TOTE FÜR TURBINEN

Nach den Morden an Berta Cáceres und Nelson Garcia sowie weltweiten Protesten gegen die Gewalt in Honduras (siehe LN-Artikel auf Seite 36), sahen die europäischen Finanziers endlich Handlungsbedarf. Die Entwicklungsbanken FMO aus den Niederlanden und FinnFund aus Finnland, die das umstrittene Agua-Zarca-Staudammprojekt mitfinanzieren, gaben am 16. März bekannt, dass sie sämtliche Geschäfte in Honduras stoppen und alle laufenden Zahlungen suspendieren würden. Die Zentralamerikanische Bank für Wirtschaftliche Integration (CABEI), die das Agua-Zarca-Projekt mitfinanziert, schloss sich dieser Entscheidung der beiden europäischen Finanzinstute am 1. April an. Die Verantwortlichen der drei Entwicklungsbanken kündigten an, sich gemeinsam vor Ort ein Bild von der Lage zu machen, bevor sie über die weitere Finanzierung entscheiden.
Das deutsche Konsortium Voith Hydro distanzierte sich vorerst nur von der Gewalt in Honduras, hat aber weitere Untersuchungen angekündigt. Die brasilianische Niederlassung der Firma will drei Turbinen mit jeweils 7,52 MW Leistung, Generatoren und die Steuerungsanlagen an das geplante Wasserkraftwerk liefern. Voith Hydro gehört zu 65 Prozent dem Familienunternehmen Voith GmbH und zu 35 Prozent der Siemens AG.
In Pressemitteilungen erklärten Vertreter*innen der drei Banken und von Voith und Siemens, dass sie sich nicht in der Verantwortung für die Gewalt in Honduras sehen. Dass die europäischen Finanzinstitutionen und Unternehmen jegliche Mitverantwortung für den Mord an Berta Cáceres bestreiten, ist bestenfalls naiv. Schließlich gab es schon lange Morddrohungen. Dass die Menschenrechts- und Umweltaktivistin wegen ihres Kampfes gegen das Staudammprojekt Agua Zarca umgebracht wurde, wird kaum bezweifelt, auch wenn das Verbrechen noch nicht aufgeklärt ist. Als Koordinatorin von COPINH war sie eine der exponiertesten Aktivist*innen in der Protestbewegung gegen das geplante Wasserkraftwerk. Sie und andere Mitglieder von COPINH erhielten Morddrohungen, in denen sie aufgefordert wurden, die Proteste gegen Agua Zarca einzustellen.
Das Staudammprojekt Agua Zarca am Fluss Gualcarque in Honduras soll auf dem historischen Territorium der indigenen Lenca in der Region Rio Blanco (Departements Intibucá und Santa Barbara) realisiert werden. Wenn das Wasserkraftwerk gebaut würde, wären die Lenca ihrer Lebensgrundlage beraubt und massive Umweltschäden zu erwarten. Die dort lebende Bevölkerung wurde niemals nach ihrer Zustimmung zu dem Projekt gefragt, wie es die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verlangt, die 1995 von Honduras ratifiziert wurde. Im Gegenteil: Seit das Projekt 2011 bekannt wurde gab es friedliche Proteste der Lenca gegen das Staudammprojekt, die immer wieder zum Ziel gewalttätiger Repressionen durch staatliche Institutionen und private Sicherheitsfirmen wurden. Nachweisbar wurden Unterschriften von Staudammgegner*innen gefälscht, um deren angebliche Zustimmung zum Projekt zu belegen.
Derartige kriminelle Machenschaften gehen direkt oder indirekt auf die honduranische Firma Desarrollo Energético S.A. de C.V. (DESA) zurück, die das Staudammprojekt realisieren will. Agua Zarca ist ein Modell für 47 weitere Projekte: Wird das Wasserkraftwerk realisiert, könnten noch zahlreiche andere Flussläufe in Honduras verbaut werden. Diese Staudammprojekte sind ein Teil wesentlich weitreichender Pläne zur Umgestaltung weiter Landstriche in Honduras, in denen die indigenen Lenca und Garifuna kollektive Landrechte besitzen. Die Staudämme sollen Infrastruktur und Energie für Bergbauunternehmen und große Hotelanlagen bereitstellen. Die einkommensschwache Landbevölkerung würde durch solche Entwicklungspläne weiter an den Rand gedrängt und von ihrem Land vertrieben werden.
Die Betreibergesellschaft DESA gehört zum Netzwerk des Atala-Klans, einer der zehn Familien, die praktisch alle Unternehmen und Medien in Honduras kontrollieren. Jose Eduardo Atala Zeblah hat das Grundkapital für das Unternehmen beigesteuert und sitzt zusammen mit zwei seiner Brüder im Aufsichtsrat. Das Energieunternehmen ist dafür bekannt Sicherheitskräfte einzusetzen, die brutal gegen Staudammgegner*innen vorgehen. Über ihre Netzwerke besitzt die Firma gute Verbindungen in die Politik und die Justiz. Anzeigen, die die COPINH gegen die DESA oder das Staudammprojekt eingereicht hatte, verschleppte die Justiz. Polizei und Armee schauten bei der Repression durch das Sicherheitspersonal systematisch weg oder beteiligten sich sogar daran. Praktisch genießt die DESA Straffreiheit in Honduras.
Europäische Unternehmen und Finanzinstitutionen sind letztlich Komplizen dieser verbrecherischen Praktiken der DESA, wenn sie mit dem Unternehmen Geschäfte machen. Da die europäischen Partner von dem Staudammprojekt profitieren, tragen sie eine Mitverantwortung für Menschenrechtsverstöße und Umweltverbrechen, die im Kontext des Projekts begangen werden. Dass die Unternehmen sich nun von der Gewalt in Honduras distanzieren und erste Untersuchungen ankündigen, wirkt verlogen. Schließlich werden die Unternehmen bereits seit Jahren auf die Repression im Kontext des Agua-Zarca-Projektes hingewiesen.
Seit 2013 machen Nichtregierungsorganisationen die Verantwortlichen von Voith Hydro auf die Verbrechen aufmerksam, die im Kontext von Agua Zarca begangen werden. Auf den Hauptversammlungen der Siemens AG wurde der Vorstand immer wieder vom Dachverband der Kritischen Aktionär*innen über die Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung im Zuge des Agua-Zarca-Projektes informiert. Den Verantwortlichen beider Firmen wurde 2015 ein entsprechendes Dossier vorgelegt.
Zuletzt am 26. Januar diesen Jahres, also wenige Tage vor dem Mord an Berta Cáceres, wies Andrea Lammers vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit in einer Rede auf der Hauptversammlung von Siemens auf die Bedrohung der Aktivist*innen hin, die gegen Agua Zarca demonstrieren. In der Rede hieß es: „Siemens weiß, dass seit Oktober 2015 eine Todesliste lokaler Auftragskiller gegen mehr als 20 Staudammgegner und -gegnerinnen im Umlauf ist.“ Doch Siemens und Voith ignorierten bislang diese Hinweise. Offenbar waren ihnen die Gewinne aus dem Turbinenverkauf wichtiger.
Ein Bündnis internationaler Nichtregierungsorganisationen forderte deshalb am 18. März erneut in einem offenen Brief an die Vorstände der Voith GmbH und der Siemens AG, dass Voith Hydro keine Turbinen an das geplante Wasserkraftwerk liefern soll. In der Antwort vom 29. März auf den offenen Brief erklärte der Vorstandschef von Voith Hydro, Uwe Wenhard, dass das Unternehmen die Morde an Cáceres und García verurteile und sein Engagement bei Agua Zarcas „auf den Prüfstand stelle“. Das Unternehmen stehe dabei unter anderem in Kontakt mit der Betreibergesellschaft DESA. Das bedeutet, dass Voith Hydro seine Entscheidung für oder gegen eine weitere Beteiligung an Agua Zarca von Informationen abhängig macht, die von denen geliefert werden, die an der Repression gegen COPINH maßgeblich beteiligt sind.
Ähnlich ist die Lage bei den Entwicklungsbanken FMO und FinnFund. Auch hier haben internationale NRO gemeinsam mit Vertreter*innen von COPINH die Geschäftsführungen der Banken immer wieder auf die Folgen von Agua Zarca hingewiesen. Da die Entwicklungsbanken der DESA direkt Kredite zum Bau von Agua Zarca gaben, sahen sie offenbar schneller die Notwendigkeit zu handeln und stoppten vorläufig alle Zahlungen in das Land. Nun sollen alle Projekte der Banken in Honduras erneut untersucht werden.
Auch wenn dieser Schritt zunächst zu begrüßen ist, bedeutet das nicht das Ende von Agua Zarca. Johan Frijns von der niederländischen NRO Banktrack befürchtet, dass die Entwicklungsbank FMO die angekündigte Untersuchung aller Kredite in Honduras dazu nutzen will, die momentane mediale Aufmerksamkeit für Agua Zarca abzulenken. Wenn sich dann die Welt nicht mehr für Berta Cáceres und COPINH interessiert, könnte die Bank das Vorhaben einfach weiter finanzieren. Ohne weiteren öffentlichen und internationalen Druck wird der Bau von Agua Zarca wohl weiterlaufen.

Steilvorlage für Maduro

Es klingt so martialisch wie paranoid: Anfang März stellte Barack Obama in einem offiziellen Dekret besorgt fest, dass „die Situation Venezuelas eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA“ darstelle. Als hätte die venezolanische Luftwaffe gerade die ersten Angriffe auf das Weiße Haus gestartet, rief der US-Präsident „einen nationalen Notstand“ aus, „um mit dieser Bedrohung umgehen“ zu können. Doch weder hat sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro zum antiimperialistischen Erstschlag ausgeholt, noch Obama die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Vielmehr werfen die USA Maduros Regierung vor, Menschenrechte zu verletzen und oppositionelle Kritiker*innen gewaltsam zu verfolgen. In Caracas wurde die wenig schmeichelhafte Einstufung als Affront wahrgenommen. Maduro wirft der US-Regierung – angesichts der langen Tradition US-amerikanischer Einmischung in Lateinamerika nicht unbegründet – vor, die Opposition zu unterstützen, um ihn stürzen zu können (siehe Artikel S. 34).

Oberflächlich betrachtet hat die Obama-Administration zunächst „nur“ ihren Job gemacht. Bereits Ende letzten Jahres hatte der Kongress Sanktionen gegen ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Venezuelas beschlossen. Um die Sanktionen rechtskonform umzusetzen, muss Obama aber erst eine Bedrohung der nationalen Sicherheit feststellen. Verständlicherweise löste diese Formulierung nicht nur auf diplomatischem Parkett Unverständnis aus, auch wenn das Weiße Haus beteuert, „missverstanden“ worden zu sein.

Obamas verbale Attacke kam dem innenpolitisch angeschlagenen venezolanischen Präsidenten ziemlich gelegen. Sie lieferte ihm eine unverhoffte Steilvorlage, um von den eigenen Problemen ablenken und seine Bündnispartner*innen hinter sich gegen die „imperialistische Aggression“ aus dem Norden versammeln zu können. Neben der üblichen Rhetorik auf schnell organisierten Demonstrationen und einer Twitter- und Unterschriftenkampagne gegen die Sanktionen wandte sich Maduro in einem offenen Brief auch an die US-amerikanische Öffentlichkeit. In der New York Times klärte er in einer Anzeige darüber auf, dass Venezuela „in zwei Jahrhunderten Unabhängigkeit nie eine andere Nation angegriffen“ habe und auch weiterhin friedlich und ohne Massenvernichtungswaffen (sic!) auskommen möchte.

Was auch immer Obama genau mit seinen Drohungen erreichen wollte, bewirkt haben sie vor allem eins: Lateinamerika und die Karibik stehen nun geschlossener denn je hinter Maduro. Umgehend bekräftigen die Castro-Brüder auf Kuba ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit der Regierung in Caracas. Dilma Rousseff, Daniel Ortega und Evo Morales folgten gerne Maduros Aufruf, ihm den Rücken zu stärken und Obamas Dekret in einer gemeinsamen Reaktion zu verurteilen. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen der links regierten Länder des ALBA-Bündnisses reagierten pikiert auf die semantische Schärfe Washingtons. Von der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), über die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), bis hin zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierten alle regionalen Bündnisse das Vorgehen der US-Regierung.

Die regionale Integration Lateinamerikas hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den USA hervorgebracht. Das zeigt sich nicht nur an Worten: Kuba nimmt im April zum ersten Mal seit 1962 an einem OAS-Gipfel teil – auf Einladung des Gastgebers Panama und auf ausdücklichen Wunsch der Lateinamerikaner*innen. Alle diplomatischen Versuche der USA vergangenen Herbst, diese Aufwertung der sozialistischen Karibikin-sel abzuwenden, schlugen fehl. Amerika verändert sich.

Medienmärchen Nisman

Eine schweigende Masse für Wahrheit und Gerechtigkeit. Es sind hunderttausende empörte Bürger*innen, die „die Gewalt satt haben“ und am 18. Februar protestierend durch Buenos Aires ziehen, um dem verstorbenen Staatsanwalt Alberto Nisman eine letzte Ehre zu erweisen. Sie fordern die Aufklärung seines zweifelhaften Ablebens und „Gerechtigkeit für einen armen Mann, der sein Leben der Wahrheit geopfert hat“. All dies klingt, als müsste man sich direkt in den Schweigemarsch einreihen – wer ist nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit? Eine Regierung, die im Verdacht steht, ihre eigenen Staatsanwält*innen zu ermorden: Wem wird nicht unheimlich bei diesem Gedanken?

Genau dieses Bild beschreibt und bezeugt die deutsche Berichterstattung zu Nisman. Wie so oft wird darin unkritisch die Erzählung der großen Medienmonopole in Lateinamerika übernommen und somit ein verzerrtes Bild der politischen Lage vermittelt. Denn zur Demonstration hat die rechte Opposition aufgerufen.
Tatsächlich haben wir es mit venezolanischen Verhältnissen zu tun: Eine Propagandafeldzug, angeführt von einer Gruppe aus Industriellen, rechten Politiker*innen, Großkapital und Medienmacht, die eine progressive Regierung unter Berufung auf Menschenrechtsverletzungen angreift. Dabei beanspruchen sie die Werte sozialer Bewegungen, während sich ihre Macht und ihr Reichtum gerade auf den Gegensätzen zu diesen Werten begründet. Es entsteht ein absurder, fast ironischer Diskurs, verkauft und propagiert von den großen Medienkonzernen in Lateinamerika. Die Demonstration im Februar erinnert an vergleichbare Szenarien der Geschichte, von den Kochtopfdemonstrationen der wohlgenährten Oberschicht in Chile Anfang der 1970er-Jahre bis hin zu den, in deutschen Medien als „soziale Proteste“ dargestellten, gewaltsamen Demonstrationen des antichavistischen Fanatismus in Venezuela 2014.

Der konkrete Fall Nisman wird von der rechten Opposition instrumentalisiert, nicht nur um die aktuelle Regierung zu torpedieren, sondern vor allem um deren potenzielles Erbe zu diskreditieren. Opposition und Medien destabilisieren den eingeleiteten Demokratisierungsprozess, indem seine Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit verdreht, entfremdet und verhöhnt werden. Indes gibt es sehr wohl viele Dinge an der Regierung Kirchner zu kritisieren: das Versäumnis Justiz- und Sicherheitssystem strukturell zu reformieren, die Kriminalisierung sozialer Bewegungen, die Staats- und Polizeigewalt in Argentinien und die damit einhergehende, zum Himmel schreiende Straflosigkeit.
Aber diese Straflosigkeit betrifft nicht die demonstrierenden Menschen aus der Ober- und Mittelschicht der Metropolen, sondern vor allem Familien aus den Armenvierteln. Keine*r derjenigen, die zum Schweigemarsch aufgerufen haben und sich Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, geht auf die Straße, wenn tagtäglich Menschen aus den Armenvierteln entführt, erschossen, ohne Anklage weggesperrt oder in Gefängnissen gefoltert werden. Nismans Kolleg*innen, die die institutionelle Kriminalisierung sozialer Proteste und die systematische Straflosigkeit garantieren, skandieren jetzt: „Schluss mit der Straflosigkeit!“. Daher verkommt der Protest des 18. Februars zu einer Farce. Die Figur Nisman in ein Flaggschiff der Demokratie verwandeln zu wollen, ist – so bedauerlich sein Fall auch sein mag – im besten Fall unglaubwürdig.

Die berechtigte Kritik an den lateinamerikanischen Linksregierungen müsste von anderer Seite kommen und davon sprechen, dass trotz progressiver Diskurse weiterhin Menschenrechte verletzt und tiefgreifende Veränderungen nicht nachhaltig und vehement genug vorangetrieben werden. Die Kritik aus den Reihen der Mächtigen, die ihre partikularen ökonomischen Interessen beeinflusst oder gefährdet sehen und sich dabei auf die Einhaltung der Menschenrechte berufen, ist nicht nur scheinheilig, sondern zynisch und wird aktiv von den Medienmonopolen unterstützt. Für die Medien hier sollte es eine selbstverständliche Verantwortung sein, diese einseitige Meinungsmache zu hinterfragen, anstatt sie blind zu reproduzieren.

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

Von der Regierung vergessen

Wie hat die Arbeit der Kommission „Leben, Gerechtigkeit und Frieden“ angefangen?
Janer Jesús Castillo Valdez: Die Arbeit der Kommission begann in den 90er Jahren unter Leitung der Schwester Yolanda Cerón Delgado. Als Diözese betreuen wir ein Gebiet von 16.000 km² sowie die dort lebenden Afro-Gemeinden und Indigenen. Seit mehreren Jahrzehnten leiden sie unter der starken Isolierung und Vernachlässigung seitens der Zentralregierung und wir möchten uns ihnen mit unserer Arbeit zuwenden. In der Anfangsphase der Kommission unterstützten wir die Verabschiedung des Gesetzes Ley 70 zur Sicherung des Bodenrechts dieser Gemeinden. Nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, konzentrierten wir uns auf die Entwicklung von Programmen für eine legale und nachhaltige Nutzung des Bodens.

Wie würden Sie die Situation der Menschenrechte in Kolumbien heute einschätzen?
Dora Ligia Vargas Portilla: Wir werden in unserer Arbeit mit Situationen konfrontiert, die den katastrophalen Zustand der Menschenrechte in Kolumbien bestätigen. Die offiziellen Statistiken berichten von mehr als 9.000 Massakern seit 1993, mittlerweile sind sechs Millionen Kolumbianer von Zwangsvertreibung betroffen. Diese und andere Zahlen sind erschreckend. Dennoch spiegeln sie nur die halbe Wahrheit wider. Man darf auch die Opfer nicht vergessen, die aus Angst um die eigene Sicherheit keine Anklage erheben wollen oder können. Die zentralen Institutionen haben es versäumt, eine menschenwürdige und risikolose Anklageschrift zu gewährleisten.

Wie trifft diese Realität auf Tumaco zu?
Gustavo Girón Higuita: Tumaco ist die einzige mittelgroße Stadt in einer abgelegenen Region, die durch die Behörden kaum kontrolliert wird. Dort befindet sich der zweitwichtigste Hafen der kolumbianischen Pazifikküste und das Klima ist für den Anbau von Koka sehr geeignet. Nachdem das Militär die Guerilleros und Paramilitärs aus dem Inneren des Landes vertrieben hatte, siedelten sich diese in unserer Stadt an, um von da aus Anschläge zu planen und auszuführen. Dadurch eskalierte die Gewalt sehr dramatisch in unserer Region.

Wie änderte sich die Arbeit der Kommission mit der steigenden Präsenz der Paramilitärs in der Region?
JJCV: Yolanda Cerón Delgado wurde am 19. September 2001 ermordet, vermutlich von Paramilitärs. Die Verlegung der Auseinandersetzungen zwischen den Guerrillas und verschiedenen paramilitärischen Gruppierungen in unsere Region verschlimmerte die Gewalt und forderte uns heraus, die Arbeit der Kommission auf den Schutz des Lebens zu konzentrieren. Wir klagen die Kooperation zwischen der Armee und den Paramilitärs an, ebenso die Verletzung von Grundrechten. Wir sind entschlossen, die Opfer dieses Konflikts sichtbar zu machen.
GGH: Die Arbeit mit den Afro-Gemeinden und Indigenen ist weiterhin grundlegend, denn sie sind nicht organisiert und ihnen fehlt das Bewusstsein, dass sie selbständig ihre Rechte einfordern können.
DLVP: Wir wollen den Opfern letztendlich vermitteln, dass sie in diesem Konflikt nicht alleine sind. Durch kulturelle Veranstaltungen versuchen wir ihre Angst abzuschwächen, um einen Gemeinschaftssinn herauszubilden.

Ist die Versorgung der Grundbedürfnisse in der Region um Tumaco durch die Regierung gesichert?
DLVP: Wir haben keine geeignete Infrastruktur, um der ländlichen Bevölkerung einen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu verschaffen. Der Zugang zu Trinkwasser erreicht beispielsweise kaum zehn Prozent der Menschen außerhalb der Stadt. Es bereitet uns große Sorge, dass selbst die noch verbliebenen sauberen Wasserquellen verschmutzt werden. Die Unternehmen, die Monokulturen anbauen, werfen ihre Abfälle in unsere Flüsse. Da keine Abwasserleitungen und Entwässerungsanlagen in der Region vorhanden sind, landet fast der gesamte Müll in unseren Trinkwasserquellen!
JJCV: Die Gesundheitseinrichtungen sind ebenfalls in einem katastrophalen Zustand. An der gesamten Pazifikküste Nariños gibt es nur ein Krankenhaus mit Notaufnahme und chirurgischer Ausstattung. Dennoch sind die Mittel und Leistungen des Krankenhauses mangelhaft. Außerhalb der Städte ist kaum eine Infrastruktur vorhanden. Wir haben registriert, dass in vielen Fällen Fachleute nicht arbeiten gehen; entweder werden sie nicht bezahlt oder sie haben Angst vor der Unsicherheit in der Region. Die Bewohner sind demzufolge einer Todesfahrt ausgesetzt: Die Erkrankten müssen von Ort zu Ort reisen, um einen Arzt oder die richtige Behandlung zu suchen. Wenn sie sie finden, ist es meistens viel zu spät.

Wie ist der Zugang zu Bildung?
JJCV: Wir beobachten, dass es mehr Schulen gibt, aber wiederum nur in den Städten. Die Herausforderungen sind auf dem Land überall die gleichen. Es mangelt uns an einer geeigneten Infrastruktur und dem benötigten Lernmaterial, um den Kindern eine angemessene Bildung zu bieten. Sie sind auch Opfer dieses Konflikts! Dennoch gehen manche Lehrer nicht zur Arbeit, weil die Wege zu lang sind oder sie nicht bezahlt werden. Jeder hat Angst um die eigene Sicherheit, und leider hat sich noch nicht das Bewusstsein entwickelt, dass Bildung grundlegend für die Überwindung des Konflikts ist.

Die kolumbianische Pazifikküste gilt als eine der Regionen mit der reichsten Artenvielfalt der Welt. Welche Auswirkungen auf die Natur lassen sich durch den Konflikt erkennen?
DLVP: Unsere Artenvielfalt leidet notwendigerweise unter diesem Konflikt. Die Ausräucherung der Kokafelder ist in den letzten Jahren zurückgegangen, aber die Folgen sind dennoch spürbar durch den Gesundheitszustand der Menschen und den Fruchtbarkeitszustand des Bodens. Darüber hinaus dehnen sich überall Monokulturen aus. Die Abfälle für die Erzeugung der Wachspalme werden in die Flüsse geworfen, genauso Reste des Öls, das aus der Trans-Anden-Pipeline gestohlen wird. Unsere Wälder werden systematisch vernichtet und wir haben keine Programme zur Aufforstung erstellt.

Wie reagiert die Regierung auf die Kritik an solchen Mängeln?
DLVP: Die Regierung behauptet, sie sei präsent und tue etwas für die Bevölkerung. Aber die Nachfrage übersteigt deutlich das öffentliche Angebot.
GGH: Ein entscheidender Faktor für diesen Mangel ist die Korruption in den Behörden. Manche Senatoren, Gouverneure, Bürgermeister und andere Beamte erlangen ihre Ämter nicht aus dem Grund, dass sie für diese Arbeit qualifiziert wären, sondern weil sie Wählerstimmen kaufen. Manche Politiker nutzen das geringe Bildungsniveau der Wähler und deren extreme Armut aus, um an die Macht zu kommen. Als Kommission haben wir nie zu dieser Situation geschwiegen, aber zurzeit wird so viel darüber gesprochen, dass es keinen mehr empört. In Kolumbien lassen wir die Korruption der zentralen und lokalen Regierungen einfach zu. Sie ist zu einer Norm geworden, genau wie der Konflikt.

In Tumaco sind 45 Prozent der Bevölkerung Opfer von Vertreibungen. In dieser Region werden im Durchschnitt über viermal mehr Menschen ermordet als anderswo in Kolumbien. Wie arbeiten Sie mit den Opfern des Konflikts?
DLVP: In dieser Region wurde nie über die Opfer des Konflikts gesprochen. Wir erstellten die erste Datenbank an der Pazifikküste über die Auswirkungen der Gewalt in Tumaco und in den umgebenden ländlichen Gemeinden. Sie dient als historische Aufzeichnung. Wir wollen wissen, wer die Opfer waren und wann sie ermordet wurden, denn wir wollen nicht vergessen. Zudem veröffentlichen wir diese Informationen und stellen Fotos der Opfer im „Haus des Erinnerns“ aus. Jeden September veranstalten wir die Woche für den Frieden. In diesem Rahmen organisieren wir Kundgebungen und betreuen Aktivitäten wie Theater und Kunstwettweberbe, an denen jeder teilnehmen kann.

Was erschwert die Arbeit von Menschenrechtsaktivist_innen in Ihrer Region?
GGH: Die Diözese betreut ein großes Gebiet. Aber über die Landstraße kann man nur ein Fünftel davon erreichen. Als kirchliche Organisation fehlt uns die Unterstützung von Priestern, die unsere Pfarrgemeinde auf dem Land begleiten könnten. Aber Priester werden nicht im Seminar ausgebildet, um Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Wir wollen als Kommission nicht die Gemeinde kontrollieren, sondern ihr die Möglichkeit bieten, ihre Kultur frei ausdrücken zu können.
DLVP: Außerdem werden die Menschenrechtsaktivisten von Teilen der Bevölkerung als subversiv angesehen und ihnen wird vorgeworfen, den Guerrillas nahezustehen. Durch Bedrohungen oder sogar Ermordungen haben wir nicht genügend Freiheit für unsere Arbeit.
Anfang November besuchte Präsident Juan Manuel Santos verschiedene europäische Länder und bat um Hilfe für die Finanzierung des Post-Konflikts. Was erwarten Sie von der Regierung, falls es zu einem Friedensabkommen kommen sollte?
GGH: Wir unterstützen die Verhandlungen in Havanna und betrachten sie als einen grundlegenden Meilenstein für das Ende des Konflikts.
DLVP: Dennoch muss die internationale Solidarität und das daraus entstehende Investitionspotential bestimmte Kriterien erfüllen. Es ist höchst notwendig, dass in den isolierten Regionen des Landes investiert wird, weil dort der Konflikt alltäglich stattfindet. Die Entwicklung in Kolumbien ist in den Städten bemerkbar, dennoch muss die Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden und auf unsere sozialen, historischen und infrastrukturellen Probleme reagieren. Wir wollen unsere Naturschutzgebiete nicht durch die schnelle Vergabe von Lizenzen zum Anbau von Monokulturen gefährden. Wir fördern eine nachhaltige, menschenwürdige Entwicklung im Einklang mit den Umweltrechten der indigenen Völker und Afro-Gemeinden.

Stadtgärten in Nicaragua

Frau Olivero, was genau tun Sie?
CAPRI (Zentrum zur Unterstützung von Projekten und Programmen) ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich seit 26 Jahren für die Dorfgemeinschaftsentwicklung in Nicaragua einsetzt. Ein zentraler Bereich ist die Arbeit mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen, sowie der Einsatz für ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte wie Bildung und Gesundheit. Dazu kommt die Vermittlung in berufliche Ausbildungszentren, damit auch Jugendliche, die nicht die sechsjährige Grundschule abschließen konnten, eine berufliche Chance bekommen.

Wie kam es zur Gründung Ihrer Stadtgärten-Initiative?
Vor einigen Jahren haben wir im Dialog mit INKOTA (einer deutschen Entwicklungs-NGO) begonnen, in zwei Armenvierteln von Managua im Bereich Ernährungssouveränität zu arbeiten. Dort leben vor allem Familien aus dem Norden Nicaraguas, die sich nach dem Bürgerkrieg in den 1980er Jahren illegal in Managua angesiedelt haben, ohne jegliche sanitäre Infrastruktur oder Strom. Ihre Behausungen wurden Jahre später von der Regierung nachträglich legalisiert, aber die Familien haben oft keine bezahlte Arbeit. Insbesondere im städtischen Bereich gibt es rund 56 Prozent alleinerziehende Mütter mit Kindern, die aufgrund der Armut sehr einseitig ernährt sind, weil sie kein Geld haben, sich etwas anderes als die Grundnahrungsmittel wie Reis, Mais-Tortillas und Bohnen zu kaufen. Daraus entstand die Idee, „städtische Gärten gegen den Hunger“ zu initiieren.

Wie arbeitet dieses Projekt?
Wir bilden Promotorinnen aus, die sich verpflichten, jeweils rund 10 Nachbarinnen in kleinen Familiengärten den Anbau von Gemüsen zu zeigen. Sie selbst erhalten dazu anfänglich eine Schulung auf einer Modellfarm. Dazu zählt sowohl die Saatgut-Auswahl, damit die Frauen unabhängig vom Kauf teuren Saatguts werden. Aber auch die Herstellung von Düngern und Insektenschutzmitteln.

Woher hat CAPRI das landwirtschaftliche Fachwissen?
Wir kooperieren mit dem Programm „von Bauer zu Bauer“ („de Campesino a Campesino“) des Nationalen Bauernverbandes (Unión Nacional de Agricultores y Ganaderos, UNAG). Über ein Programm der FAO sowie den Distrikt-Bürgermeister gab es zudem vor einiger Zeit Saatgut-Schenkungen, aber das ist jetzt beendet.

Welches Agrarmodell steckt denn dahinter – gerade beim Bauernverband und der FAO liegt ja die Befürchtung nahe, dass nicht-nachhaltige, intensive Methoden wie Kunstdünger und Pestizide sowie Hybrid-Saatgut zum Einsatz kommen, die die Familien abhängig machen vom Kauf teurer Inputs?
Nein, bei uns ist alles organisch und darauf sind wir stolz! Wir stellen etwa Kompost-Dünger aus Asche, Mist und Speiseresten her. Zudem setzen wir natürliche Insektizide aus dem Neembaum, aus Eukalyptus sowie dem Madero-Baum ein.

Was hat sich in den zwei Jahren Projektlaufzeit verändert, wie viele Leute machen mit?
In zwei Jahren haben wir bereits 80 Frauen in zwei (von 20) Distrikten in Managua als Promotorinnen ausgebildet. Diese schulen 500-600 Nachbarinnen, die wiederum als Multiplikatorinnen wirken – damit erreichen wir einen Personenkreis von rund 5.000 Personen, die ihre Ernährung verbessern. Zudem sind die Kinder in das Projekt eingebunden und helfen eifrig mit.

Hat sich die Ernährungsvielfalt der Familien verbessert?
Eindeutig! Die Frauen bauen jetzt eine Vielfalt von Gemüsen an: Kohl, Kürbis, Tomaten, Karotten, Zwiebeln, Gurken, Broccoli, Salat, rote Beete, Sellerie, auch Kräuter wie Koriander, Petersilie und Pfefferminze. Außerdem bereiten sie Säfte aus Früchten zu. Dadurch ist die Speisepalette der beteiligten Familien viel breiter geworden.

Gibt es weitere positive Effekte?
Die beteiligten Frauen haben ein größeres Selbstbewusstsein, sie können etwas und vermitteln es weiter. Zudem ermöglicht es ihnen der Verkauf kleiner Gemüse-Überschüsse, ein bescheidenes Einkommen zu erzielen, mit dem sie dringende alltägliche Bedürfnisse decken können.

Das klingt ja sehr positiv! Gibt es auch Hindernisse und Herausforderungen?
Ja, natürlich ist es nicht leicht, die Familien für eine Änderung ihrer Ernährungsgewohnheiten zu sensibilisieren. Dazu brauchen wir Geduld und müssen Zeit investieren, zum Beispiel auch in Kurse, in denen man lernt, was man mit dem geernteten Gemüse alles zubereiten kann. Die Erfolge stellen sich langsam ein. Und die zur Verfügung stehenden Mittel von CAPRI sind begrenzt. Wir müssen als NGO im Bereich nachhaltige Landwirtschaft selbst noch viel lernen, aber wir haben uns in den letzten 26 Jahren immer als Türöffner und Vermittler von Kontakten verstanden und bewährt.

Wie werden durch das Projekt Frauen ausgebildet und gefördert, selbstständiger zu werden und ein unabhängigeres Leben zu führen? Wie werden Männer dabei integriert?
Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass es kulturell bedingt in Lateinamerika üblich ist, dass sich hauptsächlich die Frauen um die Ernährung der Kinder kümmern. Daher ist die Mehrheit der Frauen an dieser Aufgabe beteiligt: 52 Prozent der Frauen sind zuhause das Familienoberhaupt. Um das auszugleichen, haben wir es als ein Ziel formuliert, die Integration der Männer zu verbessern, insbesondere bei der Arbeit in den Familiengärten.

Könnte man von einer grünen oder kommunistischen – also politischen – Idee sprechen?
Das Projekt ist an keine parteipolitische Institution gebunden, sondern neutral. Der Austausch von Lebensmitteln und Gemüsen mit den Nachbar_innen und Familien geht natürlich auf einen sozialistischen Ansatz zurück, da es sich ja um einen solidarischen Austausch von Waren handelt. Das ist sozusagen ein Grundgedanke des Kommunismus. Trotzdem liegt dem Projekt keine weltpolitische Ideologie zugrunde, sondern das Ziel ist primär, armen Familien eine ausgewogene Ernährung zu ermöglichen.

Sie haben sich ja auch den „Prinzessinnengarten“ in Berlin-Kreuzberg angeschaut. Was war Ihr Eindruck dort und welche Unterschiede sind Ihnen in Deutschland, die Ernährung betreffend, aufgefallen – was hat Sie vielleicht am meisten verwundert?
In Deutschland gibt es insgesamt einen großen Reichtum. Das betrifft natürlich auch die Nahrungsmittelindustrie. Ich habe zum Beispiel eine Universitätsmensa besucht und war erstaunt, was für eine große Auswahl an Essen und Lebensmitteln es dort gab. Die Menschen haben sich teilweise viel mehr genommen, als sie dann überhaupt essen konnten. Das kam mir fast wie Nahrungsmittelverschwendung vor. Die Stadtgärten-Bewegung in Deutschland ist auch überhaupt nicht vergleichbar mit unserem Projekt. In Deutschland baut man neben Gemüse, im Gegensatz zu den Gärten in Nicaragua, auch Pflanzen und Kräuter an, um eine nachhaltige Alternative zu einem bereits bestehenden Nahrungsmittelangebot zu haben. Das ist eine gute Sache. Unser Projekt aber soll Familien, die unter Mangelernährung leiden und sich oft nur einseitig ernähren können, durch den Anbau von Nahrungsmitteln in eigenen Gärten oder städtischen Kleingärten einen Austausch von Nahrungsmitteln oder Saatgut ermöglichen. So wird ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Nahrung zu ergänzen und sich vielseitiger ernähren.

Nach dem Bericht „Zentralamerika in Zahlen“ ist Nicaragua das einzige zentralamerikanische Land, dass sich den Zielen des Welternährungsgipfels und dem Millenniumsentwicklungsziel zur Bekämpfung der Unterernährung der Vereinten Nationen genähert hat. Wie schätzen Sie dies ein?
Es gab einige nennenswerte Veränderungen wie die Zuteilung von Nahrungsmitteln in Schulen, die Teile von Projekten sind, die gemeinsam mit der Regierung initiiert werden. Trotzdem ist es nicht möglich, den Nahrungsmittelbedarf an Grundschulen zu decken und darin ist noch nicht einmal die Lieferung von notwendigen Nahrungsmitteln an Kinder enthalten.

Arbeiten Sie auch in Netzwerken mit anderen Organisationen in Nicaragua oder Zentralamerika im Bereich nachhaltige Landwirtschaft zusammen, zum Beispiel zum Austausch von selbst erzeugtem Saatgut?
Nein, bisher nicht, das wäre eine gute Idee für die Zukunft!

Nach dem Frühling

Das Anwaltsbüro, für das Sie in Guatemala arbeiten, vertritt die Opfer auch weiterhin. Welche Hoffnungen setzen Sie in diesen neuen Prozess?
Die Bedingungen für einen fairen Prozess haben sich stark verschlechtert. Das System ist fest entschlossen, die Justiz zu kontrollieren und unabhängige Richter nicht mehr zuzulassen. Es besteht das Risiko, dass der Prozess zu einem Schauprozess wird. Damit stecken wir und die Opfer in einem echten Dilemma. Wenn sie nicht teilnehmen, ist die Anklage ohne Frage geschwächt, da der Prozess auf jeden Fall stattfindet; doch wenn sie teilnehmen, könnte das als Zustimmung zur betrügerischen Annullierung des Urteils interpretiert werden.

Wie verhält sich die Justiz?
Auf den Richtern lastet sehr viel Druck. Auf Yassmin Barríos, die Richterin, die das Urteil gegen Ríos Montt gesprochen hat, war zu Beginn des letzten Prozesses ein Attentat geplant, das erst in letzter Sekunde aufflog und verhindert werden konnte. Nach der Urteilssprechung wurde sie zeitweise vom Dienst suspendiert und ist heftigsten Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Es braucht viel Mut, um diesem Druck standzuhalten.

Bestehen überhaupt Chancen für einen fairen, transparenten Prozessverlauf?
Wir können schwer einschätzen, wie sich das neue Gericht in dem Fall verhalten wird, aber wir machen uns keine großen Hoffnungen. Deshalb haben wir Ende 2013 Klage bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eingereicht und hoffen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Entscheidung des Verfassungsgerichtes gegen das Urteil für ungültig erklärt. Allerdings wird dieser Prozess noch Jahre dauern.

Zusammen mit Kolleg_innen, Menschenrechtsgruppen und den Opfern haben Sie bereits Ende der 1990er Jahre begonnen, Vergehen der Militärs während des Bürgerkriegs aufzuarbeiten und damit den Prozess gegen Ríos Montt vorzubereiten. Warum haben Sie sich damals entschieden, Strafverfahren in Guatemala einzuleiten und nicht in Spanien wie beispielsweise Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchú?
Unser Ziel war nie, nur die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nach den Friedensverträgen wollten wir mit den Prozessen, die wir führten, immer auch Debatten in der Gesellschaft anstoßen und eine funktionierende Justiz aufbauen. Das geht nur in Guatemala selbst. Dabei nutzen wir die internationalen Prozesse und Ermittlungen, um Druck im eigenen Land aufzubauen.

Wie werden in der Gesellschaft und in den Medien die Bürgerkriegsverbrechen debattiert?
In bestimmten Sektoren der Bevölkerung wurde damals noch geleugnet, dass es überhaupt Massaker gegeben habe. Präsident Arzú hatte sich Ende der 1990er Jahre noch geweigert, den Bericht der UN-Wahrheitskommission über die Verbrechen während des Bürgerkrieges öffentlich entgegenzunehmen. Dass heute selbst die Militärs zugeben, Massaker verübt zu haben, ist deshalb ein wichtiger Erfolg. Auch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die rund um den Ríos-Montt-Prozess geführt wurden, empfand ich als heilsam. Natürlich waren sie extrem kontrovers, aber in diesem Moment hat sich die Gesellschaft intensiv mit der eigenen Geschichte, der Gewalt und dem Rassismus, die Guatemala weiterhin so sehr prägen, auseinandergesetzt.

Was bedeutet das Urteil für die Opfer?
Das dürfen wir trotz aller Rückschläge nicht unterschätzen. Während des Prozesses sagten über 100 Zeugen vor laufenden Kameras aus. Man muss sich vorstellen, was es für sie heißt, in diesem Gericht in Anwesenheit des ehemaligen Diktators auszusagen. Sie konnten ihre Geschichte erzählen und wurden gehört. Danach gibt es kein Zurück mehr. Dennoch hat sich unsere Vorstellung, dass wir mit jedem Prozess kleine Risse in die Mauer der Straflosigkeit schlagen und der Völkermordprozess sozusagen der letzte Schlag ist, mit dem das System zusammenbricht, als Illusion erwiesen. Der Kampf ist noch nicht vorbei.

Wie meinen Sie das? Was ist seither passiert?
Nach der Verkündung des Völkermordurteils haben sich die traditionellen und die neuen ökonomischen Eliten in nie zuvor gekannter Einigkeit mit den militärisch-politischen Eliten zusammengeschlossen und zum Ziel gesetzt, die Justiz wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz, unter deren Leitung die Staatsanwaltschaft zwischen 2010 und 2013 die Aufklärungsrate tödlicher Delikte von zwei auf 35 Prozent erhöhen konnte, hatte es gewagt, Ermittlungen auch gegen Bankenbesitzer und das organisierte Verbrechen durchzuführen. Der Völkermordprozess war am Ende nur der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Seitdem wurde nicht nur die Generalstaatsanwältin frühzeitig aus dem Amt entlassen und der Druck auf die Richter erheblich erhöht, die sich mit Fällen organisierten Verbrechens und der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen. Auch die Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG), die die Bekämpfung der illegalen und klandestinen Strukturen im Staatsapparat zur Aufgabe hat, scheint der Regierung zu gefährlich zu werden; ihr Mandat soll nicht mehr verlängert werden.

Die Bedingungen für die Durchsetzung einer unabhängigen Justiz und der Menschenrechte verschlechtern sich also?
Ja, wir beobachten im Moment verschärfte Repressionen, Kriminalisierungen und Angriffe auf Aktivisten der indigenen und Kleinbauernbewegungen, die ihr Land verteidigen und sich gegen agroindustrielle, Bergbau- und Energieprojekte zur Wehr setzen. Es geht also nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen der Gegenwart, die ein funktionierender Rechtsstaat und eine unabhängige Justiz in Guatemala vereiteln könnten. Im Moment arbeiten meine Kollegen und ich vor allem daran, Akten zu scannen und die Beweise in unseren aktuellen Prozessen zu sichern. Wir befürchten, dass der Druck weiter zunehmen wird. Deshalb bin ich auch nach Deutschland gekommen, um direkte Kontakte mit deutschen Juristen und Politikern zu knüpfen, die uns im Ernstfall unterstützen könnten. In den letzten Jahren haben wir in Guatemala eine Art juristischen Frühling erlebt, aber der Sommer lässt auf sich warten.

Infokasten:

Michael Mörth

Der deutsche Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger lebt seit knapp 20 Jahren in Guatemala. In den 1990er Jahren beteiligte er sich an der Erstellung des Wahrheitsberichtes der katholischen Kirche, arbeitete in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen und war später Mitarbeiter der Kommission der Vereinten Nationen gegen die Straffreiheit in Guatemala. Mit Unterstützung von medico international ist er aktuell als rechtlicher Berater der Internationalen Jurist_innenkommission für das Bufete Jurídico de Derechos Humanos tätig. Das Anwaltsbüro führt die meisten der Prozesse gegen ehemalige Militärs in Guatemala und vertritt auch im Prozess gegen Ríos Montt die Opfer in der Nebenklage.

Dubiose Zusammenarbeit

Die EU-Botschafterin in Kolumbien Maria Antonia Van Gool war voll des Lobes für die Streitkräfte ihres Gastlandes, als sie gemeinsam mit dem kolumbianischen Verteidigungsminister Juan Carlos Pinzón im August ein Abkommen über die Beteiligung Kolumbiens an Krisenbewältigungsoperationen der Europäischen Union unterzeichnete. Der geplante Einsatz kolumbianischer Soldat_innen im Rahmen ziviler und militärischer EU-Missionen in Drittländern sei ein bedeutender Fortschritt für die gegenseitige Zusammenarbeit. „Kolumbien verfügt über für die EU nützliche Erfahrung in der Aufstandsbekämpfung, dem Kampf gegen Drogen und den Terrorismus,“ sagte die Niederländerin.
Mit dem Abkommen sichert sich die Europäische Union die Dienste einer der praxis-erfahrensten und zugleich umstrittensten Armeen der westlichen Hemisphäre. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass Angehörige der hochgerüsteten kolumbianischen Streitkräfte unter dem Deckmantel der Aufstandsbekämpfung nachweislich eine ganze Reihe von schweren Menschenrechtsverletzungen begangen haben. In mehreren Fällen wurden Militärs und sogar hochrangige Generäle von der kolumbianischen Justiz und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) deshalb verurteilt – allzu oft aber blieben die Verbrechen ungesühnt.
International bekannt wurde in den vergangenen Jahren aber vor allem die verbreitete Praxis der sogenannten falsos positivos: Um Prämien zu erhalten, töteten Soldat_innen unschuldige Zivilist_innen, steckten sie in eine Uniform und präsentierten sie als im Kampf getötete Guerillakämpfer_innen. Menschenrechtler_innen beklagen seit Jahren, dass die Taten nicht ausreichend bestraft wurden. Zuletzt hatte die kolumbianische Armee damit Schlagzeilen gemacht, dass der Militärgeheimdienst die Kommunikationskanäle der Verhandlungsführung in Havanna und zahlreicher Politiker_innen angezapft hatte.
Alirio Uribe kann die geplante Zusammenarbeit der EU mit den kolumbianischen Militärs nicht verstehen. Der heutige Kongressabgeordnete der Linkspartei Polo Democrático arbeitete viele Jahre für das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (Ccajar), das zahlreiche von Militärs begangene Menschenrechtsverbrechen vor den CIDH gebracht hat. „Es könnten trotz einem Ende des bewaffneten Konflikts in unserem Land weiterhin kolumbianische Soldaten sterben“, sagte er den LN. „Das Abkommen ist nicht mit den Friedensbemühungen in Kolumbien vereinbar.“
Uribe ist der Ansicht, dass das Verteidigungsministerium mit dem Abkommen versuche, dem Problem des Söldnertums entgegenwirken. In den vergangenen Jahren haben sich Tausende Soldat_innen laut Berichten kolumbianischer Medien aus dem Dienst zurückgezogen und bei privaten Sicherheitsfirmen angeheuert. Einige sollen in Afghanistan und im Irak kämpfen, auch die Ölmonarchien am Golf und dort besonders die Vereinigten Arabischen Emirate stehen hoch im Kurs. Es winken üppige Bezahlung und ein geringeres Sicherheitsrisiko als in den zermürbenden Dschungelkämpfen mit der Guerilla.
Doch will das hochgerüstete kolumbianische Militär wohl nicht nur dem Söldnertum entgegensteuern, sondern plant bereits für den Fall, dass die derzeit stattfindenden Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla erfolgreich enden. Denn sollte es in Kolumbien wirklich Frieden geben, werden zukünftige Regierungen die Zahl der Soldat_innen wohl mittelfristig senken müssen. Eine große Herausforderung, denn durch die enorme personelle Aufstockung der Sicherheitskräfte seit der Jahrtausendwende, unter anderem durch die finanzielle Unterstützung der USA im Rahmen des Plan Colombia, stehen derzeit rund eine halbe Million Soldat_innen und Polizist_innen im Dienst „für das Vaterland“. So viel wie in kaum einem anderen Land Lateinamerikas.
Die Europäische Union schielt vor allem auf die vergleichsweise geringen Kosten und das militärische Know-how der kolumbianischen Soldat_innen – und ist damit spät dran: Unlängst schloss auch die NATO ein bei den Linksregierungen Lateinamerikas umstrittenes Kooperationsabkommen mit den Kolumbianern. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hatte daraufhin von einem „Dolchstoß ins Herz der Völker unseres Amerikas“ gesprochen, Boliviens Staatsoberhaut Evo Morales eine Dringlichkeitssitzung des Unasur-Bündnisses gefordert. Kolumbien hingegen ficht das nicht an. Verteidigungsminister Pinzón hat laut Medienberichten bereits ebenso Kontakte nach Russland geknüpft, um die militärische Zusammenarbeit zu verstärken.
„Kolumbianische Soldat_innen bei EU-Missionen einzusetzen, ist finanziell günstiger und politisch einfacher, als wenn die Armeen der Mitgliedsstaaten eigene Leute in großer Zahl entsenden müssen“, sagt Alirio Uribe. Derzeit führt die Union Missionen in Osteuropa, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten durch und arbeitet dabei auch mit mehreren Drittstaaten zusammen. Bisher stellt Chile als einziges Land in Lateinamerika der EU Soldat_innen zur Verfügung. Bei welchen Operationen und ab wann die kolumbianischen Soldat_innen für die EU eingesetzt werden sollen, ist allerdings noch nicht bekannt. Kritiker_innen befürchten zudem, dass Kolumbien durch die Kooperation Zugriff auf zusätzliche Rüstungsgüter erhalten könnte.
Substanzielle Änderungen des Abkommens oder gar eine Verhinderung des Inkraftretens sind derzeit kaum zu erwarten. Das Abkommen fällt unter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), ein Bereich der laut des Vertrags von Lissabon weder eine Beteiligung des Europäischen Parlaments, noch der nationalen Legislativ­organe vorsieht.
In Kolumbien ist das Prozedere zumindest auf dem Papier hingegen deutlich demokratischer. Hier muss die getroffene Übereinkunft noch durch den Kongress und auch das Oberste Verfassungsgericht muss ihr zustimmen. Allerdings steht die Ampel für das Abkommen derzeit in beiden Organen eher auf grün als auf rot. Als das Kooperationsabkommen mit der NATO vor wenigen Wochen im Unterhaus eingebracht wurde, stimmten gerade einmal sieben Abgeordnete gegen den Vertrag.

Schmierige Geschäfte im Yasuní

„Seit den täglichen Explosionen haben sich die großen Tiere zurückgezogen. Wir können keine Wildschweine mehr jagen. Einzig die Fischerei ist uns geblieben, aber auch diese ist immer weniger ergiebig“, sagt Lautaro Echeverría.** Der Mittsechziger setzt sich bereits seit Jahrzehnten gegen die Erdölförderung im Lebensraum seiner Kichwa-Gemeinde ein. Mit begrenztem Erfolg: Heute sieht er sich mit ersten negativen Konsequenzen der Förderung konfrontiert.

Die Entscheidungsgewalt über die Erdölförderung in Ecuador liegt nicht nur beim Staat. Indigene Gemeinden, die seit Jahrhunderten im Yasuní leben, verfügen über Landrechte, in vielen Gebieten kann ohne ihre Zustimmung kein Öl fließen.

Unbestritten ist, dass die Gemeinde Llanchama der Erdölförderung in 11.000 ihres 27.000 Hektar großen Territoriums Ende Mai zustimmte. Einige Gemeindemitglieder berichten, dass diese Konsultationen manipulativ und einseitig waren. Ende Mai kamen sowohl Vertreter_innen der Regierung als auch von Petroamazonas nach Llanchama, um die Gemeindemitglieder von einer umweltverträglichen Erdölförderung zu überzeugen. „Unser Gemeindevorstand zeigte sich schon bald verhandlungsbereit und als Petroamazonas anbot, jeder Familie 3000 US-Dollar für die Zustimmung zur Förderung zu zahlen, dauerte es nur noch wenige Tage bis es eine Mehrheit für die Erdölförderung in unserem Territorium gab“, sagt Yana Piedra**, die einen kleinen Laden im Dorfzentrum besitzt.

Ende Mai 2014 erhielt Petroamazonas vom ecuadorianischen Umweltministerium die sogenannte Umweltlizenz für die Erdölförderung aus zwei der drei ITT-Feldern – Tiputini und Tambococha – im Yasuní Nationalpark.

Die ITT-Quellen – benannt nach den drei bei Probebohrungen entdeckten Lagerstätten Ishpingo, Tambococha und Tiputini –, wurden bereits in den 1950er Jahren entdeckt, ihre Förderung war jedoch aus technischen und infrastrukturellen Gründen lange Zeit unmöglich. Ecuadors lange Zeit instabile politische Lage mit vielen Regierungswechseln, die langfristige Projekte erschwerte, tat ein Übriges.

Unter dem seit 2007 amtierenden Präsidenten Rafael Correa haben sich die Voraussetzungen geändert. Bis 2013 verfolgte die von der Partei Alianza País gestellte Regierung die Yasuní-ITT-Initiative. Diese sah vor, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl der ITT-Quellen im UNESCO-Naturschutzreservat Yasuní zum Schutz der Natur und seiner indigenen Völker unangetastet zu lassen. Der Ausstoß von mindestens 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid sollte so vermieden werden. Die internationale Staatengemeinschaft sollte sich durch Kompensationszahlungen in Höhe von mindestens der Hälfte der erwarteten Erlöse an dieser Initiative beteiligen. Bis August 2013 kam jedoch nur ein kleiner Bruchteil der Gelder zusammen. Präsident Rafael Correa erklärte daher die Yasuní-ITT-Initiative für gescheitert und machte den Weg für die Erdölförderung frei (siehe LN 471/472).

Seit drei Monaten arbeiten 500 bis 1000 Ingenieure täglich an der Erforschung des Gebiets. Mittels seismischer Messungen wird untersucht, wo und in welcher Größe Erdöllagerstätten vorhanden sind. Bei der angewandten Methode der 3D-Seismik werden im Abstand von 50 bis 100 Metern in 20 bis 30 Meter tiefen Bohrlöchern unterirdische Explosionen durchgeführt. Die Auswertung der Schallwellen dieser Explosionen gibt Aufschluss über die Erdölvorkommen.

Diese explorativen Untersuchungen wirken sich negativ auf die sensible Umwelt aus. Bei einem Sparziergang durch ein geschütztes Waldgebiet der Gemeinde Llanchama erklärt Maicu Hurtado**: „Petroamazonas verstößt schon jetzt gegen die Verträge, die wir unterschrieben haben. Die Explosionen, die sie für ihre seismischen Messungen durchführen, bleiben nicht wie versprochen unterirdisch.“
An vielen Bäumen in diesem Gebiet finden sich Naturschutz-Hinweisschilder. „Überall hier könnt ihr 15 bis 30 Meter offene Löcher sehen. Sie klaffen wie tiefe Wunden aus dem Boden. Zum Teil tritt Öl aus. Außerdem haben die Ingenieure Plastikmüll und Kabel hinterlassen, die sie eigentlich beseitigen müssten“, sagt Maicu Hurtado**, der als Touristenführer arbeitet.

Lautaro Echeverría** erzählt, dass es in den ersten Jahren des Jahrtausends in seiner Gemeinde einen klaren Konsens gegen jegliche Erdölförderung gab. Unter der Regierung Lucio Gutiérrez (2003-2005) wurde damals erstmalig über Konzessionen um Tiputini gehandelt. „Bis letztes Jahr haben wir auf die Regierung Correa vertraut und hatten dank der Yasuní-ITT-Initiative Gewissheit über den Erhalt unseres Lebensraums. Doch seit Correa das Ende der Initiative ausrief, gab es eine Spaltung in der Gemeinde“, so Echeverría**.

Angesichts der negativen Umweltfolgen bekommen Gemeindemitglieder, die sich Jahrzehnte gegen die Erdölförderung engagierten, heute wieder Zuspruch. Die Mittsiebzigerin Silvia Vivimos** ist sich sicher: „Wir müssen den Kampf gegen die Zerstörung des Waldes für die nachfolgenden Generationen jetzt wieder aufnehmen. Ich werde es mir nicht verzeihen, wenn wir diesen Kampf verlieren.“

Die Entscheidung, die ITT-Quellen zu fördern, regt auch im Rest des Landes politischen Widerstand. Mitte September trafen sich 60 Vertreter_innen der YASunidos auf einer nationalen Versammlung um neue Strategien gegen die Erdölförderung im Nationalpark Yasuní herauszuarbeiten.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis YASunidos hatte sich unmittelbar nach der Aufkündigung der Yasuní-ITT-Initiative gegründet und bis Anfang 2014 Unterschriften für ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen gesammelt. Durch ein positives Bürger_innen-Votum per Referendum hätte die Entscheidung des Präsidenten Correas aufgehoben werden können.

Der nationale Wahlrat (CNE) erklärte jedoch mehr als die Hälfte der knapp 758.000 eingereichten Unterschriften für ungültig und erkannte nur knapp 359.000 an, womit das Mindestsoll von  knapp 600.000 Unterschriften nicht erreicht wurde (siehe LN 479). „Wir werden die Menschen, die im ganzen Land direkt vom Rohstoff-Abbau betroffen sind, weiterhin unterstützen. Die gesammelten Unterschriften für das Referendum bestätigen, dass es ein großes Bedürfnis nach Mitentscheidung über den Rohstoff-Abbau im Land gibt. Unsere derzeit wichtigste Idee ist daher, unsere Arbeit in den Provinzen auszubauen und ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen unabhängig von unserer Regierung durchzuführen“, sagt Patricio Chávez, ein Sprecher der YASunidos. „Wir werden weiter für unseren Traum einer Post-Erdölgesellschaft kämpfen“, ergänzt  Elena Gálvez, die gerade von der größten Klima-Demonstration aller Zeiten aus den USA zurückgekommen ist. Mitte September versammelten sich in New York rund 300.000 Menschen beim People’s Climate March. Gemeinsam mit zwei weiteren Delegierten der YASunidos setzte sie sich vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte für den Schutz der Unterschriftensammler_innen ein, denen derzeit zum Teil Strafverfolgung droht.
Dass die YASunidos auch auf internationale Unterstützung bauen können, zeigt ihre Nominierung für die holländische Menschenrechtstulpe, eine jährliche mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung des holländischen Außenministeriums für couragierte Initiativen, die sich auf innovative Weise für den Schutz von Menschenrechten einsetzen. Ob der Nominierung die Auszeichnung folgt, stand bis Ende des Redaktionsschlusses noch nicht fest.

** Die Namen wurden auf Wunsch der in Llanchama lebenden Personen geändert.

Wir hatten „nie wieder“ gesagt

Kevin. Villa Zavaleta, Buenos Aires. Ein Morgen. Eine Schießerei. Drei Stunden, 105 Kugeln. Ein Wachhaus der Gendarmerie in 50 Metern Entfernung und acht entgegengenommene Anrufe beim Polizeinotruf. Kein Einsatzwagen. Kein Eingriff. Die Straße bleibt sich selbst überlassen. Kevin stirbt durch eine Kugel in den Kopf, zusammengekauert unter dem Küchentisch seines Hauses, das wie zufällig in der Schusslinie des Gefechtes liegt.
Der Vorfall in der Villa 21-24, auch Barrio Zavaleta genannt, eine der vielen prekären Siedlungen im Süden von Buenos Aires, liegt nun ein Jahr zurück. Anlässlich des Jahrestages hatten soziale Organisationen am 7. September zu einem gemeinsamen Fest- und Protestakt vor dem Sicherheitsministerium aufgerufen. Gekommen waren viele. Betroffene Familien, Nachbar_innen, Aktivist_innen gegen institutionelle Gewalt, gegen den gatillo fácil, wörtlich übersetzt „leichter Abzug“ – wenn der Finger der Polizist_innen am Abzug locker sitzt.
Kevins Schicksal ist so alltäglich wie unsichtbar: Fast jeden Tag stirbt ein Jugendlicher aus den Armenvierteln Argentiniens durch Polizeiwillkür und gatillo fácil oder eben, wie im Falle Kevins, durch die unterlassene Hilfeleistung der staatlichen Sicherheitskräfte. Am Tag seines Todes war Kevin neun Jahre alt. Wäre er nicht neun, sondern 19 gewesen, wäre er wie all die anderen Opfer der staatlichen Gewalt selbst für seinen Tod verantwortlich gemacht worden, als Verdächtiger, Verbrecher, als Bedrohung für Recht und Ordnung, als Drogenboss, der im Gefecht gestorben ist. Nur sind Drogenbosse nun mal nicht neun Jahre alt. Daher ist Kevins Fall ein besonderer, einer, der die medialen Mauern der Nicht-Berichterstattung und Desinformation zeitweise durchbrechen kann. In all den anderen Fällen der täglichen willkürlichen Erschießungen bleiben die Opfer unsichtbar, gibt es keinen Platz für Berichterstattung, die Empörung auslösen könnte, keine Gerechtigkeit, keine Verantwortlichen und eine zum Himmel schreiende, nahezu garantierte Straflosigkeit für die Täter_innen. Niemand glaubt den Zeugenaussagen der Familien und Nachbar_innen, wenn die Toten villeros sind, Bewohner der villas, der zahlreichen Armenviertel in Stadt und Ballungsgebiet Buenos Aires. El pibe pobre con gorrita, „der arme Junge mit Käppi“ ist die Versinnbildlichung eines jugendlichen Slumbewohners, eine bestimmte Art sich zu kleiden, zu sprechen. Die Hautfarbe kennzeichnet die Jugendlichen als villeros und stellt sie unter Generalverdacht. Dieser klebt an ihnen wie der Staub der unasphaltierten Straßen ihrer Siedlungen, ein umgekehrtes Unschuldsgebot. Nur Kevin war eben noch ein Kind. Ein Kind kann man schlecht von vorneherein schuldig sprechen.
Und während die Medien einfach nur von einer weiteren Schießerei in Zavaleta sprechen, weint das Viertel vor Wut und Resignation angesichts der vollkommenen Ignoranz und Vernachlässigung „ihrer“ Toten, die wenn überhaupt nur als Zahlen und als „Verbrecher auf der Flucht erschossen“ an die Öffentlichkeit geraten – namenlose Meldungen, die nur auf Aussagen der Ordnungskräfte beruhen.
Auch Garganta Poderosa, Zeitschrift für Kultur der villas, deren Redaktionskollektiv im Barrio Zavaleta sitzt und die den Protestakt am 7. September organisierte, lamentiert, dass in den großen Medien alle Bewohner_innen der villas wie Verbrecher_innen behandelt werden: „Niemand taucht in der Villa 21 auf, um die Informationen [der Polizei] zu überprüfen, denn sie wissen ja, dass sie von der Stigmatisierung gedeckt werden. […] Niemand spricht davon, dass zwei unbewaffnete Jugendliche mit Kugeln durchlöchert wurden. Dass die Polizisten vergessen haben, sie vorher vor Gericht zu stellen. Dass Jonathan ermordet wurde, weil er villero war. Dass Brian ermordet wurde, weil er Bolivianer war. […] Dass niemand die Mörder dieser Jungen festgenommen hat. Die Straffreiheit in den Medien ist auch für die Straffreiheit vor Gericht verantwortlich.“
Jonathan und Brian, 17 und 19 Jahre alt, starben am 7. August im Kugelhagel der PFA (Argentinische Bundespolizei), in der Villa 20, im Viertel Lugano, an deren Eingang ein geklautes Auto mit steckenden Schlüsseln stehengelassen worden war. Auf dem Nachhauseweg, das gerade gekaufte Hühnchen fürs Abendessen im Gepäck, kletterten sie ins Auto, ein Jungenstreich. Dann Polizisten in Zivil hinter ihnen. Jonathan stirbt, als er mit erhobenen Händen und unbewaffnet aus dem Auto steigt, Brian auf dem Beifahrersitz, vom Fahrersitz aus erschossen.
Were. Were, 16, wollte nachts in Córdoba eine Limo kaufen, denkt vielleicht, es sei sein gutes Recht. Eine Polizeistreife fährt ihm nach, er macht sich aus dem Staub – auf die Polizei zu treffen, kann im besten Fall nur Komplikationen bringen. Später sagt die Polizei, er sei „auf der Flucht“ gewesen. Warum, hat niemand bewiesen, niemand untersucht. Und als wäre dies genug Grund, das Leben eines Menschen auszulöschen. Wie auch im Fall von Were wird Selbstverteidigung als Begründung vorgebracht, die die locker sitzenden Finger am Abzug der staatlichen Sicherheitskräfte rechtfertigt. „Vorsichtshalber schießen“ ist das Motto, vermeintlicher Waffenbesitz, den niemand beweisen muss, ausreichend. „Selbstverteidigung“ durch Schuss in den Hinterkopf des Opfers, als er bereits in den Hinterhof des Hauses seiner Großmutter rennt. Die Jugendlichen in den villas lernen früh, dass es ein Verbrechen sein kann, spazieren zu gehen.
Warum ist ein in einem Waffengefecht durch einen Querschläger ermordetes Kind Opfer von institutioneller Gewalt? Warum muss Were rennen, wenn er die Polizei sieht? Warum Jony und Brian? Warum die 15-jährige Sabrina, die auf dem Schulhof von einer Kugel der Provinzpolizei von Buenos Aires erfasst wurde, als diese zwei fliehende Einbrecher gejagt hat? Die Schuld an Sabrinas Tod wird den Einbrechern gegeben. Was aber ist aus der Verantwortung geworden, nicht in der Nähe einer Schule leichtfertig Waffen zu zücken? Wie wenig ist das Leben eines Menschen in der villa wert?
Dabei geht es nicht nur um die unzähligen Fälle von Polizeiwillkür, in denen sich die institutionelle Gewalt so brüsk manifestiert. Was daran hängt, ist viel mehr. Es geht um den Kampf um Wohnraum, gegen Exklusion, Prekarität und Diskriminierung, denen sich die Menschen, die in den villas von Buenos Aires leben, alltäglich ausgesetzt sehen.
Vanesa Orieta, Aktivistin, seit 2009 auf der Suche nach ihrem Bruder Luciano (durch die Provinzpolizei von Buenos Aires gewaltsam verschwunden inmitten der Demokratie), spricht auf dem Podium vor dem Sicherheitsministerium die strukturelle Problematik an, die sich hinter dem gatillo fácil verbirgt: „Institutionelle Gewalt bedeutet, dass eine Person keinen Zugang zu einem lebenswerten Haus hat, dass sie sich nicht in einem Krankenhaus mit Medikamenten behandeln lassen kann, dass sie keinen Zugang zu guter Bildung hat.“ Dass Häuser brennen und die Feuerwehr ohne Wasser kommt. Dass der Krankenwagen ohne Notarzt kommt – wenn er überhaupt kommt, denn zumeist fahren sie gar nicht in die villas hinein. Die Liste ist ellenlang.
So wie alle Fälle von gatillo fácil als Einzelfälle deklariert werden und damit jegliche Verantwortung der Institutionen relativiert wird, wird auch Kevins Fall mit dem „Kontext der Unsicherheit und Kriminalität“ entschuldigt und abgetan. Wäre Ähnliches in einem regulären Viertel passiert, wäre der Skandal groß gewesen. Aber Kevins Haus in der Straße Nummer 4, der Villa 21-24, die es, wie alle anderen prekären Viertel nicht wert ist, auf Stadtplänen aufzutauchen oder Namen zu tragen, lag in einer zona liberada, einer „befreiten Zone“. Ein Jargon aus der Zeit der Diktatur, gebraucht für Gebiete, in denen damals die GTs (Grupos de Tarea, Einsatzkräfte die im Rahmen der Diktatur für Entführungen und Folter zuständig waren) – heute Drogenbanden – mit freier Hand agieren können, ohne befürchten zu müssen, dass jemand eingreift. Illegale Geschäfte werden in den villas gesteuert und ausgetragen, in das „Niemandsland“ verlegt, damit die reichen Stadtviertel, deren Straßen Namen statt Nummern haben, nicht behelligt werden. Die, die eigentlich Kriminalität bekämpfen sollten, sind selbst knietief in kriminelle Machenschaften verstrickt und regulieren gar das Verbrechen. Die viel diskutierte Sicherheit ist die Sicherheit der Mittelklasse, die Armenviertel werden zum Abschuss freigegeben. Befreite Zonen: die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der physischen Integrität der Bewohner_innen der prekären Siedlungen und Armenviertel. Die Wertlosigkeit des Lebens eines Kindes, eines Schulmädchens, eines Jugendlichen.
Der so selbstverständliche Machtmissbrauch der Staatsgewalt wird nicht nur durch den öffentlichen Diskurs, sondern auch durch die politische Debatte gestützt. Die akritische Akzeptanz der Institutionen und Amtsträger_innen von dubiosen Polizeiaussagen nach Erschießungen, die fehlenden Kontrollen und ausbleibenden politischen Antworten vermitteln den Streifenpolizist_innen und Ordnungskräften die gefährliche Botschaft, dass die Ausübung von unkontrollierter Gewalt und Regelverstöße nicht hinterfragt, sondern geduldet und gedeckt wird. Die damit einhergehende Straffreiheit führt zu einem komplett fehlenden Unrechtsbewusstsein unter den Täter_innen. Von den Wenigen, die verurteilt werden, sind viele flüchtig – und müssen nicht mal ihren Namen ändern, um unbehelligt an einem anderen Ort ihrer Strafe zu entgehen.
Aufgrund der Unfähigkeit der Institutionen, den Gewaltmissbrauch zu beenden, fordern Anwält_innen der Opferfamilien und soziale Organisationen, wie das Zentrum für legale und soziale Studien (CELS), eine längst überfällige Reform des Justiz- und Sicherheitssystems. „Die Sicherheitsstrukturen sind verantwortlich für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, die heute in unserem Land passieren“ heißt es in einem Anfang September von CELS veröffentlichten Bericht, der die alarmierende und zunehmende extreme Gewalt von Sicherheitskräften in den letzten Monaten anprangert.
Laut CELS gehört die Unzulänglichkeit der Kontrollsysteme zu den größten Schwächen des Systems und die Sicherheitspolitik konzentriert sich fälschlicherweise auf operative Aktionen auf den Straßen, die zudem auf Diskriminierung und Stigmatisierung von Migrant_innen und Slumbewohner_innen basieren. Die Zahl der erschossenen Verbrecher_innen gar als Maßstab für den Erfolg ihrer Sicherheitspläne zu nehmen, wie es in der Provinz Buenos Aires geschieht, heizt überdies einen Diskurs an, der den Missbrauch von tödlicher Gewalt immer weiter naturalisiert und reproduziert. Auch die Koordinierungsstelle gegen polizeiliche und institutionelle Repression (CORREPI) klagt schwer an: Seit 1996 systematisiert die politische Organisation Daten über Opfer institutioneller Gewalt in ihrem jährlichen Bericht über die repressive Situation in Argentinien. Seit Wiederkehr der Demokratie im Jahr 1983 hat es über 4.000 registrierte Morde durch staatliche Sicherheitskräfte gegeben, etwa 3.500 davon durch gatillo fácil und systematische Folter in den Gefängnissen, 69 bei sozialen Protesten und 213 gewaltsam Verschwundene, Dunkelziffer unbekannt. 77 Prozent der Opfer sind jünger als 35 Jahre, 50 Prozent sogar jünger als 25. Für Ismail Jalil, Anwalt bei CORREPI, liegt das Alarmierende des Berichts nicht nur in den Zahlen an sich, sondern darin, das es keinen Raum gibt, um derartige Informationen zu verbreiten. Dazu kommt auf der einen Seite die Naturalisierung der staatlichen Gewalt in dem Teil der Bevölkerung, der am meisten davon betroffen ist und auf der anderen die enorme Unsichtbarkeit für diejenigen, die gewöhnlich nicht zu den potenziellen Opfern gehören. Für CORREPI ist die staatliche Repression Regierungspolitik zur sozialen Disziplinierung der Bevölkerung, der gatillo fácil eine Methode der präventiven Repression. Anwalt Jalil betont, dass hinter dem Menschen in Uniform, der den Abzug drückt, ein Gehirn ist, dass ihm den Befehl gegeben hat: „Es ist nicht nur der Polizist, der tötet, es ist der Staat“.
Denn die gesammelten Daten zeigen, dass es keine Rolle zu spielen scheint, um welche Provinzregion es sich handelt oder welcher politischen Partei die jeweilige Regierung angehört: Gewaltsam unterdrückt wird immer und überall im Land. In die Ära der selbst ernannten „Regierung der Menschenrechte“ fällt über die Hälfte der Morde durch gatillo fácil oder Folter in Gefängnissen seit Rückkehr der Demokratie. Das politische Projekt der Kirchner-Regierung, die Neukonstruktion nach der Wirtschaftskrise, beruhte auf der Strategie, große Teile der organisierten Gesellschaft für sich zu gewinnen, in dem sie sich ihre historischen Forderungen zu eigen gemacht hat. Doch der Diskurs der Menschenrechte, der zwar wertvolle Programme zur Bekämpfung der Ungleichheit hervorgebracht hat, bleibt bloßer Diskurs, wenn es um die Lösung sozialer Proteste durch Polizeigewalt geht, um Jugendliche aus den villas, um die unmenschlichen und unzumutbaren Zustände in den Gefängnissen, in denen die Mehrheit der Inhaftierten ohne Anklage sitzt und Folter an der Tagesordnung ist.
Ob fehlender politischer Wille oder Unfähigkeit, den institutionellen Gewaltmissbrauch zu beenden – der kontraproduktive Effekt auf die Politik der sozialen Inklusion ist gravierend. Denn die Teile der Bevölkerung, die Zielgruppe jener Sozialprogramme sind, sind zugleich täglich der extremen Gewalt und Diskriminierung der staatlichen Sicherheitskräfte ausgesetzt.
Dagegen protestieren die versammelten Organisationen am Jahrestag von Kevins Tod. Gegen Zustände, die an Zeiten erinnern, die nie wieder zurückkehren sollten. „Wir sind alle Kevin“, skandieren die Protestierenden und dabei steht Kevin auch für Were, Were für Luciano, Luciano für Brian.
Porque dijimos núnca más. Wir hatten „nie wieder“ gesagt. Wir wollen nicht einen Jungen weniger, nicht eine Kugel mehr.

Zwölf Sommer und elf Winter

Wir sitzen im hohen Gras im Schatten eines der wenigen Bäume der Savanne. Keine fünf Meter von uns graben Alejandro, Karen und Pablo ein Loch in den harten Boden. Sie suchen nach den Überresten Felicianos, eines der vielen Opfer der Paramilitärs in Kolumbien. Fast zwölf Jahre liegt er nun schon dort. „Zwölf Sommer und elf Winter“, erklärt Martín*, einer der Männer, die den Mut aufgebracht haben, mit uns hier raus zu fahren und Feliciano zu suchen.
Wir befinden uns in Charras im Bundesstaat Guaviare, einer vergessenen kleinen Siedlung im Südosten Kolumbiens. Die Region liegt zwischen den trockenen, weiten Ebenen der Llanos und den Urwäldern des Amazonas. Ein kurzer Flug und eine lange Autofahrt über unbefestigte Straßen trennt Charras von der Metropole Bogotá. Die gleiche Strecke nahmen vermutlich auch die Paramilitärs, die im Oktober 2002 in die Gemeinde einfielen und sie menschenleer zurückließ. Die Dorfbevölkerung flüchtete – jene, die konnten, in die Provinzhauptstadt San José. Die Alten und viele, die nicht wussten wohin, in die Wälder und zu entlegenen Bauernhöfen. Aber auch dort waren sie nicht sicher vor den paramilitärischen Todesschwadronen. Charras blieb für viele Jahre eine Geisterstadt. 2007 kehrten die ersten Bewohner_innen zurück – der Beginn eines langen und beschwerlichen Wegs des Wiederaufbaus und der Erinnerungsarbeit.
Wir spannen einen Schirm auf, damit uns die Sonne nicht verbrennt. In den dürren Ästen über uns flattert die Fahne, die uns als internationale Begleiter_innen und Beobachter_innen ausweist. Wir begleiten den Jesuitenpater Javier Giraldo, der seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Erinnerungsarbeit aktiv ist und sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt. Die Forensiker_innen begeben sich unter ein provisorisches Sonnendach. Karen misst den Bereich ab, in dem das Team graben soll.
Zwei Bauern kommen auf einem Motorrad aus dem Dorf. Beide tragen die obligatorische Machete am Gürtel und einen Spaten in der Hand. Sie grüßen mit einem stummen, aber freundlichen Nicken und begeben sich an die Arbeit. Hinter ihnen strampelt ein kleines Mädchen auf einem rosa Fahrrad. Es müht sich durch das hohe Feld, wirft sein Rad ins Gras und läuft unter die Stoffplane zu der beginnenden Exhumierung. Eine surrealistische Szene. Der Ermordete ist ein ihr unbekannter Freund von María, ihrer Mutter, sie hat ihn nie kennengelernt.
Die Anwesenheit von Freunden und Verwandten ist etwas Neues für die Forensiker_innen. Sie sind jung, Alejandro studiert noch, normalerweise sind sie umgeben von Personal der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung. Zivile Exhumierungen, ausgeführt von einem unabhängigen Expertenteam, sind eine neue Methode in Kolumbien, um Angehörigen von Opfern des andauernden bewaffneten Konflikts zu helfen, die sterblichen Überreste ihrer Familien zu finden. Das Spezifische an den zivilen Exhumierungen ist, dass sie weder von einem Richter angeordnet werden, noch staatliche Institutionen wie Polizei oder Gerichtsmedizin bei der Exhumierung vor Ort sind. Im Kontext des kolumbianischen Konflikts ist dies noch Pionierarbeit und wird eine Tätigkeit bleiben, die Kolumbien und die Angehörigen der mindestens 16.000 Verschwundenen noch lange beschäftigen wird. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 50.000 Opfern des gewaltsamen Verschwindenlassens aus. Pablo schwitzt in seinem weißen Plastikoverall und meint sarkastisch: „Das wird die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern in den nächsten Jahrzehnten sein. Noch unsere Enkel werden Opfer exhumieren.“
Karen leitet das Kolumbianische Forschungsteam für Forensisch-Anthropologische Ermittlungen (ECIAF). Fein säuberlich wird das Umfeld gerodet. Die Spatenstiche tönen klingend in der heißen und zum Zerschneiden stehenden Luft. Karen erklärt den Bauern, dass sie nicht zu tief graben dürfen, um ja nicht etwas zu übersehen, nur fünf Zentimeter darf jeder Spatenstich sein. ECIAF hat sich als eigenständige Nichtregierungsorganisation das Ziel gesetzt, die Verbrechen des kolumbianischen Konflikts unabhängig und unparteiisch aufzuarbeiten. Sie widmen sich dadurch auch der aktiven Erinnerungsarbeit und der Schaffung eines kollektiven, nationalen Gedächtnisses. Dabei unterstützen die professionellen Forensiker_innen die Angehörigen bei der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.
Padre Giraldo ruft uns zu sich. Es ist ein bewegender Augenblick. Aus dem staubigen Boden schauen die Stiefelspitzen von Feliciano. María erklärt uns, dass er sie trug, als er an jenem tragischen Tag im Oktober 2002 aus dem Haus ging. Sie hatten sich für später im Dorf verabredet. „Er hat nicht mal sein Frühstück aufgegessen, so in Eile war er.“ Sie erinnert sich noch an jedes Detail dieses Morgens. „Er wollte an diesem Tag einen Zaun reparieren und nur schnell im Dorf noch etwas besorgen. Ich sollte ihn mittags dort treffen und ihm was zu essen bringen. Als er nicht kam, lief ich den Weg zurück zu unserem Hof. Als er dort auch nicht war, bekam ich Angst.“ Sie fand ihn später an der Stelle im hohen Gras, an der wir jetzt sitzen. „Sie hatten ihn erschossen, drei Kugeln in den Kopf und zwei in die Brust, die Bäume dort waren voller Blutspritzer.“
Die Forensiker_innen arbeiten nun vorsichtiger. Unter den Pinselstrichen kommt eine graue Arbeitshose zum Vorschein. Karen erläutert den Umstehenden, dass die Knochen des Beckenbereichs am besten erhalten bleiben. Die Erde in Guaviare ist sehr säurehaltig und absorbiert deshalb schnell die Überreste der Opfer. Der Körper von Feliciano ist besser erhalten als der vieler anderer, die nach ihrer Ermordung mit einer Machete oder Motorsäge zerteilt wurden. „Die Knochen sind von außen mit einer Membran umhüllt, die sie vor Verwesung schützt“, erläutert Alejandro, „sobald ein Knochen aber aufbricht, können Mikroorganismen ihn zersetzen.“
Karen entdeckt den Schädel. Stumm schreiend erscheinen die Augenhöhlen in der trockenen Erde. Die Forensiker_innen pinseln ihn frei – die Schädeldecke ist aufgeplatzt, aber ein grau-blau kariertes Hemd hält ihn zusammen. María erzählt uns: „Er hatte diese Angewohnheit, sich das Hemd um den Kopf zu binden, um sich vor der Sonne zu schützen. Obwohl er ja noch jung war, 32 Jahre, ging ihm schon früh das Haar aus.“
Unzählige Opfer forderte der Konflikt in Kolumbien im Norden von Guaviare. In Charras erzählt man uns, dass man bei einer Dorfgemeinschaft von 70 Personen von 23 Verschwundenen ausgeht, die in der Gegend verscharrt wurden. Teils von Paramilitärs, um Spuren zu verwischen, teils von Angehörigen, die in angstvoller Eile ihre ermordeten Freund_innen und Verwandten vergruben, um sie nicht wilden Tieren auszuliefern. Auch María kehrte nach ein paar Tagen mit befreundeten Bauern und Bäuerinnen aus dem Dorf zurück, um Feliciano zu beerdigen. Die Paramilitärs waren noch in der Gegend und ließen keine Bestattung der Toten zu, um auf diese Weise weitere Angst in der Bevölkerung zu schüren. Miguel diskutiert mit María, welcher Tag es genau war. „Es war der 12. Oktober, mein Geburtstag, ich erinnere mich noch genau, Camilo war auf den Baum geklettert, um Ausschau nach den Paramilitärs zu halten. Als wir den Körper hochhoben, tropfte mir etwas Klebriges auf die Schuhe.“
Feliciano liegt nun frei, er hat nichts Furchtbares oder Trauriges an sich. Man spürt, wie es den Umstehenden Kraft gibt – es ist ein Zeichen, dass sie sich nicht von der Gewalt unterkriegen lassen. Diese Art der Exhumierung hat einen großen Vorteil. Die Hinterbliebenen können auf diese Weise aufarbeiten, was ihnen und ihren Familien angetan wurde. Die Dorfgemeinschaft fördert dadurch die kollektive Erinnerungsarbeit und bricht das Schweigen.
Padre Giraldo spricht ein Gebet und benetzt die Knochen Felicianos mit geweihtem Wasser aus einer Plastikflasche. Im Dorf werden sie kurz vor unserem Abschied noch eine Messe halten, eine der ersten seit vielen Jahren. Fünf Tage waren wir in Charras. Vier Opfer konnte das Team exhumieren. Drei von ihnen sind durch Kleider und Fundstelle von Angehörigen vorläufig identifiziert worden. Nun reisen mit uns vier Kartons, jeder nicht größer als eine Bananenkiste. Karen übergibt sie der Fiscalía, der Staatsanwaltschaft, die nun mit der Beweisführung beginnt und DNA-Tests durchführen wird. Der Prozess wird ein bis zwei Jahre dauern, dann werden die Überreste den Angehörigen in einer staatlich organisierten Zeremonie übergeben. Die Sterbeurkunde und das gerichtsmedizinische Gutachten helfen ihnen, vom kolumbianischen Staat Gerechtigkeit zu fordern, zum Beispiel durch Entschädigungen oder indem Täter_innen gesucht und zur Rechenschaft gezogen werden. Durch das im Juni 2011 ratifizierte „Opfergesetz“ (Ley de Víctimas) können Opfer und ihre Angehörigen vom kolumbianischen Staat finanzielle und symbolische „Wiedergutmachung“ fordern, wenn sie nachweisen können, dass sie „individuell oder kollektiv seit dem 1. Januar 1985 einen Schaden infolge von Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht oder schwere und deutliche Verletzungen gegen die internationalen Normen der Menschenrechte im Rahmen des internen bewaffneten Konflikts erlitten haben.“ Die juristische Anerkennung, dass es sich bei ihren Familienangehörigen um zivile Personen gehandelt hat, die keiner der Konfliktparteien angehört haben, kann als großer Schritt in Richtung Gerechtigkeit gesehen werden. Auch wenn die Durchsetzung der rechtlichen Grundlage schwierig ist, hilft es den Hinterbliebenen moralisch und seelisch, dass sie die Rechtsprechung auf ihrer Seite haben. Ihr Verlust wird endlich anerkannt – doch ein Schlussstrich ist es nicht. Die Erinnerungsarbeit in Charras und in Kolumbien geht weiter.

* Die Namen von Opfern und deren Angehörigen wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

Machterhalt erfolgreich gesichert

Wie ist aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition im neu gewählten Nationalen Kongress?
Die beiden traditionellen Parteien, die PN und die PL, wählten den Kongressvorstand gemeinsam. LIBRE machte zusammen mit zwei weiteren Oppositionsparteien einen Vorschlag für mögliche eigene Kandidaten, den Innenminister Áfrico Madrid jedoch ohne weitere Erklärung abehnte. Das gleiche passierte bei der Wahl des Kongresspräsidenten. Der aktuelle Kongressvorstand besteht jetzt zu 90 Prozent aus Abgeordneten der PN, Kongresspräsident Mauricio Oliva ist ebenfalls von der PN.
Nur selten erhalten wir als Opposition das Recht im Kongress zu sprechen. Wir können unsere Meinung äußern, wenn es um Unwichtiges geht. Wenn jedoch wichtige Themen diskutiert werden, erhalten wir kein Rederecht oder die Sitzung wird einfach abgebrochen. Um ein Beispiel zu geben: Im August hat eine LIBRE-Abgeordnete den Antrag gestellt, dass die Parlamentarier Rechenschaft über die von ihnen verwendeten Mittel des Kongresses ablegen sollen. Denn einigen Abgeordneten werden finanzielle Mittel gewährt und anderen nicht. Erstaunlich ist, dass dieser Antrag zugelassen wurde. Als die regierende Partei aber merkte, dass sie diese Debatte verlieren würde, wurde die Sitzung geschlossen und der Antrag zurückgewiesen.
So wird auch mit den Gesetzentwürfen von LIBRE verfahren. Nur ein einziger wurde in den bisher acht Monaten Parlamentsarbeit verabschiedet. Im Kongress werden lediglich die Entwürfe von der PN und PL debattiert. Mit Blick auf die baldige Abgabe der Berichte der Universal Periodic Review (Einem Mechanismus der UN zur Untersuchung der Menschenrechte; Anm. d. Red) ist es möglich, dass LIBRE ein weiteres Gesetz durch den Kongress bringen kann, das den Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten gesetzlich absichern soll. Dies geschieht jedoch mehr durch nationalen und internationalen Druck auf die honduranische Regierung.

Warum wurde der Kongress am 13. Mai 2014 geräumt?
Am 13. Mai, als das honduranische Volk wie üblich an einer Sitzung im Kongress teilnehmen wollte, prügelten Militär und Polizei sowohl die LIBRE-Abgeordneten als auch die Bevölkerung unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken aus dem Kongress.
Seitdem ist der Kongress ein hermetisch abgeriegeltes Gebäude. Vorher traf sich auf dem Platz unterhalb des Kongresses das Volk mit den Abgeordneten, dort fanden auch kulturelle Veranstaltungen statt. Heute ist dies nicht mehr möglich, es gibt nur noch einen einzigen Zugang zum Kongress. Wenn auf dem Platz eine Kundgebung abgehalten werden soll, kommt sofort die Polizei und löst sie auf.

Wie ist der Stand des Verfahrens gegen die Verantwortlichen dieser gewaltsamen Räumung?
Es wurde in der Staatsanwaltschaft für Menschenrechte Anzeige erstattet, aber bis zum heutigen Tag gibt es dazu keine Entscheidung.

Haben LIBRE und der regierende Präsident Juan Orlando Hernández von der PN nach den Wahlen Absprachen zu parlamentarischen Verfahren getroffen?
Nein, LIBRE hat mit Juan Orlando Hernández keine Übereinkünfte getroffen. Die Partei hat lediglich Gespräche mit der PL, der Antikorruptionspartei PAC und mit der sozialdemokratischen PINU geführt. Die Oppositionsparteien haben der PL den Vorschlag unterbreitet, deren Kandidatur für die Kongresspräsidentschaft zu unterstützen, jedoch hat die PL dies abgelehnt. Stattdessen zieht sie es vor, mit ihrem historischen Feind der PN eine Allianz zu bilden. Diese Allianz besteht aus Drohungen, wenn den Forderungen der PL nicht stattgegeben wird. Sind diese dann erfüllt, ist die Allianz wieder gefestigt.

Welche neuen Vorschläge und Änderungen gibt es in der Kommission zur Reform des Wahlsystems?
Es geht um die elektronische Stimmabgabe und darum, dass alle politischen Parteien im Obersten Wahltribunal und im Gremium zum nationalen Personenregister vertreten sind. Die traditionellen Parteien PN und PL möchten nicht, dass die neuen Parteien in diesen Institutionen präsent sind. Damit kontrollieren sie vollständig das Wahlverfahren.

Wie unabhängig ist das Justizsystem von der Regierung, wie gut funktioniert die Gewaltenteilung?
Das ganze System wird von der Regierung kontrolliert, der Oberste Gerichtshof, die Staatsanwaltschaft und auch der Nationalkongress, in dem die Mehrheit der Entscheidungen klar von der Exekutive getroffen werden. Im Januar 2016 werden im Obersten Gerichtshof zwei Drittel der Richter neu gewählt. Ich habe die Hoffnung, dass die Opposition gut agieren wird, dass sie sich nicht verkauft und ehrliche Richter wählt, die mit hoher Verantwortung und Engagement in Sinne der Rechtsprechung handeln.

Gibt es überhaupt eine Kontrolle der Regierung, zum Beispiel durch den Obersten Rechnungshof oder den Kommissar für Menschenrechte?
Wie ich schon sagte, die Exekutive kontrolliert alles. Die Regierung hat den Generalstaatsanwalt gewählt, obwohl dies die Aufgabe des Kongresses gewesen wäre. Sie hat die vier Richter abgesetzt, die das Gesetz zu den Sonderwirtschaftszonen der „Modell-Städte“ für illegal erklärten (siehe Kasten auf Seite 44). Und hat sie durch vier neue Richter ersetzt, von denen kein Widerstand zu erwarten ist. Dieses Jahr wurde ein Kommissar für Menschenrechte gewählt, der der regierenden Partei sehr nahe steht.

Welchen Einfluss üben die Medien auf das politische System aus?
Die alternativen Medien funktionieren als Sprachrohr der sozialen Bewegungen und sind gesellschaftskritisch, jedoch sind sie zahlenmäßig zu wenige. Die Mehrheit der Medien dient der Exekutive. Es fließt sehr viel Geld von der Regierung in die Massenmedien und deren Besitzer machen Geschäfte mit der Regierung. Gegenseitig schätzen und schützen sie sich.

Die Streitkräfte haben seit dem Putsch eine entscheidende Rolle in Honduras gespielt. Aktuell garantieren sie die neoliberale und extraktivistische Politik. Gibt es eine gesellschaftliche Debatte über diese neue Rolle des Militärs?
Die Streitkräfte sind überall. Sie sind in der Ausländerbehörde, in der Handelsmarine, in der Telekommunikation, als Militärpolizei garantieren sie die öffentliche Sicherheit, sie greifen sogar in Krankenhäusern und Gefängnissen ein. Sie haben eine führende Rolle eingenommen, die man nur aus den Zeiten des Kalten Krieges kennt.

Also gibt es keine Zweifel an der neuen Rolle der Streitkräfte?
Sie verfügen über eine große Maschinerie und nutzen die hohe Kriminalität, um die Militärpräsenz in den Straßen zu rechtfertigen. Sie haben eine effektive Kampagne geführt und die Leute überzeugt, dass gegen die zunehmende Kriminalität das Militär die einzige Lösung sei. Trotzdem ist die Kriminalität gestiegen, sie ist auf dem höchsten Niveau, das wir jemals hatten. Und es gibt auch viele Vorfälle, in denen Militärs am Tod von Menschen beteiligt sind. Im Verhältnis zu den immensen finanziellen Mittel, die für die Militärpolizei bereit gestellt werden, sind die Ergebnisse schlichtweg nicht sichtbar.

Infokasten

Jari Dixon Herrera
Dixon Herrera ist Anwalt und Abgeordneter der Oppositionspartei LIBRE (Freiheit und Neugründung). Er reichte gemeinsam mit anderen mehrere Klagen gegen das erste Gesetzesvorhaben der Sonderwirtschaftszonen, den Modellstädten, beim Obersten Gerichtshof ein, das 2012 als verfassungswidrig beurteilt wurde.

„Die Ausbeutung von Land wird legalisiert“

Was ist das Besondere an der Energiereform?
Das Neue ist, dass sie eine grundlegende Verfassungsreform darstellt. Die Regierung hat sich bisher nie getraut, Verfassungsänderungen durchzusetzen, die der Nation den exklusiven Besitz der strategischen Ressourcen entziehen (geregelt ist diese Frage in Art. 27 der mexikanischen Verfassung, Anm. d. Red.). Es gab schon vorher gesetzliche Regelungen, die ausländischen Unternehmen die Ausbeutung von Gütern der Nation erlaubten. Aber dass sie auch deren Eigentümer sein können, ist jetzt zum ersten Mal in der Verfassung festgelegt. Damit ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem der Energiequellen, legalisiert.

Was bedeutet das in der Praxis?
Es findet eine vollständige Öffnung gegenüber dem ausländischen, privatwirtschaftlichen Sektor statt. Ausländische Unternehmen können per Vertrag Eigentümer werden. Basierend auf der Erfahrung mit transnationalen Unternehmen in anderen Ländern wird eine Bandbreite von Verträgen möglich, mit Inhalten wie geteilten Risiken, geteilter Nutzen, Erforschung der Ressourcenvorkommen und deren Abbau. Der staatliche Mineralölkonzern PEMEX und die ehemals staatliche Energiekommission CFE haben keinen exklusiven Besitz der Erdöl- und Energieressourcen mehr. Sie stellen nur noch steuerpflichtige Unternehmen dar, die unter ungleichen Bedingungen mit ausländischen Unternehmen konkurrieren sollen. Außerdem wird der Investition in die Energiegenerierung gegenüber jedweder anderen Nutzung von Land der Vortritt gegeben. Als Folge davon werden Wasservorkommen und ejidale (eine Form gemeinschaftlichen Landbesitzes; Anm. d. Red) und kommunale Landflächen abgetreten.

Welche Gesetzesänderungen sind dem bereits gefolgt?
Die Regierung von Enrique Peña Nieto hat im August alle Folgegesetze zur Energiereform erlassen und angekündigt, dass demnächst die sogenannte Landreform vorgestellt wird. Enthalten sind wichtige Regelungen im Bereich Erdöl, das Gesetz über öffentliche Dienstleistungen im Bereich Elektrizität, das Gesetz zur CFE und PEMEX.
Die Übergangs- und Folgegesetze sind sehr aggressiv. Es wird vom Gebrauch der öffentlichen Gewalt und Einsatz der Armee im Fall von Opposition gesprochen. Das passiert auch schon, wie auf der Insel Holbox vor Yucatán, wo kürzlich die Marine gegen die Leute eingesetzt wurde, die sich dort gegen ein Tourismus-Projekt stellten.

Was heißt das für die ländlichen Gemeinden?
Es ist absehbar, dass sich damit die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Territorien der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften verschärfen wird. Durch Megaprojekte wie Staudämme oder Bergbauminen werden sich die umwelt-sozialen Konflikte in den Gemeinden verschärfen. Ein Beispiel ist das Stauwerk zur Elektrizitätsgewinnung Chicoasén 2. Dort hat die Regierung den ejidatarios, die sich zur Wehr setzen, gedroht, Militär zur Räumung zu schicken.

Welche Konsequenzen ergeben sich für die Besitzverhältnisse auf dem Land, insbesondere den sozialen Landbesitz?
Die Energiereform, eine gesellschaftlich nutzlose Gegenreform, beinhaltet die Änderung des Artikels 27 der Verfassung, der die nationalen Güter wie Wasservorkommen, Energiequellen, (Agrar-) Land, die ejidos und den sozialen Besitz betrifft. In der Folge müssen andere Gesetze angepasst werden. Reformiert werden muss auch das gültige Agrargesetz, da es in vielen Punkten der Energiereform widerspricht. Ich denke, dass der juristischen Figur der „temporären Besetzung“ eine Schlüsselrolle zukommt. Denn sie ermöglicht es der Regierung, Land und Territorium indigener Gemeinschaften an ausländische Unternehmen zu übergeben, ohne dass es ein rechtliches Mittel der Verteidigung und Verhinderung gäbe. Die Gemeinden können es nicht anfechten, wenn privaten oder staatlichen Unternehmen die Nutzung eines Grundstücks vertraglich zugesichert oder zugewiesen wird. Das legen die Folgegesetze fest. Den ejidatarios bleibt ein Zeitraum von 30 Tagen, um mit dem Unternehmen eine Vereinbarung zu schließen. Tun sie das nicht, kann die Regierung mittels Einsatz öffentlicher Gewalt dafür sorgen, dass die vertraglich beschlossene Aktivität beginnt. Auch im Bergbaugesetz taucht die Regelung der „temporären Besetzung“ auf. Der Begriff „Enteignung“ wurde kürzlich aus dem Wortlaut gestrichen, denn das hat alte Erinnerungen bei den Bauern ausgelöst. Die Unternehmen sind auch nicht an Enteignung interessiert, sondern an zeitlich begrenzten Konzessionen, um die gewinnträchtigen Ressourcen auszuschöpfen und das Land danach zurückzugeben. Sonst müssten sie die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Kosten tragen.

Was ist der aktuelle Stand bei der Agrarreform?
Bereits das Agrargesetz von 1992 ermöglicht ausländische Investitionen auf dem Land, beispielsweise über Verpachtung. Auch möglich ist, dass kollektiver Landbesitz in Privatbesitz umgewandelt wird. Dazu gibt es ein bekanntes Programm – PROCEDE, jetzt FANAR – wodurch die Bauern in den Übergang von der kollektiven, eijdalen Besitzordnung des Landes zum Privatbesitz einwilligen. Die Regierung steht bereit für weitere Schritte. Kurz bevor Ex-Präsident Felipe Calderón 2012 sein Mandat beendete, schickte er eine Initiative an den Kongress – darin liegt der Schlüssel für die kommende Landreform.

Kann man daraus ableiten, wie die geplante Agrarreform aussehen wird?
Die Regierung betrachtet die ejidale Versammlung als größtes Hindernis für ihre Pläne zur Modernisierung und Marktliberalisierung. An vielen Orten ist die Versammlung eine historische Institution der indigenen Gemeinden, deren Geschichte weit über das Agrargesetz hinausgeht. Es ist jetzt einfacher, dass ein einzelner Bauer mit seiner Parzelle Opfer von Ausbeutung wird oder dass er sein Land verkauft – hier gab es eine Schranke, weil in der vorhergehenden Ordnung das Land nicht verkauft werden konnte. Das bevorstehende Agrargesetz ist einfach nur der Abschluss all dieser Reformen: die Ausbeutung von Land wird legalisiert.

Mit der Energie- und Landreform gehen weitere Reformen einher, die Einfluss auf den Landbesitz haben…
Innerhalb dieses ganzen Reformpakets wird zum Beispiel das „Schutzgesetz“ (ley de amparo) reformiert. Im gültigen Agrargesetz stand den Bauern noch der amparo als Weg der Verteidigung ihres Landes offen. Der amparo ist eine Verfassungsbeschwerde, eine Institution in Mexiko. Es ist der legale Mechanismus jedes mexikanischen Bürgers oder von Körperschaften wie der ejidalen Versammlung gegen staatlichen Machtmissbrauch und Verletzung von Verfassungsrechten vorzugehen, zum Beispiel bei der Durchsetzung von Regierungsprogrammen.
Das wird bereits unterwandert: Die Staatsanwaltschaft in Agrarsachen, deren Funktion es wäre, die Rechte der Gemeinden zu verteidigen, überzeugt stattdessen die Bauern davon, ihre Rechte abzugeben – auch mithilfe illegaler Mittel. Sie agiert damit als Vertreterin von Unternehmen oder der Regierung, die Interessen an dem Land haben.

Wie steht es um die Menschenrechte der Landbevölkerung nach den Energiegesetzen?
Die Energiereform verletzt internationale Instrumente, die Menschenrechte von indigenen Gemeinschaften schützen. Der einzige legale Mechanismus, den es für Gemeinschaften, wie ejidos gibt, um ein Programm oder Projekt auf ihrem Territorium zu auszusetzen, war bisher der amparo. Das wird sich ändern. Es wird davon gesprochen, dass der amparo nicht bei Verfassungsänderungen, das heißt der Energiereform, greift. Die Energiereform und die kommende Agrarreform entziehen den indigenen Gemeinschaften das Recht auf Land sowie auf vorherige Konsultation. Es gibt auf nationaler Ebene keinen bindenden Schutzmechanismus, da keine Regelungen darüber bestehen, wie der Prozess einer Konsultation ablaufen sollte. Die Regierung entscheidet also darüber. Sie hält zum Beispiel ein Forum ab, das sie dann als Konsultation darstellt, obwohl sie die Eingeladenen bezahlt und kontrolliert.

Manche schätzen die Energiereform als Gnadenstoß für Formen des gemeinschaftlichen Landbesitzes ein…
Ich denke vielmehr, dass sie die Legalisierung dessen ist, was schon vorher passierte. Es ist lediglich ein noch komplizierteres Szenario mit wenig Verteidigungsmöglichkeiten. Die Gemeinschaften können auf keinen Schutzmechanismus zurückgreifen. Hinzu kommt, dass auch die Richter von der Regierung kontrolliert werden. Der Oberste Gerichtshof hat gezeigt, dass er im Interesse der Regierung und Unternehmen handelt, anstatt eine unparteiische und juristische Position zu garantieren.

Wo sehen Sie Handlungsspielräume für den Widerstand?
Die Reformen zwingen die Menschen zu neuen Widerstandsformen. Wir haben die Möglichkeiten der kommunitären Konsultation noch nicht ausgeschöpft. Ich denke, hier könnten wir ansetzen. Die Gesetze verletzen die Rechte der Gemeinschaften auf Territorium. Deshalb muss die Kampfstrategie darin bestehen, selbst Mittel zur Konsultation zu entwickeln. Wir können hier keine Organisation überstülpen. Es muss ein Prozess an der Basis stattfinden, ohne dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen oder politischen Parteien von Bedeutung ist. Die sozialen Organisationen können die Prozesse begleiten. Das ist die einzige Form, das soziale Netz wiederherzustellen.

„Wir alle sind autodefensas“

Es herrschte eine fast gespenstische Spannung, als das Publikum und die zahlreichen Journalist_innen auf die Teilnehmer_innen des nationalen Forums der zivilen autodefensas (Bürgerwehren) warteten. Bei ihrem ersten landesweiten Treffen am 28. Mai in Mexiko-Stadt waren nicht nur Mitglieder der Bürgerwehren, sondern auch zahlreiche prominente Aktivist_innen aus Politik, Kirche, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien präsent. Sie waren zusammengekommen, um den Anführern der autodefensas-Bewegung José Manuel Mireles und Hipólito Mora ihre Solidarität auszudrücken. Seit über einem Jahr versuchen deren Organisationen in Gemeinden der Region Tierra Caliente im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán, die lokale Bevölkerung aus dem Griff des Drogenkartells der Tempelritter zu befreien (siehe LN 476).
Die Redner_innen betonten, dass innerhalb Mexikos sehr verschiedene Ausdrucksformen der Gewalt existieren, die ihren Ursprung in Armut, Exklusion sowie dem defizitären Sicherheits- und Rechtssystem haben. Als gemeinsamen Bezugspunkt benannten sie ihren Kampf für die Verteidigung der Menschenrechte. Ihre Redebeiträge illustrierten die Allgegenwärtigkeit der Straflosigkeit und die Ausuferung der Gewalt in Mexiko – nicht nur von Seiten der kriminellen Organisationen, sondern auch von Seiten des Staates, der selbst immer mehr in die kriminellen Geschäfte verwickelt zu sein scheint. Daraus leiten sie ab: Eigeninitiative bleibt die einzige Option, sich zu schützen. Der Tenor des Forums lautet deshalb: „Die Zivilgesellschaft kann, will und hat das Recht sich selbst zu verteidigen.“
Auf Zustimmung und Verständnis aus der Zivilgesellschaft können sie dabei zählen. Laut Raúl Vera, Bischof von Saltillo im nördlichen Bundesstaat Coahuila, sind es gerade die Opfer von Gewalt, die zu Subjekten des Widerstandes werden. Ihre Stimme und ihre Menschenwürde, so Mireles‘ Anwältin Talía Vázquez, seien dabei ihre Waffen. Selbstverteidiger_in zu sein bedeute, seine Freiheit mit Verantwortung zu verteidigen, so Mario Segura, Journalist aus Tamaulipas. Und der Jurist Jaime Cárdenas erklärt:„Da der mexikanische Staat sein Mandat nicht erfüllt, können die Bürger von Widerstandsrecht und Notwehr Gebrauch machen, ohne dabei verfassungswidrig zu handeln.“ Dahinter steht ein neues Konzept von autodefensas, das nicht nur die bewaffneten Bürgerwehren, sondern eine Bandbreite von zivilgesellschaftlichen Initiativen mit einschließt und deren Handeln legitimieren soll.
Dass sich Zivilist_innen bewaffnen, wie derzeit in Michoacán zu beobachten, ist aber keinesfalls neu. Die Existenz solcher Gruppen lässt sich inzwischen laut einer Studie der International Crisis Group (2013) in der Mehrheit der Bundesstaaten Mexikos beobachten, mit einem „Epizentrum“ in den zentralmexikanischen Bundesstaaten Guerrero und Michoacán. Eine allgemeine Aussage über die Gruppen zu treffen, die sich zu ihrem Selbstschutz gegründet haben, ist schwer. Denn sie haben sehr unterschiedliche Hintergründe, Organisationsstrukturen und Interessen, wie allein die Situation in Guerrero und Michoacán verdeutlicht: Die Coordinadora Regional de Autoridades Comunitarias (CRAC) in Guerrero besteht bereits seit 1995. Auch die Vereinigung der Organisierten Gemeinden Guerreros (UPOEG) ist eine Bewegung, unter deren Dach sich zahlreiche Bürgerwehren gebildet haben. Sie gehen inzwischen in großen Teilen Guerreros gegen Kriminelle, aber auch gegen staatliche Sicherheitskräfte und Politiker_innen vor, denen sie eine Verbindung zum Organisierten Verbrechen nachsagen. Ihre Sicherheitssysteme basieren auf indigenen Prinzipien und Traditionen. Ein weiteres Beispiel ist der Consejo de Autodefensa (Rat der Selbstverteidigungsgruppen) der indigenen Gemeinde Cherán in Michoacán. Hier leisten die Bewohner_innen seit Jahren Widerstand gegen die illegale Waldrodung in ihrem Territorium. Sie errichteten Barrikaden und gründeten Gruppen von Wächter_innen, die in den Wäldern patrouillieren. Inzwischen sind ihre verschiedenen Einheiten Teil eines integrierten Sicherheits- und Regierungssystems, das im Jahr 2011 formale Autonomie erlangte und vom mexikanischen Staat weitgehend respektiert wird. Diese Gruppen berufen sich zu ihrer Legitimierung unter anderem auf den Artikel 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), der indigenen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung gewährt. Sie bezeichnen sich selbst als Policía Comunitaria (Gemeindepolizei) – ein Name, der die gemeinschaftliche Grundlage des Projekts verdeutlicht. Die „Polizist_innen“ werden stets von den Gemeindemitgliedern im Rahmen kommunaler Versammlungen ausgewählt. Auch das Rechts- und Sanktionssystem funktioniert stets in Rücksprache mit der Gemeinde.
Im Unterschied zu den Gruppen in Guerrero wurzeln die autodefensas um Mireles und Mora nicht in indigenen Traditionen. Dennoch sind auch die Bürgerwehren in Michoacán ein kommunales Projekt. Regelmäßig werden Versammlungen abgehalten, in denen die Gemeindemitglieder über die Tätigkeiten der selbsternannten Ordnungshüter_innen berichten und das weitere Vorgehen beschließen. Dieses Modell der Bürgerwehren in Michoacán scheint bisher besonders erfolgreich zu sein. In weiten Teilen des Bundesstaates ist es ihnen gelungen, ihre Gemeinden aus dem festen Griff der Tempelritter zu befreien.
Das Akteursfeld der Bürgerwehren wird aber zunehmend diffuser. Besonders in Michoacán wird immer mehr der Verdacht gehegt, dass die bewaffneten Gruppen im Interesse der Organisierten Kriminalität agieren. Ihnen wird eine Verbindung zum Drogenkartell Jalisco Nueva Generación nachgesagt, einem der Hauptrivalen des Kartells der Tempelritter. In Guerrero wird der Verdacht geäußert, dass sich die Policías Comunitarias zunehmend zu einer Guerillabewegung mit politischen Interessen wandeln. Eindeutige Belege für diese Gerüchte gibt es jedoch bislang nicht. Zusätzliche Verwirrung stiftet zudem das Agieren paramilitärischer Gruppierungen wie der matazetas, die sich an der Golfküste dem Kampf gegen das Kartell der Zetas verschrieben hat. Sie bezeichnen sich als „anonyme Krieger“ und „stolze Mexikaner“, die die Sicherheitskräfte respektieren. Auftraggeber_innen von Paramilitärs seien, so der bekannte Sicherheitsforscher Edgardo Buscaglia, Unternehmer, die von Schutzgelderpressungen und korrupten Polizist_innen genug haben, aber auch Regierungen von Bundesstaaten und Gemeinden. Teilweise sind es kriminelle Organisationen selbst, die auf sie zurückgreifen. Die Generalstaatsanwaltschaft PGR wiederum führt alle diese Gruppen unter dem Label autodefensas. Militärische Operationen der Regierung können dann mit der Bekämpfung Organisierter Kriminalität begründet werden. Schließlich bedeuten Bürger_innen, die in eigener Initiative zu den Waffen greifen, ein Unterlaufen der staatlichen Souveränität. So entsendete die Regierung von Enrique Peña Nieto im Mai 2013 Militärs nach Michoacán mit der Begründung, die autodefensas gehörten kriminellen Vereinigungen an. Ergebnis der Militärpräsenz ist jedoch letztlich nur die Ankurbelung der Gewaltspirale.
Das Verhältnis zwischen den mittlerweile über tausend Selbstverteidiger_innen um Mireles und Mora und dem Staat schwankt zwischen Kriminalisierung und Kooperation. So wurde Mora im März 2014 bei einer Operation des Militärs, das die autodefensas entwaffnen sollte, zeitweise festgenommen. Während er nach zwei Monaten freikam, befinden sich andere politische Gefangene nach wie vor in Haft. Es fanden jedoch auch Verhandlungen über mögliche Kooperationen statt. Im Januar 2014 wurde in Michoacán ein Abkommen ausgehandelt, das eine Zusammenarbeit der Bürgerwehren aus Tierra Caliente mit den staatlichen Sicherheitskräften vorsah. Sie sollten sich unter die Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums stellen, ihre Waffen registrieren und von der Regierung ausgerüstet als defensas rurales (Landpolizei) agieren. Die Regierung konnte durch diese Eingliederung von über 250 defensas rurales Alliierte finden, wie zum Beispiel Estanislao Beltrán, bekannt als Papá Pitufo (Papa Schlumpf). Dies führte zu Spaltungen innerhalb der Bewegung. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Anführern der Gruppen und die Bewegung drohte an Einheit und Stärke zu verlieren.
In dem Forum Ende Mai 2014 machten Mora und Mireles jedoch gerade ihren Zusammenhalt deutlich. Während ihrer Redebeiträge bauten sich hinter den Rednern mindestens fünf Mitglieder der Bürgerwehren als Leibwächter auf. Mireles und Mora betonten, dass sie keine Guerillas seien und auch nicht gegen den Staat arbeiteten. Vielmehr sähen sie sich als Teil einer sozialen Bewegung, die für ein Ende von Gewalt, Unsicherheit und Korruption kämpft. Sie forderten deswegen, dass der Staat aufhören solle, sie zu kriminalisieren und repressiv gegen sie vorzugehen. „Unser Anliegen ist es nicht, zu einem nationalen bewaffneten Aufstand aufzurufen, sondern zu einem ‚Aufstand des Bewusstseins‘ aller Bürger_innen in Mexiko“, so Mireles. Obwohl sie und die anderen Teilnehmer_innen des Forums für ein friedliches Vorgehen auf dem Weg hin zu mehr Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in Mexiko plädierten, hält Mireles an seinem Plan fest: Eine Registrierung und Niederlegung der Waffen erfolge erst, wenn die Regierung ihrer Aufgabe nachkomme und die Kriminellen hinter Gitter bringe. Aufgrund der Unsicherheit in ihren Gemeinden und der nach wie vor instabilen Beziehung zum Staat sähen sie sich gezwungen, bewaffnet zu bleiben.
Diese deutlichen Provokationen gegen den Staat von Seiten Mireles führten am 27. Juni 2014, nachdem er die Gründung weiterer Bürgerwehren und die Befreiung des Hafens Lázaro Cárdenas aus der Kontrolle der Tempelritter verkündete, zu seiner Festnahme und der von fast hundert seiner Anhänger_innen. Mireles befindet sich mittlerweile in einem Hochsicherheitsgefängnis im Bundesstaat Sonora. Man hat ihm den Kopf geschoren und seinen charakteristischen Bart abrasiert – Menschenrechtsverletzungen, die klar darauf abzielen, ihn zu demütigen. Viele der Teilnehmer_innen des Forums reagierten mit öffentlichem Protest, der insbesondere in den sozialen Netzwerken Unterstützung findet. Für den Geistlichen Alejandro Solalinde, der eine Herberge für Migrant_innen in Oaxaca leitet, ist dies ein klares Signal für alle Menschenrechtsverteidiger_innen: „Das ist eine Botschaft, eine Warnung an uns alle. Sie werden versuchen ihn irgendwie zu kriegen, ihm eine Falle zu stellen. Und das ist nicht das erste Mal. Mich haben sie schon auf vielfache Weise versucht zu kriminalisieren – immer von Seiten des Staates.“ Um ihre Solidarität zu zeigen, rasierten sich Anhänger_innen von Mireles, darunter seine Anwältin Talia Vázquez, ebenfalls den Kopf.

„Suche nach einer offeneren Gesellschaft“

In Mexiko gibt es schon viele Organisationen zur Verteidigung und Unterstützung von Migrant_innen. Wieso haben Sie nun Migrantes LGBT (Aus dem Englischen, lesbian, gay, bisexual, trans*; Anm. der Red.) gegründet?
Julio César Campos Cubías: Wir möchten die Lücke schließen, die durch die fehlenden Initiativen zum Schutz nicht-heterosexueller Migrant_innen bestehen. Deswegen haben wir uns am 21. Januar 2014 offiziell zusammengetan. Der mexikanische Staat und seine Institutionen setzen sich nicht für die Menschenrechte dieser Personen ein. Dies wäre aber aufgrund der doppelten Vulnerabilität dieser Gruppe besonders dringlich: Die Situation von Diskriminierung und Homophobie ist nämlich nicht nur Grund für ihre Entscheidung zu migrieren, sondern sie erleben sie auch konstant auf ihrem Weg nach, durch und in Mexiko.

Sergio Gallardo García: Die Organisierte Kriminalität, genauso wie die Ignoranz und Gewalt von Polizist_innen und Beamt_innen oder gar anderer Migrant_innen sind der Grund für ihre besondere Schutzbedürftigkeit. Neben Frauen und Kindern ohne Begleitung ist es genau diese Gruppe, die von gewalttätigen, vor allem sexuellen Übergriffen, Menschenhandel und alltäglichen Angriffen in den Herbergen und Institutionen betroffen ist.

Wie genau sieht die Situation der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko aus?
S.G.: Hauptbeweggrund für die Migration nicht-heterosexueller Migrant_innen ist mit Sicherheit ihre Suche nach einer offeneren Gesellschaft. Nach einem Ort, an dem sie sich nicht mehr verstecken müssen, um nicht alltäglicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Obwohl es in Mexiko, vor allem in der Hauptstadt, bereits zahlreiche Gesetze und politische Initiativen zum Schutz der LGBT-Bevölkerung gibt, ändert dies bisher wenig an der tatsächlichen Situation. Weltweit ist Mexiko das Land mit der zweithöchsten Rate an Hassmorden. Einer der Hauptgründe ist die tief verwurzelte Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie der Menschen.

J.C.: Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass viele Migrant_innen keine Papiere haben und deswegen Ausbeutung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Wenn sie nicht selbst Opfer werden, schließen sie sich oft Drogen- oder Menschenhändler_innenbanden an. Diese Situation betrifft besonders häufig nicht-heterosexuelle Migrant_innen, denen von der Gesellschaft von vornherein Arbeiten mit einem hohen Risiko, insbesondere die Prostitution, zugeschrieben werden. Deshalb sehen sie sich besonders oft gezwungen, auf der Straße zu leben oder in bestimmten Milieus zu verkehren. Dies wiederum erhöht ihre Kriminalisierung und Stigmatisierung seitens der Gesellschaft.

Wer ist Teil des Kollektivs und wie arbeiten Sie?
J.C.: Wir sind Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen. In Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft versuchen wir, die Sichtbarkeit und letztlich die Integration von nicht-heterosexuellen Migrant_innen zu fördern. Wir unterstützen insbesondere Migrant_innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die USA und bei ihrer Ankunft in Mexiko. Aber auch Geflüchtete aus anderen Ländern, die Asyl in Mexiko beantragen wollen. Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdiges Leben hat. Deswegen bietet unser Kollektiv dieser Gruppe von Migrant_innen humanitäre Hilfe an, die auf ihre spezifischen Anliegen gerichtet ist: Neben akuten Sachleistungen, leiten wir die Migrant_innen an sensibilisierte Herbergen und andere Stellen weiter, die legale und psychologische Unterstützung geben können.

Können Sie das an einem Beispiel etwas genauer ausführen?
J.C.: Es gibt verschiedene Fälle: Zum einen gibt es Personen, die mit konkreten Problemen persönlich an uns herantreten. Häufig fragen sie sich vor allem, ob sie in Mexiko bleiben oder besser versuchen sollen, ihren Weg in die USA fortzusetzen. Es gibt aber auch Fälle, die von Organisationen vertreten werden. Einer dieser Fälle ist Ender, ein 32-jähriger Salvadorianer, der nach Mexiko kam, weil er in El Salvador als politischer Aktivist für LGBT-Rechte verfolgt wurde. Obwohl Vorschriften der Nationalen Migrationsbehörde (INM) vorsehen, dass Migrant_innen nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden dürfen, verhafteten sie Ender und sperrten ihn sieben Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen ein. In Zusammenarbeit mit einer Anwältin und drei weiteren Kollektiven haben wir innerhalb eines Monats seine Freilassung erwirkt. Grundlegend war dabei nicht nur der politische und mediale Druck, den wir auf das INM, die Nationale Menschenrechtskommission und das salvadorianische Konsulat ausüben konnten, sondern vor allem auch die öffentliche Anklage in sozialen Netzwerken.

Welche weiteren Möglichkeiten nutzt das Kollektiv, um die Sichtbarkeit des Phänomens in der Gesellschaft zu erhöhen?
S.G.: Wir versuchen vor allem, durch Aktivitäten in sozialen Netzwerken die Menschen zu sensibilisieren und informieren. Außerdem organisieren wir Ausflüge zu Herbergen, Universitäten und Museen. Andere Veranstaltungen, die von uns durchgeführt werden, sind beispielsweise Filmzyklen mit anschließender Diskussion oder punktuelle Beiträge z.B. am Internationalen Tag des Kampfes gegen Homophobie oder der Demonstration für LGBT-Rechte in Mexiko-Stadt am 28. Juni.

Was müsste sich konkret verändern, damit die Rechte der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko respektiert werden?
S.G.: Wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte, die die LGBT-Bewegung in Mexiko-Stadt in den letzten Jahren erkämpft hat, für alle gelten – ob arm oder reich, indigen oder mestizisch, und eben auch für Migrant_innen. Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass ebenso wie die Migration ein vielfältiges Phänomen ist, die Menschen, die migrieren, unterschiedliche Gründe und Ziele, genauso wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben. Deswegen wollen wir Weiterbildungen für die Beamt_innen, speziell des INM und der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR) anbieten. Wir würden hier gerne gemeinsam mit ihnen eine gerechtere Migrationspolitik erarbeiten, die nicht nur nicht-heterosexuelle Migrant_innen, sondern auch andere Gruppen wie Indigene und Kinder ohne Begleitung umfasst.

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