schlug bereits vor seinem Amtsantritt vor, Sonderkommandos innerhalb der Streitkräfte zu bilden, um in den großen (National-)Parks und Nutzreservaten Amazoniens zu operieren. Auch der Minister für Strategische Angelegenheiten und Koordinator des „Plans für ein Nachhaltiges Amazonien“, Mangabeira Unger, hält ein militärisches Eingreifen für notwendig, um die Landkonflikte in Amazonien zu lösen.
Anlass für die aktuelle Debatte ist die Auseinandersetzung um die Demarkierung des indigenen Gebietes Raposa/Serra do Sol im Bundesstaat Roraima, an der Grenze zu Venezuela. Raposa/Serra do Sol ist mit 1,7 Millionen Hektar das letzte große Indigenengebiet in Amazonien, dessen Demarkierung noch nicht abgeschlossen ist (siehe LN 373/374). Um dieses Gebiet hat sich in Roraima eine besonders heftige Debatte entfacht. GroßgrundbesitzerInnen, die sich dort angesiedelt haben, leisten militanten Widerstand und werden von der lokalen Politik unterstützt. Diese beklagt, dass mit der vorgesehenen Grenzziehung 46 Prozent des Territoriums des Bundesstaates indigenes Gebiet werden. Damit ist auch die Debatte „Viel Land für wenige Indigene“ wiederbelebt. „Der brasilianische Staat hat nicht die geringste Idee, was in den indigenen Gebieten passiert. Nie ist eine Erhebung gemacht worden, die Reichtümer sind unbekannt und unberührbar. Die Reservate bilden 12,5 Prozent des nationalen Territoriums. […] Die indigenen Gebiete in Roraima sind größer als Portugal.“ Dieses Zitat stammt aus der Titelreportage des auflagenstarken Magazins Istoé vom 28.Mai 2008. Unter der Überschrift „Amazonien gehört uns“ resümiert die Ausgabe die aktuelle Debatte um das Gebiet.
Neben der Bedrohung durch indigene Territorien werden die Nichtregierungsorganisationen (NRO) als Feinbild aufgebaut. Europäische und nordamerikanische NRO würden ein Horrorszenario von Ausrottungspolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung an die Wand malen: „Unter diesem Vorwand verteidigen die (Pseudo-)NRO mit aller Kraft die aktuelle Indigenenpolitik, die einigen Stämmen Gebiete zuspricht, die größer sind als europäische Staaten.“ So könnten sie dann ihren nebulösen Geschäften nachgehen, darunter die Biopiraterie. Der Artikel resümiert: „Die aktuelle Indigenenpolitik führt dazu, dass Indios und NRO immer mehr nationales Territorium besetzen. So muss Brasilien, lange bevor es auf Invasoren von Außen trifft, einen Teil Brasiliens erobern, um die territoriale Integrität seines Landes wiederherzustellen.“ Laut Istoé soll die phantastische Zahl von 100.000 NRO in Amazonien tätig sein.
Rückenwind bekommen solche Szenarien durch Äußerungen internationaler Politiker, die immer wieder zitiert werden. So soll der US-amerikanische Politiker Al Gore 1989 gesagt haben: „Die Brasilianer denken, dass Amazonien ihnen gehört. Nein, es gehört uns allen.“ Nüchterner ist die Analyse, dass die natürlichen Ressourcen Amazoniens eine strategische Bedeutung haben, die in Zukunft auch Teil internationaler Konflikte werden könnten. So verfügt Amazonien über 21 Prozent der weltweiten Süßwasservorkommen.
Die Befürchtungen brasilianischer Militärs und PolitikerInnen, die auch von großen Teilen der Bevölkerung geteilt werden, müssen ernst genommen werden. Das Interesse Brasiliens, seine nationale Integrität und Souveränität zu bewahren, ist genauso legitim wie die Bekämpfung von Biopiraterie. Aber warum sollen die indigenen Völker eine Bedrohung für die nationale Souveränität darstellen? Gerade sie sind es, die den Wald schützen – und damit einen der größten Reichtümer Brasiliens. Eine Übersicht des Instituto Socioambiental zeigt, dass in fast allen indigenen Gebieten die Entwaldungsrate gering ist. In den größten Indigenengebieten Brasiliens, Yanomami und Vale do Javarí, sind lediglich 0,26 bzw. 0,27 Prozent der Fläche entwaldet. Und bisher gibt es keine indigene Bewegung, die Unabhängigkeit von Brasilien anstrebt.
Ein anderer Kontext der Debatte um indigene Gebiete ist wohl realistischer. Die auf Großprojekte ausgerichtete Entwicklungspolitik der brasilianischen Regierung wird zunehmend mit dem Schutz indigener Gebiete in Konflikt geraten. 20 Prozent Amazoniens sind indigene Gebiete. Es ist auch kein Zufall, dass die zitierte Reportage von Istoé unmittelbar nach einem Treffen von indigenen Völkern und sozialen Bewegungen gegen einen Staudamm am Xingu-Fluss veröffentlicht wurde (siehe LN 409/410). Auf diesem Treffen hatten Indigene einen Vertreter der staatlichen Energiefirma und Staudammbetreiber Eletronorte mit Messern angegriffen und verletzt. Die Bilder des blutenden Ingenieurs wurden zu besten Sendezeiten vom Fernsehen gezeigt und wiederholt. Sie sind ein drastisches Signal, dass Amazonien vor neuen sozio-ökologischen Konflikten steht, in denen indigene Völker immer mehr als Akteure sichtbar werden. Die brasilianische Regierung zeigt sich angesichts des internationalen Interesses an Amazonien zunehmend irritiert. Präsident Lula verglich Amazonien mit Weihwasser: Alle wollten ihre Finger reinstecken.
Der Friedensforscher Clóvis Brigagão erkennt in der aktuellen Debatte eine neue Rollenwahrnehmung der Militärs: „Sie handeln nicht nur wie strategische Akteure in Verteidigungsangelegenheiten, sondern werden auch zu bedeutenden strategischen Akteuren der Public Policies”. Militärische Interventionen in Amazonien würden so das Handlungsfeld der Streitkräfte auf zivile Bereiche der Politik, die eigentlich anderen Ministerien unterliegen, ausweiten. Den Grund für diese Machtausweitung und den erhöhten politischen Einfluss sieht Brigagão in einem Machtvakuum auf Seiten der zivilen Politik. Dieses Vakuum lasse zu, dass „die strategischen Fragen Amazoniens aus militärischer Perspektive betrachtet werden”. Das Militär werde somit die Formen nachhaltiger Entwicklung in Amazonien entscheidend mitprägen.
// Anne Schnieders/Thomas Fatheuer

„Die europäische Unterstützung Uribes ist ein Skandal“

Gegen 50 Abgeordnete des Regierungslagers laufen Strafverfahren wegen Verbindungen zu rechten Paramilitärs. Ist es nicht auffällig, dass nun wegen mutmaßlicher Verbindungen zur FARC auch Ermittlungen gegen Sie eingeleitet worden sind?
Ich denke, dass es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handelt. Die Regierung hat ja nicht nur „Beweise“ gegen die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba und mich vorgelegt, sondern auch den Obersten Gerichtshof frontal angegriffen. Offensichtlich will Uribe den Parapolitik-Skandal verschleiern.

Trotzdem ist Uribe populär – vor allem wegen der Bekämpfung der Guerilla. Stehen die FARC vor ihrem Ende?
Die FARC befinden sich nicht in einem Auflösungsprozess, wie die Regierung behauptet. Aber es ist wahr, dass sie in den letzten acht Monaten mehr Schläge eingesteckt haben als in 40 Jahren zuvor. Für die FARC sollte das Anlass zur Reflektion sein. Eine bewaffnete Revolution ist in Kolumbien heute unmöglich, die Guerilla hat zur städtischen Realität keine Verbindungen. Wenn Kolumbien wie andere Länder Lateinamerikas eine progressive Regierung haben soll, dann müssen die FARC einen Friedensprozess einleiten. Eine Fraktionierung der FARC in eine „weiche“ und eine „harte“ Linie sehe ich zwar nicht. Aber ich hoffe sehr, dass der neue FARC-Kommandant Alfonso Cano, der eine Nähe zum städtischen und intellektuellen Milieu hat, die FARC öffnet. Die FARC haben Beziehungen zu den progressiven Regierungen Lateinamerikas aufgebaut. In Kolumbien selbst geht es um die Festigung einer Linkspartei. Der politische Raum ist entscheidend.
Das Mitte-Links-Bündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) hat bei den letzten Wahlen fast 25 Prozent der Stimmen erhalten und regionale Mehrheiten gewonnen. Geändert hat das wenig. Der PDA-Bürgermeister in Bogotá, Lucho Garzón, hat die neoliberale Politik fortgesetzt.
Der PDA befindet sich in einem Konstituierungsprozess. Es gibt eine Strömung, die um jeden Preis in die Regierung will. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen PDA, der die Machtfrage stellen und echte Transformationen durchsetzen will. Die Frage, ob sich mit Wahlen in Kolumbien etwas verändern lässt, ist berechtigt. Uribe hat schon angedeutet, dass er „die Katastrophe“ eines linken Wahlsiegs mit allen Mitteln verhindern werde. Um so wichtiger wäre eine Verhandlungslösung. Das Ziel solcher Verhandlungen müsste sein, Kolumbien zu demokratisieren.

Es gibt zahllose Hinweise auf Verbindungen der Uribe-Regierung zur Drogenkriminalität und zu Todesschwadronen. Warum findet der Präsident trotzdem so viel Zuspruch?
Viele erklären das mit dem bewaffneten Konflikt: Im Kampf gegen die FARC wird Uribe alles verziehen. Ich halte diese Erklärung für zu einfach. Man muss auch sehen, dass die Regierung die führenden Medien kontrolliert und sich auf klientelistische Strukturen stützen kann. Das sorgt im Inneren für eine breite Unterstützung. Was mich entsetzt, ist die Haltung der internationalen Gemeinschaft. Von der Bush-Administration kann man nichts anderes erwarten. Aber dass Uribe auch in Europa Gehör findet, ist ein Skandal. Nichtsdestotrotz wird sich Uribe verschleißen. Die Militärausgaben sind zu hoch. In Verbindung mit der sich abzeichnenden Weltwirtschaftskrise wird das zu einem sozialen Problem. In der kolumbianischen Rechten häufen sich die Stimmen, die von einem „Uribismus ohne Uribe“ sprechen.

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