„Mein Körper, meine Entscheidungen“

Ein Morgen im November 2013, ganz Costa Rica zieht die Augenbrauen hoch. Weniger aus Anerkennung, die meisten aus Ablehnung. Im Fernsehen, in den Zeitungen, im Radio, überall wird über die „Schmierereien an der Bischofskonferenz“ berichtet. Die Zeitung Diario Extra titelt: „Eine Vagina und Beleidigungen verunstalten Bischofskonferenz“. Am Haupteingang des großen, grauen Gebäudes steht „Weder Jungfrau, noch Schlampe“ neben „Rosenkränze raus aus meinen Eierstöcken“. Und dazwischen thront die Zeichnung einer Vagina. Die Schuldigen (oder Künstlerinnen?), sind bis heute nur in feministischen Kreisen bekannt.
„Für uns sind Aktionen wie diese enorm wichtig“, lächelt Sandra (alle Namen der Aktivistinnen geändert; Anm. d. Red.) verschmitzt. Sie ist Teil von La Tule, einer der feministischen Gruppen, deren Spuren in ganz San José an Wänden und Mauern zu finden sind. „Unser Name entstammt der Geschichte einer Hexe, La Tule, die von Kindern geärgert wird und sich an ihnen rächt, indem sie sie erschreckt. Uns gefällt dieses Bild sehr, denn das ist auch unser Metier. Leute erschrecken, provozieren, anecken und so die Aufmerksamkeit auf unsere Themen ziehen.“
Die Themenliste der ambitionierten Gruppe ist lang. „Wir sind das patriarchalische System in Costa Rica und Lateinamerika leid“, empört sich María Lucía. „Uns wird oft gesagt: ‚Was wollt ihr denn, wir sind doch gleichberechtigt, haben doch dieselben Rechte! Wir hatten sogar eine Präsidentin, regt euch doch nicht auf!‘ Sowas macht mich zornig. Nur, weil wir eine Präsidentin haben, heißt das nicht, dass meine Rechte als Frau auf einer Ebene mit denen eines Mannes sind. Schaut euch doch um! In Costa Rica sind wir noch sehr weit weg von Gleichberechtigung…“
Das kleine zentralamerikanische Land hat den Ruf, die „Schweiz Lateinamerikas“ zu sein, einen relativ hohen Lebensstandard zu bieten, Menschenrechte zu respektieren. Alles Pura Vida also, wie der Slogan des Landes lautet? Eher nicht. Besonders die Situation der Frau trübt das Bild entscheidend. Häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein Tabuthema ohnegleichen. Im Jahr 2013 gebaren 14.000 Minderjährige Kinder, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Abtreibung ist illegal. Machismo ist Alltag. Lässt ein Mann eine schwangere Frau zurück, ist das gesellschaftlich weithin akzeptiert. Frau sollte sich glücklich schätzen, wenn Mann überhaupt die Bürde auf sich nimmt, Familienoberhaupt zu werden. Und sowieso ist es nie die Schuld des Mannes. Die typischen Sprüche: „Was hat sie sich auch so angezogen? Die will das, die sucht das doch. Männer, tobt euch aus, Frauen hebt euch auf!“
Diese Botschaft wird in Weihrauch verpackt auch von der omnipräsenten katholischen Kirche verbreitet. Costa Rica zählt zu der Handvoll Länder weltweit, die diese als Staatskirche anerkennen. Drei Viertel der Menschen des Landes gehören ihr an und immer noch trotten die meisten ihren Hirten hinterher.
Estado Laico Ya, die Forderung nach der Trennung zwischen Staat und Kirche, ist deshalb eines der meist gesehenen Graffiti in San José. Unter vielen steht in hastig eckiger Schrift „UVE“. Diese Gruppe vereint ein knappes Dutzend Frauen zwischen 20 und 30, von denen sich die meisten an der Universität kennengelernt haben. Auch ihr Ziel ist es, aufzurütteln, die Schafe aufzuwecken. „Wir denken, wenn wir unsere Erfahrungen teilen, verteidigen wir uns und unsere Rechte. Gemeinsam fühlen wir uns stärker. Denn wir erleben alle ähnliche Situationen. Man pfeift uns auf der Straße hinterher, bombardiert uns mit sexistischen Werbungen, zwängt uns in ein Bild, dem wir uns anpassen sollen“, erklärt Sara.
Im Gegensatz zu La Tule und UVE sind Las Caracolas nicht nachts in San Josés Straßen unterwegs. Die Gruppe besteht aus 15 Freundinnen, die irgendwann beschlossen, einen Raum zu schaffen, in dem frau kritisch reflektieren kann. „Wir entstanden aus der Unzufriedenheit, aus der Notwendigkeit heraus, über Alltagsproblematiken zu sprechen und gemeinsam mit anderen Frauen nach Lösungen zu suchen“, erklärt Camila. Die Gruppe trifft sich regelmäßig, arbeitet an sich selbst, aber auch mit anderen. „Ein großer Teil des Machismo geht auch hier von Frauen aus“, fügt Camila hinzu. „Wir wollen erreichen, dass das aufhört. Dass Frauen sich verbünden, statt sich anzufeinden.“ So geben Las Caracolas Kurse, in denen sie den Themenkatalog der anderen zwei Gruppen aufgreifen.
Die drei Gruppen kennen sich untereinander und wenn es um große Aktionen geht, arbeiten sie zusammen. So auch am 17. November 2013, als die katholische Kirche zum „Marsch für das Leben“aufruft. Massive Werbekampagnen und das Angebot der Sündenvergebung bei Teilnahme führen dazu, dass an dem strahlenden Sonnensonntag die ganze Hauptstraße voller Menschen ist, die stolz Banner mit „Nein zur Abtreibung – Ja zum Leben“ oder „Wir unterstützen die gottgewollte Familie – Nein zur Homoehe!“ in die Höhe halten.
Nur ein Block von der Kathedrale entfernt ist der Ton ein anderer. „Ich habe abgetrieben“, schreit Sofía von Las Caracolas den Gläubigen entgegen. Auf ihrer nackten Brust steht: „Mein Körper, meine Entscheidungen“. Hand in Hand steht sie mit einem Dutzend Mädchen der drei Gruppen am Straßenrand, alle mit roten Augenmasken, manche mit rotgefärbten Hosen und die meisten mit Schriftzügen auf den nackten Oberkörpern. Ana hält ein Schild in die Luft, das „Auf dass dein Glauben meine Rechte nicht verletzt“ fordert. Gemeinsam fallen sie in einen Sprechgesang, den sie den „Abtreibungs-Rosenkranz“ nennen.
„Ja, ich habe abgetrieben“, rufen sie. „Weil ich zwölf war! Weil ich vergewaltigt wurde! Weil mir niemand erklärte, wie ein Kind entsteht! Weil ich kein Geld habe, ein Kind großzuziehen! Weil das Kondom gerissen ist! Weil der Vater sich verpisst hat! Weil es meine Entscheidung ist!“ Die Katholik_innen, die an ihnen vorbeilaufen, halten inne, verwirrte Blicke zieren die Gesichter, die eben noch „Ja zum Leben, nein zur Abtreibung“ riefen. Ein Pfarrer scheucht mit routiniert autoritärer Stimme seine Schäfchen weiter.
Sofía von Las Caracolas erklärt: „In Costa Rica wird nicht hinterfragt, hier nicken die Leute einfach brav. Dabei befinden wir uns in einer politischen Situation, die von der Unterdrückung der Frauenrechte geprägt ist. Die Kirche mischt bei allem mit und verhindert die Umsetzung von international anerkannten Menschenrechten. Wir wollen frei und kostenlos abtreiben können! Wir wollen die Trennung zwischen Staat und Kirche! Bis wir das nicht haben, werden wir weiter auf die Straße gehen und unbequem sein.“

„Unsere WM findet auf der Straße statt“

Zu Beginn der WM sind die Straßen Rios nicht nur voll mit Fußballfans aus aller Welt, auch die sozialen Bewegungen haben sich ein Jahr nach dem „Brasilianischen Frühling” zurückgemeldet. Welche Forderungen treibt die aktuellen Proteste an?
Es gibt, wie schon im vergangen Jahr, ganz unterschiedliche widerständige Prozesse und Forderungen. Gewachsen ist jedoch die landesweite Koordination von Aktionen. Anfang Mai fand beispielsweise in Belo Horizonte ein Treffen aller lokalen Komitees der von Megavents, also von der WM und den Olympischen Spielen, Betroffenen statt. Das war eine gute Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen und auch die kleinen Erfolge zu feiern, die vielerorts gegen die Zwangsumsiedlungen errungen wurden. Oder dass zum Beispiel in Rio de Janeiro der Abriss des Museo do Indio, eines Schwimmbades und einer Schule verhindert werden konnte. Aber die Forderungen betreffen auch Projekte, die nur indirekt an die Megaevents gekoppelt sind, so wie Staudämme, touristische oder kommerzielle Bauten. Auch da haben die Komitees in Städten wie Fortaleza und Recife viel erreicht.

Wenn die landesweite Koordination gewachsen ist, ist die Bewegung auch bunter geworden?
Ja, denn die Vollversammlungen der Bewegung haben zwar Ähnlichkeiten mit denen im letzten Jahr, aber die Zusammensetzung ist eine andere. Es gibt heute eine größere Präsenz von historischen sozialen Bewegungen und Forderungen , die sich in Brasilien schon lange vor 2013 organisierten. Bewegungen für Gesundheit, Wohnraum, LGBT, Frauen, Jugendliche, Schwarze, das Recht auf Kommunikation. Die haben alle gemeinsam für die landesweite Demonstration am 12. Juni mobilisiert und ihre Themen mitgebracht. Skandiert wird nicht mehr “Es wird keine WM geben”, sondern “Unsere WM findet auf der Straße statt”. Wir kämpfen gemeinsam für eine Stadt, in der die Menschenrechte verwirklicht sind. Weitere große Demos sind für den 21. Juni, den 4. und 13. Juli geplant. Wir arbeiten inzwischen auch eng mit den Gewerkschaften zusammen, fordern bessere Löhne und Lebensbedingungen. Das ist die gemeinsame Suppe, die wir hier kochen.

Im vergangenen Jahr waren die Gewerkschaften auf den Demonstrationen nicht präsent. Die Verbände kritisierten, die Proteste würden der Regierung der Arbeiterpartei PT schaden und der Rechten in die Hände spielen. Ist das in diesem Jahr anders?
Es gibt einen engeren Dialog mit den Gewerkschaften, aber man muss klar sehen, dass es sich dabei um zwei Formen von Gewerkschaften handelt. Es gibt Gewerkschaften, die großen Rückhalt an der Basis haben. Sie sind es, die die aktuellen Streiks und den Stillstand in den U-Bahnen organisieren. Dann gibt es andere, wie die Gewerkschaft der Müllmänner oder der Busfahrer, deren Führungen mehr oder weniger von ihren Arbeitern überrollt wurden. Das sind nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch andere Angestellte, die die Gewerkschaftsführung und ihre Verhandlungsführung nicht länger akzeptierten.

Und wie drückt sich das auf der Straße aus?
Die Gewerkschaften, die wirklich die Forderungen der Arbeitenden vertreten, mobilisieren geschlossen für die Demonstrationen. Die anderen, die mit ihren Führungen gebrochen haben, sind ebenfalls aktiv, aber ohne formelle Unterstützung der gewerkschaftlichen Vertretung. In jedem Fall erleben wir im Vergleich zu 2013 eine viel größere Teilnahme von Gewerkschaftsbündnissen und auch von politischen Parteien, die im vergangen Jahr noch daran gehindert wurden, auf den Demonstrationen ihre Transparente zu zeigen. Kleinere Teile der Bewegung, Faschisten und Antidemokraten, arbeiteten radikal gegen ihre Anwesenheit. Heute erleben wir dagegen viel Solidarität mit den Kämpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen.

Gestreikt wird auch an vielen staatlichen Universitäten seit Monaten. An der Universität von São Paulo (USP) wird wieder einmal darüber debattiert, Studiengebühren einzuführen. Beteiligen sich die Studierenden auch an den Treffen anderer sozialer Bewegungen?
Ja, sie sind bei den aktuellen Mobilisierungen nicht wegzudenken. Außerdem gab es in Rio de Janeiro vor vier Wochen ein universitätsübergreifendes Treffen, an dem viele Studierende teilnahmen. Die Debatte an der USP ist dagegen keine neue Geschichte. Schon unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso von 1995 bis 2002 forcierte die damalige Mitte-Rechts-Koalition die Idee, alle Spezialisierungen, Master- und Doktorarbeiten nicht länger durch Stipendien zu fördern, sondern von der Mittelklasse aufwärts alle dafür zur Kasse zu bitten. Diese Debatte ist jetzt wieder entbrannt, eben weil bei den aktuellen Protesten auch offensiv die Zukunftsvision dieses Landes diskutiert wird. Es geht nicht zuletzt darum, welche Art von Entwicklung wir für Brasilien wollen. Gute Lebensbedingungen, Bildung und Gesundheit für alle – das sind Themen, die in der brasilianischen Geschichte immer wieder aufscheinen, sich programmatisch aber nie durchsetzen und strukturell verankern konnten. Nun wird wieder darüber diskutiert. Vor allem junge Leute tragen diese Forderungen auf die Demonstrationen, aber auch sogenannte arme Reiche, prekäre Selbständige, die ökonomisch nicht abgesichert sind. Sie sind ein wichtiger Katalysator der aktuellen Protestbewegung.

Der Shooting Star unter den Protestbewegungen ist zweifellos die Bewegung der obdachlosen Arbeiter_innen (MTST), die vor allem in der Peripherie von São Paulo Zehntausende mobilisiert, und mit Zeltstädten mehrere ausgedehnte Grundstücke besetzt hält. Anders als die bekannte Landlosenbewegung (MST) zeichnen sie sich auch durch eine kritische Distanz zur PT aus. Sind sie gerade deshalb so erfolgreich?
Meiner Meinung nach haben die Demonstrationen den Keim für diesen Aufstieg des MTST gelegt. Denn die Bewegung, die für urbane Reformen kämpft, gibt es schon seit geraumer Zeit, ihre Kräfte sind aber erst in jüngster Zeit explosionsartig gewachsen. Und ja, die im Vergleich zur Landlosenbewegung MST größere Unabhängigkeit von Regierungsparteien, vor allem gegenüber der PT und der kommunistischen PCdoB, aber auch gegenüber allen sozialen Bewegungen, die direkt an diese Parteien gebunden sind, wie die nationale Versammlung der Studierenden (ANE), hat sie handlungsfähig gemacht. Die MTST, und andere neue Kollektive in den Städten und auf dem Land, entstehen in Opposition zur Regierung. Sie betonen ihre Distanz zu den politischen Machtzentren und wagen eine radikale Politik. Ihr rasanter Aufstieg zeigt zugleich, dass die PT und die organisierte Linke geschwächt sind und nicht länger alle Unzufriedenheit kanalisieren können. Die MTST hat das Thema der sozialen Ungleichheit in Brasilien neu aufgemacht. Die WM hat in dieser Hinsicht viele Konflikte wieder stärker hervortreten lassen – Megaevents mobilisieren Unmengen an Geld für Bauprojekte, Infrastruktur oder Sportstätten. Da fällt es einfach noch mehr auf, wie eklatant das Recht auf Wohnraum in der größten Stadt Brasiliens vernachlässigt wird. Das Misstrauen gegenüber den Regierenden, ob links oder rechts, hat zu einer Radikalisierung der Obdachlosen geführt und erklärt auch den Erfolg der MTST.

Wie ist die Situation in den Favelas in Rio de Janeiro? Das Vertrauen in die „Befriedung“ scheint nicht mehr all zu groß sein, besonders in den Stadtvierteln, wo die UPPs, die „Polizeieinheiten zur Befriedung“, im Namen der Sicherheit seit Jahren zivile Rechte einschränken.
Ende Juni jährt sich zum ersten Mal das Massakers der Militärpolizei in der Favela Maré in Rio. Seit 2013 organisieren sich viele Bewohner dort intensiv, um zu zeigen, dass die Militärpolizei nicht nur in diesem Fall oft völlig außerhalb ihrer Befugnisse handelt. Sie war allein im vergangenen Jahr für den Tod von mindestens zehn Menschen verantwortlich. Seitens der Regierung wird immer versucht, das als einen Konflikt mit Drogenhändlern hinzustellen. Dabei haben die Auseinandersetzungen viel mehr mit den nicht erfüllten Forderungen nach einer demokratisch handelnden Polizei, dem Recht auf Stadt und dem Kampf um Wohnraum zu tun.

Im vergangenen Jahr ermutigte die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff die Bevölkerung zu mehr politischer Teilhabe, jetzt, kurz vor der WM, appelliert sie an das Volk die Weltmeisterschaft zu feiern und geißelt die Demonstrationen als erpresserisch – ist das nicht absurd?
Stimmt, darin liegt eine gewisse Ironie. Sehr spannend. Die Regierung hat erst im April damit angefangen, eine Reihe von Veranstaltungen zu organisieren, die die Dialogbereitschaft der Regierung mit den sozialen Bewegungen unter Beweis stellen sollten. Ein bisschen spät, nach sieben Jahren Vorbereitungszeit, nach den Demonstrationen und Forderungen im vergangenen Jahr, einen Monat vor der WM einen Dialog anfangen zu wollen, jetzt, wo alles schon entschieden, bereits Leute vertrieben und Rechte der Arbeiter und Bewohner eingeschränkt worden. Auch ständig so zu tun, als ob die FIFA die Probleme ins Land gebracht hätte, hat wenig Erklärungswert. Sehr aufschlussreich, wie weit das dialogische Verständnis der PT geht. Ich denke, sie ist zunächst an einer WM ohne all zu große Störungen interessiert, um nicht ihren Sieg bei den Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen im Oktober zu gefährden. Darüber hinaus soll aber auch international Nichts das Bild vom aufsteigenden Brasilien trüben. Die Olympischen Spiele sind die nächste Etappe dieser Inszenierung und was das angeht, steht Rio der große städtebauliche Impact eigentlich noch bevor. Der kommende Gouverneur wird gefordert sein, sich klarer für die Einhaltung der Rechte der Bewohner einzusetzen und sich auch kritisch mit den Projekten und Aktivitäten der Vorgängerregierung auseinanderzusetzen.

Die überregionalen Medien wie der Sender Rede Globo oder die Tageszeitung Folha de São Paulo sind den aktuellen Protesten nicht sonderlich wohlgesonnen. Sind die alternativen Medien Brasiliens vorbereitet, die Demonstrationen zu dokumentieren und eine unabhängige Berichterstattung zu garantieren?
Ich hoffe, dass sie das schaffen, denn das wird ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Proteste sein. Das Recht auf Kommunikation ist essentiell für ein demokratisches Miteinander. Allein in Rio de Janeiro entstanden im vergangenen Jahr mindestens 15 Medienkollektive mit einer großer Produktionssparte digitaler Medien. Das ist ganz wichtig für die Vernetzung der Bewegung. Dieser Trend lässt sich im ganzen Land feststellen. Beispielsweise das Kollektiv „Nigéria Audiovisual“ aus Fortaleza hat seit den Protesten 2013 viele Dokumentationen gemacht. Die Kollektive tauschen auch viel mehr Videomaterial untereinander aus als früher, arbeiten an neuen Formaten und Darstellungen politischer Diskurse und Kämpfe. Das ist von großer Bedeutung und viel interessanter als täglich die Leitartikel in den Zeitungen zu lesen.

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Daniel Fonsêca ist Medienwissenschaftler und Mitglied des Kollektivs Intervozes, das sich für das Recht auf Kommunikation einsetzt.

Nestlé unbeeindruckt

Frau Micus, im März 2012 haben Sie im Fall des 2005 ermordeten Gewerkschafters Luciano Romero in der Schweiz Strafanzeige gegen Nestlé gestellt. Die direkten Täter_innen wurden in Kolumbien ja bereits verurteilt. Was wird dem Unternehmen in der Anzeige vorgeworfen? Gibt es Hinweise dafür, dass Nestlé als Auftraggeber für die Paramilitärs agiert hat?
Es gibt keine Beweise dafür, dass Nestlé den Auftrag für die Ermordung gegeben hat. Allerdings ist die Ermordung von Nestlé-Gewerkschaftern durch Paramilitärs infolge von Arbeitskonflikten und Entlassungen etwas, was immer wieder vorkommt. Die Anzeige basiert auf der Argumenta­tion, dass die Manager von Nestlé in der Schweiz von dem Sicherheitsrisiko für die Gewerkschafter in ihren Tochterunternehmen in Kolumbien wussten, da sie regelmäßig sowohl durch die Gewerkschaft als auch durch NGOs informiert wurden. Trotzdem haben sie nichts unternommen, um die Gewerkschafter zu schützen – im Gegenteil. Der Straftatbestand, den wir Nestlé und seinen Managern in der Anzeige vorwerfen, ist fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Der kolumbianische Richter, der die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Nestlé angeordnet hat, hat festgehalten, dass Luciano Romero noch im selben Jahr bei dem ständigen Völkertribunal in Bern gegen Nestlé hätte aussagen sollen. Es wurde mittlerweile auch gerichtlich festgestellt, dass Nestlés Milchlieferanten in der Region Paramilitärs sind. Nestlé hat ihnen gegenüber behauptet, die Gewerkschaften seien schuld an den niedrigen Milchpreisen – obwohl die Gewerkschaften immer wieder angemerkt hatten, dass solche Äuße­rungen gefährlich sein können. Anstatt etwas zu ändern, kamen weitere Verleumdungen von der Nestlé-Geschäftsführung, zum Beispiel, dass Luciano Romero ein Guerillero und verantwortlich für ein Bombenattentat in der Fabrik sei. Solche Äußerungen im Kontext des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien kommen im Grunde dem gleich, jemanden auf eine Todesliste zu setzen.

Im November 2013 wurde ein weiterer Nestlé-Gewerkschafter, Oscar López Triviño ermordet. Die Parallelen zwischen den Fällen Romero und López Triviño sind groß. Hat sich in den fast 9 Jahren zwischen den beiden Morden nichts geändert?
Es ist wirklich erschreckend, dass sich in dieser Zeit offensichtlich nichts getan hat. Und das, obwohl Nestlé in den letzten Jahren immer betont hat, dass ihnen die Menschenrechte wichtig seien und sie ihre Mitarbeiter schützen würden. Die Ermordung von Oscar López Triviño zeigt aber, dass effektiv nichts passiert ist. Unser Vorwurf an Nestlé war von Beginn an, dass sie kein ausreichendes Risikomanagement entwickelt haben. Man wusste um die schlechte Menschenrechts-situation im Land, trotzdem wurden die Mitarbeiter zum Beispiel nicht geschult, welche Art von Äußerungen gefährlich für die Gewerkschafter sein können. Das lässt sich unter anderem daran gut erkennen, dass auch der Ermordung von López Triviño Stigmatisierungen vorangegangen sind – und das nicht durch den Manager der Fabrik in Bugalagrande, sondern sogar durch den Präsidenten von Nestlé Colombia, Manuel Andrés Kornprobst. Der hatte wenige Wochen vor dem Mord in einer offiziellen Mitteilung die angeblich gewaltsamen Aktionen der Gewerkschaft verurteilt und behauptet, dass sie dem guten Ruf Nestlés schaden würden. Solche Äußerungen klingen in den Ohren der Paramilitärs nach einer Aufforderung, etwas dagegen zu unternehmen. Etwa derselbe Wortlaut fand sich auch in den Morddrohungen wieder, die einige von López Triviños Gewerkschaftskollegen am Tag vor der Ermordung erhalten hatten.

Wie äußert sich Nestlé zu den Morden?
Als wir 2012 die Strafanzeige eingereicht haben, hat Nestlé öffentlich dazu Stellung genommen und dasselbe gesagt, was sie immer sagen, nämlich dass an den Vorwürfen nichts dran sei und dass sie sich auch nie beweisen ließen. Allerdings war dieses Thema auch noch nie inhaltlich vor Gericht. Bisher ging es in dem Verfahren leider nur um technisch-formelle Fragen der Zuständigkeit und Verjährung und nicht um inhaltlich-materielle Fragen. Dem hat sich Nestlé bisher nicht gestellt, was wir sehr schade finden. Nach der Ermordung von López Triviño hat Nestlé wieder öffentlich Stellung genommen und noch einmal gesagt, ihnen sei die Gewerkschaftsarbeit wichtig und die Ermordung würde sie tief traurig machen – mehr aber auch nicht.

Immer wieder werden Unternehmen wie Nestlé mit Menschenrechtsverbrechen in Verbindung gebracht. Welche Bedeutung muss ihnen in dieser Richtung beigemessen werden?
Insgesamt ist es so, dass sich transnationale Unternehmen zunehmend in Konfliktregionen und sogenannten Zonen begrenzter Staatlichkeit ansiedeln und dort auch besonders viel Gewicht haben. Dementsprechend ist auch ihr Einfluss auf die Menschenrechtslage groß. Wenn die Staaten sich den Unternehmen gegenüber nicht durchsetzen können oder wollen, können die negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte besonders verheerend sein. Deswegen sollten auch Unternehmen gewisse Pflichten haben, nicht nur Staaten. Viele der Verpflichtungen, die in den Vereinten Nationen diskutiert werden, sind nicht rechtlich durchsetzbar. Wir sind der Meinung, dass solche menschenrechtliche Verpflichtungen von Unternehmen auch strafrechtlich durchsetzbar sein müssen, damit sie eingehalten werden.

Warum ist es so schwierig, Unternehmen Verantwortung nachzuweisen und sie auch juristisch zu belangen?
Unternehmen haben eine sehr viel komplexere Struktur, insofern ist es viel einfacher, einer Einzelperson die Strafbarkeit nachzuweisen. Sobald die komplexe Struktur eines Unternehmens die Einzelperson schützt und nicht mehr ganz klar ist, wer welche Entscheidung getroffen hat, wird es schwierig. Deswegen finden wir, dass es auch möglich sein sollte, Unternehmen als solche strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, was in vielen Ländern aber noch nicht der Fall ist. Das Interessante in der Schweiz, und auch Grund dafür, dass wir dort Strafanzeige eingereicht haben, ist eine Vorschrift im Strafgesetzbuch, wonach – wenn nicht ermittelt werden kann, welche Einzelperson strafrechtlich für ein Verbrechen verantwortlich ist – das Unternehmen selbst dafür haften muss. Das ist eine interessante Neuerung, die aber bisher nicht für Fälle von Menschrechtsverletzungen herangezogen worden ist. Wir finden, das sollte möglich sein, und wenn dem aktuell nicht so ist, muss daran noch rechtspolitisch gearbeitet werden.

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Oscar López Triviño
Der Nestlé-Mitarbeiter und Gewerkschafter Oscar López Triviño wurde am 9. November 2013 ermordet. Er war seit 25 Jahren Angestellter bei Nestlé und aktives Mitglied der Lebensmittelgewerkschaft Sinaltrainal. Hintergrund der Ermordung war ein Arbeitskonflikt, bei dem vier Sinaltrainal-Gewerkschafter_innen einen Hungerstreik vor der Nestlé-Fabrik in Bugalagrande begannen. Statt an einer Lösung des Konflikts zu arbeiten, erhöhte der Konzern den Druck auf die Gewerkschaft und warf ihr Rufschädigung vor. Wenige Tage vor der Ermordung erhielten López Triviño und andere Gewerkschafter_innen SMS mit dem Inhalt: „Guerilleros Hurensöhne, die ihr Nestlé belästigt. Es gibt kein Pardon. Wir zerstückeln euch. Tod allen Kommunisten von Sinaltrainal.“ Unterzeichnet war die Nachricht von „Los Urabeños“, einer neoparamilitärischen Gruppe.
Anders als im Fall von Luciano Romero, bei dem die Verurteilung der unmittelbaren Täter dem großen Druck der Gewerkschaft, aber auch einer Reiher glücklicher Zufälle geschuldet war, war die Hoffnung auf eine rasche Aufklärung im Fall Triviño nicht besonders hoch. Unter anderem hat ein Antrag von Sinaltrainal nun jedoch bewirkt, dass das Ermittlungsverfahren im Mordfall Triviño der Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte zugewiesen worden ist. Diese Entwicklung ist bei einer Straflosigkeitsquote von über 90% in solchen Fällen durchaus bemerkenswert und wurde von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen begrüßt. Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft lässt hoffen, dass solche Menschenrechtsverbrechen von der kolumbianischen Justiz zukünftig eher als solche anerkannt werden und die Ermittlungen der Verantwortlichen nicht, wie im Fall Romero und vielen anderen, nach einiger Zeit versanden.

Widerstand hinter Gittern

Es herrscht eine bunte Geräuschkulisse aus Musik, Familien, die mit Essen vollgestopfte Tüten mitbringen, und grölenden Glücksspielern. Die Sonne knallt auf bekritzelte Wände, aufgehängte Wäsche und einzelne Tortillas, die in der Hitze trocknen. Und auf einen kleinen Pavillon, unter dem in ein paar bunten Plastikbechern Kaffee vor sich hindampft.
Uns gegenüber dieses markante Gesicht, eindrucksvoll geprägt von seiner Geschichte, etwas müde, aber trotzdem mit einem Leuchten in den Augen. Es gehört zu Alejandro Díaz Santis, der seit 1999 zu Unrecht eingesperrt ist. Der mittlerweile 33-jährige lebte zu dem damaligen Zeitpunkt vom Verkauf von Süßigkeiten in den Straßen der Küstenstadt Veracruz und, wie ein Großteil der indigenen Bevölkerung, mit gerade genug Einkommen, um von Tag zu Tag zu leben. Eines Abends geht er mit seiner Frau einkaufen. Seine 19 Monate alte Stieftochter bleibt mit seinem Cousin in der gemeinsamen Unterkunft. Bei der Rückkehr findet das Ehepaar das Kind am Fuß der Treppe, bereits tot. Der Cousin ist verschwunden. Als Alejandro sich aufmacht, einen Krankenwagen zu suchen, und zurückkehrt, wird er von Polizist_innen festgenommen, geschlagen und aufs Revier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt spricht Alejandro nur Tzotzil, die indigene Maya-Sprache, jedoch kein Wort Spanisch. Als man ihm am nächsten Tag der Vergewaltigung und Ermordung seiner Stieftochter beschuldigt, hat er keinerlei Möglichkeit zu verstehen, geschweige denn sich zu verteidigen. Aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln bleibt ihm auch das Recht auf einen Anwalt verwehrt. Er wird zu 29 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Von da an beginnt eine Odyssee durch verschiedenste Gefängnisse in den südmexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Chiapas. Bis er im Januar 2010 in das Gefängnis Cereso 05 nahe San Cristóbal verlegt wird. Hier sitzen wir nun und lauschen wie Alejandro uns all das mit unglaublicher Ruhe und Ausführlichkeit erzählt. Und heute in perfektem Castilla, wie die Indigenen das Spanisch nennen. Dies sei nur durch die Begegnung mit Alberto Patishtán hier im Cereso 5 möglich geworden, erzählt er.
Patishtán, Lehrer aus Chiapas und ebenfalls Tzotzil, wurde in den letzten Jahren zum Gesicht einer Kampagne, die die sozialen Missstände, die Ungerechtigkeit und Verstöße gegen die Menschenrechte in Mexiko, besonders gegenüber der indigenen Bevölkerung und politischen Häftlingen, anprangert. Aus dem Gefängnis setzte er sich permanent und kontinuierlich für eine Veränderung und einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sowohl außerhalb als auch innerhalb des Gefängnisses ein. Patishtán wurde 2013 nach 13 Jahren politischer Haft aus dem Gefängnis entlassen (siehe LN 474).
„Patishtán“, so Alejandro, „hat mir beigebracht stets die Wahrheit zu sagen, und die Dinge stets öffentlich zu machen. Denn wer schweigt, macht sich zum Komplizen.“ Die Tatsache, sich als Unschuldiger in der isolierten Gesellschaft der Inhaftierten wiederzufinden und die Begegnung mit Patishtán hätten ihm die Augen geöffnet. In all den Jahren habe er gelernt, was Ungerechtigkeit sei, was die Abwesenheit von Recht bedeute, wie die Autoritäten in verschiedensten Positionen ihre Macht missbrauchten. Und auch was es heißt, zu kämpfen, sich einzusetzen für einen Wandel, für Gleichheit, für eine umfassende Gerechtigkeit.
Es versammeln sich mehr Leute am Tisch. Einer von ihnen ist Roberto Paciencia, der uns erzählt, wie er im Mai letzten Jahres aus dem Nichts festgenommen wurde, beschuldigt der Entführung einer Person, die er nie gesehen hat. Gefoltert, um ein falsches Geständnis zu erpressen, befindet er sich jetzt hier. Leider keine Ausnahme. Viele der 400 Insassen im Cereso 05 haben so oder ähnlich ihren Weg hier hinein gefunden. 90 Prozent von ihnen sind Indigene, die oft kein oder kaum Spanisch sprechen. Da große Teile der indigenen Bevölkerung in ärmsten Verhältnissen leben, kaum das Castilla beherrschen, von der Gesellschaft diskriminiert werden und ihre Rechte nicht kennen, sind sie leichte Beute, falls einmal ein Schuldiger gebraucht wird. In dem korrupten System bezahlt häufig der wahre Schuldige eine Geldsumme und man sucht sich willkürlich irgendeine Person, die dessen Strafe absitzt. Das sei, so Alejandro, eine etablierte Strategie der Ministerien und der Staatsanwaltschaft.
Leider nicht nur hier in Chiapas, sondern in großen Teilen Mexikos, Mittel- und Südamerikas. In einem Bericht, den die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte am 13. März veröffentlicht hat, wird die katastrophale Situation der mexikanischen Gefängnisse und deren Insassen aufgeführt: Mexiko ist nach den USA und Brasilien der Staat mit der höchsten Anzahl an Inhaftierten. Aktuell sind es 242.000 Häftlinge in 419 Strafvollzugsanstalten im Land. Diese sind durchschnittlich zu 26 Prozent überfüllt. Allein in den letzten fünf Jahren sind mehrere Tausend geflohen und mehr als 600 nahmen sich im Gefängnis das Leben. Von den 242.000 befinden sich 40 Prozent, also mehr als 100.000 Menschen, in vorübergehender Untersuchungshaft – ohne Urteilsspruch, allerdings in den gleichen Gefängnissen, unter den gleichen miserablen Bedingungen. Es ist eine weit verbreitete Meinung, die in der Gesellschaft herrscht: Je mehr Festnahmen, desto sicherer sei es. Unter dem Vorwand, eine Lösung für Kriminalität und Unsicherheit in Mexiko zu kreieren, wurden von der Politik diverse Gesetze modifiziert, um die vorläufigen Festnahmen ohne Untersuchung und Beweise zu legalisieren. Dies führte zu einem extremen Anstieg der Festnahmen in den letzten Jahren.
Bei einem Rundgang durch das Gefängnis bekommen wir ein Bild von der verrückten Welt, in der sich die Häftlinge bewegen und leben. Ich fühle mich wie im Film Carandiru von Hector Babenco über das berüchtigte Gefängnis von São Paulo. Wir schlängeln uns durch engste Gänge, vorbei an freundlich grüßenden Budenbesitzern, die Chips und Zigaretten verkaufen, kleinen Gasküchen und tätowierten Kartenspielern mit traurigen Gesichtern. Wir kommen in winzige Zellen mit bis zu zehn Häftlingen, jede mit einem ein mal zwei Meter großen Bett, das zugleich Kleiderschrank und Wohnraum ist.
Seit Patishtán im Oktober vergangenen Jahres schlussendlich aus der Haft entlassen wurde, nimmt Alejandro Díaz die Rolle ein, die Missstände im Gefängnis anzuprangern – wie zum Beispiel das Fehlen von desinfizierendem Alkohol für medizinische Behandlungen oder die korrupten Strukturen. Im Gefängnis selbst fungiert er als eine Art Ratgeber, um seine Erfahrungen zu teilen und ist Vorbild für den politischen Aktivismus eines Inhaftierten. Die Fortsetzung dieses Kampfes nach der Freilassung Patishtáns und neun weiterer indigener politisch Inhaftierter am 4. Juli 2013 zeigt, dass deren Bemühungen nicht umsonst waren und anderen Kraft gegeben haben.
Alejandro Díaz strahlt. Am 11. Mai sind es 15 Jahre, die er unschuldig im Gefängnis sitzt. Er sei zufrieden, sagt er. Zufrieden über die Freilassung seiner compañeros. Zufrieden damit, im Gefängnis gelandet zu sein. Hier, hinter den Gitterstäben, habe er andere Freiheiten gefunden. Obwohl eingeschlossen, so hätten sich ihm doch ganze Welten eröffnet: das erlernte Spanisch, die gewonnenen Erkenntnisse über die Ungerechtigkeit, der politische Aktivismus und Widerstand. Es sei kein Kampf für eine persönliche Gerechtigkeit, sagt er, sondern für eine allumfassende. Hier zwischen der aufgehängten Wäsche, den Tortillas, die in der Sonne trocknen und dem Kaffee, der inzwischen aufgehört hat zu dampfen.

„Damit ihre Leben nicht vergehen“

Sie heißen Mirian, Maritza, Marina, Salvadora, Ena, Carmen, Teodora, Guadalupe, Mariana, Mirna, Cinthia, Veronica, Alba, Johana, Evlyn, Teresa und María. 17 Frauen, die alle in El Salvador im Gefängnis sitzen. Verurteilt wurden sie wegen Mordes oder versuchten Mordes. Die Frauen haben noch mehr gemeinsam: Sie sind arm und konnten sich keine Strafverteidigung leisten.
Vor allem aber: Sie alle haben gar keinen Mord begangen und sind Opfer eines Justizsystems, das die Rechte von Frauen mit Füßen tritt. Verurteilt wurden sie aufgrund eines der weltweit repressivsten Abtreibungsgesetze, das Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen verbietet, selbst nach einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Frau.
Seit der Strafrechtsreform im Jahre 1998 steht in El Salvador auf eine Abtreibung eine Gefängnisstrafe zwischen zwei und acht Jahren. Nach der 22. Schwangerschaftswoche gilt diese als Mord. Es ist ein Skandal, wenn Frauen das Recht verwehrt wird über ihren Körper zu bestimmen und sie für eine Abtreibung ins Gefängnis kommen. Es ist ein noch größerer Skandal, wenn sie dafür wegen Mordes zu 30 bis 40 Jahren Haft verurteilt werden.
Doch wie soll man es bezeichnen, wenn diese Frauen nicht einmal einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen haben und trotzdem wegen Mordes verurteilt wurden? Sehr viel spricht nämlich dafür, dass die meisten der genannten 17 Frauen gar nicht abgetrieben haben, sondern eine Früh- oder Fehlgeburt hatten. Unglücklicherweise trafen sie auf Staatsanwält_innen und Richter_innen, die ihre Fälle unzureichend untersuchten und sich bei ihren Entscheidungen von Vorurteilen leiten ließen.
Der Fall von Guadalupe zeigt dies exemplarisch.
Die Hausangestellte, die in einem Armenviertel in der Haupstadt San Salvador lebte, bekam ihr Kind zwischen der 38. und 40. Schwangerschaftswoche. Das Kind überlebte die Geburt nicht. Eine Autopsie des Neugeborenen ergab, dass keine inneren und äußeren Verletzungen vorlagen und die Todesursache somit unklar sei. Guadalupe wurde daraufhin wegen Mordes zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Seit fast sieben Jahren sitzt sie im Frauengefängnis von Ilopango.
Auch bei den anderen Frauen beruhten die Urteile oft nicht auf Beweisen, sondern auf Vermutungen oder Indizien. Regelmäßig missachten Richter_innen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Zwischen 2000 und 2011 wurden Verfahren gegen 129 Frauen eingeleitet. 23 Angeklagte wurden wegen vorsätzlichem Schwangerschaftsabbruch, 26 wegen Mordes verurteilt, so die Zahlen der Agrupación, der Bürger_innenvereinigung zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Diese setzt sich seit 2009 für die Aufhebung des absoluten Abtreibungsverbots in El Salvador ein und kümmert sich um Frauen, die wegen (angeblichem) Schwangerschaftsabbruch in Haft sitzen.
Der Weg zu einer Reform, die auf die Rechte der Frauen Rücksicht nimmt, wird lang sein. Abgesehen von einigen sozialen Organisationen sprechen sich in El Salvador nur wenige gegen die derzeitige Gesetzeslage aus. Dies gilt auch für die Regierungspartei FMLN, die 1998 mehrheitlich für die Strafrechtsverschärfung gestimmt hatte. „Alle haben Angst vor dem Druck der Kirchen und einiger ziviler Organisationen“, erklärt der staatliche Menschenrechtsombudsmann David Morales.
Mit dem Start ihrer neuen Kampagne* „Die 17 – Lassen wir nicht zu, dass ihre Leben vergehen“ hat die Agrupación bis zum Ende des Wahlkampfs gewartet. Am 1. April zog die Bürger_innenvereinigung gemeinsam mit anderen Organisationen und vielen Einzelpersonen zum salvadorianischen Parlament, um dort 17 Anträge auf Begnadigung einzureichen. Das Parlament kann sich mit einer einfacher Mehrheit der Abgeordneten für eine Begnadigung aussprechen. Dieser müsste schließlich noch der Oberste Gerichtshof und der Präsident zustimmen.
Bei den 17 Angeklagten wurde eine Neuaufnahme des Gerichtsverfahrens abgelehnt. Die Begnadigung ist daher der einzige Weg, um die Frauen vor Ablauf der Haftzeit freizubekommen, damit ihre Leben nicht im Gefängnis vergehen.

* Die Kampagne hat die vollständigen Namen der 17 Frauen. Um sie und ihre Familien zu schützen, nutzt die Kampagne nur die Vornamen.

Kampagnenaufruf: Freiheit für die 17

Das INKOTA-netzwerk unterstützt die Kampagne zur Freilassung der 17 Frauen von Deutschland aus. Helfen Sie uns, die Kampagne hier bekanntzumachen. Öffentlichkeit ist ein großer Feind jeder Ungerechtigkeit. Je bekannter die Fälle der 17 Frauen werden, umso größer ist die Chance, dass die Gnadengesuche Erfolg haben. Die Kampagne hat einen Musterbrief an die Kommission für Justiz und Menschenrechte des salvadorianischen Parlaments verfasst und hofft auf möglichst viele Briefe auch aus Deutschland. Auf www.inkota.de/Frauenrechte-El-Salvador finden Sie den Brief auf Spanisch und in deutscher Übersetzung. Von dort aus können Sie ihn ganz einfach an die Kommissionsmitglieder (und in Kopie an die Kampagne schicken). Auch finden Sie dort weitere Informationen zur Kampagne.

Spendenaufruf für die Kampagne in El Salvador
Flugblätter, Demonstrationen, Pressekonferenzen: Kampagnenarbeit kostet Geld – auch in El Salvador. Bitte unterstützen Sie die Kampagne „Freiheit für die 17“ und unsere Partnerorganisation in El Salvador.

Bitte spenden Sie auf das Konto:
INKOTA-netzwerk
KD-Bank
IBAN DE06 3506 0190 1555 0000 10
BIC GENODED1DKD
Stichwort: Frauenrechte El Salvador.

// Bestenfalls Kollateralschäden

Brasilien – vor genau 50 Jahren: Die Militärs putschen gegen die Regierung des Präsidenten João Goulart. 21 Jahre herrschen die Generäle im Land. Die Diktatur hinterlässt eine blutige Spur: Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt, Menschen verhaftet, gefoltert, verschwinden, werden ermordet.
Brasilien – vor 40 Jahren: Die Wirtschaft des Landes boomt. Seit 1968 wächst die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebt mitten in den „bleiernen Jahren“ der stärksten Repression sein Wirtschaftswunder.
Bonn – vor 39 Jahren: Die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands unterzeichnen ein Abkommen über die „Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kern­energie“. Bis zu acht Atomkraftwerke, eine Wiederaufbereitungsanlage sowie Urananreicherungsanlagen will Deutschland Brasilien verkaufen und das entsprechende Know-how gleich mitliefern. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!
Bonn – vor 35 Jahren: Der amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der Deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) lobt in seiner Tischrede die „Übereinstimmung der Werte“ und die „Konvergenz der Ziele“ der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung, auch wenn man in Bonn „sozialliberal“ regiert und in Brasília militärisch. Und während im spätgotischen Saal in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für „tausend Bestecke“ gegeben wird, prügelt die deutsche Polizei Atomkritiker_innen und die brasilianische Opposition der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier werden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Die brasilianische Presse erlebt als Augenzeug_innen Szenen aus dem brasilianischen Alltag – in Köln.
Vier Ereignisse, ein gemeinsamer politischer Nenner: Die bundesdeutsche auswärtige Politik ist immer vorrangig Außenwirtschaftspolitik, Menschenrechte und Umwelt werden dieser untergeordnet. Für die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne geht es allein um die Teilhabe am brasilianischen Wirtschaftswunder. So arbeitet zum Beispiel die deutsche Autoindustrie eng mit der Diktatur zusammen: 1994 zitiert die Tageszeitung Jornal do Brasil aus Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil und Mercedes Benz in den 1970er Jahren Spitzel in die Gewerkschaftsversammlungen ihrer Arbeiter_innen einschleusten. Die so gewonnenen Informationen werden an die Geheimpolizei der Diktatur weitergereicht. Zu den Verstrickungen mit der Militärdiktatur soll Volkswagen do Brasil erst jetzt, 2014, vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília aussagen.
Profit für die Konzerne und goldene Uhren – eine schenkte Kanzler Willy Brandt (SPD) dem Junta-General Artur da Costa e Silva – aber kein Engagement für Menschenrechte und Umwelt: Brandt, Schmidt, Strauß & Co waren die Gefolterten und Ermordeten in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden. Dies galt jedoch nie für deutsche Wirtschaftsinteressen. Seit den 1970er Jahren sind in São Paulo deutsche Wirtschaftsunternehmen massiv vertreten, dort finden sich Volkswagen und Mercedes Benz, BASF und Bayer samt ihrer ebenfalls deutschen Zulieferer. Die Metropolregion Grande São Paulo mit über 20 Millionen Einwohner_innen als eine der größten Städte der Erde beherbergt bis heute die weltweit höchste Konzentration an deutscher Industrie. Für deutsche Konzerne rollte dort schon immer der Rubel, egal, ob er je nach Währungsreform Cruzeiro, Cruzeiro Novo, Cruzado, Cruzado Novo, Cruzeiro Real oder Real hieß – und die deutsche Politik gab und gibt eifrig Schützenhilfe.
Gab die Bundesregierung damals für den Bau des AKW Angra 2 eine Hermesbürgschaft in Milliardenhöhe, so bewilligte sie gleiches 2012 schon wieder, für Angra 3. Und ein Teil des Thyssenkrupp-Stahlwerks in Rio erhielt auch eine solche Exportkreditversicherung. Umwelt und Menschen – bestenfalls Kollateralschäden.

Nicht eine Ermordete mehr in Chiapas!

Wie ist die Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas entstanden?
Die Kampagne entstand aus der Besorgnis mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen aufgrund des Anstiegs der Feminizide und der feminiziden Gewalt im Bundesstaat Chiapas. Die Kampagne existiert nicht nur, um die Ermittlung und Sanktion der Verantwortlichen der Feminizide einzufordern, sondern auch um der feminiziden Gewalt vorzubeugen. Wir halten die Feminizide für vermeidbare Todesfälle. Wir organisieren daher Informations- und Bildungsaktionen mit dem Ziel, dass wir Frauen keine Beziehungen akzeptieren, die unsere Rechte verletzen und unser Leben aufs Spiel setzen.

Was zeichnet den Kontext der feminiziden Gewalt in Chiapas im Unterschied zu anderen Bundesstaaten mit hohen Feminizidraten wie Chihuahua oder Estado de México aus?
Chiapas ist der zweitärmste Bundesstaat Mexikos, 86 Prozent der Bevölkerung leben in Armut oder extremer Armut. Ein Drittel der Bevölkerung ist indigen. Soziale Netzwerke sind zerrüttet, die Scheidungsraten sind hoch. Die Folge davon ist eine steigende Zahl alleinstehender Frauen in der Funktion von Ernährerinnen, die große Lohnbenachteiligungen erfahren und doppelte oder dreifache Arbeitszeiten haben. Dazu kommen der fehlende Zugang der Frauen zum Gesundheitssystem sowie zu Land- und Territoriumsrechten. Weitere Probleme sind Alkoholismus, Zwangsprostitution, Drogenabhängigkeit, Waffen-, Organ- und Menschenhandel, Megaprojekte wie Palmöl- und Pinienmonokulturen, Repression von Protesten, Straflosigkeit und Militarisierung. All das ist Ausdruck der strukturellen Gewalt mit direkten Konsequenzen für Frauen.

Inwiefern unterscheiden sich die Feminizide in Chiapas von den Frauenmorden in anderen Bundesstaaten?
Die Agressoren sind den Opfern nahestehende Personen, insbesondere (Ex-)Partner, Ehemänner, Liebhaber, Freunde, Verehrer. Es sind Personen, zu denen die Frauen ein Vertrauens- und Liebesverhältnis gehabt haben. Für den Zeitraum Januar bis Oktober 2013 betrifft das 55 Prozent der gewaltsamen Tode. Weitere 15 Prozent der Frauen wurden von einem Familienmitglied ermordet.

Auf welchen Quellen beruhen die Zahlen, die ihr anführt?
Die Daten zu Feminiziden werden von COLEM (Frauengruppe San Cristóbal, Anm. d. Red.) bereitgestellt, die diese seit 2011 auf Basis von Pressenotizen erheben – erstens, weil die Staatsanwaltschaft von Chiapas keine vollständigen Daten verfügbar hat und zweitens, da innerhalb dieser keine eindeutigen Kriterien bestehen, die die Identifikation von Feminiziden ermöglichen würden.

Wie erklärt ihr den Anstieg der gewaltsamen Tode und Feminizide?
Wir sehen einen Grund in der vom neoliberalen System angestoßenen Veränderung der Geschlechterrollen. Frauen sind immer mehr in den Arbeitsmarkt eingebunden und füllen Funktionen aus, die bis vor einigen Jahrzehnten als den Männern vorbehaltene betrachtet wurden. Gerade angesichts der wachsenden Migration männlicher Familienmitglieder und der ökonomischen Krise in Chiapas übernehmen Frauen in der Familie die Rolle der Versorgerin. Damit wird ein Gefühl der Herausforderung der maskulinen Stärke ausgelöst. Um die eigene Vormachtstellung zu behaupten, wird dies mit einem immer extremeren Gewaltgebrauch gegenüber Frauen beantwortet.

Welche spezifischen Fälle hat es in Chiapas gegeben?
Ein emblematischer Fall ist das Massaker von Acteal an 33 Frauen (durch Paramilitärs unter Zustimmung des Staates im Jahr 1997, Anm. d. Red.). Seine Aktualität liegt in der Straflosigkeit der Täter und der Gleichgültigkeit des Staates angesichts der Ermordung der Frauen (siehe LN 423/424).

Was sind die Ziele der Kampagne? Worin besteht eure Arbeit?
Zum einen präventives Bewusstsein in der Bevölkerung und besonders den Jugendlichen über die Risiken der feminiziden Gewalt und Feminiziden zu schaffen. Zum anderen, dass wir alle gegenüber der Gewalt die Rolle von verändernden Subjekten übernehmen. Außerdem die Forderung, dass der Staat auf allen drei Ebenen seine Verpflichtung erfüllt, das Leben der Frauen zu schützen und die Straflosigkeit zu beenden, mit der die Feminizide begangen werden. Dabei strukturieren sich unsere Aktivitäten entlang von vier Achsen:
Frauen: Wir setzen jeder Form von Gewalt vom ersten Moment an ein klares „Stop“ entgegen. Jugendliche: Wir konstruieren respektvolle Beziehungen, ohne Machismus, Dominanz und Unterordnungen. Wir treffen und erfüllen klare partnerschaftliche Abmachungen. Agressoren: Die Gewalt an Frauen und die Feminizide sind Strafbestände und ziehen Bestrafung nach sich. Gesamtbevölkerung: Die feminizide Gewalt tötet, sie bezieht uns alle mit ein, wir müssen ihr mithilfe sämtlicher Medien verbeugen und sie anzeigen.

Am 25. November 2013 präsentierte die Kampagne den Antrag auf Untersuchung des Alarmzustands geschlechterspezifischer Gewalt für Chiapas vor dem nationalen System zur Vorbeugung, Betreuung, Sanktionierung und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen. Was ist der Alarmzustand geschlechterspezifischer Gewalt?
Es handelt sich um einen Mechanismus, der im allgemeinen Gesetz des Zugangs der Frauen zu einem Leben ohne Gewalt festgehalten ist. Er hat zum Ziel, die Sicherheit der Frauen und die Beendigung der Gewalt gegen sie zu garantieren sowie die Ungleichheiten zu beseitigen, die durch eine Gesetzgebung hervorgebracht werden, die ihre Menschenrechte verletzen. Dies impliziert konkrete Handlungen von verschiedenen Instanzen des Staates. Außerdem muss bei Bewilligung des Antrags eine Analyse der Situation durch ein interinstitutionelles und multidisziplinäres Team durchgeführt werden. Die Erklärung des Alarmzustandes ist zulässig, wenn in einem bestimmten Gebiet der soziale Frieden aufgrund von Delikten gegen das Leben, die Freiheit, Integrität und Sicherheit der Frauen beziehungsweise durch Ungleichbehandlung von Frauen gestört wird. Stimmt das nationale System dem Alarmzustand zu, wird er vom Innenministerium ausgerufen.

Wie hat der Staat auf den Antrag reagiert?
Die Antwort des nationalen Systems bestand in der Verneinung der Untersuchung ohne Durchführung einer ernsthaften Analyse der Informationen, die von den Antragstellern sowie der Staatsanwaltschaft erhoben wurden. Das bekräftigt das Klima der anhaltenden Straflosigkeit angesichts ungenügender staatlicher Maßnahmen. Nur der Bundesstaat Tabasco und die Hauptstadt stimmten für die Untersuchung.

Seit 2009 haben acht mexikanische Bundesstaaten einen Antrag auf Alarmzustand eingereicht. Alle wurden abgelehnt. Wie interpretiert ihr die negative Antwort des Staates?
Die Antwort ist zynisch und zeigt einmal mehr die Weigerung des Staates, seine Verantwortlichkeit für die feminizide Gewalt und die Feminizide zu akzeptieren.

Wie werdet ihr auf die Absage reagieren?
Auf juristischem Wege haben wir am 17. Februar einen Antrag vor einem Distriktsrichter in Mexiko-Stadt eingereicht – mit der Absicht, dass die Anordnung der von uns beantragten Untersuchung erfolgt. Auf politischer Ebene werden wir die Kam­pagne fortführen, indem wir uns in permanentem zivilen Alarmzustand erklären und die folgenden Aktionen realisieren: erstens, die Denunzierung der Unterlassung des Staates bezüglich seiner Verpflichtung zum Schutz des Lebens der Frauen, in der Öffentlichkeit wie auch vor internationalen Menschenrechtsinstanzen. Zweitens, die breite Information der Bevölkerung über die negative Antwort des Staates und die neu entstandenen Situationen der Gewalt, damit sich diese der Kampagne anschließt. Drittens, die Realisierung eines Treffens zum 8. März (Internationaler Frauentag, Anm. d. Red.), um die erlebte Gewalt zu denunzieren und dagegen zu protestieren.

Infokasten

Gloria Guadalupe Flores Ruiz arbeitet für das Zentrum für Frauenrechte in Chiapas. In der Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas haben sich Nichtregierungsorganisationen, Kollektive und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um die Verantwortung des Staates einzufordern sowie präventive Aktionen zu realisieren.

It’s the currency, stupid!

Die aktuellen Unruhen in Venezuela haben ihren Ursprung zunächst einmal im Zerfall der Opposition. Bis vor kurzem galt der zweifache Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski noch als unangefochtene Führungsfigur des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD). Spätestens seit die Opposition bei den Kommunalwahlen im Dezember 2013 knapp zehn Prozent weniger Stimmen auf sich vereinigen konnte als die chavistischen Regierungsparteien, macht der rechte Flügel der Opposition ihm diese Rolle streitig (siehe LN 477).
Ein Auslöser dieses oppositionsinternen Putschversuchs war auch die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes. Zwar sind Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut geringer denn je, aber die massive Inflation von 56 Prozent im Jahr 2013 und der anhaltende Mangel an bestimmten Lebensmitteln machen vielen Venezolaner_innen zu schaffen. Die Opposition behauptet, Präsident Nicolás Maduro habe die Wirtschaft in den Sand gefahren. Die Regierung hingegen argumentiert, oppositionelle Unternehmer_innen hätten bewusst eine politisch motivierte Krise hervorgerufen. Zum Verständnis der venezolanischen Wirtschaft tragen diese Ansichten allerdings kaum bei.
Die eigentlichen Wurzeln der aktuellen wirtschaftlichen Probleme Venezuelas liegen im Jahr 2002, als die Opposition mit ihrem Putschversuch im April und dem Erdölstreik ab Dezember scheiterte. Das politische Chaos von 2002 und 2003 rief eine massive Kapitalflucht hervor, die zu einem raschen Wertverfall der venezolanischen Währung Bolívar führte. Um diesen Verfall zu stoppen, intervenierte die Zentralbank durch den Verkauf von US-Dollar in den Währungsmarkt. Da die Zentralbank dabei sehr schnell ihre Reserven verlor, schuf die Regierung im März 2003 die Kommission zur Devisenkontrolle CADIVI (Comisión de Administración de Divisas). Seitdem darf man in Venezuela US-Dollar nur zum festgelegten, offiziellen Wechselkurs in Bolívares tauschen. Allerdings müssen sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen eine Reihe von Bedingungen erfüllen und Gründe vorweisen, um zum offiziellen Wechselkurs US-Dollar zu erhalten. Diese Gründe sind zum Beispiel Auslandsreisen, die Unterstützung von Angehörigen im Ausland oder der Import von Waren.
Die Einführung der Devisenkontrollen zog zwei bedeutende Konsequenzen nach sich: Zum einen konnten der Währungsverfall gestoppt und die Inflation etwas gebremst werden. Solange der staatlich festgelegte Wechselkurs nicht verändert wurde, blieben die Kosten für Importe – die in US-Dollar bezahlt werden müssen – konstant. Zum anderen entstand aufgrund des beschränkten Zugangs zu Devisen ein Schwarzmarkt für US-Dollar. Dort agierten insbesondere Akteure, die die Bedingungen für den offiziellen Kauf von Dollar nicht erfüllen.
Über mehrere Jahre hinweg funktionierte dieses System; es begrenzte Kapitalflucht und Inflation. Zwischen 2004 bis 2008 wuchs die venezolanische Wirtschaft durchschnittlich um zehn Prozent pro Jahr. Die Inflation war mit zirka 20 Prozent zwar immer noch relativ hoch. Sie betrug jedoch weniger als die Hälfte der Inflationsrate, die in den zehn Jahren vor Hugo Chávez‘ Präsidentschaft als üblich galt: Damals lag die Inflation im Durchschnitt bei 49 Prozent im Jahr.
Die Lage änderte sich gegen Ende 2008, als sich die Weltwirtschaftskrise auf den Ölpreis auszuwirken begann. Dieser fiel binnen sechs Monaten von 130 US-Dollar auf 40 US-Dollar pro Barrel. Venezuela war von der Finanzkrise somit indirekt betroffen. In den Jahren 2009 und 2010 schrumpfte die Wirtschaft um jeweils 3,2 und 1,5 Prozent. Wegen der geringeren Öleinnahmen standen der Regierung plötzlich weniger US-Dollar für den offiziellen Wechselkurs zur Verfügung. Das hatte gravierende Auswirkungen auf das Währungssystem. Venezuelas Dollarreserven fielen allein zwischen der zweiten Jahreshälfte 2008 und der ersten Jahreshälfte 2009 um 13 Milliarden US-Dollar. Die Regierung sah sich unter Handlungszwang – insbesondere, weil ein Rückgang der US-Dollar für den offiziellen Umtausch weniger Importe bedeutete, was wiederum Engpässe bei verschiedenen Produkten hervorrief. Zudem erhöht sich durch sinkende Importe bei konstanter Nachfrage die Inflation.
Im Juni 2010 ergänzte die Regierung CADIVI mit dem flexibleren Wechselkurssystem SITME (Sistema de Transacciones con Títulos en Moneda Extranjera). Anstatt die eigenen Dollarreserven für den offiziellen Währungswechsel zu verwenden, erwarb die Regierung nun US-Dollar auf dem internationalen Wertpapiermarkt, womit die Aufnahme von Schulden einherging. Die Wertpapiere bot sie zum Umtausch gegen Bolívares an. Importeure und andere Teilnehmer_innen konnten diese Wertpapiere weiterverkaufen, um US-Dollar zu erhalten. In der Folge verschuldete sich der venezolanische Staat immer mehr. Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2010 und 2012 um 47 Prozent an, von 81 Milliarden auf 119 Milliarden US-Dollar.
Die Verschuldung wurde in Kauf genommen, um den Import wichtiger Konsumgüter zu ermöglichen und dadurch die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Diese Zielsetzung erfüllte sich jedoch nicht. Die Inflation blieb zwischen 2009 und 2011 mit 26 Prozent im Jahr überdurchschnittlich hoch. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Sozialprogramme den Konsum der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten ankurbelten, so dass dieser schneller wuchs als das Angebot an einheimischen oder importierten Gütern.
Im Wahljahr 2012 achtete die Regierung verstärkt darauf, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Dies bedeutete steigende Importe und eine auf 20 Prozent sinkende Inflation. Unmittelbar nach Chávez‘ Wiederwahl entschloss sich die Regierung, den Dollar-Verkauf drastisch zu begrenzen. Das SITME-Umtauschsystem, durch das die Staatsschulden anstiegen, wurde abgeschafft. Über das CADIVI-System, für das die Dollarreserven verwendet wurden, wurden weniger US-Dollar zur Verfügung gestellt. Die Kombination dieser beiden Maßnahmen machte sich sofort dadurch bemerkbar, dass der Schwarzmarkt-Kurs des US-Dollars in die Höhe schnellte. Alle, die entweder importieren oder ihr Geld in wertbeständigeren US-Dollar anlegen wollten, machten vom Schwarzmarkt Gebrauch.
Die Regierung maß diesem Problem zunächst keine große Bedeutung bei. Planungsminister Jorge Giordani etwa sagte, dass es ihn nicht beunruhige, wenn Venezuelas Bourgeoisie ihre ganzen Ersparnisse auf dem Dollarschwarzmarkt verschwende. Doch letztlich hatte die Entwicklung des Schwarzmarkts zwei gravierende Auswirkungen auf Venezuelas Volkswirtschaft. Mit Abnahme der zur Verfügung stehenden CADIVI-Dollar für Importe, bezahlten immer mehr Importeure die eingeführten Waren mit Schwarzmarkt-Dollar. Beim Verkauf der Waren setzten sie folglich Preise an, die sich nach dem Schwarzmarktwert des US-Dollars – nicht nach dem offiziellen Wechselkurs – richten.
Je mehr Venezolaner_innen gleichzeitig ihre Bolívar-Ersparnisse auf dem Schwarzmarkt umtauschten, desto mehr sackte der Wert des Bolivars ab. Der Schwarzmarktwert des Dollars lag noch zwischen 2010 und 2012 stabil bei acht bis neun Bolivar. Gegen Ende 2012, als das SITME abgeschafft wurde, rutschte er plötzlich ab, so dass er in den sechs Monaten zwischen Oktober 2012 und März 2013 um die Hälfte seines Wertes einbüßte und von zwölf auf 24 Bolívares pro US-Dollar fiel. Der offizielle Wechselkurs lag hingegen bei 6,5 Bolívares pro US-Dollar.
Als Chávez am 5. März 2013 starb, sahen wirtschaftlich einflussreiche und der Opposition nahe stehende Akteure dies als eine Gelegenheit, dessen Wunschnachfolger Maduro im vor den Neuwahlen durch wirtschaftliche Sabotage zu schaden. Es wurden Lebensmittel gehortet, um künstliche Engpässe in der Versorgung zu schaffen. Da man auf dem Schwarzmarkt im Vergleich zum offiziellen Kurs nun viermal soviel für einen US-Dollar bekam, lohnte es sich immer mehr, US-Dollar zum offiziellen Kurs zu erwerben, um sie auf dem Schwarzmarkt mit deutlichen Gewinnen weiterzuverkaufen.
In vielen Fällen exportieren Händler_innen sogar Waren, die sie mit Hilfe von offiziell erworbenen US-Dollar importiert haben, direkt in die Nachbarländer. Da es dort im Gegensatz zu Venezuela keine Preiskontrollen gibt, können die Waren zu einem deutlich höheren Preis verkauft werden. Der Schmuggel kann kaum aufgehalten werden. Denn je größer der Unterschied zwischen dem offiziellen und dem Wechselkurs des Schwarzmarkts ist, umso größere Profite kann man durch Schmuggeln oder anderen Devisenmissbrauch erzielen. Die Kontrolle der Landesgrenzen ist deswegen ineffektiv, weil bei den hohen Profiten extrem hohe Bestechungsgelder fließen. Ergebnis dieser Tausch- und Schmuggelgeschäfte sind weitere Engpässe bei grundlegenden Gütern und dadurch ein weiterer Anstieg der Inflation – im vergangenen Jahr auf 56 Prozent. Die Mangelrate, die die Zentralbank regelmäßig misst, stieg von 20 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2013 auf 28 Prozent bei Jahresbeginn 2014.
Die Maduro-Regierung war sich dieser Probleme offensichtlich bewusst, brauchte aber außerordentlich lange, um zu handeln. Nach längerem Zögern hat die Regierung am 24. März eine Maßnahme getroffen, die eine langsame Lösung des Problems voraussichtlich ermöglicht. Sie behält einen niedrigen Wechselkurs für besonders wichtige Importgüter bei. In allen anderen Fällen dürfen Venezolaner_innen aber in einem geregelten Verfahren Bolívar frei gegen US-Dollar tauschen. In der ersten Woche lag der nun teilliberalisierte Wechselkurs bei gut 50 Bolívar pro US-Dollar. Zwar ist dieser Wert immer noch etwa achtmal höher als der offizielle Wechselkurs von 6,5 Bolívar pro US-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt wurde zuletzt allerdings das Vierzehnfache für einen US-Dollar gezahlt.

Infokasten

Unasur fordert Dialog
Nach über sechs Wochen anhaltender Proteste zeichnet sich in Venezuela ein politischer Dialog ab. Während die Opposition damit scheiterte, die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu einem härteren Vorgehen gegen Venezuela zu bewegen, erweist sich das südamerikanische Staatenbündnis Union südamerikanischer Nationen (Unasur) einmal mehr als geeigneter Ort, um politische Konflikte in Südamerika zu behandeln. In der letzten Märzwoche reiste eine Delegation von acht Außenminister_innen der Unasur-Länder nach Venezuela. Dort traf sie mit unterschiedlichen politischen Akteuren zusammen, darunter Vertretern_innen der Nationalen Friedenskonferenz, der Staatsanwaltschaft, des Obersten Gerichts, der Ombudsfrau des Landes, der Regierung und dem Oppositionsbündnis MUD.
In einem Kommuniqué rief die Delegation anschließend zur Beendigung aller gewalttätigen Aktionen auf. „Die Kommission hat die Bereitschaft zum Dialog seitens aller Sektoren zur Kenntnis genommen“, heißt es in dem Dokument. Dazu sei es notwendig, in der Auseinandersetzung eine moderatere Sprache anzuwenden, um ein Klima des Friedens zu schaffen, das Gespräche zwischen der Regierung und verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren ermöglichen soll.
Venezuelas Vizepräsident Jorge Arreaza kündigte unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts bereits die erste Maßnahme als Reaktion an. Die Regierung werde auf Anregung der Außenministerdelegation einen sogenannten Nationalen Rat für Menschenrechte schaffen, so Arreaza. Diese Institution soll als zusätzliche Ombudsstelle etwaige Beschwerden im Bereich der Bürger- und Menschenrechte entgegennehmen.
Laut offiziellen Angaben sind bei den gewalttätigen Protesten in Venezuela zwischen dem 12. Februar und dem 24.März 35 Menschen ums Leben gekommen und 561 verletzt worden. Mutmaßlich waren in mindestens vier Fällen Sicherheitskräfte für die Tode verantwortlich. In 81 Fällen wird wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen ermittelt.

LN / amerika21

Geopolitisches Interesse an kleinen Märkten

Peru hat bereits 17 Freihandelsverträge abgeschlossen, weitere Abkommen mit Russland, Kuba, Costa Rica und Nicaragua sollen bis Ende des Jahres folgen. Ist diese Freihandelspolitik so erfolgreich, dass die peruanische Regierung nach wie vor an ihr festhält?
Nein, das kann man so nicht sagen. Peru hat das erste Freihandelsabkommen mit den USA 2004 zu verhandeln begonnen, seitdem sind zehn Jahre vergangen. Trotzdem gab es keinerlei Auswertung der positiven und negativen Effekte dieses oder anderer Abkommen. Es herrscht stattdessen eine schon fast ideologisch anmutende Überzeugung, dass diese Abkommen gut sind und dass sie „so oder so“ zu unterzeichnen sind, wie es unser Ex-Präsident Alejandro Toledo einmal sagte. Die peruanischen Funktionäre und Technokraten, die einige der Schlüsselsektoren der peruanischen Wirtschaft kontrollieren, folgen einem Entwicklungsmodell, nach dem Export und die Anziehung ausländischer Investitionen alternativlos ist. Hinzu kommt das starke Lobbying und der politische Druck, den die Profiteure dieser Politik, also die exportierenden Unternehmen in Peru und die ausländischen Investoren ausüben. Auf der anderen Seite, in der EU und den USA, sind die Gründe geopolitisch. Anders lässt sich die Frage nach dem großen Interesse an so kleinen Märkten wie denen Perus oder Kolumbien nicht erklären. Die USA und die EU sehen diese Abkommen als geopolitische Instrumente, die ihnen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in bestimmten Gebieten garantieren. Für uns ist klar: Wir brauchen eine technische Bewertung der bestehenden Abkommen, die sowohl die negativen als auch die positiven Auswirkungen berücksichtigt, denn die gibt es ohne Zweifel auch.

Als die EU kurz davor war, das Abkommen mit Kolumbien und Peru abzuschließen, wurde auch in Europa Kritik geäußert. Die bezog sich oft auf die kritische Menschenrechtslage, vor allem in Kolumbien. In welchem Zusammenhang stehen Freihandel und Menschenrechte?
Die Frage nach den Menschenrechten betrifft vor allem Kolumbien, da sich das Land nach wie vor in einem internen bewaffneten Konflikt befindet. Mit den Handelsabkommen hat das insofern zu tun, als in Kolumbien vor allem auch die Lage der Gewerkschaften sehr schlecht ist, Gewerkschafter sind einem hohen Risiko ausgesetzt, jährlich werden mehrere von ihnen ermordet. Hinzu kommt, dass das Justizsystem Kolumbiens nicht gut funktioniert und die Straflosigkeit in Fällen von Menschenrechtsverletzungen sehr hoch ist.

Und in Peru?
Auch hier gibt es große Probleme, vor allem mit den Arbeitnehmerrechten. Zum Beispiel im Agrarsektor: Dort herrscht ein bestimmtes Arbeitsregime, in dem es zur Normalität geworden ist, dass die Arbeiter nur befristete Verträge bekommen, die alle paar Monate erneuert werden, zum Teil über Zeiträume von zehn oder mehr Jahren. Das bedeutet keinen Urlaubsanspruch, keine Sozialversicherung und keine Möglichkeit sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wir sind der Meinung, dass damit internationale, von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anerkannte Arbeitnehmerrechte gebrochen werden. Große Probleme gibt es auch mit dem Recht auf eine gesunde Umwelt. Der Staat ist nicht in der Lage sicherzustellen, dass die Investitionen und damit verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten in keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung haben. In so einer Situation der Wirtschaft und den Märkten mehr Macht zuzugestehen und mit dem Ausbau des Investitionsschutzes demokratische Strukturen weiter zu schwächen ist gefährlich. Exportorientierte Sektoren wie der Bergbau aber auch die Agrar- und Textilwirtschaft profitieren von niedrigen Umweltstandards und der Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten.

Welche Rolle spielen diese Regelungen zum Investitionsschutz in den Abkommen?
In dem Freihandelsabkommen mit der EU sind keine Investitionsschutzregelungen enthalten. Sehr wohl aber in den Abkommen mit Kanada und USA und in den 13 bilateralen Investitionsabkommen mit verschiedenen europäischen Ländern. Diese Abkommen sind Grundlage für aktuell 15 juristische Verfahren, die ausländische Unternehmen gegen den Staat Peru führen, weil sie sich von ihm direkt oder indirekt enteignet sehen. Die letzten Klagen haben vor allem mit Bergbau zu tun; zum Beispiel im Fall der Klage des US-amerikanischen Unternehmens Doe Run. Der Bergbau durch das Unternehmen in La Oroya – der kontaminiertesten Stadt Perus – hat zu einer derartigen Umweltverschmutzung geführt, dass die dort lebenden Menschen krank wurden; in ihrem Blut wurden sehr hohe Werte von Blei und anderen Schwermetallen nachgewiesen. Nachdem die peruanische Regierung Doe Run wegen Verstoß gegen Umweltauflagen die Konzession entzogen hatte, verklagte das Unternehmen den peruanischen Staat auf 800 Millionen US-Dollar Schadensersatz. Der Staat ist also nicht mehr in der Lage, souverän, zum Beispiel aus Umwelt- oder Gesundheitsschutzgründen, zu regulieren, denn die Unternehmen bringen ihn sofort vor Gericht. Nicht alle Klagen werden von den Unternehmen gewonnen. Aber selbst wenn der Staat beim Prozess siegt, kann er bei diesen Klagen nichts gewinnen und allein die Prozess- und Anwaltskosten belaufen sich auf mehrere Millionen.

Welche Auswirkungen haben Freihandel und Investitionsschutz auf die lokalen Märkte in Peru und Kolumbien?
Einer der größten Widersprüche in Freihandelsabkommen mit der EU und den USA sind die Subventionen. Ländern wie Peru und Kolumbien wird immer wieder der Freihandel gepredigt und betont, dass es keine Subventionen geben sollte, da sie dem freien Handel schaden würden. Trotzdem führen die Länder des globalen Nordens ihre eigene Subventionspolitik fort, vor allem wenn es um die Agrarwirtschaft geht. Sowohl in der EU als auch in den USA. Noch können wir die Folgen der europäischen Subventionen nicht abschätzen, da das Freihandelsabkommen erst seit etwa einem Jahr in Kraft ist. Das Abkommen mit den USA ist schon sechs Jahre in Kraft und wir sehen vor allem für die Landwirtschaft schwere Folgen. In Kolumbien ließ sich das an dem Agrarstreik im letzten Jahr ablesen. Mehrere Sektoren konnten mit den Preisen der aus den USA importierten Produkte nicht mehr mithalten und wurden vom Markt verdrängt. In Peru passierte dasselbe im Baumwollsektor. Peru war immer ein wichtiges Land für die Baumwollproduktion. Das ist jetzt vorbei. Durch die indirekten Subventionen für Baumwolle in den USA ist die peruanische Baumwolle nicht mehr wettbewerbsfähig. Peru hat für solche Subventionen einfach keine finanziellen Mittel und mittlerweile auch keine legalen Möglichkeiten mehr. Für einen gerechten freien Handel und Wettbewerb müssten die Ökonomien über die gleichen Möglichkeiten verfügen, das ist aber nicht der Fall.

Die EU verhandelt momentan ein Freihandels- und Investitionsabkommen mit den USA und eines mit Kanada. Was würden Sie den Europäer_innen empfehlen, wie sie sich zu diesen Abkommen verhalten sollten?
Die verschiedenen Abkommen sind Teil derselben politischen Strategie. Ich würde die Europäer_innen aufrufen, sie auch als solche zu sehen und sich über die europäischen nationalen Grenzen und einzelnen Interessengruppen hinaus zu koordinieren. Besondere Aufmerksamkeit würde ich dem Investitionsschutz schenken, diese Regelungen sind gefährlich für die Demokratie und müssen verhindert werden. Einige Länder lehnen diese Verträge ab oder steigen wieder aus ihnen aus; Brasilien hat beispielsweise keinen solchen Vertrag abgeschlossen und trotzdem gibt es weiter Investitionen im Land. Das zeigt, dass es auch ohne geht. Außerdem würde ich raten, dem Thema geistiges Eigentum und Patente mehr Aufmerksamkeit zu schenken, besonders was pharmazeutische Produkte betrifft. In Peru ist der erschwerte Handel mit Generika zu einem großen Problem geworden. Die Preise für Medikamente sind signifikant gestiegen, weil zum Teil nur noch Markenprodukte erhältlich sind. Das hängt unter anderem mit den Regeln über den Schutz geistigen Eigentums zusammen, die in den Freihandelabkommen enthalten sind. Der beschränkte Zugang zu Medikamenten ist deutlich spürbar und trifft vor allem die ökonomisch schwachen Teile der Bevölkerung.

Die Kritik in Deutschland an den Abkommen mit den USA und Kanada dreht sich viel um Chlor-Hühnchen und die Kennzeichnung von gentechnisch modifizierten Lebensmitteln. Was halten Sie angesichts der verheerenden Probleme in Peru und Kolumbien von dieser Diskussion?
In Peru sollten die Konsumenten eine ähnliche Einstellung haben und darauf achten, wie und womit die Produkte hergestellt werden. Insgesamt fehlt es oft an einem Bewusstsein für nachhaltigen und gesunden Konsum und der Beachtung von Umweltaspekten oder Arbeitnehmerrechten. Es gibt viel zu viele Konsumenten, die sich zu Komplizen der momentanen Wirtschafts- und Handelspolitik machen und sie damit legitimieren. Wir können lange darüber reden, wie schlecht Freihandels- und Investitionsabkommen sind, solange die Konsumenten ihre Macht nicht gebrauchen, indem sie gezielt nachfragen und kritisieren. Bewusster und verantwortungsvoller Konsum sind grundlegende Voraussetzungen für akzeptable Handelsabkommen. Ich habe in Deutschland festgestellt, dass es eine aktive Diskussion auch in der Politik darüber gibt. Das sind erste Schritte, die die Unternehmen langfristig dazu bewegen werden, ihre Produktion den Umweltstandards und Menschen- und Arbeitnehmerrechten anzupassen.

Politische Gefangene im heutigen Argentinien?

Gibt es heute wieder politische Gefangene in Argentinien? Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner würde diese Frage verneinen. Sie feiert ihre Regierung als eine der Menschenrechte und wird von den meisten führenden Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung, die sich während der Diktatur der siebziger Jahre gebildet hat, unterstützt. Auch für Amnesty International gibt es in Argentinien keine politischen Gefangenen im klassischen Sinne: Niemand werde zum Wehrdienst gezwungen, und Pressedelikte werden nicht mit Gefängnis bestraft. „Ja, es gibt politische Gefangene!“, sagen dagegen heutige Menschenrechtsaktivist_innen. Sie prangern die „Kriminalisierung der sozialen Proteste“ an und sprechen von 6.000 Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind oder unter Anklage stehen.
„Ja“, sagt auch eine Gruppe, deren Väter und Großväter zum Repressionsapparat der früheren Militärdiktatur gehörten. Sie werden, nach Meinung ihrer Familienangehörigen, „aus politischen Gründen“ verfolgt: 1.230 Angeklagte, 227 Verurteilte, das Durchschnittsalter ist 70,6 Jahre. Diese Gruppe namens HyNdPP (Kinder und Enkel der Politischen Gefangenen) fordert auf ihrer Website „ein Ende dieser Geschichte, damit die Wunden verheilen und wir in Frieden leben können“. Sie spielen in der Öffentlichkeit keine große Rolle, nicht einmal die Rechte nimmt sie ernst.
María del Carmen Verdú ist bei CORREPI aktiv, der Koordination gegen polizeiliche und institutionelle Repression. „Laut Statistik beklagen wir jeden Tag einen Toten. Sei es aufgrund des polizeilichen Gatillo Fácil oder weil ein Gefangener zu Tode gefoltert wurde, mehr als 3.000 Tote sind es seit dem Ende der Diktatur“, so die Rechtsanwältin. Gatillo Fácil steht für „einfacher Abzug“, wenn Polizist_innen in den Armenvierteln Jugendliche ohne konkreten Tatverdacht erschießen, ohne dass dies juristische Konsequenzen hat.
Wer arm und ein „Schwarzköpfchen“ (cabecita negra) ist und auf dem Polizeirevier landet, wird regelmäßig gefoltert. Allerdings hatte der Oberste Gerichtshof 2007 in einer Grundsatzentscheidung verkündet, dass nur in Diktaturen gefoltert wird, aber nicht in einer Demokratie, , wo diese Fälle nicht systematisch sondern individuelle Verfehlungen von Staatsbediensteten seien. Dieser Urteilsspruch hat die fatale Konsequenz, dass nur die Folter als Menschenrechtsverletzung angesehen wird, die nicht verjährt. Es ging um den Fall von Bueno Alves, der von dem Polizisten Jesús Derecho in seiner Zelle brutal misshandelt worden war – an der Tortur an sich bestand kein Zweifel. Derechos Anwalt plädierte auf Verjährung, weil die Misshandlung des Gefangenen nicht Teil einer systematischen Regierungspolitik sei, sondern nur eine individuelle Verfehlung, ein „illegales Zwangsmittel“, ein normales Delikt, das nur binnen fünf Jahren zu verfolgen sei. Der interamerikanische Gerichtshof urteilte 2011 anders, doch an der Karriere des Polizisten Derecho änderte das nichts.
Für CORREPI sind all diejenigen politische Gefangene, die aufgrund ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Aktivitäten verfolgt werden, Demonstrant_innen wegen Landfriedensbruch, Streikende wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. In diesen Fällen werden Beweise nur in eine Richtung gesammelt oder verschwinden ganz, werden Zeugen beeinflusst und Beschuldigte gefoltert.
Im Dorf Las Heras, das tief im Süden Patagoniens vom Erdöl lebt, wurden gerade mehrere Gewerkschafter zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei einer Protestkundgebung gegen die Festnahme eines Gewerkschafters war ein Polizist ums Leben gekommen, und die Polizei wollte den Tod ihres Kollegen rächen. „Sie hatten keinen einzigen Indizienbeweis”, so die Strafverteidigerin Claudia Ferrero. Die einzigen Beweismittel des Staatsanwaltes waren durch Folter erpresste Aussagen von Beteiligten, die später widerrufen wurden. Ein Verwertungsverbot wollte er nicht gelten lassen.
„Ein paar Ohrfeigen oder eine Plastiktüte bedeuten doch nicht, dass man ihm vorschreibt, was er zu sagen hat”, sagte Staatsanwalt Ariel Candia vor Gericht. Eine über den Kopf gezogene Plastiktüte bewirkt Erstickungsanfälle und Todesangst, eine beliebte Foltermethode auch im Irakkrieg. Der Fall liegt jetzt beim Obersten Gerichtshof.
In Corral de Bustos, einem Dorf in der Nähe Córdobas, gingen 2006 die Bürger_innen auf die Barrikaden, nachdem ein fünfjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet worden war. Das lokale Rathaus wurde besetzt, und die Polizei ging gegen die Menge vor. Sechs Demonstrant_innen wurden verhaftet und zu hohen Haftstrafen verurteilt – ohne klare Beweise. Auch dieser Fall schmort derzeit beim Obersten Gerichtshof.
CORREPI leistet Rechtsbeistand und organisiert Kampagnen. Dabei werden die Aktivist_innen jedoch nicht von den traditionellen Menschenrechtsgruppen der 1970er Jahre unterstützt. Diese stehen heute an der Seite der Regierung, wie etwa Estela de Carloto, Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo, den international bekannten Müttern und Großmüttern der „Verschwundenen“. „Sie sprechen von individuellen Übergriffen oder Irrtümern einzelner Beamter und Beamtinnen und wollen die zugrunde liegende Logik nicht sehen“, klagt Rechtsanwältin Verdú. „Sie sagen, diese Übergriffe seien bedauerlich, aber man könne Diebe, die von Polizisten geschlagen werden, nicht auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Staates stellen; die einen seien Revolutionäre gewesen und die anderen seien Jungs, die an der Straßenecke herumlungern und zufällig von der Polizei misshandelt oder getötet werden.“
In Argentinien geht es bei dieser Debatte auch um sehr viel Geld. Die Menschenrechtskämpfer_innen von früher haben sich inzwischen in Forschungsinstituten und im öffentlichen Dienst eingerichtet. Es ist eine Art „Menschenrechts-Industrie“ entstanden, ein neues Establishment, das die Kongresse, Seminare und Tagungen bevölkert. Jahrelang finanzierte die Kirchner-Regierung die Baufirma von Hebe Bonafini, Führungsfigur der Madres de Plaza de Mayo. Nach unzähligen Korruptionsvorwürfen brach die Firma zusammen, es fehlen hundert Millionen Pesos. Auch die „Volkshochschule der Madres de Plaza de Mayo“ ging jetzt pleite, die Regierung übernahm die Schulden von 200 Millionen Pesos. Kurz zuvor hatte Bonafini den Oberkommandierenden der Armee, gegen den wegen Folter ermittelt wird, bei sich empfangen und freundlich interviewt. Als aber der Menschenrechtsaktivist Hermann Schiller in seinem Radioprogramm der Madres de Plaza de Mayo über den „einfachen Abzug“ und die Todesschüsse der Polizei berichtete, erhielt er seine Kündigung. Politische Gefangene in Argentinien? Nein, nein.

„Die Leere bleibt präsent“

Sie sind in Deutschland im Exil. Könnten Sie kurz Ihre momentane Situation schildern?
Wegen der Arbeit für die FNEB waren wir als Familie Verfolgungen ausgesetzt. Am 30. Mai letzten Jahres, in genau der Woche, in der man der Verschwundenen in Kolumbien erinnert, drangen Personen in meine Wohnung ein und nahmen meinen Computer mit. Es gab noch andere Vorfälle, wir fühlten uns bedroht. Uns wurde gesagt, wir sollten das Land lieber verlassen. Im Juli sind wir ausgereist. Das erste Mal kam ich in den 90er Jahren nach Deutschland. Meine Tante war auf Vortragsreise hier, als ich erfuhr, dass man mich verschwinden lassen wollte. Sie sagte: „Komm sofort hierher, du kannst dort nicht bleiben.“ Jetzt sind wir hier nur auf begrenzte Zeit, mit einem Stipendium, das in einigen Wochen endet.

Warum ist es bedrohlich, bald nach Kolumbien zurück zu müssen?
Die Situation in Kolumbien hat sich nicht geändert: Vor etwas über zwei Wochen wurde ein Zeuge festgenommen, der im Fall meiner Mutter ausgesagt hatte. Durch ihn hatten wir damals herausfinden können, wo die sterblichen Überreste meiner Mutter begraben waren. Dieser Zeuge hatte vor der Procuraduría (die Institution soll korrektes Verhalten von Staatsbediensteten kontrollieren; Anm. der Red.) ausgesagt, dass er als Mitglied eines Geheimdienstes des kolumbianischen Militärs am Verschwindenlassen meiner Mutter und anderer Personen beteiligt war. Aufgrund seiner Zeugenaussage fanden wir ihre sterblichen Überreste. Vier Jahre später distanzierte sich dieser Zeuge von seiner Aussage, aber da hatten wir die Leiche meiner Mutter schon gefunden. Er verschwand von der Bildfläche, aber vor zwei Wochen wurde er festgenommen, es gab gegen ihn einen Haftbefehl nicht nur von der kolumbianischen Polizei, sondern von Interpol. Am 21. Februar hieß es in einem Artikel der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador, er sei an eine Militärbrigade überstellt worden. Das ist verdächtig, denn er hatte als ehemaliger Militär andere Militärs beschuldigt, an mehr als 30 Fällen von Verschwindenlassen beteiligt zu sein. Wenn er jetzt an ein Militärorgan überstellt wird, ist das schon sehr merkwürdig. Obwohl seit dem Verschwinden meiner Mutter so viele, nämlich 27 Jahre vergangen sind, ist die Situation also wie am Anfang.

Was geschah damals?
1986 wurde Nydia Erika Bautista in Cali mit zwei anderen Guerrilleros, von der Guerilla Quintín Lame, festgenommen. Sie wurde in ein geheimes Zentrum gebracht und zwei Wochen lang gefoltert. Weil die Nachricht über ihre Festnahme in Teilen der Presse verbreitet wurde, ließen die Militärs sie nicht verschwinden. Aber sie haben meine Mutter weiter verfolgt, und ein Jahr später ließen sie sie verschwinden. Das war in Bogotá am Tag meiner Erstkommunion, am 30. August 1987. Gegen 6 Uhr abends haben in Zivil gekleidete Männer meine Mutter mitgenommen. Später haben wir herausgefunden, dass diese Männer sie bis zum 12. September an einem geheimen Ort festhielten, wo sie meine Mutter gefoltert und ermordet haben. Etwa drei Stunden von Bogotá entfernt haben diese Männer sie auf einen Friedhof mit nicht identifizierten Personen geworfen. Dank der Zeugenaussage des Ex-Militärs haben wir sie im Juli 1990 gefunden. Ab da haben wir alle uns möglichen Anzeigen gegen die Verantwortlichen erstattet.

Dann mussten Sie zum ersten Mal ins Exil. Wie konnten Sie weiterarbeiten?
Als wir ins Exil mussten und das Thema nicht mehr in Kolumbien selbst bearbeiten konnten, begann meine Tante Yannette die Fälle von verschwundenen Frauen in Juárez, Mexiko, für Amnesty International zu untersuchen. Vorher war das kaum bekannt. Im Exil in Süddeutschland haben wir die Stiftung Nydia Erika Bautista gegründet und angefangen, mit Müttern von Verschwundenen aus der Türkei zu arbeiten, haben Angehörige von Verschwundenen aus Sri Lanka und die Gründung der asiatischen Vereinigung von Angehörigen Verschwundener unterstützt, vor allem mit Lobbyarbeit vor den UN. Später haben wir die Stiftung nach Kolumbien gebracht.

Was will die Stiftung mit dieser Arbeit vor allem zeigen?
Es geht um die Systematik der Praxis. Beim gewaltsamen Verschwindenlassen gibt es keine Zeugen, keine Verbrecher, alles bleibt im Unklaren. Es gibt nichts, an dem man sich festhalten kann, nicht einmal um die Straftat selbst nachzuweisen. Viele Fälle sind aber inzwischen nachgewiesen, sogar die Regierung spricht von mehr als 50.000 gewaltsam Verschwundenen.

Was das für die Familien heißt, scheint kaum in Worte zu fassen.
Es ist ein erzwungener Verlust, vor allem in den ersten Jahren. Das waren in unserem Fall nur drei, aber viele Angehörige wissen nicht, wohin ihre lieben Menschen gebracht wurden, wo sie geblieben sind. Es ist eine Form von Folter, die über alle Zeiträume präsent bleibt. Im Fall meiner Mutter war ich 13. Mich hat das extrem für das geprägt, was ich mit meinem Leben machen wollte. Ich bin sehr jung der ASFADDES (Organisation Angehöriger von Verschwundenen) beigetreten. Dort begann ich ansatzweise zu verstehen, was sie versucht hatten, uns anzutun. Das Verbrechen des Verschwindenlassens richtet sich nicht ausschließlich gegen die eine Person, sondern gegen ihr gesamtes soziales, familiäres, politisches Umfeld: Es ist wie eine Lektion. Die Leere, die bleibt, ist sehr groß. Mit den Angehörigen muss man sich diesem Schmerz jeden Tag stellen, und versuchen, ihn auf unterschiedliche Weise zu kanalisieren. So komme ich dazu, Erinnerungsarbeit zu machen.

Worin besteht diese Arbeit?
Während meines ersten Exils in Deutschland entwickelte ich die Idee der Erinnerungsarbeit mit Kartographie, um Erinnerungsorte zu konstruieren. Wir wollen die Vergangenheit in die Gegenwart bringen und zwar so, dass man sich nicht nur auf die Straftat bezieht, nicht nur vom Moment aus erzählt, an dem sie sie verschleppt oder ermordet haben. Sondern es geht darum zu fragen: Wer waren diese Menschen als soziale und politische Subjekte? Was waren ihre Kämpfe, ihre Träume? Welche Hoffnungen hatten sie, die Gesellschaft grundlegend zu verändern? In der Erinnerungsarbeit der Stiftung bestehen wir darauf, dass es wichtig ist, die Menschen nicht nur mit dem zu erinnern, was sie zu Opfern machte. Deshalb habe ich angefangen an Nydia zu schreiben als einer Frau, die Soziologie studierte, Gewerkschafterin in einer staatlichen Institution war, die Soziale Arbeit in ärmeren Stadtteilen machte, um ihre Träume zu betonen und nicht nur das Verbrechen. Alles das, was sie mit dem Verschwindenlassen auslöschen wollen.

Wie sieht eine solche Kartographie der Erinnerung aus?
Die Straßen in Bogotá haben Nummern, keine Namen. Mit den Angehörigen geben wir ihnen auf einer Karte die Namen der Verschwundenen. Wie könnte diese Straße heißen? Ich würde es gut finden, wenn diese Straße in dem Viertel, in dem wir mit meiner Familie gewohnt haben, nach Nydia Erika Bautista benannt würde. Bei der ersten Aktion haben wir mit 35 Familien Straßen umbenannt. Wir kamen damit bis zum Stadtrat. Einige Ratsmitglieder nahmen den Vorschlag an, aber der damalige, eher rechtsgerichtete Bürgermeister erlaubte die Umbenennung nicht. Geo­grafisch haben wir versucht, Anspruch auf die Orte zu erheben, mit Bildern oder einem Schild, und das mit Online-Karten zu verbinden. Es geht um zwei Ebenen, darum, sowohl im physischen Raum, als auch in einem virtuellen Raum zu intervenieren, um mit den Angehörigen und der breiteren Gesellschaft Wissen darüber zu schaffen, wo Verbrechen stattgefunden haben, und um Informationen weiterzugeben. Das alles ist mühevoll, aber ein würdiges Leben kann man nicht nur für einen Teil der Gesellschaft schaffen! Wir brauchen Solidarität, um Menschenrechte verteidigen zu können und trotzdem noch würdig zu leben, nicht nur versteckt, verfolgt, abgehört und eingeschüchtert.

Gedicht

Wahrheit?
Was ist das fragen sie hier
und sie antworten dort
Ist der Schatten ohne Nuance von Menschlichkeit
Polyphonie, Chor
wo alle singen auch der, der nicht zu singen weiß
sie ist so tief wie das Meer
so dunkel und transparent
wie die sternbesäte Nacht,
wo einige Punkte sehen
und andere nichts.
Wahrheit ist Tageslicht
nach langer Nacht ohne Gerechtigkeit.
// Chico Baut

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Erik Arellana Bautista
arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation FNEB. Seine Mutter, Nydia Erika Bautista, wurde 1987 gewaltsam verschwunden. Sie studierte an der Nationalen Universität Kolumbien Soziologie und arbeitete im Nationalen Institut für Radio und Fernsehen Inravisión. Etwa Anfang 1985 wurde sie für den politischen Bereich der Bewegung des 19. April (M-19) aktiv. Die Guerilla M-19 gründete sich 1974, nachdem 1970 der konservative Präsident Misael Pastrana offenbar mittels Wahlbetrug an die Macht gelangte. Anfang bis Mitte der 80er Jahre stand der M-19 in Verhandlungen mit der Regierung, die scheiterten. Einer der Mitstreiter, Carlos Pizarro, wurde 1990 nach der Waffenabgabe des M-19 als Präsidentschaftskandidat der Bewegung ermordet. Die Forderungen der Familie Bautista nach Aufklärung führten zunächst zu internationalen Erklärungen der Kommission über gewaltsames Verschwindenlassen der UN und der Organisation Amerikanischer Staaten OAS, die den kolumbianischen Staat verurteilten und anhielten, die Verantwortlichen zu finden. Die kolumbianische Procuraduría (die Institution soll korrektes Verhalten von Staatsbediensteten kontrollieren; Anm. der Red.) entband daraufhin den damaligen General Álvaro Hernán Velandia Hurtado wegen Unterlassung von seiner Funktion: Er sei nicht eingeschritten, obwohl er über das Verschwindenlassen Bescheid wusste, welches die ihm unterstellte Brigade durchführte. 2011 wurde er aus rein formalen Gründen wieder auf seinen Posten gesetzt. Diese Entscheidung im Disziplinarverfahren versucht die Familie anzufechten. Das Strafverfahren wurde wegen neuer Erkenntnisse wieder aufgenommen und ist auf Zeugenaussagen angewiesen.
Als Teil der Organisationen von Angehörigen Verschwundener in Kolumbien (ASFADDES) fordert die Stiftung Nydia Erika Bautista (FNEB) von Regierung und Gesellschaft die Verteidigung von Menschenrechten und die Ausübung politischer Opposition zu schützen, und erhielt dafür 2012 den Französisch-Deutschen Menschenrechtspreis. In der aktuellen Vorwahlphase vor Parlaments- und Präsidentschaftswahlen steigen die Morddrohungen gegen Kandidat_innen der Opposition offenbar an. Zudem wurden militärische Abhörungen derjenigen bekannt, die an den Friedensgesprächen in Havanna teilnehmen.
Weitere Informationen: http://www.nydia-erika-bautista.org/es/fundacion.html

Gefährliche Kriminalisierung

Frau Sibrián, 2012 hat Ihre Organisation gemeinsam mit sieben weiteren Organisationen eine Begriffsbestimmung der Kriminalisierung vorgenommen. Was zählt außer einer illegitimen Verfolgung durch Polizei und Justiz noch zur Kriminalisierung und wer ist davon betroffen?
Grundsätzlich sind diejenigen betroffen, die die Menschenrechte verteidigen und mit der Ausübung ihrer Rechte die Interessen der politisch oder wirtschaftlich Mächtigen bedrohen. Dadurch werden sie Opfer einer Reihe von Aktionen von Seiten der Mächtigen: verbale und physische Aggressionen, öffentliche Stigmatisierung, die Zerstörung ihres Images und ihrer Person, oder eben die Eröffnung juristischer Prozesse.
Wenn wir von kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern sprechen, sprechen wir von Menschenrechtsverteidigern, die man versucht, als Personen, die gegen das Gesetz verstoßen, erscheinen zu lassen. Und in vielen Ländern ist das Gesetz auf die Interessen derjenigen zugeschnitten, die die politische und oftmals auch die wirtschaftliche Kontrolle haben. Daher gibt es Länder, in denen die Gesetze sehr ungerecht und undemokratisch sind, und die Menschenrechtsverteidiger geraten in Widerspruch mit diesen Gesetzen.

Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?
Es gibt das Beispiel des Widerstands von La Puya, ein Minenprojekt 18 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Die meisten, die sich im Widerstand organisiert haben, sind einfache Frauen aus der Gemeinde, Mütter, viele von ihnen aktiv in der Kirche. Sie haben einen tiefen Glauben an Gott und an die Gerechtigkeit. Manchmal kann man sie an der Zufahrt zur Mine stehen sehen und religiöse Lieder singen hören. Das ist sehr bewegend, weil es ein absolut friedlicher Protest ist. Trotzdem werden die sichtbaren Anführer juristisch verfolgt, einschließlich einer Frau, der bereits bei einem Attentat vor einigen Jahren in den Rücken geschossen wurde. Es gibt also diese Kombination von juristischen und nichtstaatlichen Angriffen.
Ein anderer Typ von Kriminalisierung betrifft diejenigen, die für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit in Guatemala eintreten. Es war ein großer Fortschritt in diesem Land, als 2012 das Verfahren gegen den General Efraín Ríos Montt eröffnet wurde. Aber mit dem Prozess begann auch die öffentliche Diskreditierung der indigenen Frauen, die als Zeuginnen in dem Prozess aussagten, und eine Diskreditierung all derjenigen, die Gerechtigkeit verlangten. Der Kern der Argumentation war, dass der Ruf nach Gerechtigkeit zu einer Spaltung des Landes führen würde, während doch in Wirklichkeit die Gerechtigkeit die beste Art sein kann, wie sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen in Bezug auf diese Verbrechen wieder annähern können. Jemand, der keine Gerechtigkeit erfährt, kann sich nicht mit dem anderen an einen Tisch setzen und versuchen, das soziale Gewebe zu reparieren.

Welche Akteur_innen und welche Interessen stehen hinter der Kriminalisierung?
Ich werde ein weiteres Beispiel nennen. Am 10. Mai 2013 wurde ein historisches Urteil gegen den General Efraín Ríos Montt gefällt. Das Urteil betrifft indirekt auch das Militär, da mit dem Urteil explizit die Rolle des Generals und der Armee bei Menschenrechtsverletzungen anerkannt wurde. Zwei Tage nach dem Urteilsspruch organisierte der private Sektor eine Pressekonferenz, auf der die Unternehmer das Verfassungsgericht öffentlich zu einer Korrektur seines Urteils aufforderten. Und eine Woche später entschied das Gericht, den Prozess gegen Ríos Montt zu annullieren. Glücklicherweise traf das Gericht diese Entscheidung nur mit drei zu zwei Stimmen, das heißt, dass zwei Richter erkannten, dass die Entscheidung illegal war. Aber hier wird die starke Allianz zwischen der wirtschaftlichen Macht und der für die schweren Menschenrechtsverletzungen schuldigen, militärischen Macht deutlich.

Auch die Botschaften der EU haben die Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Stimmt es, dass die EU-Botschaft in Guatemala dieser Aufgabe nicht nachkommt?
In der Botschaft der EU in Guatemala arbeitet nur eine Diplomatin, die Botschafterin. Der Rest des Personals kommt aus der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist in Guatemala anders als in anderen EU-Botschaften. Die EU erreicht auf der diplomatischen Ebene nicht die Stärke, etwa um Besuche bei kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern außerhalb der Hauptstadt zu machen. Wenn ich mich nicht irre, haben in den vergangenen zwei Jahren keine Besuche in Gemeinden stattgefunden. Manchmal schicken sie ihr Personal aus der Entwicklungszusammenarbeit, aber dieses hat nicht das gleiche Gewicht, wie wenn die einzige ranghohe Diplomatin, die Botschafterin, die kriminalisierten Gemeinden besuchen- und ein Interesse an ihren Problemen zeigen würde.

Im Jahr 2012 erklärte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Guatemalas Regierung für die im Zusammenhang mit dem international finanzierten Staudammprojekt Chixoy begangenen Massaker von Río Negro Anfang der 80er Jahre für schuldig. Ein im Januar in den USA beschlossenes Gesetz sieht nun die Entschädigung der Betroffenen durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank vor. Ist dies ein Erfolg im Kampf gegen Staudammprojekte?
Das ist vor allem ein Beispiel für Wiedergutmachung. Ein Erfolg wäre, wenn sich solche Verbrechen verhindern ließen. Die Guatemalteken und die internationale Gemeinschaft hätten jetzt die Möglichkeit, aus diesem Fall zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, damit sich solche Fälle nicht wiederholen. Die Gemeinden und die Anwälte, die den Fall Chixoy begleitet haben, haben einen langen Kampf hinter sich. Es war für sie ein großer Triumph, als die Verantwortung des Staates bewiesen und er zur Entschädigung verpflichtet wurde. Vor einigen Jahren sind dieselben Menschenrechtsverteidiger von Chixoy noch kriminalisiert und verfolgt worden. Leider wurde die Verpflichtung zur Entschädigung bislang nicht umgesetzt. Und hier spielen die USA eine sehr wichtige und bewundernswerte Rolle, indem sie dem guatemaltekischen Staat Bedingungen stellen. Sie sagen, dass die militärische Hilfe nicht einfach als Blankoscheck erfolgen kann. Ich denke, dass sich andere europäische Staaten daran ein Beispiel nehmen könnten und den Ländern des amerikanischen Kontinents sagen: Es gibt Menschenrechtsabkommen und wenn ihr die daraus hervorgehenden Verpflichtungen nicht einhaltet, muss es eine Art von Sanktion geben. Politische Sanktionen haben immer weniger Bedeutung. Sanktionen müssen daher wirtschaftlich sein, und sie dürfen nicht nur Staaten betreffen, sondern auch nichtstaatliche Akteure, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.

Infokasten

Anabella Sibrián arbeitet bei der 2001 gegründeten Holländischen Plattform gegen Straffreiheit, Guatemala, einem Projekt mehrerer internationaler Menschenrechtsorganisationen. Sie begleitet die Arbeit guatemaltekischer Menschenrechtsverteidiger_innen und betreibt in der EU Advocacy für die Menschenrechtsverteidigung in Zentralamerika.

Ein Ort der Bewegung

Am 24. März 2004 jährte sich der letzte Militärputsch in Argentinien zum 28. Mal. Zwei Ereignisse markierten diesen Tag: In der Nationalen Militärschule im Westen des Großraums Buenos Aires hängte der damalige Armeechef Roberto Bendini auf Anordnung von Präsident Néstor Kirchner die Porträts zweier Massenmörder ab: Jorge Rafael Videla und Reynaldo Benito Bignone. Beide waren während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) zu verschiedenen Zeiten Leiter der Streitkräfte gewesen. Zeitgleich wurde vor der Mechanikerschule der Marine (ESMA), in der sich eines der wichtigsten geheimen Haftzentren des Landes befunden hatte, eine öffentliche Gedenkfeier abgehalten. In Anwesenheit von Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und vor Tausenden von Zuschauer_innen begingen Néstor Kirchner und der damalige Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, die Rückgabe des Grundstücks an die Stadt. Ziel war es, einen Ort der Erinnerung und der Förderung und Verteidigung der Menschenrechte zu errichten. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Argentiniens war im Kirchnerismus endlich zu einem wichtigen Eckpfeiler der staatlichen Politik geworden.
Jener 24. März vor zehn Jahren stellt einen Schlüsselmoment in der Geschichte des ESMA-Geländes dar. Der Kampf um die Rückgabe des Grundstücks hatte bereits einige Jahre zuvor begonnen. Anfang 1998 hatte der damalige Präsident Carlos Menem ein Dekret unterzeichnet, durch das die Verlegung der ESMA in eine Marinebasis im Süden der Provinz Buenos Aires verfügt wurde. Das historische Gebäude der ESMA sollte abgerissen werden, um einem Denkmal der „nationalen Einheit“ Platz zu machen. Daraufhin setzten sich Menschenrechtsorganisationen gegen den Abriss und für die Errichtung eines Gedenkortes ein. Eine Verfassungsbeschwerde, die zwei Angehörige ehemaliger Gefangener des geheimen Zentrums eingereicht hatten, führte schließlich zum Erfolg. Im Juli desselben Jahres erklärte der Richter Ernesto Marinelli den entsprechenden Artikel des Dekrets für verfassungswidrig. Er berief sich darauf, dass die ESMA zum nationalen kulturellen Erbe gehöre und daher für die zukünftigen Generationen zu erhalten sei. Das Urteil wurde im Jahr 2001 durch den Obersten Gerichtshof unterzeichnet und der frühere Beschluss des Präsidenten verworfen. Einige Jahre später wurde das Offizierskasino, in dem sich das Haftzentrum befunden hatte, zum Nationalen Historischen Denkmal erklärt; das Grundstück und die übrigen Gebäude erlangten den Status eines Nationalen Historischen Orts.
Die Öffnung der Pforten der ESMA im März 2004 für Tausende von Besucher_innen war ein ergreifender Moment für ehemalige Inhaftierte, Widerstandskämpfer_innen, Angehörige und große Teile der Gesellschaft. Und es war ebenso ein politischer Akt, der den Stellenwert der ESMA als Symbol des Kampfes um die Erinnerung besiegelte. Die dunkle Seite der argentinischen Vergangenheit wurde nun beleuchtet. Orte, die bedeutende Schauplätze des repressiven Regimes gewesen waren, wurden zurückerobert, umgedeutet und zu Beweismitteln der Justiz.
Die ESMA war nicht irgendeines der ungefähr 500 geheimen Haftzentren, die in ganz Argentinien existiert hatten. Die Bedeutung der Anlage ergibt sich nicht nur aus der großen Zahl der etwa 5.000 Verhafteten, die hier eingekerkert waren. Von der ESMA gingen auch die „Todesflüge“ aus, auf denen betäubte Gefangene aus Flugzeugen über dem Río de la Plata oder dem Atlantik abgeworfen wurden. Zudem fungierte der Ort als geheime Entbindungsstation, in der den inhaftierten schwangeren Frauen nach der Geburt die Kinder geraubt und an regimetreue Familien zur Adoption weitergegeben wurden. Die meisten der damaligen Inhaftierten sind bis heute „verschwunden“. Es gibt nur einige Überlebende, die von den Menschenrechtsverletzungen berichten können.
Die Eröffnung der ESMA als Gedenkstätte stellte einen Wendepunkt im langen Kampf der Menschenrechtsorganisationen für die Aufarbeitung der Vergangenheit dar. Und zugleich den Beginn einer intensiven Debatte um die konkrete Ausgestaltung des Ortes. Welches Konzept sollte das geplante Museum vertreten? Welchen Namen tragen? Wie viel von dem 17 Hektar großen Gelände und den über dreißig Gebäuden das Museum einnehmen? Wer sollte wann und auf welche Art am Entscheidungsprozess teilhaben dürfen? Die Diskussion dieser Fragen, so komplex wie notwendig, dauert bis heute an.
Die Aufteilung der Räume löste gleich zu Beginn eine der heftigsten Debatten aus. Die Vorstellung, den Ort der Erinnerung mit der Marine zu teilen, war für viele der beteiligten Organisationen nicht akzeptabel. Ab März 2004 wurde das Gelände von einer Kommission der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires verwaltet, die ein öffentliches Vorschlagverfahren für die Einrichtung des Museums einleitete. Zu den wichtigsten Auseinandersetzungen zählte die Frage, welcher historische Zeitraum im Museum Platz finden sollte. Nach der ersten Übergabe des Grundstücks an die Stadt im März 2004 dauerte es drei Jahre, bis die Marine es vollständig verließ. Seither liegt die Verwaltung des Grundstücks in den Händen der nationalen öffentlichen Körperschaft „Ort der Erinnerung und der Förderung der Menschenrechte“, die sich aus Repräsentant_innen der argentinischen Regierung, der Stadt Buenos Aires und der Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt. Jede von ihnen ist durch eine Person im Vorstand der Einrichtung vertreten.
Im Lauf der vergangenen zehn Jahre füllte sich das Gelände nach und nach. Heute haben hier zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ihren Sitz, darunter die verschiedenen Organisationen der Mütter der Plaza de Mayo sowie die Großmütter der Plaza de Mayo und H.I.J.O.S., die Organisation der Kinder der gewaltsam Verschwundenen. Auch andere zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen für Menschenrechte und Erinnerungskultur finden ihren Platz. Im Jahr 2013 nahmen an den vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsveranstaltungen auf dem Gelände 150.000 Menschen teil. Auch die Anzahl der Besuche am historischen Ort, dem ehemaligen Offizierskasino, das schon eröffnet wurde, als die Marine das Gelände noch nicht vollständig verlassen hatte, hat stetig zugenommen. Im Jahr 2006 kamen 1.300 Besucher_innen, 2009 knapp 8.000 und 2013 über 24.000. Derzeit wird von der Verwaltung ein neues Ausstellungskonzept erarbeitet, das in den kommenden Monaten umgesetzt werden soll.
Der zehnjährige Prozess der Umwidmung der ESMA in einen Ort der Erinnerung und Menschenrechte war von zahlreichen Spannungen geprägt. Judith Said, Leiterin des Archivo Nacional de la Memoria (Nationales Archiv für das Gedenken) erzählt von der schwierigen Frage, wie der Horror dargestellt, wie von dem Leiden der Opfer, die in dem Gefängnis des Offizierskasinos Qualen und menschlicher Demütigung ausgeliefert waren, erzählt werden kann. „Wie können wir als Zeitzeugen diesen Ort schaffen? Wir, die wir als Großmütter, Mütter, Kinder, Angehörige und Aktivisten ebenso wie die gesamte Gesellschaft unter den Folgen des Staatsterrorismus und unter den langen Jahren der Straflosigkeit zu leiden hatten?“ Wie auch an anderen symbolischen Orten der Brutalität der Macht bestehe die pädagogische Aufgabe der ESMA im Aufzeigen und in der Anklage des Staatsterrorismus sowie in der Verteidigung des Rechtsstaats, fügt Said hinzu. Aus all diesen Gründen sei die Herstellung des Gedenkens kein friedlicher Prozess: „Es gibt einen Kampf um die Erinnerung, da es noch einen anderen Diskurs gibt – den jener Kreise, die den Putsch unterstützt haben“.
Für Eduardo Jozami, den Leiter des Kulturzentrums für die Erinnerung Haroldo Conti, hat das ESMA-Gelände nach einem langsamen Prozess der Schaffung neuer Einrichtungen heute sehr viel an Dynamik gewonnen, ersichtlich nicht nur an dem deutlichen Anstieg der Besucher_innenzahlen, sondern auch an der Entstehung vielfältiger Initiativen. „Für uns ist der plurale Dialog zwischen Kultur und Erinnerung eine produktive Grundlage für die Schaffung eines ästhetisch-politischen Konsenses“, so Jozami. Dieser mache es möglich, weitergehende Interventionen auf dem Gelände anzugehen. Auch Judith Said glaubt, dass die Gebäude der ESMA nun einen Eindruck vermitteln, was durch den Staatsterror ausgelöst wurde: „Die Opfer werden nun gewürdigt, ebenso wie ihre Kämpfe und deren Gründe. Und zwar durch verschiedene kulturelle Mittel, die uns in unserer Identität stützen“.
Trotz der in den vergangenen zehn Jahren erreichten großen Fortschritte bleibt es für Jazomi eine Herausforderung, „den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit aus den Händen des entschädigenden Staates hin zu einem darüber hinaus auch symbolischen Ort zu überführen.“ Nach einem Jahrzehnt und weit davon entfernt, ein Ort der verdinglichten Erinnerungen zu sein, bleibt die frühere ESMA also ein Ort der andauernden Bewegung und Umwidmung.

Hürden auf dem Weg aus der Gewalt

Nichtregierungsorganisationen aus 14 Ländern der Amerikas haben Gruppenbefragungen von Geflüchteten und Interviews mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft durchgeführt, um herauszufinden, wie es um die Verwirklichung der Vereinbarungen steht, die mit der Erklärung von Cartagena 1984 getroffen wurden. Ab März dieses Jahres wird der Bericht Iniciativa Cartagena +30 („Initiative Cartagena +30”) im Internet zugänglich sein. Mit ihren Empfehlungen wollen die beteiligten Organisationen Einfluss auf die für Dezember geplante lateinamerikanische Ministerkonferenz in Brasilia nehmen, auf der ein flüchtlingspolitischer Aktionsplan verabschiedet werden soll.
Die „Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge“ wurde vor dem Hintergrund des staatlichen und paramilitärischen Terrors in verschiedenen zentralamerikanischen Staaten Anfang der 1980er Jahre verabschiedet, als mehrere Millionen Menschen über die Grenzen ihrer Heimatländer vertrieben wurden. Die in ihr enthaltene Flüchtlingsdefinition geht über jene der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus. Sie umfasst all jene Menschen, die sich zur Flucht veranlasst sehen „weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“. Die zehn lateinamerikanischen Erstunterzeichnerstaaten bekannten sich zum Verbot, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen und dazu, sie in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Sicherheit zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu zeugen die aktuellen Befragungsergebnisse der Nichtregierungsorganisationen nun davon, wie weit Diskriminierungen gegen Flüchtlinge verbreitet sind. Vielfach werden sie mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Xenophobe Vorurteile in Gesellschaft und Medien verbinden sich mit staatlichen Sicherheitsdiskursen. So wird in vielen Staaten des Kontinents der Zugang zum Asylverfahren durch die zunehmende Orientierung der Migrationspolitik an Fragen der nationalen Sicherheit erschwert. Das hat zur Folge, dass an den Grenzen immer wieder Menschen zurückgewiesen werden, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz hätten. Angesichts dieser Fokussierung auf Sicherheitsfragen ruft Pablo Asa vom argentinischen Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) die Zivilgesellschaft dazu auf, ein Gegengewicht zu setzen, „damit das Thema der Rechte nicht auf der Strecke bleibt”.
Im Kontext der „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist auch die Praxis verbreitet, Migrant_innen und Asylsuchende zu inhaftieren. In Mexiko werden Asylsuchende häufig für den Zeitraum des Verfahrens ihrer Freiheit beraubt. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge den Prozess vorzeitig verlassen und darauf verzichten, von Rechtsmitteln gegen ihre Ablehnung Gebrauch zu machen. Gisele Bonnici und Elba Coria von der International Detention Coalition (Internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte inhaftierter Flüchtlinge, Asylsuchender und Migrant_innen einsetzen; Anm. der Red.) erklären deshalb: „Bei der Inhaftierung von Migrierenden handelt es sich um eine Maßnahme, die dazu dient, den Mangel an effektiven Werkzeugen zur Aufnahme seitens der Staaten aufzufangen”.
Allein den Zugang zum Asylverfahren erschweren einige Staaten durch kurze Antragsfristen, so zum Beispiel Ecuador (15 Tage) und Mexiko (30 Tage). Angesichts fehlender Informationen über das Verfahren und seine Fristen droht der betroffenen Person deshalb die Inhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung der Risiken. Alejandra Macías von der mexikanischen Organisation Sin Fronteras („Ohne Grenzen“) beschreibt die Situation: „Häufig wissen die Menschen, die in Mexiko ankommen, nicht, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen, und wenn sie davon erfahren, sind die 30 Tage meist schon abgelaufen und sie haben keinen Zugang mehr zum Verfahren”. In Panama wird der größte Teil der Antragsteller_innen aufgrund einer restriktiven Vorstufe der Zulässigkeitsprüfung gar nicht erst zum Asylverfahren zugelassen.
Die beiden Regionen, aus denen gegenwärtig die meisten Menschen vertrieben werden, sind Kolumbien und Zentralamerika. In Zentralamerika – insbesondere im ‚Norddreieck’ Honduras, Guatemala und El Salvador – ist es die zunehmende politische und gesellschaftliche Gewalt, die Menschen zur Flucht über internationale Grenzen drängt. In Honduras ist seit dem Staatsstreich 2009 die soziale Ungleichheit massiv angewachsen, das Land verfügt über die mit Abstand höchste Mordrate weltweit. In El Salvador und Guatemala finden Vertreibung und Gewalt, vor allem gegen bäuerliche und indigene Aktivist_innen, auch im Zuge von Konflikten um extraktive Industrie- und Megaprojekte, wie zum Beispiel Staudämme, statt. Die drei Staaten weisen auch die höchste Rate an Feminiziden, also geschlechtsbasierten Morden an Frauen, auf dem Kontinent auf.
So verzeichnet Mexiko seit einigen Jahren steigende Zahlen an Asylanträgen von Zentralamerikaner_innen. Jedoch hat die im Zuge des „Drogenkriegs” entfachte Gewalt seit 2006 in Mexiko mindestens 70.000 Menschen das Leben gekostet. Aufgrund der verbreiteten Korruption und Straflosigkeit können kriminelle Gruppen weitgehend risikolos Migrant_innen entführen, misshandeln und erpressen. Menschenrechtsverteidiger_innen, vor allem in den Herbergen entlang der Transitmigrationsrouten (siehe LN 475), werden bedroht.
In Kolumbien dauert der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt an. Neben weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppen haben sich in den letzten Jahren andere bewaffnete Akteure ausgebreitet, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Zwar wurden im Rahmen der Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung erste Ergebnisse erzielt. Dies hat jedoch nicht zum Ende der Kampfhandlungen und der gewaltsamen Vertreibungen von Menschen geführt. Es ist unklar, inwieweit die Verhandlungen in Havanna überhaupt dazu beitragen werden, die Gewalt und die damit einhergehende Instabilität und Verletzlichkeit zu verringern, die Menschen zur Flucht innerhalb Kolumbiens oder über eine internationale Grenze, vor allem nach Ecuador, treiben.
Zusätzlich ist in den letzten Jahren auch die Zahl an Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afrika und Asien in Lateinamerika gestiegen, teilweise als Reaktion auf die restriktive Migrationspolitik in Europa und Nordamerika. Nach einer Studie der Migrationsforscherin Luisa Feline Freier sind zum Beispiel viele Menschen aus dem Senegal nach Argentinien oder aus Pakistan nach Ecuador gekommen, um dort zu leben. Wie der Bericht der Cartagena-Initiative zeigt, stoßen Flüchtlinge aber auch in lateinamerikanischen Ländern auf eine restriktive Haltung. Und nicht nur was das Asylverfahren angeht.
Ein weiteres Problem, das vielen befragten Organisationen und Geflüchteten Sorge bereitet, ist die Frage der Dokumente, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ausgestellt werden. So erweist sich zum Beispiel der Flüchtlingspass als mangelhaft, wenn es darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Kredit zu beantragen. Ein Flüchtling erzählt im Rahmen des Fokusgruppeninterviews in Venezuela: „Du musst meistens einen Venezolaner bitten, den Scheck auf seinen Namen ausstellen zu lassen, um ihn einlösen zu können, und für den Gefallen dann einen Anteil zahlen”. In Ecuador wurden Geflüchtete jahrelang in Einrichtungen des Sozial- und Bildungssystem abgewiesen, weil die Ziffernanzahl des Flüchtlingsdokuments nicht mit deren Computersystemen kompatibel war.
Auch bei der Arbeitssuche kommt es immer wieder zu Diskriminierungen, sei es aufgrund der Unkenntnis von Behördenmitarbeiter_innen und Arbeitgeber_innen über die Bedeutung des Flüchtlingsdokuments oder aufgrund von Fremdenfeindlichkeit. Im Gruppeninterview in Costa Rica erzählt ein Asylsuchender: „Obwohl wir eine Arbeitserlaubnis haben, verlangen sie die Aufenthaltspapiere. Die Leute erkennen das Dokument für Asylsuchende nicht als Arbeitserlaubnis an.” Noch prekärer ist die Situation, wenn Asylsuchende – wie in Guatemala, Panama, Mexiko oder der Dominikanischen Republik – rechtlich nicht arbeiten dürfen. Sie sind auf die Unterstützung sozialer Netzwerke oder informelle Arbeit angewiesen und damit in besonderem Maße von extremer Ausbeutung, Lohnbetrug und Übergriffen bedroht.
Was die ausgestellten Dokumente angeht, sticht Uruguay als positives Beispiel heraus: Flüchtlinge und Asylsuchende bekommen die gleichen Identitätsdokumente ausgestellt wie uruguayische Staatsbürger_innen. Damit wird Diskriminierungen beim Zugang zu Ressourcen unterschiedlicher Art entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu fördert Belizes explizit homophobe Gesetzgebung die institutionelle Diskriminierung, indem sie sexuelle Beziehungen unter Männern mit einer Gefängnisstrafe belegt und homosexuellen Ausländer_innen die Einreise verbietet. Insgesamt sind von gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung besonders diejenigen Geflüchteten betroffen, die zusätzlich wegen ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung, aus rassistischen oder anderen Gründen benachteiligt werden.
In der Dominikanischen Republik wurden 2010 per Entscheid des Verfassungsgerichts Tausende Nachkommen von Haitianer_innen, die zwischen 1929 und 2007 ins Land gekommen waren, zu Staatenlosen gemacht (siehe LN 474). Der massenhafte Entzug der Staatsangehörigkeit ist der bisherige Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierungen von Menschen aus Haiti in der Dominikanischen Republik. Ein Verbund von dominikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft beklagt: „Die Ausweisungen und Massenabschiebungen von haitianischen Migrant_innen und ihren Angehörigen sind weiterhin die zentrale Achse der Anwendung der Migrationspolitik des dominikanischen Staates”.

Würde statt Rendite

Die Pressefreiheit galt den argentinischen Massenmedien nicht immer als hehres Gut. Zu Folter, Vernichtungszentren oder den Raub von Kindern während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) schwiegen Presse, Radio und Fernsehen gezielt. Die damalige Gesellschaft wollte nicht sehen, was vor sich ging. Somit vernachlässigten die Medien ihr wesentliches Prinzip: zu informieren.
Nach langjährigen Aufschüben und Diskussionen hat der Oberste Gerichtshof im Oktober 2013 das im Jahr 2009 vom Parlament erlassene Gesetz über Dienstleistungen in der Audiovisuellen Kommunikation für verfassungsmäßig erklärt. Die alte Regelung stammte noch aus den Zeiten der Militärdiktatur. Das neue Mediengesetz soll zur Dezentralisierung und Regulierung der Medien beitragen, einem stark konzentrierten Markt, der eine große kulturelle, soziale und politische Wirkung hat. Das nach langen öffentlichen Sitzungen vom Parlament verabschiedete Gesetz wurde vier Jahre lang aufgrund verschiedener einstweiliger Verfügungen blockiert. Diese Maßnahmen gingen vor allem vom Unternehmen Clarín aus, dem größten Multimediakonzern des Landes. Unter anderem wird Clarín durch das neue Gesetz dazu gezwungen, sich von zahlreichen Radio- und Fernsehlizenzen zu trennen. Denn ein Unternehmer darf zukünftig statt 24 nur noch zehn Radio- und Fernsehkanäle betreiben und in einer Region nicht gleichzeitig über Kabel und Antenne senden. Die Frequenzen im Rundfunk- und Fernsehspektrum sollen prinzipiell zu einem Drittel auf private, staatliche oder gemeinnützige Akteure aufgeteilt werden. Nicht betroffen ist die gleichnamige Zeitung, die das Unternehmen Clarín herausgibt. Seit mehreren Jahren zählt Clarín zu einem der Hauptgegner der Kirchner-Regierungen.
Die Debatte wirft ein Schlaglicht auf die Rolle der Medien während der Diktatur und kann nicht von der Diskussion über die gegenwärtige Rolle der Medien getrennt werden. Während der Diktatur waren die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo die einzigen, die über die Verschwundenen, die Todesflüge und die dabei lebendig ins Meer geworfenen Opfer informiert haben. Die Medien bezeichneten sie dafür schlicht als „alte verrückte“ Frauen.
Das Mediengesetz ist das Ergebnis eines demokratischen Dialoges, an dem verschiedene soziale Sektoren teilgenommen haben und der von Organisationen für Menschenrechte unterstützt wird. Es soll dazu beitragen, dass die gesellschaftlichen Debatten mehr geöffnet und zuvor nicht gehörte Stimmen verstärkt wahrgenommen werden. Stimmen indigener Gruppen, mittelloser Frauen, junger Menschen, diskriminierter Sektoren. Also jene, die im Allgemeinen nicht zur Veranstaltungsindustrie dazugehören oder nicht den „Marktparametern“ entsprechen. Dahinter steht die Überlegung, öffentliche Kommunikation nicht mehr als einen „Markt“ für die Verteidigung von Interessen zu betrachten, sondern als Recht der Personen, ihre Meinung frei zu äußern. Letzteres ist von größerem gesellschaftlichen Interesse als die Rentabilität oder der Gewinn von Medienunternehmen.
Das argentinische Gesetz sollte allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Es ist Teil eines Prozesses politischer, sozialer und kultureller Integration, der sich in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entwickelt hat. Das Mediengesetz folgt ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern wie beispielsweise dem in Ecuador, das unter anderem verhindern soll, dass Banken eigene Medien besitzen.
Die Situation in Argentinien stellt also keine Ausnahme dar. Die Medienkonzentration in Lateinamerika ist sehr hoch. Dies zeigen auch die Fälle von Televisa in Mexiko oder O Globo in Brasilien, deren einflussreiche Stellung auf die Diktaturen in diesen Ländern zurückzuführen ist. In der Debatte geht es darum, genau das erfahren und sehen zu können, was zuvor nicht sichtbar war. Es geht darum, den bedauerlicherweise berühmt geordenen Satz „Ich habe nichts gewusst“, der Argentinien während der Diktatur stark geprägt hat, durch den Satz „Ich weiß“ zu ersetzen. Das „Misch dich nicht ein“ der Diktatur soll sich in eine aktive Teilnahme in der Demokratie verwandeln.
Eine der großen Herausforderungen unserer Demokratie besteht darin, die Bedeutung und den Sinn dessen zu bestimmen, was wir unter Meinungsfreiheit verstehen. Das neue Mediengesetz betrachtet die Kommunikation als ein soziales Gut des öffentlichen Interesses. Die freie Meinungsäußerung ist wesentlich für die argentinische Demokratie, in der allmählich Identitäten anerkannt werden, die früher entweder nicht respektiert oder verfolgt wurden. Hier liegt der politische Kern der Debatte in Argentinien – im Unterschied zwischen der Verteidigung der Interessen und der Verteidigung der Rechte. Dem Unterschied zwischen der Rendite der Medienunternehmen, die Informationen verwalten und verkaufen und der Würde der Menschen, ihre Meinung frei äußern zu können.

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