// Blinder geht´s immer

Auf dem kolumbianischen Auge sind deutsche Sozialdemokrat_innen nicht selten blind: Cohiba-Kanzler Gerhard Schröder lobte 2004 Präsident Álvaro Uribe bei dessen Berliner Stippvisite für seine Politik der Integration. In der Tat gelang es Uribe besser, Paramilitärs straffrei in die Gesellschaft zu integrieren, als Schröder Arbeitslose in den Arbeitsmarkt.
In Schröders Fußstapfen trat nun fast die komplette Fraktion der sozialdemokratischen Sozialistischen Fraktion im Europaparlament: Nur dank ihrer Zustimmung konnte am 11. Dezember das Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru ratifiziert werden – ohne die Ratifizierung des Europaparlaments kann seit dem Vertrag von Lissabon von 2009 kein Freihandelsabkommen mehr in Kraft treten! Das Europaparlament – mit Ausnahme der Linken und Grünen-Fraktion sowie vereinzelten Abweichler_innen – hat nun kläglich dabei versagt, der EU-Kommission Grenzen zu setzen. Die Kommission ist dafür bekannt, allemal Wirtschaftsinteressen Vorfahrt vor Menschenrechten einzuräumen.

Die Argumentation der europäischen Sozialdemokrat_innen ist an Naivität schwer zu überbieten: „Kolumbien und Peru haben geliefert und umfangreiche Maßnahmenkataloge zur Sicherung von Menschenrechten sowie internationaler Arbeits- und Umweltstandards präsentiert“, erklärte Bernd Lange, der handelspolitische Sprecher der Fraktion. Was Kolumbien unter „liefern“ versteht, zeigte sich Ende November: Da bewilligte die Erste Senatskommission eine Ausweitung der Militär- und Polizeijustiz zu Lasten der Ziviljustiz. Wird die Reform abschließend gebilligt, bestimmen künftig Militär und Polizei, wann es sich bei einem Verbrechen um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Verschwindenlassen handelt. Das alarmierte neben Menschenrechtsorganisationen selbst die UNO – die Sozialist_innen-Fraktion im Europaparlament ließ es kalt.

Tatsächlich sind die geforderten Umwelt- und Sozialstandards im Rahmen des Freihandelsabkommens so definiert, dass sie praktisch immer eingehalten werden. Umwelt- und Sozialstandards sollen „unter Berücksichtigung der technischen und finanziellen Möglichkeiten“ erfüllt werden. Es lebe die Unverbindlichkeit!
Selbst in der Weihnachtszeit ist es zuviel des guten Glaubens, einem Freihandelsabkommen eine Stärkung der Menschenrechte zuzusprechen. Nach einer Studie der belgischen Forscherin Myriam Vander Stichele dürfte das Abkommen die Lage sogar noch verschlimmern. Ihrer Untersuchung zufolge könnte es für die kolumbianische Drogenmafia in Zukunft leichter werden, ihr Geld zu waschen.
Nicht nur Geldwaschanlagen dürften durch das Freihandelsabkommen gefördert werden. Auch der Druck auf die lokale Bevölkerung dürfte steigen. Ob Palmölplantagen oder Bergbau – die Konzerne gieren nach kolumbianischen und peruanischen Rohstoffen. Das hat schon bisher die Landkonflikte angeheizt. Allein zwischen 1986 und 2011 wurden in Kolumbien bis zu vier Millionen Menschen vertrieben, 2.914 Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen ermordet, in diesem Jahr bereits über 30. Nichts spricht dafür, dass sich durch die Menschenrechtsklauseln daran etwas ändert, so wenig wie die Klauseln beim im Jahr 2000 mit Mexiko geschlossenen Abkommen dort zur Befriedung beigetragen haben.

Wie die kolumbianische Realität trotz Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-Guerilla aussieht, dokumentiert der Brief, den die paramilitärischen Gruppen AUC und Águilas Negras am 30. November publiziert haben. Darin heißt es, „in Kolumbien gibt es und wird es keinen Frieden geben, solange es Kommunisten gibt.“ Und Kommunist_innen sind für diese Gruppen alle, die es wagen, sich gegen die Interessen von Unternehmen zu stellen – explizit nennt das Schreiben unter anderem Coca Cola, Nestlé und Goodyear. Nur wer blind gegenüber dieser Realität ist, kann einem Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru zustimmen. Das Europaparlament hat das leider eindrucksvoll bewiesen.

Die Worte einfach sprudeln lassen

Was ist die Position des Congreso de los Pueblos zu den Gesprächen zwischen Regierung und Guerilla?
Wir begrüßen die Aufnahme der Gespräche sehr, weil der Konflikt den sozialen Organisationen und der gesamten Gesellschaft heftigen Schaden zufügt hat. Nichtsdestotrotz fehlt die Einbeziehung der anderen Guerillaorganisation, der Nationalen Befreiungsarmee ELN. Außerdem bräuchten wir für die Zeit einen Waffenstillstand, aber die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen weiter. Das ist kein günstiges Umfeld für den Frieden. Der Prozess wird nur voranschreiten, wenn die Gesellschaft ihn als notwendig betrachtet und unterstützt. Aber die Gespräche könnten zu einem Ende des bewaffneten Kampfes und zu einer zweiten Phase führen, in der man dann über die strukturellen Ursachen des Konfliktes reden könnte.

Das heißt, Sie akzeptieren die Gespräche, obwohl die Mitwirkungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und eine umfassende sozialpolitische Agenda fehlt?
Die Überladung der Gespräche wäre kein Fortschritt für eine Verhandlungslösung, sondern würde das Verfahren komplizierter gestalten. Natürlich muss es nach diesen Gesprächen eine Phase der Beteiligung aller sozialer Akteure geben. Gegenwärtig fordern wir aber keinen Platz am Verhandlungstisch. Wir fordern jedoch die Voraussetzung und die Gelegenheit für eine Teilhabe der sozialen Bewegungen sowie den politischen Willen uns zuzuhören.

Ist die Gesellschaft nicht kriegsmüde und will nur ein schnelles Ende des Konfliktes?
Die Menschen sind erschöpft. Aber es gibt tieferliegende Konfliktursachen, die für einen dauerhaften Frieden behandelt werden müssen. Deshalb wollen wir die Kämpfe der sozialen Bewegungen für Gesundheit, Bildung und Land, die eben auch Kämpfe für den Frieden sind, in diesen Prozess einfließen lassen. Wir begnügen uns nicht damit, schriftliche Vorschläge einzureichen, sondern fordern die Regierung und Guerilla auf, den Bewegungen eine Hauptrolle einzuräumen. Das wird schwierig und deshalb ist die Stärkung der Friedensbewegung grundlegend.

Welche Vorschläge haben Sie im Congreso de los Pueblos, um den Friedensprozess voranzutreiben?
Bereits 2010 bei der Gründung des „Congreso de los Pueblos“ fiel der Entschluss, einen Kongress für den Frieden abzuhalten. Durch die Ankündigung der Gespräche gewann diese Idee an Kraft und Dynamik. Wir schlagen vor, die breite Öffentlichkeit auf nationaler Ebene in die Friedensverhandlungen mit einzubeziehen. Dies soll mit einer Methode passieren, nach der sowohl inhaltliche Vorschläge als auch Erfahrungen der vielfältigen lokalen Initiativen mit integralen Friedensansätzen verknüpft werden. Ziel ist die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms. Das ist natürlich eine mühsame Aufgabe. Es geht nicht nur darum, Vereinbarungen darüber zu treffen, wie beispielsweise Entscheidungen delegiert und Vertreter bestimmt werden, sondern auch, wie wir unsere Forderung nach der Teilnahme am Friedensprozess überhaupt durchsetzen können.

Wie funktioniert die Methode des Congreso de los Pueblos genau?
Unsere Methode besteht aus drei Schritten. Zuerst rufen wir die Menschen zusammen und sammeln ihre Ideen. Diesen Prozess bezeichnen wir als caminar la palabra (das Wort wandert). Danach beginnen wir mit der Legislación Popular (Gesetzgebung von unten). Das bedeutet, Erfahrungen und kollektive Praktiken der Bevölkerung wie die lokalen Entwicklungspläne werden aufgenommen, um daraus ein Mandat zu formulieren. Zum Schluss führen wir im Schritt Agenda de los Pueblos (Agenda der Völker) die verschiedenen Aktionen zusammen. Denn trotz Verfolgung und Repression, leisten die sozialen Bewegungen weiterhin Widerstand, jedoch vereinzelt und zerstreut. Eine gemeinsame Agenda bedeutet nicht, alle ohne Unterschied in einen Topf zu werfen, sondern einen Konsens über bestimmte gemeinsame Aktionen zu finden. Dieses Vorgehen schlagen wir auch für den Friedenskongress vor. Zurzeit befinden wir uns in der ersten Phase, halten also lokale Versammlungen ab und führen Debatten.

Eine Ihrer Forderungen ist die eines „transformativen Frieden“? Was steht dahinter?
Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Der Konflikt in Kolumbien kann nicht isoliert von der sozialen Realität der Bevölkerung betrachtet werden. Er ist auch eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und der Kluft zwischen der wirtschaftlichen und politischen Elite und der breiten Mehrheit. Diese Bedingungen müssen verändert werden, und zwar mit aktiver Beteiligung der Bevölkerung. Da sich die Lebensbedingungen durch den Konflikt weiter verschärfen, fühlt sich die Bevölkerung nicht durch die Konfliktparteien repräsentiert.

Gibt es im Gegensatz zu den Friedensgesprächen in Caguán von 1998-2002 heute eine stärkere Beteiligung der sozialen Organisationen?
Es gibt ein Wiedererstarken der sozialen Bewegungen. Wir wollen gehört werden und nicht alles an andere delegieren. Ausdruck dessen waren 2011 die Versammlung in Barrancabermeja oder auch der Congreso de Pueblos zum Thema Land und Territorium. Dort war die Diskussion zum Frieden sehr präsent. Schließlich wurde im August diesen Jahres im Cauca die Ruta Social Común para la Paz (gemeinsamer sozialer Friedenspfad) beschlossen, um der Teilhabe der sozialen Bewegungen eine Struktur zu geben und an der sozialen Agenda des Friedensprozesses zu arbeiten. In der Comosocol (Nationale Koordination der sozialen Bewegungen und Organisationen Kolumbiens) streben die sozialen Bewegungen außerdem seit zwei Jahren eine stärkere Einheit an. Zu Beginn der Friedensgespräche in Oslo riefen sie zu einer Semana de Indignación (Woche der Empörung) auf.

Welche Gefahren und Herausforderungen sehen Sie für die Friedensbewegung in Kolumbien?
Eine der größten Herausforderungen ist es, einen Weg zu finden, wie die sozialen Bewegungen trotz unterschiedlicher Positionen und ihrer Zersplitterung gemeinsam am Friedensprozess teilnehmen können. Außerdem gibt es bislang keine klare Perspektive, wie die strukturellen Ursachen des Konfliktes behandelt werden, da das die Regierung ausdrücklich ausgeschlossen hat. Eine weitere Schwierigkeit sind die fehlenden Sicherheitsgarantien. Der Paramilitarismus existiert weiter, hat aber neue Formen angenommen. Damit verändert sich auch der Angriff auf die sozialen Bewegungen. Neben der gewaltsamen Verfolgung tritt zunehmend eine subtile Repression in Erscheinung. Sie äußert sich im Aufbau von Konkurrenzstrukturen zu den sozialen Organisationen oder durch die Kooptation durch vorgebliche Partizipationsmechanismen.

Wie ist die Situation der sozialen Bewegungen im Cauca?
Die indigene Bevölkerung im Cauca verteidigt seit langem ihre territoriale Autonomie und hat dafür die Guardia indígena (indigene Wache) aufgebaut. Dies wird von den Konfliktparteien jedoch nicht respektiert. Sowohl das Militär als auch die FARC-Guerilla oder Paramilitärs üben Einfluss in ihrem Territorium aus, was sich durch die Aktivität multinationaler Unternehmen verschärft. Nichtsdestotrotz hat die Guardia im Juli sowohl Soldaten als auch Guerilleros unbewaffnet konfrontiert und aus ihrem Gebiet geworfen. Für diese Aktionen gegen das Militär wurden die indigenen Gemeinden heftig in der Öffentlichkeit kritisiert. Zurzeit führen sie dazu Verhandlungen mit der Regierung, kontrollieren ihr Territorium aber weiterhin. Aber natürlich geht auch die Auseinandersetzung zwischen Armee und Guerilla weiter, mit Toten in der Bevölkerung und der Zerstörung der Gemeindeinfrastruktur.

Und bei der Bauernbewegung in Cajibío?
Bei uns ist der Landkonflikt die Hauptsorge. Vor allem die extensiven Forstwirtschaftsprojekte des multinationalen Unternehmens Smurfit Kappa, begleitet durch eine starke Militärpräsenz zu dessen Schutz. Dagegen wehren wir uns, weshalb wir bedroht wurden. Gerade sind wir dabei analog zu den indigenen Gemeinden eine Guardia campesina (bäuerliche Wächter) zu gründen. Das geschieht zum einen aus Notwendigkeit, denn wir sind nicht bereit, unsere Angelegenheit in die Hände der bewaffneten Akteure zu legen. Zum anderen ist es eine Umsetzung des Mandats des Congreso de los Pueblos. Die Guardias verteidigen die territoriale Autonomie, mobilisieren die Bevölkerung und drängen den Einfluss der Konfliktparteien zurück. Für diese sensible Aufgabe inmitten des Konfliktes durchlaufen sie eine intensive politische Schulung, da immer auch ihr ziviler Charakter gewahrt werden muss.

Was erwartet der Congreso de los Pueblos an internationaler Solidarität?
Für eine Verhandlungslösung muss der Friedensprozess international begleitet und gestützt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte außerdem die aktive Teilhabe der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen bei der Regierung und den Guerillas einfordern. Es wäre auch wünschenswert, wenn die partizipativen Anstrengungen der sozialen Bewegungen unterstützt würden. Vom Congreso de los Pueblos laden wir zur Teilnahme am Friedenskongress im März 2013 ein, damit es auch möglich wird, persönlich präsent zu sein.

Wie verhält es sich mit den europäischen Regierungen und der EU? Schließlich haben sie ein Freihandelsabkommen mit der kolumbianischen Regierung abgeschlossen?
Die kolumbianische Regierung braucht ein Ende des Konfliktes. Für seine internationalen Wirtschaftsverpflichtungen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, das Inkrafttreten der Freihandelsabkommen und die Sicherheit ausländischer Unternehmen ist der Konflikt mehr denn je ein Hindernis. Das erschwert natürlich auch den internationalen Beitrag für einen dauerhaften Frieden in Kolumbien. Gegenwärtig hieße ein aktives Friedensengagement der europäischen Regierungen, das Abkommen aufzukündigen, sofern sie den Forderungen nach Frieden mit sozialer Gerechtigkeit nicht widersprechen wollen.

Infokasten:

Marylén Serna

von der Bäuerinnen- und Bauernbewegung in Cajibío im kolumbianischen Department Cauca ist Sprecherin der basisdemokratischen „Minga de Resistencia Social y Comunitaria“, einer Allianz der sozialen Bewegungen Kolumbiens, die sich 2008 nach heftigen Protesten der indigenen Bevölkerung gründete.
Zum Aufbau einer Regierung von unten berief die Minga 2010 den ersten zivilgesellschaftlichen Congreso de los Pueblos ein. Seither tagt dieser zu Kerninhalten der sozialen Bewegungen, so 2011 zu „Territorium, Land und Souveränität“. Im März 2013 wird er das Thema „Frieden“ behandeln.

Belohnung für Angriffe

Fast scheint es so, als sollte mit einem erneuten Übergriff der Jahrestag des letzten begangen werden. Am Morgen des 6. September begann eine bewaffnete Gruppe, Ackerland der zapatistischen Neuen Siedlung Comandante Abel im Autonomen Landkreis La Dignidad (Nördliche Zone von Chiapas) zu besetzen und ein Camp aufzubauen. Im Laufe des Tages feuerte sie mehrere Schüsse ab. Am Tag darauf war die Zahl der Belagerer von 55 auf 150 angestiegen. Als einer der Zapatisten sein Haus verließ, um die Besetzer zu beobachten, wurde er unter anderem mit einem Gewehr des Typs AR-15 beschossen. Kurze Zeit später umstellte die Gruppe das Dorf. Der 8. September begann für die Zapatist_innen ebenfalls mit Schüssen, so dass sich eine Gruppe von Frauen, Kindern und Älteren in die Berge und von dort in ein Nachbardorf aufmachte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Siedlung war zu diesem Zeitpunkt knapp ein halbes Jahr alt, ihre Bewohner_innen waren zuvor aus der Gemeinde San Patricio weggezogen, nachdem dort die Einschüchterungen und Übergriffe durch eine andere bewaffnete Gruppe nicht aufzuhören schienen. Diese erste Belagerung am 10. September 2011 hatte auf ähnliche Weise begonnen wie in diesem Jahr. Zeitgleich zu den Bewohner_innen der Neuen Siedlung Comandante Abel verließ eine Gruppe von Zapatist_innen in der nahegelegenen Gemeinde Unión Hidalgo ebenfalls ihr Hab und Gut, nachdem sie von ihren Nachbar_innen mehrere Male mit dem Tode bedroht worden waren.
Der zuständige Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios, Organ der regionalen autonomen zapatistischen Selbstverwaltung, sah sich genötigt, innerhalb von drei Wochen dreimal öffentliche Erklärungen über das Schicksal der von den Übergriffen betroffenen Zapatist_innen und die Situation in den betroffenen Dörfern abzugeben. Doch auch die anderen vier Räte der Guten Regierung mussten in den letzten Monaten mindestens einmal zur Feder greifen, um Vorfälle aus ihrer Region bekannt zu machen. Die Zunahme von Konflikten zwischen der zivilen Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und anderen Gruppierungen geht einher mit anderen aufflammenden Konflikten in Chiapas. Dass dies mit dem Ende der Regierungszeit des chiapanekischen Gouverneurs Juan Sabines und des Präsidenten Felipe Calderón zusammenfällt, ist allerdings nicht verwunderlich, denn es kam in Mexiko häufig vor, dass in der Periode zwischen der Wahl und dem Amtsantritt eines Regierungschefs Konflikte zunahmen beziehungsweise durch die staatlichen Kräfte gewaltsam gelöst wurden.
Dennoch ist die aktuelle Situation in Chiapas und vor allem die der zapatistischen Basis so angespannt wie schon seit Jahren nicht mehr, wenn man die Anzahl der Meldungen der Räte der Guten Regierung sowie deren Inhalte als Maßstab nimmt. In der Region der Cañadas, die am Rande des Lakandonischen Urwalds liegt, schwelen seit mehr als einem Jahr die Streitigkeiten zwischen Zapatist_innen und der Organisation Landwirtschaftlicher Kaffeepflanzer von Ocosingo (ORCAO). Auch hier geht es um Land, allerdings mit gemeinsamer Vergangenheit. Im Zuge des zapatistischen Aufstands 1994 wurden nämlich in dieser Region Ländereien sowohl von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) als auch von kleinbäuerlichen Organisationen wie der ORCAO und der Ländlichen Vereinigung kollektiver Interessen (ARIC) besetzt, mitunter sogar gemeinsam. Dass es nun zu Konflikten zwischen der EZLN und diesen Organisationen kommt, hat mehrere Gründe: Zum Einen wird Ackerland immer knapper und dieses ist immer noch die Lebensgrundlage für die indigene Bevölkerung auf dem Land. Die Organisation, die ihren Mitgliedern Land anbieten kann, sichert sich damit die Unterstützung ihrer Basis. Zum Anderen treibt die Regierung weiterhin das Programm zur Zertifizierung und Privatisierung von Gemeindeland voran, das mit der Verfassungsreform von 1992 begann. Sie ermöglichte den Verkauf von Gemeinschaftsland, der vorher verboten war. Diese Reform des Agrarregimes war einer der Gründe für den Zulauf zur EZLN und den darauf folgenden Aufstand. Jedoch haben es die Regierungen seitdem gut verstanden mit einem Mix aus Anreizen und Drohungen immer mehr Gemeinden dazu zu bringen, das Zertifizierungsprogramm mitzumachen.
Hinter den Konflikten stecken öfter Impulse von außen. So zum Beispiel im Fall der Meldung des Rates der Guten Regierung von La Realidad von Mitte August diesen Jahres. Sie berichtet von Drohungen und dem Versuch der Enteignung seitens Anhänger_innen der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) aus dem Dorf Veracruz. Bei dem Streitobjekt handelt es sich um eine Lagerhalle, die die Zapatist_innen der Region von La Realidad zur Lagerung von Kaffee und zum Verkauf nutzen. Der Rat der Guten Regierung schildert, dass zwei Männer aus dem Dorf zu ihnen kamen und „sagten, ihre Gruppe wolle die Lagerhalle benutzen, denn die Regierung würde ihnen zwei Projekte geben und sie bräuchten das Gebäude, um mit den Projekten zu beginnen“. Dabei geht es häufig um Regierungsgelder für landwirtschaftliche oder kommunale Zwecke, die den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden; Geld, dass die größtenteils von Subsistenzwirtschaft lebenden indigenen Kleinbäuerinnen und -bauern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation gut gebrauchen können. Die Folge dieser Regierungspolitik ist jedoch eine Zunahme der Spannungen und Konflikte in den Gemeinden mit zapatistischer Präsenz, die von der Regierung zumindest in Kauf genommen wird, wenn nicht sogar gewollt ist.
Die Häufung der Vorfälle in den letzten Monaten und die Art des Vorgehens der Gruppen, die die Zapatist_innen einschüchtern, hat dazu geführt, dass einige, mit der EZLN solidarische Kollektive die Angreifer_innen als paramilitärische Gruppen bezeichnet haben. In der Zeit von 1995 bis 2000 waren in Regionen unter zapatistischem Einfluss mehrere solcher Gruppierungen aktiv, ihre Übergriffe, Morde und Vertreibungen sind von lokalen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert worden. Jedoch sei, so Marina Pagès vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ), bei den aktuellen Konflikten Vorsicht angebracht, wenn es um die Bezeichnung der Angreifer_innen gehe. Pagès erklärte gegenüber den LN: „Jeder Konflikt muss in seinem Kontext analysiert werden. Dann wird oft klar, dass es sich um lokale Probleme mit spezifischen Ursachen handelt. Mitunter gehören zu der nicht-zapatistischen Gruppe in einem Konflikt Personen, die früher selbst in der EZLN organisiert waren.“ Nach einer von Menschenrechtsorganisationen gebrauchten Definition sind die Paramilitärs vom Staat aufgebaute, finanzierte und trainierte zivile bewaffnete Gruppen, die die Aufständischen durch Einschüchterungen, Drohungen und Gewalt in ihrem Wirken eindämmen sollen. Dies traf auf Gruppierungen in den 1990er Jahren zu, ist jedoch nach bisher bekannten Informationen bei den aktuellen Konflikten eher nicht zutreffend.
Auf der Suche nach Ursachen für die Häufung der Übergriffe auf zapatistische Gemeinden hat Marina Pagès eine weitere Erklärung parat. Die Koordinatorin von SIPAZ, der im Bereich der Beobachtung und Konfliktbearbeitung seit 1995 in den indigenen Gebieten von Chiapas arbeitet, verweist gegenüber LN auf die „Lösung“ anderer Landkonflikte in den letzten Jahren: „Im Fall von San Patricio 2011, sowie bei anderen Landstreitigkeiten hat die chiapanekische Regierung Verhandlungen mit den Angreifern geführt und diesen Landtitel gegeben. So wurden sie im Endeffekt für ihre Taten mit Land belohnt. Dies könnte dazu geführt haben, dass andere Gruppen in letzter Zeit mit der Aussicht auf eine solche Belohnung ebenso diese Strategie der Belagerung und Einschüchterungen für aussichtsreich gehalten haben.“ Pagès hält es auch für möglich, dass die Konflikte, deren Zunahme in den Zeitraum nach der Präsidentschafts- und Gouverneurswahl vom 1. Juli fällt, den verursachenden Gruppen Vorteile bei Verhandlungen verschaffen, da diese Demonstration der Stärke dazu führe, dass sie von der Regierung ernst genommen würden.
Weitere Nutznießerin der Konflikte ist die Regierung des scheidenden Gouverneurs Juan Sabines Guerrero (PRD). Seine Amtszeit endet am 7. Dezember. Indem er seinem Nachfolger Manuel Velasco Coello die Lösung der Konflikte zusätzlich zu einer Rekordverschuldung von fast 40 Milliarden mexikanischen Pesos hinterlässt, kann Sabines hoffen, vorerst von Untersuchungen verschont zu bleiben, die unter Umständen über mögliche Misswirtschaft, Korruption oder andere strafbare Vergehen während seiner Amtszeit angestellt werden könnten.
Die zunehmenden Konflikte zwischen Zapatist_innen und nicht-zapatistischen Gruppen sind Teil einer komplexen politischen Situation, in der Chiapas und Mexiko ein Regierungswechsel bevorsteht. Sie können, neben den oben aufgeführten Erklärungen, auch als Teil der andauernden Strategie der Aufstandsbekämpfung betrachtet werden. Sofern Manuel Velasco als Gouverneur eine ähnliche Politik verfolgen wird wie Juan Sabines – worauf Aussagen des gewählten Gouverneurs hindeuten – wird sich an dieser Situation in nächster Zeit nicht viel ändern. Offen ist zudem, wie sich mit Enrique Peña Nieto die Rückkehr der Partei der Insitutionalisierten Revolution (PRI) an die Macht auf Bundesebene auf die zapatistische Bewegung auswirken wird. Bisher hat er sich über den noch anhaltenden Konflikt in Chiapas nicht geäußert. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern an einer Lösung interessiert sein wird. Vielmehr deutet die Ernennung des kolumbianischen Generals Oscar Naranjo – in seiner Heimat war er unter anderem an der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla FARC beteiligt – zum Sicherheitsberater des neuen Präsidenten eher auf eine Fortsetzung der Aufstandsbekämpfung als auf eine friedliche Beilegung hin.

Auf wackligen Friedenspfaden

In Oslo geht es los, in Havanna geht es weiter. Der grobe Fahrplan für die Friedensverhandlungen zwischen den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der kolumbianischen Regierung steht. Zentraler Punkt der in sechsmonatigen Sondierungsgesprächen ausgehandelten Vereinbarung zur Beendigung des Konflikts ist eine Fünf-Punkte-Agenda: landwirtschaftliche Entwicklung, politische Teilhabe der Opposition, die Niederlegung der Waffen der Rebellen sowie der Kampf gegen den Drogenhandel und die Wahrung der Rechte der Opfer des Konfliktes. Darüber soll auf Kuba verhandelt werden. Nach Übereinkunft über diese Punkte und der Unterzeichnung eines Friedensvertrages soll in einer dritten Phase dessen Implementierung folgen.
Wenngleich die breite Mehrheit der gesellschaftlichen Gruppen die Nachricht mit Wohlwollen aufgenommen hat, gibt es einige Gründe skeptisch zu sein. Eine zentrale Rolle kommt im Zuge der Verhandlungen der ländlichen Entwicklung zu, die das erste Thema der Verhandlungen sein wird. Das verwundert wenig: Die Ausbeutung der Rohstoffe im Zuge der „Lokomotive Bergbau“ sowie großflächige Agrarindustrieprojekte sind ein zentraler Eckpfeiler der kolumbianischen Wirtschaft, Sektoren mit großem Wachstumspotenzial und zugleich Ursache vieler lokaler und regionaler Sozialkonflikte (siehe LN 459).
Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat in den letzten Wochen immer wieder betont, dass es gelte die „Fehler“ der gescheiterten Verhandlungen von San Vicente de Caguán (1999 – 2002) zu vermeiden. Damals wurde der FARC die Region Caguán komplett überlassen. Diese Einstellung Santos‘ liegt auch darin begründet, dass die „Lokomotive“ durch die vollständige militärische Kontrolle auch abgelegener Regionen ihre Fahrt fortsetzen und Investor_innen das Feld bereiten kann. Beispielsweise planen kolumbianische und internationale Unternehmen, die östliche Flachlandregion Llanos Orientales nach dem Vorbild Brasiliens in eine „Kornkammer“ der Region zu verwandeln beziehungsweise Produkte wie Ölpalmen und Soja für die Herstellung von Biosprit anzubauen.
In diesem Sinne lässt sich ebenfalls die Bereitschaft der Regierung Santos interpretieren, Friedensverhandlungen mit der Guerilla aufzunehmen: Im Falle einer Demobilisierung der Guerilla würde sich das Investitionsklima weiter verbessern und der Staat die Kontrolle über jene ländlichen Regionen erhalten, in denen die Guerilla stark präsent ist (Region Tumaco, Catatumbo, Putumayo, Caquetá, Arauca, Norte de Antioquia, Cauca, Tolima) und dergestalt den Aktionsradius wirtschaftlicher Initiativen ausweiten.
Nicht umsonst beeilten sich Regierung und Wirtschaftsvertreter_innen kurz nach der Ankündigung von Friedensgesprächen zu betonen, dass die kolumbianische Wirtschaft im Falle eines Friedensabkommens und den Freihandelsverträgen mit EU und Vereinigten Staaten um bis zu acht Prozent jährlich wachsen könnte. Die Aufnahme des Präsidenten des wichtigen Wirtschaftsverbandes ANDI, Luis Carlos Villegas, in die Verhandlungsdelegation ist ebenfalls als Signal zu verstehen, die bisherige Linie in der Wirtschaftspolitik nicht aufgeben zu wollen.
Organisationen wie die linke Sammelbewegung Marcha Patriótica weisen darauf hin, dass es „kein Ende des Konflikts ohne eine Änderung des neoliberalen Kurses geben wird, der auf Ausbeutung von Primärressourcen bei gleichzeitiger Kürzung sozialer Leistungen basiert“. Dass die Regierung bereit ist, ihren Wirtschaftskurs mit der Guerilla auf Kuba zu diskutieren, ist eher zweifelhaft. Andererseits deutet diese Analyse an, was in den allgemeinen Jubelstürmen anlässlich der Ankündigung von Friedensverhandlungen weitgehend unterging: Zwar würde ein Niederlegen der Waffen einige Probleme der ländlichen Regionen lösen, doch wird dabei übersehen, dass die starke Militarisierung der Gesellschaft und das Problem des Neoparamilitarismus davon unberührt bliebe.
Die offiziell als kriminelle Banden (BACRIM) bezeichneten Gruppierungen sind weit davon entfernt, den Einfluss der unter Uribe demobilisierten paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen (AUC) zu erreichen. Doch die BACRIM haben in einigen Regionen enormen Einfluss beziehungsweise haben punktuelle politische Verbindungen zu lokalen Politiker_innen und Unternehmer_innen.
Darüber hinaus sorgen die sozialen Probleme und die ökonomische Ungleichheit im Land nicht nur dafür, dass diese bewaffneten Strukturen nach wie vor Zulauf haben, sondern auch dafür, dass soziale Forderungen und die Stärkung kleinbäuerlicher Strukturen immer wieder auf gewaltsamen Widerstand von Akteur_innen des Drogenhandels sowie der Regionaleliten stoßen. Deren lautester Fürsprecher ist Álvaro Uribe, der Vorgänger von Santos im Präsidentenamt.
Die Regierung dürfte bereit sein, Ländereien beispielsweise für die Schaffung der sogenannten kleinbäuerlichen Reservate (reservas campesinas) bereitzustellen. Ein Blick in die jüngere Geschichte der Reservate lehrt freilich Skepsis: Die aus den 80er Jahren stammende Idee soll gewisse Gebiete vor der Konzentration von Landbesitz in den Händen weniger schützen und die kleinbäuerliche Produktion stärken. Waren die reservas campesinas unter der Regierung Uribe praktisch von der politischen Bildfläche verschwunden, hat dieses Konzept unter der Regierung Santos zumindest diskursiv einen erneuten Schub erhalten.
An der Spitze des zuständigen Instituts zur ländlichen Entwicklung (Incoder) steht seit April 2012 Miriam Villegas, die als Akteurin des EU-finanzierten Friedenslaboratoriums im Magdalena Medio die Einrichtung der reserva campesina im Valle del Rio Cimitarra begleitet hat. Villegas gilt zwar einerseits als Vertreterin der Interessen der bäuerlichen Bevölkerung, verteidigt andererseits aber auch die sogenannten Produktionsallianzen (alianzas productivas) zwischen Unternehmer_innen und Bäuerinnen und Bauern, wie sie beispielsweise im Falle der Palmölkulturen gängig sind.
Die Regierung geht derzeit davon aus, dass die Verhandlungen in Kuba lediglich sechs bis acht Monate in Anspruch nehmen werden. Dieser Einschätzung hat der FARC-Chef Timochenko kürzlich entschieden widersprochen. In einem Interview mit der kommunistischen Wochenzeitung VOZ sagte er, eine Vereinbarung während der Sondierungsgespräche sei gewesen, keine Zeitlimits zu setzen. Ziel der Regierung könnte sein, so schnell wie möglich und weitestgehend abgeschottet von der kolumbianischen Öffentlichkeit, den formalen Frieden herzustellen und sodann mit der dritten Phase des Friedensprozesses fortzufahren.
Unklarheit besteht ebenfalls darüber, inwieweit und über welche Wege die Zivilgesellschaft an den Verhandlungen beteiligt sein wird. Kritiker_innen hatten bemängelt, dass Vertreter_innen der Gewerkschaften, Indigene und Bauernverbände (im Gegensatz zu Militärs, Polizei und Wirtschaft) keinen Platz am Verhandlungstisch erhalten werden. Darüber hinaus vertritt die Guerilla bei weitem nicht alle Interessen der ländlichen Bevölkerung und steht teilweise in offenem Konflikt mit ihnen. Der viel zitierte Satz Timochenkos, der Schlüssel zum Frieden liege beim kolumbianischen Volk, muss vor diesem Hintergrund angezweifelt werden.
Während die sozialen Bewegungen deshalb vor allem auf die Mobilisierung auf der Straße setzen, um Themen an den Verhandlungstisch zu tragen, sieht eine „institutionelle Lösung“ vor, die aus dem Kongress hervorgehende Nationale Friedenskommission wiederzubeleben, in der neben Parlamentarier_innen auch Vertreter_innen sozialer Organisationen einen Platz haben sollen. Die Stigmatisierung der sozialen Bewegungen, insbesondere der im April ins Leben gerufenen Sammelbewegung Marcha Patriótica, als von der Guerilla finanzierte Organisationen könnte im Kontext von Mobilisierungen alte Traumata wiederbeleben.
Das beste Argument der Guerilla gegen die Option einer politischen Opposition innerhalb der staatlichen Institutionen war in der Vergangenheit immer das Schicksal der Unión Patriótica gewesen, einer 1985 gegründeten FARC-nahen Partei. Ende der 80er Jahre wurden 2.000 bis 3.000 Mitglieder der UP, die FARC spricht von bis zu 5.000, von Paramilitärs wie der AUC gezielt ermordet. Die Sammelbewegung Marcha Patriótica, die sich aus rund 2.000 Bauern-, Studierenden-, Indigenen- und Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt und deren sichtbarste Figur die ehemalige Senatorin Piedad Córdoba ist, könnte das gleiche Schicksal ereilen. Die Marcha wurde seit ihrer Gründungsdemonstration im April von Politik, Militär und einigen Medienvertreter_innen bewusst stigmatisiert und als von der Guerilla gegründete und gesteuerte Bewegung bezeichnet. Wiederholt kam es in den vergangenen Wochen vor, dass ihre Mitglieder unter dem Vorwurf, Mitglieder der FARC zu sein, von Staatsanwaltschaft und Polizei kurzzeitig festgenommen wurden, ohne dass entsprechende Beweise vorlagen. Unbestreitbar ist, dass sich Guerilla und einige Mitgliedsorganisationen der Marcha ideologisch nahe stehen, beispielsweise in der Ablehnung der neoliberal orientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ob die Marcha eine „politische Landebahn“ für die Guerilla sein kann, ist eine der spannenden Fragen, die der Prozess aufwirft. Ab Mitte Oktober kommen die Antworten näher.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Verdrängtes ans Licht bringen

Der dunkle Saal im alteingesessenen Kino Capitol in der Fußgängerzone von Guatemala Stadt ist bis auf den letzten seiner 300 Plätze belegt. Über die Leinwand flimmert ein Schwarzweißfilm. Eine bulgarische Berglandschaft gibt mit einigen prominent platzierten Kunstpalmen die mittelamerika­nischen Kulissen. „Mit Männern wie Ihnen werden wir in null Komma nichts Guatemala befreien“, tönt es in deutscher Sprache. Nur manchmal fallen ein paar spanische Kraftausdrücke, die in den Untertiteln nicht übersetzt werden müssen.
In Das Grüne Ungeheuer, einem DDR-Klassiker von 1962 nach dem Roman von Wolfgang Schreyer, gerät der deutsche Hauptdarsteller durch widrige Umstände an die vorderste Front des Kalten Krieges in Mittelamerika. Mit ihm erlebt das bunt gemischte Publikum im Cine Capitol nun in fünf abenteuerlichen Kapiteln den CIA-gesteuerten Sturz des guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz mit. Dieser hatte mit seinen beherzten Landreformen „das grüne Ungeheuer“ – die allmächtige United Fruit Company – gegen sich aufgebracht.
„Guatemala sieht sich im Spiegel“, urteilte Kolumnist Raúl de la Horra, einer der Podiumsgäste auf dem Festival. „Die Reflektion der eigenen Geschichte ist es, was wir in diesem Land so dringend brauchen.“ Zwei Tage später zeigt ein Dokumentarfilm die BRD-Perspektive der 1960er Jahre auf Guatemala. In „Jungfrau, Marx und Huracán“ gehen die Filmemacher der Frage nach, „ob Moskaus Saat nun auch in Guatemala wächst“.
In der NDR-Reportage preisen Angehörige der guatemaltekischen Elite und deutsche Kaffee­plantagen­besitzer den Putsch gegen Arbenz als Befreiungsschlag. Ein 36 Jahre anhaltender Bürgerkrieg und der Genozid an der Maya-Bevölkerung werden folgen. 200.000 Menschen wurden dabei umgebracht; weitere 50.000 verschwanden gewaltsam. Der Bericht der UNO-Wahrheits­kommission stellte Ende der 1990er Jahre fest, dass 83 Prozent der Opfer Indigene waren und 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee verübt wurden.
„16 Jahre nach Abschluss der Friedensverträge herrscht vielerorts noch immer Schweigen über die blutige Vergangenheit“, konstatiert Uli Stelzner, ein deutscher Filmemacher, der das Internationale Filmfestival in Guatemala initiierte. „Im letzten Jahr wurden die ersten Strafverfahren gegen Militärs eröffnet. Die guatemaltekische Justiz hat angefangen, sich zu bewegen. Nun ist es von fundamentaler Bedeutung, Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen, damit dieser Prozess nicht zum Erliegen kommt.“
Uli Stelzner dreht seit fast 20 Jahren sozialkritische Filme in Guatemala (siehe LN 449). Eine enge Kooperation zwischen deutschen und guatemaltekischen Filmschaffenden ist entstanden. Diese gehen der „unbedingten Notwendigkeit“ nach, mit Dokumentarfilmen ein nichtkommerzielles Kino in dem kleinen mittelamerikanischen Land zu schaffen. Für Uli Stelzner war es dabei stets wichtig, als Filmemacher in Dialog mit der Bevölkerung zu treten. Mobile Vorführungen führten ihn in entlegenste Dörfer, um Diskussionen in die kriegsgeschädigten Gemeinden zu tragen.
Sein aufwendigstes Filmprojekt jedoch verlangte nach einem größeren Rahmen. In La Isla – Archive einer Tragödie werden die Zuschauer in die fensterlosen Räume der gefürchteten Folterstätte der guatemaltekischen Polizei geführt (siehe LN 433/434). Das Gebäude in der Peripherie der guatemaltekischen Hauptstadt konnte nie verortet werden. Bis es im Jahr 2005 überraschend durch eine Explosion der Öffentlichkeit zugänglich wurde – und mit ihm das bislang geheime Polizeiarchiv. Vor weißgetünchten Wänden lagerten dort vergilbte Aktenberge, insgesamt 80.000 Dokumente. „Nun gab es auf einmal minutiös geführte Aufzeichnungen über politische Morde, extralegale Festnahmen und Folter während des Krieges“, berichtet Stelzner.
Die kommerziellen guatemaltekischen Medien hätten jedoch kein Interesse daran, die Menschen darüber zu informieren. Die heutige Regierung von Ex-General Otto Pérez Molina, der als junger Offizier in das Massaker im Nebaj-Ixil-Dreieck verstrickt war, noch viel weniger. In La Isla zeigt ihn Archivmaterial inmitten hingerichteter Bauern stehend. „Mit dem Dokumentar­film haben viele erst erfahren, dass sie nun die Möglichkeit haben, nach verschwundenen Familien­angehörigen zu forschen.“ La Isla gab 2010 den Auftakt zum ersten Internationalen Filmfestival in Guatemala. Trotz Bombendrohung und Sabotage strömten 6.000 Menschen in den Kulturpalast, Symbol der vergangenen Militärdiktaturen. „Bilder wurden gezeigt, die lange verdrängt wurden.“
Drei Jahre später hat sich das Filmfestival vergrößert. Zehn Tage lang wurden bis Mitte Mai 17 Filme aus Lateinamerika und Europa gezeigt. Ihre Auswahl hat sich aus der Diskussion der letzten Jahre ergeben: Denn neben der ausstehenden Aufarbeitung der Vergangenheit ist die indigene Mehrheitsbevölkerung in Guatemala heute erneut Repression und Verfolgung ausgesetzt. Diesmal sind es multinationale Unternehmen, die mit Industrie-, Minen- und Staudammprojekten in die Gemeinden eindringen und dabei vom Militär geschützt werden. Filme aus Peru, Kolumbien und Österreich drehen sich um den weltweiten Ressourcenboom, der immer wieder auch indigene Territorien betrifft.
Eine Frau aus dem Publikum erhebt sich, um eine Wortmeldung zu machen. Ihre bestickte Bluse und der gewebte Rock weisen sie als Bewohnerin des Departamentos Sacatepeque aus. „Die Realität holt uns im Kinosaal ein. Bilder, wie wir sie hier auf der Leinwand sehen, waren heute auf den Titelseiten der Zeitungen.“ Sie verweist auf den dieser Tage ausgebrochenen Konflikt in Santa Cruz Barillas, im Hochland Westguatemalas. Dort sprachen sich in einer Volksbefragung knapp 50.000 Indigene gegen wirtschaftliche Großprojekte aus. Laut der von Guatemala ratifizierten ILO-Konvention 169 über Indigene Rechte gilt diese als rechtsverbindlich. Der Bau eines Hydroelektrizitätswerkes wurde trotzdem weiterverfolgt; der dagegen aufwallende Protest schließlich mit dem Einsatz des Militärs und der gezielten Festnahme von Aktivist_innen beantwortet.
Auch in der Vorführung am nächsten Morgen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Oberstufen­schulen der Hauptstadt läuft, haben die Schüler_innen von Barillas gehört. Was dort genau vor sich geht, weiß jedoch keiner so recht zu sagen. Die kanadische Filmemacherin Stephanie Boyd ermuntert die anwesenden Schüler_innen, selbst zur Digitalkamera oder zum Handy zu greifen und ihr Leben und die Realität in ihrem Land zu dokumentieren. Die Jugendlichen in Schuluniform grinsen ein wenig verlegen und rutschen auf den kaminroten Kinosesseln herum.
Doch Stephanie Boyd lässt nicht locker: „Werdet wie Chasquis, die Laufboten der Inkas, und tragt Informationen von der Küste ins Hochland und zurück.“ Sie erzählt den 17-jährigen, wie sie und ihr Kameramann sich autodidaktisch die Filmproduktion beibrachten. Spezialeffekte drehen die beiden in ihrer Küche. Die in Peru lebende junge Frau ist mit ihrer Doku „Operation Teufel – ein Bergbau­konzern greift an“ seit zwei Jahren weltweit auf Filmfestivals präsent. Mehr jedoch als die eigene Filmproduktion liegt ihr die Weitergabe von technischem Know-How an Aktivist_innen am Herzen. „Ein Land ohne Dokumentarfilme ist wie eine Familie ohne Fotoalbum“, zitiert sie Patricio Guzmán, der den Aufstieg Salvador Allendes in Chile und den Putsch des Militärs filmte.
Auch am Abend strömen interessierte Kinobesucher_innen wieder die Treppen des alten Filmpalasts hinauf. Student_innen, Angehörige indigener Organisationen, Pensionär_innen, Pressevertrete_innen und internationale Freiwillige durchqueren die Ladenzeilen, wo neben Pizza, Telefonkarten und Parfüm auch Waffen und Munition feilgeboten werden. Aus dem Erdgeschoss dringt der Lärm von Spielautomaten und Musikboxen herauf.
An einem Abend stellt der international renommierte Journalist Hollman Morris seinen Film „Impunity – Straflosigkeit für Massenmorde in Kolumbien“ vor. Für seine kontinuierliche investigative Berichterstattung im Drogenkrieg bekam er im letzten Jahr den Nürnberger Menschenrechtspreis verliehen. Seit Jahren dokumentiert Morris politische Morde, Vertreibungen – und die Verstrickungen der Regierung in Paramilitarismus und Drogenhandel. Nicht ohne persönliche Konsequenzen: Der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe diffamierte ihn als „Komplize des Terrors“, manipuliertes Filmmaterial machte ihn zum Sprecher der FARC-Guerilla und die USA verweigerten ihm 2010 unter Terrorismus-Vorwurf die Einreise.
Doch Morris ist überzeugt: „Die Geschichte muss aus Sicht der Opfer erzählt werden, nicht der Täter.“ Der Dokumentarfilm gäbe in Lateinamerika den zum Schweigen gebrachten eine Stimme, fährt er fort. „Er ermöglicht es darüber hinaus, die Opfer von Kriegen und Diktaturen nicht nur in ihrer menschlichen Tragödie darzustellen. Er zeigt sie als Subjekte mit ihren Schmerzen und Traumata, aber auch mit ihren Rechten und ihrer Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Das Filmfestival neigt sich seinem Ende zu. Menschen strömen aus dem Kino. Währenddessen steckt die Vergangenheitsaufarbeitung in Guatemala weiter in den Kinderschuhen.

Und dieses Massaker gab es doch…

„Das ist dem Interamerikanischen Gericht noch nie passiert, dass plötzlich Opfer auftauchen, die sagen, nein, ich bin doch nicht Opfer von Verbrechen geworden, meine Söhne sind gar nicht verschwunden, das ist ganz schön heftig, oder?“ – Alirio Uribe Muñoz vom Anwaltskollektiv José Álvear Restrepo lacht ein bisschen. Dabei ist die Sache ernst: In einem der wichtigsten Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs der letzten zehn Jahre, in dem der kolumbianische Staat 2005 wegen Verletzung seiner Schutzpflichten während des Massakers von Mapiripán zu Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu 300.000 US-Dollar pro Familie verurteilt worden war, sind im Herbst 2011 Zweifel laut geworden. Eine der Bäuerinnen, Mariela Contreras, die vor Gericht angegeben hatte, in Mapiripán ihre beiden Söhne verloren zu haben, sorgte mit einer neuen Aussage für einen Skandal: einer der Söhne sei zwar von Paramilitärs umgebracht worden, aber erst im Jahr 2001. Der andere sei als Aussteiger der FARC-Guerilla 2008 wieder aufgetaucht. Dem Anwaltskollektiv, das Doña Mariela juristisch vertreten hatte, wird nun von staatlicher Seite Korruption vorgeworfen – zu Unrecht, sagen die Anwält_innen. Die kolumbianischen Medien hingegen nahmen Vorlagen wie die des staatlichen Generalbevollmächtigten sofort auf: Die Anwält_innen hätten wie eine kriminelle Bande agiert und mit dem Fall ein großes Geschäft gemacht. Erwiesen ist: In Mapiripán im Südosten Kolumbiens wurden zwischen dem 15. und 20. Juli 1997 dutzende Menschen von paramilitärischen Gruppen getötet und in den nahen Fluss geworfen. Die Täter, etwa 200 rechtsgerichtete Paramilitärs, waren aus dem Nordosten des Landes in Militärflugzeugen zu einem Militärflughafen in der Nähe des Tatortes transportiert und das Massaker Tage zuvor angekündigt worden. Polizeiinspektor und Bürgermeister hatten den Ort vor Beginn des Massakers verlassen; die Tat gilt als Ausgangspunkt für die Ausweitung der paramilitärischen Strategie in den Südosten des Landes. Angesichts der strategischen Lage Mapiripáns am Fluss Guaviare und zum Orinoco hin – im Südosten Kolumbiens zentrale Verkehrswege – öffnete diese Gebietsnahme den Paramilitärs den Weg nach Südosten und die Kontrolle über die Kokaplantagen der Region. Nach dem Massaker flohen etwa 2700 Menschen aus der Region. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs wurde als großer Erfolg der kolumbianischen Menschenrechtsbewegung gefeiert, wenn auch die genaue Zahl der Opfer in den 14 Jahren seit der Tat nie ermittelt wurde.
Die Verantwortung für die genauen Ermittlungen liegt allerdings nicht bei der Klagevertretung, sondern bei der kolumbianischen Bundesstaatsanwaltschaft. Sie muss laut Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs ermitteln, welche der Opfer nachweislich ermordet wurden, welche verschwunden bleiben. Bereits 2007 hatte die Staatsanwaltschaft ihre Zahlen korrigiert und zwei Personen von ihrer Liste von 21 Ermordeten gestrichen. Damals hatte der Interamerikanische Gerichtshof die kolumbianische Bundesstaatsanwaltschaft ermahnt, doch sorgfältig zu ermitteln und das Urteil weiterhin umzusetzen.
Jetzt sagte die Staatsanwaltschaft öffentlich, die Opferzahl liege nur bei zehn, „aber wir haben einen Bericht der Einheit für Menschenrechte der Bundesstaatsanwaltschaft, die hat die Fälle bearbeitet, vom April 2011, in dem heißt es, die Zahl der Ermordeten liege bei 77!“ Alirio Uribe ist konsterniert. Nicht nur bleiben die Umstände des Massakers teilweise ungeklärt. Er und andere Menschenrechtsanwält_innen befürchten nun, die Anschuldigungen könnten dazu dienen, ihre gesamte Arbeit zu diskreditieren. Das Kollektiv verdient an einem erfolgreich ausgefochtenen Fall einen Prozentsatz – erfolgreiche Fälle sind allerdings selten für die kolumbianischen Menschenrechtler_innen, und keine_r verdient persönlich daran. Die an Doña Mariela gezahlte Entschädigung muss selbstverständlich zurückgezahlt werden, schenkt man ihrer aktuellen Version Glauben. Doch die Urteile des Interamerikanischen Gerichtssystems sind nicht anfechtbar, nur das übliche Evaluationsverfahren der Umsetzung ist im Gang. Mehrere kleinere Verfahren um den Fall Mapiripán sind bisher nicht abgeschlossen.
Der verworrene Kontext des kolumbianischen Krieges macht es schwer, sich vorzustellen, wie anwaltliche Arbeit funktionieren kann, wenn kaum Beweise für massenhafte Morde vorhanden sind. Häufig muss sich die juristische Arbeit hauptsächlich auf die Aussagen der Opfer und der Täter stützen. Noch in einem weiteren Fall sind von staatlicher Seite Zweifel geäußert worden: der Vertreibung von Las Pavas. Beiden Fällen ist gemein, dass nun die Rede von „falschen Opfern“ (falsas víctimas) ist, wie noch 2010 von „falsos positivos“, also vom Militär fälschlicherweise als Guerilleros ausgegebenen zivilen Opfern gesprochen wurde. Die makaberen Parallelen des Diskurses scheinen die kolumbianische Presse nicht zu stören; sogar der Innenminister sagte öffentlich, „Nein, alles weist darauf hin, dass da Opfer künstlich hergestellt werden“. Dies, obwohl Las Pavas als äußerst emblematischer Fall für die unzähligen Fälle von gewaltsamer Vertreibung galt. Das Ringen der Vertriebenen von Las Pavas um die Rückgabe des Landes war u.a. von der katholischen Kirche, der britischen Botschaft, der Universität Javeriana und internationalen Hilfsorganisationen unterstützt worden.
Die Gemeinde liegt in einer Region, in der in den 1990er Jahren die Farc-Guerilla aktiv war, später die rechtsgerichteten Paramilitärs, wie in vielen ländlichen Regionen. In der Gemeinde gab es 2003 und 2006 gewaltsame Vertreibungen von mindestens 123 Familien. Eliud Alvear, ein Sprecher der Gemeinde, erinnert sich in einem Interview mit der Zeitung VerdadAbierta, wie „sie uns in der Mehrzweckhalle der technischen Landwirtschaftsschule zusammenriefen und uns sagten, dass wir weg müssten. Das hier gehöre ihrem Chef. Das waren ungefähr 125 bewaffnete Typen. Aus Angst hat keiner was gefragt. Wir sind dann weg.“
Einige der Bäuerinnen und Bauern kehrten zurück, wurden 2009 aber teilweise wieder geräumt. Offizielle Landtitel besaßen sie nicht. Die Staatsanwältin von Cartagena, Miryam Martínez Palomino, hatte gegen den Polizeiinspektor ermittelt, der die Räumung vor drei Jahren angeordnet hatte. Nachdem der Polizist Nachweise und Zeugen beigebracht hatte, kam die Staatsanwältin zu dem beängstigenden Schluss, dass es dort nie gewaltsame Vertreibungen gegeben habe und das Land von Las Pavas immer schon einem Grundbesitzer gehörte. Dieser sei schlicht Opfer von Landbesetzungen geworden. Die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern hätten sich als Opfer nur dargestellt, mithilfe des jesuitischen Gemeindepriesters und der internationalen Organisation Christian Aid. Die Staatsanwältin ordnete an, wegen Verfahrensbetrug und falscher Anklage und sogar wegen Verbindungen zur Guerilla Verfahren zu eröffnen, da ein Zeuge behauptet hatte, einen der Sprecher der Gemeinde bei einer Zusammenkunft mit Gewehr über der Schulter gesehen zu haben.
Mit großem Erstaunen und wachsender Besorgnis beobachteten nun kolumbianische wie internationale Menschenrechtsorganisationen, wie die eigentlich als seriös geltende Generalbundesanwältin Viviane Morales Anfang Dezember 2011 öffentlich die Staatsanwaltschaft von Cartagena unterstützte und verlauten lies, in Las Pavas sei nie etwas passiert. Präsident Juan Manuel Santos beglückwünschte sie öffentlich zu diesem Schritt. Inzwischen relativierte Morales ihre Aussagen; zunächst müsse man „etwas mehr in die Vergangenheit blicken“; sie habe detaillierte Ermittlungen auch zur Zeit vor 2006 angeordnet. Die Message ist: Opfer von Vertreibung und Krieg könnten Betrüger sein, die eine ganze juristische Maschinerie in Gang setzen, um sich zu bereichern. Relevant ist das vor allem für das „Rückgabegesetz“, mit dem die Regierung eigentlich in großem Stil Land an Vertriebene zurückgeben wollte. Im Gesetz, und das war von Menschenrechtsorganisationen positiv hervorgehoben worden, lag die Beweislast erstmals nicht mehr bei den Vertriebenen selbst. Anwälte wie Alirio Uribe befürchten nun, dass bei der Umsetzung dieser Gesetze zur Rückgabe von Land Argumente auftauchen könnten, dass diese Opfer vielleicht keine waren. „Und das ist absolut ernstzunehmen, ich finde das sehr sehr schwerwiegend, weil es in der Konsequenz bedeuten kann, dass das Rückgabegesetz einfach nicht angewendet wird“. Bisher wird angenommen, „wenn ich in einer Region mit bewaffnetem Konflikt eine Finca hatte und habe die verkauft, dann wird davon ausgegangen, dass der Verkauf illegal war. Weil es eine Region der Vertreibung war, nimmt man an, dass ich zum Verkauf gewaltsam gezwungen wurde“, so der Anwalt. „Jetzt kann das Argument sein, ah nein, der hat verkauft und jetzt will er sich als Opfer, als Vertriebener darstellen“.
Die Beweislast in den Prozessen der Landrückgabe könnte sich damit wieder umkehren. Vertriebene müssten dann nicht nur beweisen, dass sie tatsächlich Land besaßen, sondern auch, dass sie tatsächlich vor Gewalt geflohen sind, und nicht mit der Guerilla zusammengearbeitet haben.
Die Prozesse wegen Rückgabe von Land liegen bei regionalen Richtern, von denen viele mit lokalen politischen Kräften enge Verbindungen haben. Unabhängige juristische Urteile über Landbesitz zu fällen, könnte in Regionen wie dem Cesar oder Magdalena zumindest schwierig werden. In vielen dieser Regionen sind paramilitärische Gruppen weiterhin aktiv, wie etwa in Urabá im Nordosten, wo Anfang Januar 2012 die Gruppe „Los Urabeños“ den Stillstand von Verkehr und Transport befohlen und zwei Händler erschossen hatte. Zuvor hatte die Polizei den als Anführer der im Drogenhandel tätigen Gruppe geltenden Juan de Dios Usuaga erschossen. Landwirtschaftsminister Juan Camilo Restrepo nannte allerdings die Rückgabe von Land, das sich Paramilitärs angeeignet hatten, als eine der Ursachen für die Konfrontation. Mitten im Krieg ist die Rückkehr für die meisten Bäuerinnen und Bauern ohnehin praktisch unerreichbar – selbst wenn ihnen geglaubt wird.

Geschacher um die besten Plätze

Samuel Moreno, der Bürgermeister von Bogotá, sitzt im Gefängnis. Er soll massiv Gelder veruntreut haben, die für den Bau weiterer Linien des Metrobusses Transmilenio gedacht waren. Seine Art in Bogotá Politik zu machen, hatte zwar in den letzten Jahren für Kritik in den eigenen Reihen gesorgt, doch mit dem Entzug seines Mandates im Juli schien die Zersplitterung des Linksbündnisses Polo Democratico Alternativo (PDA) so gut wie vollzogen. Noch existiert die Bündnis-Partei, die vor wenigen Jahren als wichtige, neue linke Kraft galt. Der PDA hatte über mehrere Legislaturperioden das Bürgermeisteramt in Bogotá – eines der wichtigsten politischen Ämter in Kolumbien – für sich beanspruchen können. Doch nun gibt es zwischen den unterschiedlichen progressiven und klientelistischen Strömungen kaum noch einen Zusammenhalt.
Am 30. Oktober, wenn die Bürgermeisterwahlen stattfinden, steht eine Vielzahl von Bewerber_innen zur Auswahl. Da ist zunächst Morenos Gegenspieler im Polo, Gustavo Petro. 2010 trat er vergeblich als Präsidentschaftskandidat gegen den rechtsgerichteten jetzigen Präsidenten Juan Manuel Santos an. Inzwischen hat er mit einigen weiteren die Partei verlassen und stellt sich als unabhängiger Kandidat für die Nachfolge Morenos auf. Der Kandidat des PDA, Aurelio Suarez, gilt als nicht sehr charismatisch und wenig aussichtsreich. Antanas Mockus, der 2010 noch als Präsidentschaftskandidat der Grünen Partei für Überraschungserfolge gesorgt hatte, tritt nun doch nicht mehr selbst für das Bürgermeisteramt an. Mockus unterstützt die ehemalige Senatorin Gina Parody. Sie bewirbt sich als Unabhängige, war aber früher in der Partei Unidad Nacional des jetzigen Präsidenten Santos, kommt also ursprünglich aus dem rechten Lager. Mockus hat bereits eine neue Partei hinter sich, die Alianza Social Independiente und bringt wohl für ihn bestimmte Wähler_innenstimmen mit ins Lager von Parody.
Ex-Präsident Alvaro Uribe Vélez seinerseits macht nicht etwa Werbung für den Kandidaten der Partei der Unidad, sondern hat dem Kandidaten der Grünen Partei, Enrique Peñalosa, seine Unterstützung erklärt. Peñalosa war bereits von 1998 bis 2000 Bürgermeister. Die Allianz aus Grünen und Unidad ist deshalb kurios, weil die Grüne Partei 2010 als Gegnerin von Juan Manuel Santos in die Präsidentschaftswahlen gezogen war. Santos war immerhin Verteidigungsminister unter Uribe und dessen Wunschkandidat für die Nachfolge. Dazu steht Uribe Vélez für das System, dass die überwiegend jungen Unterstützer_innen der Grünen 2010 rundweg ablehnten. Ihr Erfolg im Wahlkampf hatte sich zumindest teilweise in der Forderung nach einer Verurteilung politischer Verbrechen und einem größeren Respekt des Staates vor menschenrechtlichen Grundsätzen begründet. Die in die neue Partei gesetzten Hoffnungen fallen somit endgültig in sich zusammen. Der laute Protest einiger Abgeordneter verhinderte zwar eine Rede Peñalosas vor dem Parteitag, hatte aber sonst kaum Konsequenzen. Im Süden Bogotás waren Alvaro Uribe Vélez und Peñalosa gemeinsam auf Wahlkampftour zu sehen. Uribe Vélez twitterte: „Peñalosa soll Bürgermeister werden, erinnern wir uns an den Transmilenio, Luxusschulen in Armenvierteln, Kindergärten, Parks, er soll es noch einmal machen.“ Peñalosa liegt bei den Umfragen vorn. Dionisio Araujo von der Konservativen Partei zog seine Kandidatur zurück, die konservative Partei unterstützt jetzt die Grünen. Die beiden traditionellen Großparteien der Konservativen und Liberalen haben ihren Einfluss in Bogotá weitgehend verloren.
Jaime Castro, der bereits Bürgermeister war, als zuletzt 1992 ein liberaler Bürgermeister wegen Korruption sein Amt aufgeben musste, tritt mit Unterstützung der Bewegung Autoridades Indígenas de Colombia (AICO) an. Carlos Fernando Galán schließlich wird von der aus dem Uribe-Umfeld stammenden, rechtsgerichteten Partei Cambio Radical ins Rennen geschickt. Beide haben kaum Aussichten. Erstaunlicherweise ist Galán der einzige, der ein umfassendes Programm zur Förderung von Frauen – beispielsweise den Ausbau von Frauenhäusern, von denen es in der 10-Millionen-Stadt gerade mal fünf gibt – sowie der Lesbisch-schwul-bisexuell-transgender-Gemeinde vorgelegt hat. Allen Kampagnen ist gemein, dass der Wahlkampf in Bogotá kaum eigene Themen setzen kann. Momentan sind in der Hauptstadt keine stadtpolitischen Probleme präsent, sondern vor allem die Ratifizierung des Freihandelsvertrages mit den USA durch den dortigen Kongress, die breiter werdenden Proteste der Studierenden wegen geplanter Reformen zum Hochschulgesetz und das Mitte Oktober zu Fall gebrachte Gesetzesvorhaben zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Dabei gäbe es viel zu verändern: Die Staus sind so schlimm wie nie, weil die Baustellen des Metrobusses die Hauptverkehrswege blockieren. Gewöhnliche Kriminalität steigt, Überfälle sind häufig. Dazu sind öffentliche Räume rar; die Mieten steigen. Dass eine_r der Kandidat_innen diese Prozesse umkehrt, glaubt kaum jemand.
Nicht nur in Bogotá, in allen 32 Departements werden Gouverneur_innen, Bürgermeister_innen und Gemeindeabgeordnete gewählt. Einige der kleinen Parteien, die spezifisch ethnische Gruppen vertreten wollen, wie ASI, Afrovides und AICO, haben sich in Plattformen für ihnen programmatisch fern stehende Kandidat_innen verwandelt: In Policarpa im Departamento Nariño etwa ist die ASI-Kandidatin fürs Bürgermeisteramt, Gladys Ortega (eigentlich eine Konservative), wegen angeblicher Verbindungen zu den „Rastrojos”, einer Nachfolgeorganisation paramilitärischer Gruppen, in Verruf geraten. „Wir wollen anständige Leute unterstützen”, wehrte sich der Parteivorsitzende Alonso Tobon. Finde man etwas heraus, so würden solche Kandidat_innen sofort aus der Partei ausgeschlossen, wie es mit dem ehemaligen Bürgermeister des Heimatortes von Gabriel Garcia Marqüz, Aracataca, geschah. Der war wegen Mordes und Bildung einer kriminellen Vereinigung festgenommen worden. 38 Kandidat_innen wurden im Vorfeld der Wahlen bisher ermordet. Die Regionalwahlen sind wohl auch deshalb mit mehr Gewalttaten verbunden als etwa die Kongresswahlen, da auf der lokalen Ebene noch direkter um finanzielle Mittel für die eigene Klientel gerungen wird.
Im afrokolumbianisch geprägten Departamento Chocó ist die Währung für Wahlstimmen Bauholz und Zement. Dort haben 80 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu öffentlichen Diensten wie Wasserversorgung, Strom oder Abwasserversorgung. „Am Tag der Wahlen bilden sich Aufläufe vor den Wahlkreisbüros der Kandidat_innen, die Leute wollen sehen, was sie dort bekommen. Es ist die eine Möglichkeit für die Leute, was rauszuholen. Wenn sie an dem Tag nichts kriegen, dann nie”, wird eine Professorin aus der Departamento-Hauptstadt Quibdo in der Wochenzeitung Semana zitiert. Hier ist der ehemalige Gouverneur Sánchez Montes de Oca wegen Unterschlagung verurteilt und seines Postens enthoben worden. Welche politische Macht die Familie Sánchez dennoch hat, wird daran deutlich, dass der Bruder des Gouverneurs zwar wegen Verbindungen zu Paramilitärs in Bogotá im Gefängnis sitzt, aber dennoch in den Chocó reisen durfte. Dort besuchte er nicht nur das Begräbnis seiner Mutter, sondern auch das Parteibüro der Unidad Nacional. Der von ihm unterstützte Kandidat Jafet Bejarano hat versprochen, die Schuldächer in der regenreichen Region reparieren zu lassen und wird vermutlich die Wahl gewinnen. Die Gegenkandidatin Zulia Mena, die für eine kuriose Allianz aus dem linksgerichteten Demokratischen Pol, den Grünen und nun auch der Konservativen Partei antritt, hatte 2007 bei einer ersten Kandidatur Anzeige wegen Wahlbetrugs erstattet, da am Tag nach der Wahl Dutzende Wahlzettel mit für sie abgegebenen Stimmen im Müll gefunden worden waren. Passiert war damals nichts.
Das Wahlbeobachtungsinstitut MOE fürchtet dieses Jahr in mindestens 544 Gemeinden Wahlfälschung oder Unregelmäßigkeiten. In vielen Regionen sind ID-Karten aufgetaucht, die zu Verstorbenen gehören oder zu Menschen, die nicht existieren. Über 500.000 der für die Wahlen registrierten Karten wurden deshalb vom Nationalen Wahlrat annulliert. Alejandra Barrios von der Wahlbeobachtungsbehörde erklärt: „Diese annullierten Wahlregister lassen sich direkt in Finanzmittel der einzelnen Wahlkampagnen übersetzen” – Wahlfälschung kostet also. „Überlegen Sie sich mal, was es für eine logistische Leistung ist, wenn Sie Tausende Wähler, und die auch noch bezahlt, mit Bussen in einen anderen Ort bringen, damit diese dann dort für einen ausgemachten Kandidaten stimmen!”, so Barrios weiter. Natürlich seien diese Unregelmäßigkeiten nicht einer einzelnen Kampagne zuzuschreiben, dennoch „haben wir die Streitkräfte darum gebeten, dass sie Gemeindegrenzen von einzelnen Munizipien am Wahltag kontrollieren, weil wir dort von massiven Fällen von Mehrfachwahl ausgehen”, meint die Beobachterin im Interview mit Contagio Radio. Die Bitte um „Militarisierung” ist zunächst erschreckend, doch die Wahlbeobachterin insistiert: „Wir hoffen nur, dass Militär und Polizei auf den Fernstrassen die Busse und Autos so kontrollieren, dass nicht so etwas passiert wie zum Beispiel 2007 in Castilla la Nueva: Dort kamen unerwartet Busse mit Leuten aus anderen Dörfern an, die in Castilla wählten, obwohl sie eigentlich keine Berechtigung dazu hatten.” Es kam daraufhin zu Protesten, es wurden Wahlurnen verbrannt, mehrere Menschen wurden verletzt – „dort konnte dann gar nicht gewählt werden”, so Barrios. In anderen Regionen, wie zum Beispiel dem Valle del Cauca, wo es gewaltsame Zusammenstöße zwischen den Streitkräften und der Farc-Guerilla gibt, sei eine größere Präsenz des Militärs selbstverständlich nicht erwünscht.
Immer wieder entstehen Allianzen, um Kandidat_innen mehr Wahlstimmen zu ermöglichen, weil angenommen wird, dass eine feste Stammwähler_innenschaft den Kapriolen der Parteifunktionär_innen folgt. Doch so schnell wie sie geknüpft werden, lösen sich diese Allianzen bisweilen wieder auf.

// Rätselhafte Festnahme

Ausgerechnet auf venezolanischem Boden passierte es: Bei seiner Ankunft am nahe Caracas gelegenen Flughafen „Simón Bolívar“ wurde Joaquín Pérez Becerra am 23. April verhaftet. Zwei Tage später schoben ihn die venezolanischen Behörden nach Kolumbien ab, wo er als vermeintlicher „Europa-Botschafter“ der FARC-Guerilla polizeilich gesucht wurde.

Seit 1994 lebt Pérez Becerra in Schweden als anerkannter politischer Flüchtling. Zuvor gehörte der gebürtige Kolumbianer der linken Partei Patriotische Union (UP) an, die ab Mitte der 1980er Jahre versucht hatte, eine legale politische Alternative jenseits der Guerillas aufzubauen. Der Preis dafür war außerordentlich hoch: Um die 5.000 Parteimitglieder wurden im Laufe der Jahre getötet. Pérez Becerra konnte letztlich nach Schweden fliehen, von wo aus er begann, für die dort ansässige Nachrichtenagentur ANNCOL zu arbeiten. Diese veröffentlicht zwar unter anderem Kommuniqués der FARC, versteht sich jedoch vor allem als alternatives kolumbianisches Medium, das auch Verbrechen des Staates anprangert. Doch Pérez Becerra lebte nicht nur in Schweden, er hatte auch die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen – und die kolumbianische abgegeben.
Nicht nur deshalb muten die Umstände seiner Verhaftung abenteuerlich an. Laut eigenen Angaben hatte der kolumbianische Präsident Manuel Santos seinen Amtskollegen Hugo Chávez in Venezuela angerufen, der umgehend reagiert habe. Pérez Becerra verbrachte nur 48 Stunden in den Händen der venezolanischen Behörden und hatte in dieser Zeit weder Kontakt zu seinem Anwalt noch zur schwedischen Botschaft. Schließlich wurde er ohne Gerichtsverhandlung nach Kolumbien abgeschoben, dem Land mit einer der schlimmsten Menschenrechtsbilanzen Lateinamerikas.
Chávez brachte dieses Vorgehen Kritik im eigenen Land ein. Teile der linken Basis protestierten gegen Becerras Abschiebung. Der venezolanische Präsident jedoch verteidigte das Vorgehen: Es habe ein internationaler Haftbefehl vorgelegen und Venezuela sei gar nichts anderes übrig geblieben, als sich an internationales Recht zu halten. Vielmehr sei es verwunderlich, warum Pérez Becerra nicht schon bei seiner Durchreise in Deutschland festgenommen worden sei. „Wenn ich ihn festnehme, bin ich der Böse, und wenn nicht, dann auch“, so Chávez. Doch damit macht er sich den Fall eindeutig zu einfach.

Seit Manuel Santos im vergangenen Jahr Álvaro Uribe als Präsident Kolumbiens abgelöst hat, haben sich die zuvor lädierten Beziehungen zu Venezuela stark verbessert. Und obwohl es trotz tiefer ideologischer Unterschiede gute Gründe für eine nachbarschaftliche Kooperation der beiden Länder gibt, hätten im Fall Becerra die Umstände keineswegs eine Abschiebung nach Kolumbien erfordert. Statt Pérez Becerra in das Land abzuschieben, aus dem er vor dem staatlichen Terror geflohen ist und dessen Pass er abgegeben hat, hätten ihn die venezolanischen Behörden zumindest in den nächsten Flieger nach Schweden setzen können. Zudem bleibt fraglich, ob überhaupt ein internationaler Haftbefehl vorgelegen hat. Auf der Internetseite von Interpol lässt sich diesbezüglich jedenfalls nichts finden. Hätte es einen gegeben, wäre Pérez Becerra wohl tatsächlich schon in Frankfurt verhaftet worden.
Währenddessen macht ausgerechnet Kolumbien vor, was selbst bei einer Abschiebung ins Nachbarland ohne Weiteres möglich ist: Für die von Venezuela verlangte Auslieferung des mutmaßlichen Drogenhändlers Walid Makled forderte die kolumbianische Regierung eine schriftliche Garantie, dass dessen Rechte gewahrt werden. Eine ebensolche Garantie wäre das Mindeste gewesen, was Chávez von Santos hätte verlangen müssen, auch wenn dies allein wohl kaum ausreicht. Mag sein, dass Santos in einer günstigen Situation ausloten wollte, wie weit die Kooperationsbereitschaft seines Amtskollegen tatsächlich geht. Sollte dem so sein, hat er nun einen Präzedenzfall geschaffen, der ganz im kolumbianischen Interesse liegt.
Der ganze Fall Pérez Becerra wirft viele Fragen auf – die venezolanische Haltung bildet dabei keine Ausnahme. Chávez jedenfalls scheint bisher nicht gewillt, bei deren Klärung behilflich zu sein.

Imagemaschine

nd bringende Lokomotiven hat sich Präsident Juan Manuel Santos für Kolumbien ausgedacht: Infrastruktur, Landwirtschaft, Wohnraum, Bergbau und Innovation. Der Staat ist die Maschine, die die Lokomotiven koordiniert. Dieses Bild nutzt der Präsident seit seiner Amtsübernahme im August immer wieder – in einem Land, in dem es seit Jahrzehnten keinen Eisenbahnverkehr mehr gibt. Es ist ein sehr aktiver Staat, der da Infrastrukturinvestitionen und formelle Arbeitsverhältnisse verspricht: „In jedem kolumbianischen Haushalt soll wenigstens eine Person einen richtigen Arbeitsvertrag haben. Wir wollen bis 2014 zweieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze schaffen“.
Die Zustimmung der Bevölkerung zum Regierungskurs liegt in offiziellen Umfragen denn auch bei um die 80 Prozent. Santos hat es geschafft, das gesamte bürgerliche Lager um sich zu scharen. Er kommt aus der traditionellen politischen Elite Bogotás, anders als sein Vorgänger Álvaro Uribe, dem engere Verbindungen zu regionalen Caudillos und zum Drogenhandel nachgesagt werden.
Vom Image des wütenden Uribe, der auf TerroristInnen schimpft, wenn er kritische JournalistInnen meint, hat Santos den Schwenk zu versöhnlichen Gesten vollzogen. Nicht umsonst ist er im familieneigenen Medienimperium El Tiempo groß geworden. Und er weiß dieses Image international zu festigen: freundliche Treffen mit Hugo Chávez, Investitionssicherheit für die EU. Die „Nationale Einheit“ scheint ein Erfolg. Santos lädt ein, sich hinter seiner Politik zu versammeln. „Die Lösung von Problemen wie der Arbeitslosigkeit, Sicherheit und Armut kann ja keine politische Farbe haben. In wichtigen Projekten haben uns zum Beispiel die Grünen geholfen“, sagte Santos im Interview mit der Zeitung seiner Familie, El Tiempo. Die Grünen hatten mit Antanas Mockus noch im Mai den Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl gestellt. Eine parlamentarische Opposition steht dem Bündnis von Santos‘ Partido de la U kaum entgegen: Aus dem in sich tief gespaltenen Linksbündnis PDA nähern sich viele der Berufspolitiker dem Projekt der „Nationalen Einheit“ von Santos an.
Dabei gibt es durchaus Dinge, die der Regierung zu schaffen machen. Die winterlichen Überschwemmungen, die dieses Jahr bereits über 195 Tote gefordert und über 1000 zerstörte Häuser zur Folge haben, zwangen Santos dazu, internationale Hilfe anzufordern.
Die Beseitigung des enormen Haushaltsdefizits erklärte der Präsident zur Hauptaufgabe. Im Senat wird ein Gesetz diskutiert, das „das Recht auf Ausgeglichenheit im Staatshaushalt“ in der Verfassung festschreiben soll: Damit könnten alle anderen Vorhaben davon abhängig gemacht werden, ob dann mit Schulden zu rechnen wäre oder nicht. Einmal mehr würde Kolumbien zum Musterschüler des Internationalen Währungsfonds. Sparen will die Regierung zum Beispiel dadurch, dass die Gewinnabgaben aus Bergbau und Ölförderung direkt an den Zentralstaat und nicht mehr an die Regionen gehen sollen. Gespart wird natürlich auch im sozialen Bereich: Die Gesundheitspolitik etwa führt weiter, was im vergangenen Januar schon einmal für massiven Protest gesorgt hatte: Ärmere Patienten haben kaum Chancen, Subventionen aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu bekommen. Eine Behandlung ermöglichen sich die Patienten durch private Zuzahlungen. Ein weiteres Problem für die Regierung ist die Währungsinstabilität: Die kolumbianische Zentralbank kauft einmal mehr täglich 20 Millionen an Dollarreserven auf, damit der Peso im Verhältnis zum schwachen Dollar nicht zu stark und die kolumbianischen Exporte nicht zu teuer werden – von denen ist das Land nun mal abhängig.
Am Wirtschaftsmodell, das sich mitten im Bergbauboom am Export von Kohle, Gold, Öl und anderen Primärgütern orientiert, hat sich nichts geändert. Neuen Raum nimmt aber die Modernisierung der Landwirtschaft ein, wie Agrarminister Juan Camilo Restrepo im August präsentierte: Der Zugang zu Agrarland soll verbessert, die Nutzung verändert, flächendeckend Landtitel vergeben werden, ein Programm zur Rückgabe von Land an Vertriebene aufgelegt und Landtitel auf illegal erworbenes Land entzogen werden. Die Steuern auf Grundbesitz sollen modernisiert werden.
Dass die Regierung die Rückgabe von Land an interne Flüchtlinge verkündet hat, hatte in Bogotá für große Aufmerksamkeit gesorgt. Zunächst gab es zwei Gesetzesprojekte: Eines zur Rückgabe von Land an einen Teil der über vier Millionen von ihrem Flecken Land Vertriebenen. Zwei Millionen Hektar wolle man in den kommenden vier Jahren für Opfer von Vertreibungen verfügbar machen. Außerdem wolle die Regierung „bald“ eine Gesetzesinitiative zur Agrarreform präsentieren, die in Kolumbien seit über 100 Jahren immer wieder gefordert und nie umgesetzt wurde.
Symbolisch ist der Schwenk der Regierung wichtig: Endlich gibt es eine Anerkennung der Vertriebenen. Doch eine Initiative der Regierung ist das Vorhaben keineswegs: Das Verfassungsgericht fordert eine Regelung schon seit Jahren. Die strukturellen Probleme, die die Vertreibung erst möglich machten, würden nicht einbezogen – so jedenfalls die Kritik der Opferorganisationen. Inzwischen seien die beiden Gesetzesvorhaben zusammengeschrumpft auf Initiativen zur Wiedergutmachung. Das Projekt sei sehr begrenzt und habe mit einer Agrarreform nichts zu tun. Was passiere, wenn nun tatsächlich jemand in seine alte Heimat zurückkehre? Es gebe keinerlei Garantien, dass die Vertriebenen nicht erneut mit Verfolgung rechnen müssen. Woher das Geld für die Landverteilung kommen solle, sei unklar. Wie eine kollektive Wiedergutmachung für indigene oder afrokolumbianische Gemeinden aussehen soll, die besonders von Vertreibungen betroffen sind, ist kein Thema. Währenddessen ist die erste Lesung des Gesetzes im Repräsentantenhaus erfolgreich verlaufen, mehrere Lesungen im Senat stehen noch an. Nach anfänglicher Kritik schloss sich das Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) dem Vorhaben an. Konflikte mit Teilen der Ultrarechten sind dennoch möglich: Schon, dass im Gesetzesentwurf Opfer von Verbrechen von Staatsbediensteten ebenfalls als Opfer anerkannt werden, verleitete Ex-Präsident Uribe zur Aussage, das würde die Truppen demoralisieren.
Im Grunde solle das Gesetz den Landbesitz in Kolumbien „in Ordnung bringen“, dieser Meinung ist der Politikwissenschaftler Carlos Gutiérrez. Er befürchtet sogar, eine weitere Landkonzentration könnte die Folge des Gesetzes sein. Besitztitel für privaten Landbesitz werden festgeschrieben, wo dies bisher nicht der Fall war, und damit der Zugang zu Krediten erleichtert. Ein Teil der Vertriebenen wird entschädigt und die Agrargrenze möglicherweise noch ausgeweitet. Erreicht wird eine Inwertsetzung von Parzellen, die zuvor in Subsistenzwirtschaft betrieben wurden.
Das Versprechen der Regierung ist folgendes: „Wir wollen, dass jeder Bauer sich in einen wohlhabenden Juan Valdéz verwandelt: Einen produktiven Unternehmer, der im Berufsverband organisiert ist, mit der Berufung zum Export, der mit technologischer Hilfe erster Güte rechnen kann“, so Santos bei einer Rede im Departamento Bolívar im Oktober. „Juan Valdéz“ ist die kolumbianische Modellfigur des glücklichen Kaffeebauern. Allerdings stellt sich die Regierung vor, export-orientierte Kleinbetriebe in Kooperativen zusammenzuschließen, die von größeren Unternehmen Technologie zur Verfügung gestellt bekommen – unabhängige Landwirtschaft sieht anders aus.
Santos versucht zudem, die Wogen zwischen Exekutive und den Obersten Gerichten wieder zu glätten. Anfang Dezember konnten sich Regierung und Judikative endlich auf die neue Generalstaatsanwältin Vivianne Morales einigen. Der Posten war wegen permanenter Konflikte zwischen Ex-Präsident Uribe und den rechtsprechenden Organen 16 Monate vakant gewesen. Uribe schien zeitweise so etwas wie einen persönlichen Feldzug gegen den Obersten Gerichtshof zu führen. Die „Versöhnung“ mit der Judikative könnte nun allerdings bedeuten, dass einige der PolitikerInnen, die mit dem Paramilitarismus zu tun hatten, mit juristischem Nachspiel zu rechnen haben, da sie das Image einer rechtsstaatlichen Nachkriegsgesellschaft doch gewaltig stören. Da ist plötzlich von Korruption im Transportministerium und im Kolumbianischen Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER) die Rede. Letzteres hatte Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten.
Einige aus der Regierung von Álvaro Uribe bekommen es deshalb mit der Angst zu tun. María del Pilar Hurtado beantragte in Panama politisches Asyl – sie sei in Kolumbien „nicht mehr sicher“. Die ehemalige Geheimdienstchefin und der Leiter des Präsidentenamtes Bernardo Moreno sollten wegen des Ausspionierens von Oppositionellen vor Gericht gestellt werden. Dass die Regierung Panamas ihr am 19. November tatsächlich Asyl gewährte, sorgte für Aufsehen und Protestdemonstrationen in beiden Ländern. Immerhin hatte del Pilar Hurtado einem staatlichen Apparat angehört, der über Jahre systematisch mit kriminellen Methoden regierungskritische Organisationen, AnwältInnen und JournalistInnen verfolgte und bis zu den kleinsten häuslichen Details dokumentierte (siehe LN 431). Der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras beeilte sich zu betonen, dass es sich in Kolumbien um faire Verfahren handele. „Es stimmt nicht, dass der kolumbianische Staat seine Bürger nicht schützen könne. Wir haben hier eine Demokratie, und die drei Gewalten arbeiten harmonisch zusammen“, sagte Präsident Santos. Weiteren „Asyl“-Anträgen wurde daraufhin nicht stattgegeben.
Einerseits sollen wohl tatsächlich staatliche Institutionen wieder in rechtsstaatlichere Bahnen gelenkt werden. Andererseits, so der Politikwissenschaftler Héctor Moncayo in einem Radiointerview, eröffnet sich über diesen juristischen Weg die Möglichkeit, die Verantwortung für staatliche Verbrechen Einzelnen zuzuschreiben: Eigentlich seien staatliche Institutionen Opfer einer Infiltrierung von der Mafia, das habe rein gar nichts mit staatlicher Politik zu tun – private Gruppen seien schuld an Menschenrechtsverbrechen und alles sei zudem hinter Ex-Präsident Uribes´ Rücken geschehen. So blieben Verfahren gegen Einzelne, aber im Großen und Ganzen eine flächendeckende Straflosigkeit der Verantwortlichen die Norm.
Bei all dem ist es fast verwunderlich, wie Santos sein Image im Griff hat, war er doch eine zentrale Figur im Kabinett der letzten Jahre. Als Verteidigungsminister war er verantwortlich etwa für das Bombardement eines Guerilla-Camps auf ecuadorianischem Boden 2008. Während seiner Amtszeit wurde ein System von Boni für SoldatInnen eingeführt, die getötete Gueriller@s präsentierten. Tausende ZivilistInnen wurden daraufhin von Militärs ermordet und als „im Kampf gefallen“ erfasst. Der Trick heißt Rhetorik: Bei allen genannten Vorhaben (Rückgabe von Land, juristisches Haftbarmachen von TäterInnen) wird aus einer Nachkriegsperspektive gesprochen.
Bereits unter Uribe sei erreicht worden, was man wollte: jegliche Versuche einer Friedenspolitik zu delegitimieren, so Moncayo. Denn die sei ja Komplizenschaft mit dem „Terrorismus“. Jetzt wird das Bild verbreitet, der „Terrorismus“ sei so gut wie besiegt, „als wären wir in einer neuen Welt der Versöhnung angelangt“.
In der kolumbianischen Realität herrscht aber weiterhin Krieg: Ende September verbuchte die Regierung einen großen Erfolg, als der FARC-Kämpfer Mono Jojoy getötet wurde. Der so genannte „Konsolidierungsplan“ soll nun – sozusagen als sechste Lokomotive – mit der „integralen Präsenz des Staates“ in etwa Hundert Gemeinden in den Departamentos Meta im Südosten und Sucre und Córdoba im Nordwesten des Landes für Ordnung sorgen, wo die Guerilla zurückgedrängt wurde. „Integrale Präsenz“ bedeutet in diesem Fall Patrouillen von Militärs im städtischen Bereich und soziale Kontrolle auf allen Ebenen: eine neue Phase der „Aufstandsbekämpfung“. Es ist schiere Illusion zu denken, Übergriffe der kolumbianischen Armee auf ZivilistInnen passierten jetzt höchstens noch vereinzelt. Gleichzeitig findet eine Reform der Strafgesetzgebung statt. Eine neue Straftat soll eingeführt werden: Apología al terrorismo heißt soviel wie Rechtfertigung des Terrorismus. Dass eine solche juristische Figur zur Kriminalisierung von KritikerInnen der Regierung beiträgt, liegt auf der Hand. Mit einer ähnlichen Argumentation war schon die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba, durch deren Vermittlung in den letzten Jahren mehrere von der FARC Entführte nach Hause zurückkehren konnten, im September ihres parlamentarischen Mandats enthoben worden. Veränderungen sind auch im Strafverfahrensrecht und Polizeirecht geplant.
Die Regierung Santos bedeutet keineswegs die große Erneuerung des Landes. Es ist vielmehr erklärte Regierungspolitik, die Arbeit der Vorgängerregierung weiterzuführen. Aus Deutschland kann sie dabei mit umfassender Unterstützung rechnen: Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), der im November nach Kolumbien reiste, sagte dort, einem Land wie Kolumbien gebühre Solidarität. „Der internationale Terrorismus ist eine Bedrohung für alle. In diesem Zusammenhang wird Deutschland seinen Beitrag leisten.“

// Außenpolitik vom Mars

Die deutsche Außenpolitik wird militarisiert, und zwar gründlich. In dankenswerter Offenheit, wenn auch nach einem halben Jahr Schamfrist, nimmt Kriegsminister Guttenberg die Steilvorlage Horst Köhlers auf und bereitet die „Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen“ mit deutschen Truppen vor.
Auch in Lateinamerika forcieren die schwarz-gelben Neocons einen folgenschweren Kurswechsel. Besonders hofiert wird dabei Kolumbien, das seit vielen Jahren unter dem Vorwand des „Antidrogenkriegs“ zum US-Brückenkopf in dem links gewendeten Subkontinent ausgebaut wird. Nach Köhler 2007 und Kanzlerin Merkel 2008 ist nun „Entwicklungsminister“ Niebel zu einem Staatsbesuch in dem lange gemiedenen Andenland eingetroffen. Dort möchte er die Beteiligung von Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) an einem US-kolumbianischen Aufstandsbekämpfungsprogramm in einer historischen Hochburg der FARC-Guerilla umsetzen. Ihm liegt die Doktrin der „Integralen Aktion“ zugrunde, laut Washington Post ein militärisch-ziviler Ansatz, der auch im Hinblick auf Afghanistan interessant sei. Doch die Zwischenergebnisse im kolumbianischen „Pilotgebiet“ Macarena sind ernüchternd, ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen.
Vor einem Jahr hatte Niebel, übrigens im selben Atemzug mit seiner neuen Afghanistanpolitik, die Wende in Kolumbien angekündigt. Nun soll ein scheinbar unverdächtiger „Umweltkartierungsplan“ als Türöffner für ein weitergehendes Engagement herhalten – trotz Warnungen von Kirchenleuten, MenschenrechtlerInnen und GTZlerInnen. Dazu passt die führende Rolle des Abteilungsleiters des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ), Harald Klein. Als Auslandschef der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung gehörte er 2009 zu den lautesten Propagandisten des Militärputsches in Honduras. Solche Figuren, auch in den unionsnahen Stiftungen, bereiten dem Rechtsruck in der deutschen Lateinamerikapolitik schon seit Jahren den Boden. Wie schon länger auf EU-Ebene bilden darin Außenhandels-, Wirtschafts-, Außen- und Entwicklungspolitik eine homogene Einheit. Nach Lateinamerika wird die Bundeswehr aber nicht beordert werden. Zumindest noch nicht.

IN EIGENER SACHE:
// LN wird anders in 2011: Wir lösen uns auf – und gründen uns neu

Unsere Neuigkeit an Sie und Euch: Die Lateinamerika Nachrichten werden ab dem 01. Januar 2011 als eingetragener Verein (e.V.) arbeiten.
Was sich dadurch für Sie/Euch ändert? Eigentlich nichts. Unsere neue Rechtsform wird für LN-LeserInnen kaum bemerkbar sein. Wichtig ist vor allem, dass wir eine neue Kontoverbindung bekommen – die genauen Daten werden in der nächsten Ausgabe sowie auf allen neuen Rechnungen stehen. Ansonsten kann der Lateinamerika Nachrichten e.V. ab 2011 Spendenquittungen ausstellen, so dass Sie/Ihr Spenden an uns endlich auch entsprechend steuerlich geltend machen können/könnt.
Und unsere Arbeit? Bleibt wie sie ist: Die Arbeitsweise der LN wird sich durch die Umstellung nicht ändern. Die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten arbeitet seit der Gründung der Zeitschrift 1973 ausschließlich ehrenamtlich. Für den administrativen Teil unserer Arbeit gibt es nach wie vor eine feste Stelle, alle wichtigen Entscheidungen der Zeitschrift – ob geschäftlicher oder redaktioneller Art – werden im Kollektiv diskutiert und beschlossen. All das wird bleiben, wie es ist.
Gibt es noch Fragen dazu? Wir beantworten Ihre/Eure Fragen gerne: Telefonisch oder auch per Mail an redaktion@LN-Berlin.de. Wir freuen uns auf hoffentlich noch viele gemeinsame Jahre. Der Lateinamerika Nachrichten e.V.!

Landreform als Imagepflege

„Das ist, als würden die USA Osama Bin Laden töten!“ So feierte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos in einer Videoansprache Ende September den Tod des Guerillakämpfers „Mono Jojoy“. Er sei der wichtigste Militärstratege der FARC-Guerilla gewesen; sein Tod sei der Anfang vom Ende der Rebellenarmee. Man mag es morbide finden, wie in Kolumbien der Tod eines Menschen offiziell gefeiert wird; doch Präsident Santos kann auf diese Weise kurz nach seinem Amtsantritt, dem eine Welle von Gefechten zwischen Streitkräften und FARC folgte, einen großen militärischen Erfolg vorweisen. Ein Umschwenken auf eine Strategie des politischen Dialogs mit der Guerilla ist jetzt noch undenkbarer: Die Regierung setzt darauf, die FARC militärisch zu besiegen.
Da kommt es gelegen, dass das US-amerikanische Außenministerium dem Kongress in Washington Anfang September mitteilte, Kolumbien habe große Fortschritte im Bereich der Menschenrechte gemacht. Nun könne ohne Bedenken die aus 2009 noch ausstehende Militärhilfe (ca. 32 Millionen US-Dollar) ausgezahlt werden. Das sei „eine großartige Nachricht“, meinte der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras, so würden die „enormen Anstrengungen“ anerkannt, mit denen die Regierung Santos in so kurzer Zeit zur Verteidigung der Menschenrechte beitrage. Es habe „eine neue Etappe für die Konzeption und Orientierung der Menschenrechte“ begonnen.
Diese „Neuorientierung“ ist eine Image-Politur für das Militär, sein Ruf ist einfach zu schlecht – trotz militärischer Erfolge. Die Streitkräfte sollen in die Sicherung der Menschenrechte einbezogen werden, Uniformierte geben in Schulen auf dem Land Menschenrechtsunterricht. Die Regierung wolle extralegale Hinrichtungen „nicht mehr tolerieren“ – angesichts solcher Äußerungen sollte man nicht vergessen, dass das Vorgehen, ZivilistInnen zu ermorden und als gefallene Guerilleros zu präsentieren, ausgerechnet während Santos‘ Amtszeit als Verteidigungsminister zur gängigen Praxis kolumbianischer Militäreinheiten wurde. In genau der Region, wo „Mono Jojoy“ in einer großen Militäroperation getötet wurde, befindet sich auch La Macarena, ein Massengrab, in dem anscheinend die Armee bis zu 1500 Menschen abgelegt hat, deren Identität ungeklärt ist. Die Streitkräfte sprechen von einem normalen „Friedhof“, während Menschenrechtsorganisationen viele gewaltsam Verschwundene dort vermuten.
Die Politik der Regierung von Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) wird fortgeführt, und das verwundert angesichts von Santos‘ zentraler Rolle in Uribes Kabinett kaum. Dennoch versucht Santos, sich von der Regierungszeit Uribes abzugrenzen: Weniger Polarisierung, sondern Umarmung scheint die Strategie zu sein. Von einer Regierung der Nationalen Einheit und von Versöhnung ist die Rede. Tatsächlich sammelt Santos das gesamte bürgerliche Lager um sich: aus allen wichtigen Sektoren hat er VertreterInnen in sein Kabinett geholt.
Für den Analysten Daniel Libreros liegt die „entscheidende Strategie der Regierung“ in ihren Vorschlägen zur Rückgabe von Land an Vertriebene. Eigentlich ist das Thema Landverteilung traditionell eines der Bauernbewegungen und linksgerichteter politischer Bündnisse. Um die Landfrage drehen sich Gewaltkonflikte in Kolumbien seit Jahrzehnten; Landbesitz ist immer mitentscheidend für sozialen Aufstieg gewesen – und wird es angesichts des auf Bergbau und Agrarexporte konzentrierten Wirtschaftsmodells auch bleiben.
Die Diskussion um die Landverteilung war im Juli denn auch von Abgeordneten des Linksbündnisses Polo Democrático Alternativo (PDA) angestoßen worden. Gustavo Petro (ehemaliger Präsidentschaftskandidat) und Iván Cepeda (Direktor der Bewegung der Opfer von staatlichen Verbrechen MOVICE) brachten die De-Facto-Legalisierung der Besitztitel über etwa vier Millionen Hektar Land zur Sprache, von denen die ursprünglichen BesitzerInnen vertrieben worden waren. Die Gesetzgebung unter der Regierung Uribe hatte dafür gesorgt, dass für bewirtschaftetes (und damit auch für gewaltsam angeeignetes) Land nach wenigen Jahren legale Eigentumstitel erworben werden konnten. Das Ergebnis ist folgendes: Laut einer Studie der Universidad de los Andes belief sich der Gini-Koeffizient, ein Maß für die relative Konzentration einer Verteilung, im Jahr 2009 in den ländlichen Regionen Kolumbiens auf 0,875 (bei einem Gini-Wert von 1 wäre alles Land in einer Hand, bei einem Wert von 0 gäbe es Gleichverteilung). Landbesitz konzentriert sich also inzwischen in noch viel weniger Händen als bisher angenommen.
Überraschend nahm sich nun die Regierung des Themas an. Agrarminister Juan Camilo Restrepo präsentierte Ideen der Regierung zu einer „Integralen Landpolitik für Kolumbien“. Mindestens zwei Millionen Hektar wolle man kaufen und an Vertriebene „zurückgeben“. Das Kolumbianische Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER), das Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen hatte, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten, sei „unbrauchbar und muss völlig umgebaut werden“, so der Agrarminister. Das Thema hat in Bogotá für viel Gesprächsstoff gesorgt: Eine Veränderung des Tonfalls ist das auf Seiten der Regierung sicherlich. Positiv wertet die Opposition vor allem, dass die Beweislast endlich nicht mehr bei den Flüchtlingen selbst liegen soll: In einem Verfahren sollen bald diejenigen, die das Land zum jetzigen Zeitpunkt bewirtschaften, nachweisen müssen, dass sie das Land legitim erworben haben.
Der Stand der Gesetzgebung ist ohnehin verfassungswidrig: In einem Statement betonte das kolumbianische Verfassungsgericht, dass Vertriebene als Opfer einer Straftat anerkannt werden müssten (was bisher nicht explizit geschah) und die Notwendigkeit, die Politik in Bezug auf Landrückgabe und -verteilung an Vertriebene zu erneuern. Allerdings scheint die Strategie vor allem darauf zu setzen, unbewirtschaftete Ländereien an Vertriebene zu verteilen. Wie der Landkauf von der Regierung finanziert werden soll, ist bislang unklar. Zusätzlich sollen bürokratische Hürden, Landtitel zu erhalten, weiter abgebaut werden. Denn laut der Regierung haben 70 Prozent der Bäuerinnen und Bauern in Kolumbien keine offiziellen Eigentumsurkunden über ihr Land und daher keinen Zugang zu Krediten oder Subventionszahlungen.
Meist ist gar nicht genau bekannt, wem das Land nun gehört. Iván Cepeda spricht von der auffälligen „Stille um die Landbesitzer“: „Das Thema ist ein Tabu: Es ist in Kolumbien fast ein Verbrechen, die beim Namen zu nennen, denen die Ländereien gehören.“ Da ist die Frage berechtigt, wie weit die Regierung bei einem echten Schwenk in der Landpolitik vom Kongress unterstützt würde, da viele Abgeordnete der Regierungskoalition selbst in Geschäfte mit landbesitzenden Paramilitärs und dem Drogenhandel verwickelt sind. Eine tatsächliche Rückgabe von Land an die Opfer scheint mit dem ineffizienten Justizapparat kaum möglich. RückkehrerInnen sind in ihren Heimatregionen erneut Gewalt ausgesetzt: Erst am 19. September wurde der Aktivist Hernando Pérez ermordet, der sich mit dem Bauernverband Asovirestibi in der Region Urabá um die Rückgabe von Land bemühte.
Und die Verpflichtung der Regierung, Opfer von Vertreibung zu entschädigen, darf nicht verschleiern, dass strukturelle Bedingungen erst zur Vertreibung geführt haben und von der bisherigen Agrarpolitik noch verschärft wurden. Es macht einen Unterschied, ob als „Wiedergutmachung“ einigen Wenigen Land zurückgegeben wird, oder ob es um eine umfassende Landpolitik und in der Konsequenz um eine systematische Agrarreform geht. Eine solche ist in Kolumbien viele Male gefordert und nie wirklich durchgesetzt worden. Würde darüber ernsthaft nachgedacht, so müssten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der marginalisierten Bevölkerung im Allgemeinen eine Rolle spielen, und das Landwirtschaftsmodell müsste grundsätzlich infrage gestellt werden: Was hat Priorität, der Export im großen Stil oder die Nahrungsmittelversorgung der eigenen Bevölkerung?
Ein Hauptfokus der kolumbianischen Wirtschaftspolitik bleibt die Bergbauindustrie (Öl, Kohle, Gold), die nicht gerade beschäftigungsintensiv, aber mit Landbesitz verbunden ist, und die industrialisierte Plantagenwirtschaft (Ölpalme, Bananen). Landlose Bauern sollen, so eine Idee der Regierung, gezielt an der Nahrungsmittelversorgung für die Städte beteiligt werden – aber keine Landtitel erhalten. Nach dem Vorbild von Ölpalmenplantagen sollen sie in „Kooperativen“ zusammengefasst sein, als „GeschäftspartnerInnen“ für größere UnternehmerInnen, die Technologie und Saatgut zur Verfügung stellen. Bei diesen Vorschlägen geht es keineswegs um eine Stärkung kleiner Landwirtschaftsbetriebe.
Doch gerade für die großen Bergbau- und Landwirtschaftsprojekte wollen internationale InvestorInnen Vertragssicherheit. Kolumbiens PolitikerInnen ist bewusst, dass es international durchaus Probleme geben kann, wenn ihnen enge Verbindungen zur Mafia und die gewaltsame Aneignung von Millionen Hektar nachgesagt werden. Freihandelsverträge, wie den kürzlich mit der EU vereinbarten, will die Regierung Santos nicht aufs Spiel setzen. Hier begründet sich wohl auch das Interesse an einer veränderten Politik gegenüber Vertriebenen. Dass dennoch weiter eine militärische Lösung des innerkolumbianischen Konflikts verfolgt wird, steht dazu nicht im Widerspruch, dienen doch die Guerilla und der Bürgerkrieg immer wieder als Rechtfertigung für die Kriminalisierung von politischem Protest.
Die FARC bleibt daher auch unter Juan Manuel Santos das größte Problem der demokratischen Linken in Kolumbien: Zuletzt wurde Ende September die oppositionelle Senatorin Piedad Córdoba, die maßgeblich daran beteiligt war, dass die Freilassung mehrerer von der FARC Entführter zustande kommen konnte, bezichtigt, Verbindungen zur Guerilla zu haben. In einem Urteil wurde ihr für 18 Jahre die Berechtigung, öffentliche Ämter auszuüben, entzogen. Einigkeit besteht in der Regierung der Nationalen Einheit von Juan Manuel Santos offensichtlich vor allem darüber, dass politische GegnerInnen, die sich nicht kooptieren lassen, nicht mehr zu Wort kommen sollen.

Grün ist die Hoffnung?

Die Präsidentschaftswahlen vom 30. Mai wurden in Kolumbien seit Wochen mit großer Spannung erwartet. Der Kandidat der Grünen Partei, Antanas Mockus, war die große Überraschung des Wahlkampfs. Eine Stichwahl zwischen ihm und dem Wunschkandidaten des amtierenden Präsidenten Uribe, Juan Manuel Santos, zeichnete sich ab.

In Ecuador und Venezuela ist man sich einig über Juan Manuel Santos, der im Nachbarland Kolumbien Präsident werden will: Der ehemalige Verteidigungsminister sei ein Wolf im Schafspelz. Wenn Santos die Wahl gewinne, würden die Beziehungen zwischen beiden Ländern noch mehr leiden, erklärte der venezolanische Präsident Hugo Chávez. Rafael Correa in Ecuador wünscht den KolumbianerInnen für die Wahlen ein „Fest der Demokratie“ – aber „natürlich wäre Santos ein Problem“. Möglicherweise haben die beiden Glück: Der nächste kolumbianische Präsident könnte überraschend ein anderer werden.
Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen ist kurz vor dem Wahltermin am 30. Mai völlig unklar, obwohl das rechtsgerichtete uribistische Lager in den Parlamentswahlen vom März seine Position als stärkste Kraft festigen konnte. Zunächst sah es aus, als habe Santos den Wahlsieg schon in der Tasche. Nun zwingt ihn wohl der Kandidat der Grünen Partei, Antanas Mockus, in eine Stichwahl. Dessen rasanter Aufstieg in den Umfragen hat die Regierung Uribe mächtig ins Schwitzen gebracht.
Mockus ist als ehemaliger Bürgermeister von Bogotá in Kolumbien kein Unbekannter. Dennoch: Noch im März hätte keineR dem Mathematiker und Sohn litauischer Einwanderer ernsthafte Chancen eingeräumt. Er genießt ein „sauberes Image“. Als Bürgermeister hat er keine öffentlichen Gelder veruntreut. Mit kuriosen Aktionen – so ließ er sich selbstironisch im Superman-Kostüm ablichten – und seiner relativen Unabhängigkeit vom Politestablishment gewann Mockus besonders junge städtische WählerInnen für sich. Sie halten einen politischen Wandel mit ihm für möglich und sorgen für Aufbruchstimmung im Land. Mockus fordert Transparenz der öffentlichen Haushalte, Bildungsprogramme und Respekt für den Rechtsstaat. Gerade den letzten Punkt setzt Mockus den Uribisten entgegen. Viele erhoffen sich durch ihn eine gewisse Aufarbeitung der (staatlichen) Verbrechen der letzten Jahre. 18.000 Menschen sind laut Angaben des Instituts für Gerichtsmedizin allein im Jahr 2009 gewaltsam verschwunden.
Juan Manuel Santos steht noch mehr als Uribe für die traditionelle Oligarchie. Seiner Familie gehört der Medienkonzern Casa Editorial El Tiempo und somit die größte Tageszeitung des Landes. Als die Umfragewerte für Mockus stiegen, holte Santos rasch den Venezolaner Juan José Rendón in sein Wahlkampfteam. Rendón ist in ganz Lateinamerika bekannt für Schmutzkampagnen, in denen mit allen Mitteln die GegenkandidatInnen diskreditiert werden. Zuletzt hatte Rendón in Honduras Erfolg: Seinen PR-Strategien sei es zu verdanken, dass Porfirio Lobo, der zuvor nur zwei Prozent Zustimmung erreicht habe, Präsident werden konnte, fantasierte Santos über die Wahlfarce der honduranischen PutschistInnen.
Als ehemaliger Verteidigungsminister ist Santos verantwortlich für das Bombardement eines Camps der FARC auf ecuadorianischem Boden im Jahr 2008. Die diplomatische Krise mit Ecuador und Venezuela folgte auf dem Fuß, Drohgebärden in Richtung der Nachbarländer blieben an der Tagesordnung. Während seiner Amtszeit ist ein perverses Modell entstanden, nach dem SoldatInnen für getötete Gueriller@s Prämien erhalten. Laut Staatsanwaltschaft wurden in diesem Zusammenhang mindestens 2.500 ZivilistInnen verschleppt, ermordet und als tote Aufständische präsentiert. Auch Treffen mit Paramilitärs musste Santos zugeben. Vor Gericht hat er sich wegen dieser Vergehen bisher allerdings nicht verantworten müssen.
Nun würde Mockus keineswegs die Pistolen der Polizei gegen Sonnenblumen austauschen, wie ein Wachdienstmitarbeiter gegenüber der Wochenzeitung Semana fürchtet. Er will im Gegenteil die Sicherheitspolitik der Regierung Uribe fortführen: „Meine Herren, den Farc bleiben noch drei Monate“ spielte er kürzlich auf seinen möglichen Amtsantritt im August an und verwarf die Idee eines humanitären Abkommens mit der Guerilla. Einen solchen Austausch von Entführten und politischen Gefangenen mit der FARC fordern Angehörige von Entführungsopfern seit Jahren.
Mockus ist kein Linker. Häufig überschneiden sich seine Aussagen mit denen Uribes. Besonders deutlich wurde dies, als er einem Bündnis mit dem linken Alternativen Demokratischen Pol (PDA) eine Absage erteilte. Den Regierungsdiskurs kopierend behauptete Mockus, im PDA würde Gewalt als politisches Mittel „immer noch gerechtfertigt“. Viele Linke sind mehr als enttäuscht: Für sie ist Mockus längst viel zu weit nach rechts gerückt.
Von Nachhaltigkeit ist im Programm der Grünen Partei kaum die Rede, dafür von marktliberaler Politik. Selbst die weitere Privatisierung des Gesundheitssystems, die in den vergangenen Monaten großen Protest hervorgerufen hatte, will Mockus durchwinken. Grün sind an der Partei lediglich die Symbole: Sie suggerieren eine sozial-ökologische BürgerInnenbewegung, die es bisher nicht gegeben hat. Sollte Mockus die Wahl gewinnen, gäbe es wohl eine Fortsetzung der bisherigen Politik – in grünem Gewand. Angesichts der Ergebnisse der Parlamentswahlen vom März hätte ein unabhängiger Präsident ohnehin kaum nennenswerte Spielräume.
Die anderen KandidatInnen sind weit abgeschlagen. Gustavo Petro vom Linksbündnis PDA bietet keine wirkliche Alternative. Die zerstrittenen Strömungen innerhalb des PDA tun ihr übriges, um das Bündnis als Verlierer der Wahlen zu präsentieren. Noemí Sanín von der Konservativen Partei galt noch vor wenigen Wochen als ernsthafte Gegnerin von Santos – mit einem fast identischen Programm. Jetzt befindet sie sich in den Umfragen im freien Fall.
Das Wahlergebnis könnte sich einmal mehr durch systematischen Stimmenkauf gründlich verändern. Für einen möglichen Sieg Mockus‘ spricht jedoch ein wachsendes Unbehagen über die Missachtung jeglicher Rechtsstaatlichkeit in Kolumbien. Bisher wurde Uribe von kritischen JournalistInnen und Stimmen aus den Sozialen Bewegungen kritisiert. Aber jetzt, so der Politikwissenschaftler Carlos Gutierrez in der kolumbianischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique, kommen die KritikerInnen des Uribismus auch aus dem Unternehmertum. Mit Santos, befürchten sie, könnte der Handel in der Region zum Problem werden und sich die Ratifizierung der Freihandelsverträge mit der EU und den USA weiter verzögern.

Räuber und Gendarm

Vier Monate sind nun vergangen seit der entführte Viehzüchter Fidel Zavala nach Zahlung eines Lösegeldes von der Guerilla Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) freigelassen wurde. Die Suche nach den TäterInnen brachte nur dürftige Resultate. Zwar konnte die Polizei recht bald medienwirksam die ersten Verdächtigen festnehmen, jedoch bezogen sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe auf eine frühere Entführung. Erst Ende März, also rund zwei Monate nach der Freilassung, wurden mit dem 22-jährigen Diosnel Gill und der 20-jährigen Graciela Samaniego die ersten und bisher einzigen Verdächtigen zum Fall Zavala gefasst. Beide werden dem logistischen Bereich der auf insgesamt nur etwa 30 Personen stark geschätzten Guerilla zugerechnet.
Mitte April ereignete sich jedoch im nördlichem Departamento Alto Paraguay, das zum trockenen Chaco Gebiet gehört, eine Schießerei zwischen dem 38-jährigem Severiano Martinez und einer Gruppe PolizistInnen. Martinez gilt als Gründungsmitglied der EPP und einer der Drahtzieher der sechs Jahre zurückliegenden Entführung und Ermordung von Cecilia Cubas, Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Er soll sich jedoch inzwischen von der Gruppe entfernt haben. Sowohl Martinez als auch die Polizeikräfte erlitten bei der Auseinandersetzung Schussverletzungen, ebenso wie der Verwalter einer nahegelegenen Ranch. Martinez gelang dennoch die Flucht in die Berge. Trotz eines Aufgebots von etwa 150 Polizeikräften gelang es in der Folge nicht, ihn aufzufinden. Es wird vermutet, dass er sich mit Hilfe von AnwohnerInnen nach Brasilien abgesetzt habe. Zwei Bauern der Gegend wurden deswegen verhaftet. Nur vier Tage später brachte eine erneute Schießerei in Arroyito im Departamento Concepción vier Menschen den Tod. Ein Polizist sowie mehrere Sicherheitsleute der Estancia „Santa Adelia“ waren bei einem Erkundungsritt aus Anlass eines Viehdiebstahls aus dem Hinterhalt heraus angegriffen worden. Die Täter seien etwa fünf bis sieben mit Sturmgewehren bewaffnete Männer gewesen, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um Mitglieder der EPP gehandelt hat.
Da auch bei dieser Auseinandersetzung niemand der Verdächtigen gefasst werden konnte, sah sich der einst als sozialer Hoffnungsträger angetretene Präsident Fernando Lugo unter Zugzwang. Sein Vorgänger Nicanor Duarte beispielsweise nannte die erfolglose Suche einen Beweis dafür, dass Lugo selbst der Kopf der Guerilla sei, ein Vorwurf, den die generell konservative, zum Klatsch neigende paraguayische Presse schon lange verbreitet. Aus Argentinien lästerte es, dass sich Paraguay auf der Suche nach dem Jasy Jatere befinde, einer populären Figur der Guaraní Mythologie, die der Sage nach unsichtbar von Dorf zu Dorf zieht. Wie um es also seinen KritikerInnen zu zeigen, griff Lugo auf das stärkste sicherheitspolitische Instrument zurück, das ihm zur Verfügung steht: Den Ausnahmezustand. Dieser ermöglicht es den Sicherheitskräften in Fällen starker Bedrohung der öffentlichen Ordnung auf Zustimmung des Parlaments Personen ohne richterlichen Haftbefehl festzunehmen, sowie öffentliche Versammlungen und Demonstrationen einzuschränken oder ganz zu verbieten. Eine zeitgleich auf den Weg gebrachte Änderung des Verteidigungsgesetzes soll künftig der Regierung außerdem ermöglichen, Militär auch ohne den Ausnahmezustand gleichberechtigt neben Polizeikräften im Land einzusetzen.
Der Erlass gilt nur für die nördlichen Departamentos von Amambay, San Pedro, Concepción, Villa Hayes und Alto Paraguay, die das Zentrum der Guerilla und das Armenhaus des Landes sind. Mit Ausrufung des Ausnahmezustandes wurden mit der unter dem Namen Py‘a Guapy („Ruhe“ auf Guaraní) firmierenden Operation 3.300 SoldatInnen und etwa 300 PolizistInnen dorthin verlegt. Die Dauer des Einsatzes wurde erst durch eine Intervention des Parlaments um die Hälfte auf die in der Verfassung vorgesehenen 30 Tage gekürzt. Auf dem Treffen der UNASUR fand die Entscheidung zwar Rückendeckung durch die südamerikanischen Regierungschefs, bereitet jedoch dennoch vielen Menschen im Land Kopfschmerzen. Zum einen, da während der jahrzehntelangen, 1989 zu Ende gegangenen Diktatur von General Alfredo Stroessner eben solch ein Ausnahmezustand nahezu durchgehend galt. Zum anderen, weil soziale Organisationen fürchten, dass der Terrorismus lediglich als Vorwand diene, um gegen ihre Arbeit vorzugehen und reiche GroßgrundbesitzerInnen in Sicherheit zu wiegen.
Paraguay, in dem die Armee traditionell eine besonders starke innenpolitische Rolle spielt, steuert jedoch nicht erst seit dieser Entscheidung in Richtung Militarisierung. Bereits im Laufe der Entführung Zavalas kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Kolumbien, das ja bereits einige Erfahrung im Antiterrorkampf gesammelt hat. Die dort beheimatete FARC soll in engem Kontakt mit den Mitglieder der EPP stehen und diese ausgebildet haben. Seit Mitte vergangenen Jahres hat Kolumbien bereits mit einer Reihe mittelamerikanischer Länder wie Mexiko, Guatemala, Honduras, Panama und El Salvador Kooperationsabkommen geschlossen, die technische BeraterInnen in der Aufstandsbekämpfung sowie dazu passendes Kampfgerät in das jeweilige Land bringen. Auch von der US-amerikanischen Botschaft wird diese sicherheitspolitische Ausbildung unter anderem durch die Entsendung von Personal gefördert. Sie selbst brachten dieses Konzept damals im Rahmen des Plan Colombia nach Kolumbien. Nun hat Paraguay ein eben solches Abkommen geschlossen und lobt die Beziehungen zu Kolumbien infolgedessen als die besten des Kontinents.
Dies stößt jedoch nicht nur bei linken Kräften auf Widerspruch. Auch beim paraguayischen Verteidigungsminister Luis Bareiro Spaini regte sich Protest, da er sich durch die Maßnahmen hintergangen sah. Doch dessen Zeit dürfte bald gekommen sein, da er ferner hinter Lugos Rücken einen Brief an die US-Botschaft geschickt hat und darin über seinen Vorgesetzten herzog. Auch wird seiner fehlenden Organisation ein Zusammenstoß zwischen Militärs und Polizei im Rahmen des Ausnahmezustands angelastet. Bei einem Zugriff in Hugua Ñandu hielten Armeeangehörige nicht nur die Geburtstagsfeier einer Fünfzehnjährigen für ein mafiöses Zusammenkommen, sondern außerdem hiesige PolizistInnen für Mitglieder der EPP. Nach einem kurzem Schusswechsel wurden sie mit Gewalt überwunden. Ein wahres Meisterstück an Misserfolg, bei dem es nur dank großen Glücks keine Toten gab.
Der Innenminister Rafael Fillizzola nennt die bisherige Bilanz des Ausnahmezustandes aber dennoch erfolgreich, und verweist auf rund 150 Verhaftungen. Er verschweigt dabei jedoch, dass fast alle Festnahmen wegen fehlender Dokumente, Betrug oder sexuellem Missbrauchs erfolgten. Mit Julián de Jesús Ortiz konnte lediglich ein Guerillero gefasst werden, wobei jedoch auch ihm keine Mitwirkung an der Entführung Zavalas angelastet wird. Seine Festnahme fand außerdem kurioserweise im Departamento Boquerón statt, in dem der Ausnahmezustand eben gerade nicht gilt. Außerdem scheint mit dem Osten des Landes ein Brennpunkt nun völlig vergessen zu werden. In diesem Grenzgebiet zu Brasilien floriert die organisierte Kriminalität und just drei Tage nach Ausrufung des Ausnahmezustandes kam es dort zu einem Mordversuch auf den Senator Roberto Acevedo. Dieser überlebte und sieht die Schuld bei der Polizei, die mit den Narcos unter einer Decke stecken würde. Gleiches lässt auch die brasilianische Seite verlauten, die sich häufig Schusswechsel mit korrupten paraguayischen Militärs liefere, welche die Drogenschmuggler bei der Grenzüberquerung schützen würden. Die EPP sei gegen dieses Vorfälle lediglich ein „Kinderspiel“.
Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass vieles über die EPP immer noch im Dunkeln liegt und so der Spekulation und Denunziation alle Türen geöffnet sind. So wurde ein vermeintlicher Diebstahl von Polizeigewehren erst der Guerilla zugeschrieben, um dann die TäterInnen doch in den eigenen Reihen auszumachen. Selbiges passierte einem Landarbeiter, der einen Überfall auf eine Estancia zur Anzeige brachte, die vermissten Lebensmittel jedoch selbst unter seinem Bett gehortet hatte. Dies nahm die Presse sofort als Anlass, ihn selbst der Guerilla zuzurechnen. Präsident Lugo sitzt trotz all diesem Theater sowie Kritik von links und rechts derzeit relativ fest im Sattel. Aus dem Parlament werden zwar immer wieder Stimmen nach einem Amtsenthebungsverfahren laut, was jedoch inzwischen aufgrund der Häufigkeit schon als typische politische Folklore des Landes gelten kann. Da im November Kommunalwahlen anstehen und das Bündnis Frente Guasu erstmals in der Geschichte die linken Kräfte des Landes bündelt, wird sich dies in den folgenden Monaten sicherlich noch verstärken. Dabei bleibt nur zu hoffen, dass Lugo dagegen nicht weiter auf die Politik der harten Hand setzt.

Leben mit der alltäglichen Einschüchterung

Lang ist die Liste persönlicher Risiken, denen sich MenschenrechtsaktivistInnen in Kolumbien aussetzen: Drohungen, Einschüchterungen, Mord, illegale Beschattung und Behinderung durch staatliche Geheimdienste, Diffamierung von höchsten Regierungsstellen bis hin zum Staatspräsidenten, Haft und Strafprozesse sowie Diebstahl sensibler Informationen ihrer Arbeit, zählt die „Internationale Kampagne für das Recht auf Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ auf.
Die Anwaltsorganisation Corporación Jurídica Libertad aus Medellín beispielsweise sieht eine Verbindung zwischen den Drohungen gegen einen ihrer Anwälte, Bayron Góngora, und dessen aktueller Tätigkeit. Am 9. Februar 2010 erfuhr der Anwalt, dass Killer mit seiner Ermordung beauftragt worden waren. „Bayron vertritt in vielen Fällen außergerichtlicher Hinrichtungen die Angehörigen der Opfer gegen die Soldaten. Wir nehmen an, dass er jetzt gerade deshalb bedroht wird“, erläutert die Anwältin Adriana Arboleda. Zwar gibt die Regierung an, die paramilitärischen Gruppen im Land seien aufgelöst, doch gibt es immer wieder die Fälle von Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen von den so genannten „neuen Gruppen“ wie den Aguilas Negras oder Rastrojos.
Doch nicht nur paramilitärische Gruppen bedrohen die MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen. Eine illegale Einheit des kolumbianischen Inlandsgeheimdienstes DAS hat jahrelang die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, JournalistInnen und obersten RichterInnen überwacht. Ganze Kartons füllen die Unterlagen mit akribischen Aufzeichnungen über das Leben, die Familien, über Telefon- und E-Mail-Kommunikation der Betroffenen. Laut Aussage der damals Verantwortlichen war das Ziel, die Arbeit der Organisationen zu behindern. Aus den Akten geht auch hervor, dass eine Drohung gegen die Tochter der Anwältin Soraya Gutiérrez, die beim Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo tätig ist, vom Geheimdienst DAS kam.
In den letzten Jahren hat die Kriminalisierung von MenschenrechtsverteidigerInnen massiv zugenommen und ihre Arbeit stark behindert. Meist werden sie beschuldigt mit der Guerilla zusammen zu arbeiten. Auch mit dem Drogenhandel werden sie in Verbindnug gebracht oder sogar mit Mordvorwürfen belastet. Die drohenden Haftstrafen sind hoch. Zwar enden die Prozesse fast immer mit einem Freispruch, doch der Schaden für die Betroffenen ist enorm. „Die Vorwürfe diskreditieren unsere gesamte Arbeit, auch die Berichte, die wir über die Lage der Menschenrechte herausgeben“, erklärt Elkin Ramírez von der Coroporación Jurídica Libertad. „Wir verwenden einfach unheimlich viel Zeit darauf, die uns dann für die eigentliche Arbeit nicht mehr zur Verfügung steht“, ergänzt seine Kollegin Adriana Arboleda. Ramírez verteidigt sich „nur“ gegen eine Verleumdungsklage. Ihm drohen ein bis zwei Jahre Haft. Viel drastischer fallen jedoch die Strafen aus, wenn der Vorwurf der Zusammenarbeit mit der Guerilla erhoben wird. Dann droht außerdem die sofortige Verhaftung. Besonders stark bekam das Ende 2007 die Bauernorganisation ACVC aus dem Gebiet am Cimitarra-Fluss zu spüren. Gleich die gesamte Führungsriege der Organisation wurde mit Haftbefehl wegen „Rebellion“ gesucht, sechs Gemeindeführer wurden verhaftet. Plötzlich besaß die Organisation keinen Zeichnungsberechtigten mehr, um Bankgeschäfte oder Projekte abzuwickeln. Andere Mitglieder der ACVC haben die Arbeit übernommen. Doch verhaftet und auf der Flucht waren all diejenigen, die Erfahrungen bei Verhandlungen mit der Regierung oder bei der Pflege der internationalen Kontakte hatten. Ein schweres Handikap, denn genau zu dieser Zeit sollte mit staatlichen Stellen über die erneute Einrichtung einer „Kleinbäuerlichen Schutzzone“ verhandelt werden, die den Kleinbauern der ACVC Sicherheit vor Vertreibung geben soll. Inzwischen wurden die Verfahren mit einer Ausnahme abgeschlossen und die Verhandlungen mit zweijähriger Verzögerung wieder aufgenommen.
Ein ähnliches Schicksal wiederholt sich aktuell in der nur wenige hundert Kilometer entfernt gelegenen Region Catatumbo. Dort entstand vor fünf Jahren die Bauernorganisation ASCAMCAT. Auch sie will eine kleinbäuerliche Schutzzone gründen, ganz nach den Maßgaben kolumbianischer Gesetze. Darüber hinaus wehrt sie sich gegen ein großes Kohletagebau-Projekt in der Region. Doch seit Februar 2010 wurden in der Region Catatumbo mehr als sechzig Haftbefehle ausgestellt, 17 Menschen wurden wegen Vorwürfen wie Rebellion und Drogenhandel verhaftet. Bei vielen von ihnen handelt es sich nach Aussagen der Bevölkerung um einfache Bauern. Viele Betroffene sind Mitglieder von ASCAMCAT. Hart trifft die Organisation, dass auch ihr Vorsitzender José del Carmen Abril Abril mit Haftbefehl gesucht wird. „José del Carmen ist ein einfacher Bauer. Durch seine Tätigkeit als Vorsitzender kennt ihn in der Region jeder und weiß, was er macht, dass er nichts mit der Guerilla zu tun hat. Wie können sie einfach sagen, er sei ein Verbrecher?“, beklagt empört die Generalsekretärin von ASCAMCAT Olga Lucía Quintero bei einem Treffen in Bogotá.
Den Prozess gegen die Bauern aus der Region betreibt die Staatsanwaltschaft Nr. 29. Diese hat ihren Sitz in der Armeebrigade Nr. 30 in Cúcuta. Schon lange weisen Menschenrechtsorganisationen darauf hin, dass Militäreinrichtungen zugeordnete Staatsanwälte nicht unabhängig sind und fordern daher deren Abschaffung. Der Fall von ASCAMCAT ist kein Einzelfall. So ermittelt in Medellín die Staatsanwaltschaft Nr. 74, mit Sitz in der Armeebrigade Nr. 4, gegen eine Vielzahl von MenschenrechtsaktivistInnen in der Stadt. Winston Gallego von der Organisation Sumapaz wurde im Juni 2009 im Rahmen eines solchen Verfahrens verhaftet und ist seither inhaftiert. Auch die Anwaltsorganisation Corporación Jurídica Liber-tad wird in den Prozessakten genannt.
ASCAMCAT wird von der Anwaltsorganisation CALCP unterstützt. Als die Haftbefehle bekannt wurden, haben die AnwältInnen eine Überprüfung auf den Weg gebracht und den Aufbau einer Solidaritätskampagne für die Verhafteten gefördert sowie einige Fälle anwaltlich übernommen. Doch am 12. März 2010 erhielt Judith Maldonado von CALCP einen Drohanruf der Aguilas Negras auf ihre Mailbox. Die paramilitärische Gruppe warnte sie davor, sich weiter dort einzumischen, wo sie nichts zu suchen habe. Neben den Verhaftungen müssen die AnwältInnen sich jetzt auch noch verstärkt um die eigene Sicherheit kümmern.
Prozesse gegen verdächtige Personen sind in einem Rechtsstaat eigentlich Normalität. Doch die Anwälte der Corporación Juridica und von CALCP sind überzeugt, dass es sich um unbegründete, politisch motivierte Prozesse handelt. Sie stützen sich auf Aussagen von fragwürdigen Zeugen, die zahlreiche Widersprüche aufweisen. „In einem Fall habe ich die sofortige Einstellung des Verfahrens beantragt. Der Hauptzeuge sagt zur angeblichen Zugehörigkeit der Angeklagten zu den FARC aus. In dem fraglichen Zeitraum war er aber selber bei der ELN-Guerilla in einer ganz anderen Region des Landes aktiv. Der Staatsanwalt hat den Antrag abgelehnt“, erklärt die Anwältin Judith Maldonado.
In Fällen in den Regionen Cimitarra und Catatumbo werden Informationen der militärischen Geheimdienste als Beweise angeführt, obwohl dies rechtlich nicht zulässig ist. Die US-amerikanische Organisation Human Rights First hat zahlreiche Fälle von Verfahren gegen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass immer wieder Zeugen auftreten, die als demobilisierte ehemalige Kämpfer illegaler Gruppen Vergünstigungen für ihre Aussagen erhalten und sich vielfach in Widersprüche verstricken oder die Angeklagten gar nicht identifizieren können.
Seit Jahren fordern kolumbianische Menschenrechtsorganisationen, dass die Archive der Geheimdienste überprüft und illegal über sie gespeicherte Informationen gelöscht werden. Diese Forderung wird auch mit der internationalen Kampagne „Für das Recht auf Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ gestellt. Ebenso verlangt die Kampagne von der Regierung, keine Büros der Staatsanwaltschaft mehr in Militärgarnisonen zu unterhalten. Um zu verhindern, dass die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen mit haltlosen Vorwürfen blockiert wird, sollen außerdem alle Strafprozesse gegen MenschenrechtsaktivistInnen von einer unabhängigen Sondereinheit der Staatsanwaltschaft überprüft werden. Auch die UN-Sonderberichterstatterin für MenschenrechtsverteidigerInnen, Margaret Sekaggya, äußerte sich äußerst besorgt über die Lage in Kolumbien, als sie in Bogotá den Start der Kampagne begleitete.
Am 14. April 2010 wurde die Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ in Berlin von dem kolumbianischen Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe und von kolko e.V. vorgestellt. Dreihundert Organisationen aus 23 Ländern haben die Empfehlungen unterzeichnet. Anlässlich des Kampagnenstarts in Deutschland erklärte Michael Windfuhr, Leiter des Menschenrechtsreferates des Diakonischen Werkes: „Viele unserer Partner sind kaum mehr in der Lage, ihre Arbeit wie vorgesehen zu machen, da sie oftmals durch Anfeindung, Bedrohung und Stigmatisierung behindert werden. Die kolumbianische Regierung muss dringend die Empfehlungen der Kampagne umsetzen, damit die wichtige Menschenrechtsarbeit in Kolumbien weiter geleistet werden kann. Die deutsche Regierung muss sich gegenüber der kolumbianischen Regierung nachdrücklich für die Empfehlungen einsetzen.“

Mehr Informationen zur Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ unter www.kolko.de.

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