„DIE REPRESSIVEN MASSNAHMEN WERDEN IMMER EXTREMER“

Ihre Organisation gründete sich 2014 im Zuge der damaligen Protestwelle gegen den Präsidenten Nicolás Maduro. Was hat Sie dazu bewogen, aktiv zu werden?
Vor drei Jahren erlebte Venezuela eine sehr ähnliche Situation wie heute. Im Zuge der damaligen Proteste wurden viele Menschen willkürlich festgenommen. Niemand dokumentierte oder verfolgte diese Fälle. Die meisten Venezolaner können sich die Unterstützung eines Anwalts nicht leisten. So erhielt die Mehrheit der Festgenommenen keinerlei juristische Unterstützung. Ich wollte etwas gegen diese Situation tun und gründete gemeinsam mit vier weiteren Anwälten CODHEZ. Wir wollten den Festgenommenen kostenfreie juristische Unterstützung bieten. Unsere Arbeit konzentriert sich auf Zulia, den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Venezuelas, und dessen Hauptstadt Maracaibo.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Wir haben in den letzten drei Jahren über 100 Personen vertreten, die bei politischen Protesten willkürlich festgenommen wurden. Zudem betreuen wir Fälle extralegaler Hinrichtungen, in die Vertreter des Staates direkt oder indirekt verwickelt sind. Dazu gehören hauptsächlich Fälle, die mit den sog. Operationen zur Befreiung des Volkes (OLP) zusammenhängen.

Worum handelt es sich bei diesen OLP?
Nicolas Maduro rief die OLP als Sicherheitsoperationen ins Leben, um „organisierte Banden und ihre Hintermänner innerhalb der Zivilbevölkerung zu eliminieren“. Aber entgegen der offiziellen Verlautbarungen bestehen diese OLPs hauptsächlich darin, dass Vertreter der Polizei oder der Streitkräfte in marginalisierte Stadtviertel fahren und dort Menschen töten, die angeblich irgendeine Art von Straftat begangen haben. Sie dringen einfach in ihre Häuser ein und töten sie, ohne jegliche Art von Gerichtsverfahren. Von diesen extralegalen Hinrichtungen sind besonders indigene Gruppen betroffen. In der Region La Guajira betreuen wir aktuell 23 Fälle, bei denen Angehörige der indigenen Gruppe Wayú augenscheinlich von Soldaten hingerichtet wurden.

Zielen diese Operationen hauptsächlich auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen?
Nein. Hier in Maracaibo gibt es ein berühmtes Gebäudeensemble, die Torres del Saladillo. Der Komplex besteht aus vier Hochhäusern im Zentrum der Stadt, über 2.000 Menschen wohnen dort. Seit 2014 wurden die Torres del Saladillo immer wieder von der Polizei angegriffen, weil das Gebiet ein traditionelles Zentrum der Protestbewegung ist. Die staatliche Repression ist völlig unverhältnismäßig. Seit April haben wir eine Vielzahl absurder Vorfälle dokumentiert. Fast jede Nacht verschießt die Polizei dort Tränengasbomben. Mehrere Wohnungen brannten durch den massiven Beschuss komplett aus. Ende Mai wurde ein 24-Jähriger bei gewalttätigen Auseinandersetzungen durch ein Bleigeschoss getötet. Das Dezernat für fundamentale Rechte der Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall – das heißt, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Bleikugel von einem Vertreter des Staates abgeschossen wurde. Die Menschen leben dort in konstanter Angst.

In welchem Zusammenhang stehen diese repressiven Maßnahmen mit den willkürlichen Festnahmen?
Um beim Beispiel der Torres del Saladillo zu bleiben: Viele der Hinweise auf beispielsweise oppositionelle Aktivisten gehen von den sogenannten patriotas cooperantes aus. Bei diesen kooperierenden Patrioten handelt es sich um ein Spitzelsystem mit anonymen Informanten, das Nicolás Maduro aufgebaut hat, um „destabilisierende Aktionen“ zu verhindern. Mit diesen „destabilisierenden Aktionen“ meint die Regierung im Grunde alles, was irgendwie mit der Opposition zusammenhängt. Deswegen werden die Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, in offiziellen Verlautbarungen auch immer als „Störer“, als „Terroristen“ bezeichnet, die die „gesellschaftliche Ordnung und den Frieden destabilisieren“ möchten. In den Torres del Saladillo kam es wiederholt vor, dass Personen, die als Aktivisten der Opposition bekannt waren, unter völlig absurden Anschuldigungen festgenommen wurden, weil sie von diesen kooperierenden Patrioten verraten wurden.

Was sind das für Anschuldigungen?
Wir als Organisation betreuen einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem elf Personen in einem der Torres del Saladillo im Zusammenhang mit einer Einbruchserie in einem Kaufhaus festgenommen wurden. Neun von diesen elf Personen waren als hochrangige Delegierte oppositioneller Gruppen bekannt – keiner dieser Personen konnte irgendeine Verbindung zu den Einbrüchen nachgewiesen werden.

Was passiert, wenn diese Personen anschließend vor Gericht gestellt werden?
Wir haben in den vergangenen Tagen beobachtet, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr alle Entscheidungen der Regierung mitträgt. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwälte auf nationaler Ebene in mehreren Fällen, die politisch sehr riskant sind. Leider mussten wir jedoch auch beobachten, dass die Richter den Forderungen der Staatsanwaltschaft oft nicht entsprechen. Wir haben beispielsweise vor kurzem einen Fall begleitet, bei dem die Staatsanwaltschaft die Freisprechung der Angeklagten forderte. Dennoch verhängte der Richter eine Freiheitsstrafe. Es ist eigentlich juristisch gar nicht möglich, dass die Richter ein höheres Strafmaß verhängen, als die Staatsanwaltschaft fordert. Wir sprechen also davon, dass selbst die Richter sich nicht an die Verfassung halten.

Seit einigen Wochen werden Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, vor Militärgerichte gestellt. Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Ich denke, dass das eine direkt mit dem anderen zusammenhängt. Die Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit und ermittelt auch in politisch brisanten Fällen – und das gefällt den Behörden und der Regierung nicht. Deswegen entziehen sie die Fälle der Gerichtsbarkeit der normalen Staatsanwaltschaft und klagen die Protestierenden vor Militärgerichten an. Um das zu ermöglichen, müssen sie jedoch auch die Anklagepunkte ändern.

Was bedeutet das?
Normalerweise werden Personen, die im Rahmen von Protesten festgenommen werden, wegen Tatbeständen wie „krimineller Vereinigung“, „öffentlicher Einschüchterung“, „Aufruf zum Hass“ oder wegen Sachbeschädigung angeklagt. Diese Delikte fallen jedoch nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Deswegen werden die Protestierenden jetzt der „Rebellion“ bezichtigt oder ihnen werden „Angriffe auf das Militär“ unterstellt. Diese Tatbestände können Zivilpersonen eigentlich juristisch gar nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, dass sie mit den realen Vergehen bei den Protesten nichts zu tun haben.

Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Ein gutes Beispiel ist der Fall von Villa del Rosario, wo Protestierende am 5. Mai eine Chávez-Statue umstürzten. Außerdem plünderten sie mehrere Gebäude und brannten diese teilweise nieder, darunter unter anderem das Rathaus der Stadt. Es steht außer Frage, dass diese Akte bestraft gehören, denn sie haben mit friedlichem Protest – also unserem verfassungsgegebenem Recht – nichts zu tun. Aber wir reden hierbei von Sachbeschädigung, von Brandstiftung, von Plünderung. Das sind alles Tatbestände aus dem Zivilrecht. Dennoch wurden 16 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, vor Militärgerichte gestellt. Gegen sie wird jetzt unter anderem wegen „Rebellion“ und „Landesverrat“ ermittelt. Sieben der 16 Angeklagten wurden im Militärgefängnis Santa Ana im Nachbarstaat Táchira inhaftiert, obwohl das Verfahren noch nicht einmal abgeschlossen ist.

Ihre Organisation betreut diese und ähnliche Fälle seit 2014. Wie bewerten Sie die politische Entwicklung der letzten Monate vor diesem Hintergrund?
Wir beobachten einen stetigen Anstieg der Gewalt, die repressiven Maßnahmen werden immer extremer. Staatliche Kräfte nutzen jetzt nicht mehr nur Tränengasbomben, sondern auch illegale Waffen mit scharfer Munition. Damit schießen sie teilweise direkt auf die Protestierenden. Am 8. April dokumentierte eine lokale Zeitung, wie die Regionalpolizei von Maracaibo bei einer Demonstration auf die Menschen schoss. Selbst der Sicherheitschef der Polizei sah sich genötigt, auf diese Fotos zu reagieren und verurteilte den Einsatz der Waffen. Dennoch wurden die betroffenen Polizisten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das sind nicht nur Einzelfälle – ständig erreichen uns neue Berichte von Augenzeugen. Das heißt, Teile der staatlichen Kräfte nutzen Waffen mit der eindeutigen Absicht zu töten. So lassen sich auch die unzähligen Todesfälle bei Demonstrationen erklären. Diese Entwicklung hängt aus meiner Sicht auch mit dem von Nicolás Maduro verabschiedeten „Plan Zamora“ zusammen.

Worum handelt es sich bei dem „Plan Zamora“?
Der „Plan Zamora“ ist eine Art Sicherheitsmaßnahme, der jedoch nach wie vor die legale Basis fehlt. Nicolás Maduro ruft mit dieser Operation die Zivilbevölkerung dazu auf, gegen jene Bevölkerungsgruppen vorzugehen, die aus Sicht der Regierung „Chaos verursachen und den Frieden gefährden“. Seit der „Plan Zamora“ verabschiedet wurde, beobachten wir im ganzen Land ein verstärktes Auftreten bewaffneter, gewaltbereiter Zivilisten, deren Aktionen von den Behörden gutgeheißen werden. Dazu zählen neben paramilitärischen Verbänden auch kriminelle Gruppen, die beispielsweise Geschäfte plündern oder Straßensperren errichten und dort Wegzoll verlangen. Ich wurde selbst wiederholt von diesen Banden abkassiert, teilweise in weniger als einhundert Meter Entfernung zur nächsten Polizeipatrouille. Es ist also absolut unwahrscheinlich, dass die Sicherheitskräfte nichts von diesen Aktionen wissen. Das Absurde ist, dass sie gegen die kriminellen Banden im Grunde nichts unternehmen, aber selbst friedliche Protestierende mit absurden Anklagen vor Gericht stellen.

Was müsste also aus Ihrer Sicht geschehen, um die Situation in Venezuela zu verbessern?
Das ist einfach: Alle Beteiligten müssten sich an das halten, was unsere Verfassung vorgibt. Die Regierung müsste endlich die Wahlen durchführen, die bereits 2016 hätten stattfinden müssen. Wenn die Bevölkerung ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten durchführen will, muss dieses Referendum ermöglicht werden. Gleichzeitig müssen die Protestierenden ihre Aktionen jedoch auch auf die rechtlich legalen Möglichkeiten, das heißt, den friedlichen Protest ohne Einsatz jeglicher Art von Waffen, beschränken. Die Repression muss beendet werden, die unzähligen politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden. Ich finde es außerdem essentiell, dass die Regierung endlich internationale humanitäre Hilfe akzeptiert – zwar kann diese den ökonomischen Notstand im Land nicht beenden, aber zumindest in Ansätzen dabei helfen, die schwere Hungerkrise, die wir gerade erleben, aufzulösen.


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SCHWERER STAND FÜR MENSCHENRECHTE

Foto: Bettina Müller

„Ob es 9.000 Verhaftete und Verschwundene oder 30.000 waren, ich weiß es nicht. Für mich macht diese Debatte keinen Sinn.“ Mit dieser Aussage macht sich Mauricio Macri gemein mit denjenigen, die die Verbrechen der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 relativieren wollen. Macri tätigte diese Aussage in einem Interview zum 41. Jahrestag des Putsches am 24. März. So wie er, sehen es auch Parteimitglieder und regierungsnahe Politiker*innen. Wahlweise drücken sie Zweifel an der im kollektiven Gedächtnis verankerten Zahl der 30.000 Verhaftet-Verschwundenen unter der vergangenen Militärdiktatur aus, einer Zahl, die von den Menschenrechtsorganisationen immer wieder bestätigt wurde, verneinen schlicht, dass diese ein systematisches Programm zur Eliminierung subversiver, linksorientierter Kräfte vorantrieb.

Schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2015 hatte der argentinische Präsident Mauricio Macri angekündigt, dass er mit dem „Schwindel der Menschenrechte“, die in den zwölf Jahren Kirchner-Regierungen eine zentrale Rolle eingenommen hatten, Schluss machen würde – und er hat Ernst gemacht.

Es ist nicht nur die Zahl der Opfer der Militärdiktatur, die die Regierung wenig interessiert. Allgemein steht das Thema Menschenrechte und die Aufarbeitung der Verbrechen unter der Militärdiktatur sowie der Verfolgung derjenigen, die diese begangen haben, nicht sonderlich weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Es verwundert also nicht, dass Estella Carlotto, eine der sichtbarsten Figuren der Großmütter der Plaza de Mayo, dem Präsidenten nach einem Jahr Regierungszeit ein Armutszeugnis im Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte ausstellte – und sie ist nicht allein mit ihrer Kritik.

Während die Regierung Unsummen in Eigenwerbung steckt, um trotz der desaströsen Lage im Land ein Gefühl des Fortschrittes zu generieren, hat sie an anderen Stellen massiv eingespart. Mit zwischen 15 Prozent und bis zu 50 Prozent weniger finanziellen Mitteln als noch im vergangenen Jahr müssen das Sekretariat für Menschenrechte und eine Reihe von Programmen, die sich unter anderem mit der Begleitung der Opfer der Diktatur befassen, 2017 auskommen.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein. Waren es von 2011 bis 2015 jährlich mindestens 20 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sank diese Zahl 2016 auf neun. Gleichzeitig profitierten aber 50 der verurteilten Verbrecher von einer Minderung ihres Strafmaßes und wurden in den Hausarrest entlassen. Zudem stieg der Staat als Ankläger aus einer Reihe von Verfahren gegen Verbrecher der Militärdiktatur aus. Gingen noch bis vor 17 Monaten Menschenrechtsorganisationen im Justizministerium ein und aus, sind es heute die Familienmitglieder der verurteilten Verbrecher*innen und ihre Anwält*innen, zu denen der derzeitige Justizminister Germán Garavano aktive Beziehungen unterhält.

Anfang Mai erreichte die von der Regierung gelebte Politik der Geschichtsvergessenheit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der 2011 zu 13 Jahren verurteilte Luis Muiña, der im geheimen Folterzentrum des Krankenhauses Posadas wirkte, sollte bereits nach der Hälfte der Zeit aus dem Gefängnis entlassen werden, so der Oberste Gerichtshof Argentiniens. Die Richter*innen beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf ein Gesetz, dass es Straffälligen möglich macht, bei guter Führung und unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren, nach der Hälfte der Zeit frei zu kommen. Dieses Gesetz war jedoch 2001 abgeschafft worden und galt ohnehin nie für Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begründeten auch zwei der fünf Richter*innen ihre Entscheidung gegen die Minderung des Strafmaßes von Luis Muiña, wobei sie jedoch von den drei anderen, Elena Highton de Nolasco, Carlos Rosenkrantz und Horacio Rosatti, überstimmt wurden. Rosenkrantz und Rosatti wurden übrigens per Dekret von Präsident Macri ernannt und in zweiter Instanz durch den Senat bestätigt.
Die Antwort der Menschenrechtsorganisationen, sozialer Bewegungen und von einem Großteil der Parteien und Gewerkschaften erfolgte umgehend. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, zirkulierten eine Vielzahl von Erklärungen, die die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verurteilten. Keine Woche darauf, einem Aufruf des Zusammenschlusses von Menschenrechtsorganisationen „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ folgend, versammelten sich mehr als 500.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo, um ihre Sorge zur Lage der Menschenrechte im Land zum Ausdruck zu bringen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen nicht begnadigt werden und sie verlieren auch nichts an ihrer Schwere über die Zeit“, so Nora Cortiñas, eine der Mütter der Plaza de Mayo, während der Kundgebung.

Der öffentliche Druck auf die Regierung war derart groß, dass Mauricio Macri, kaum hatte das Parlament die Nicht-Anwendbarkeit des strafmaßmindernden Gesetzes auf Verbrecher*innen der Militärdiktatur erneut ratifiziert, diese Entscheidung bestätigte und sich von den Richter*innen distanzierte.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt. Bereits im vergangenen Jahr gab Mauricio Macri dem Militär die Autonomie zurück, die der damalige Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Diktatur eingeschränkt hatte. Außerdem lud er Militärs, die sich mehrfach positiv zur Diktatur geäußert hatten, zu offiziellen Regierungsfeierlichkeiten ein, so erst jüngst zum 207. Jahrestag der Unabhängigkeit am 25. Mai.
Auch immer häufiger auftretende Polizeirazzien an Schulen, Universitäten und in Stadtteilzentren, wo deren Präsenz eigentlich per Gesetz untersagt ist, und das Schweigen der Regierung diesbezüglich, sind äußerst bedenklich. Hinzu kommt die Verfolgung von politischen Aktivist*innen und Gewerkschaftsführer*innen. Ein Fall, der sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief, ist jener der Anführerin der Tupac Amaru, Milagro Sala, die seit über einem Jahr in der nördlichen Provinz Jujuy im Gefängnis sitzt, angeblich, weil sie auf einer Demonstration mit Eiern warf.

Unter Berufung auf das von der Regierung verabschiedete Protokoll zur Unterbindung von Straßenbarrikaden (Protocolo Antipiquete) ordnete die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich zudem in jüngster Zeit verstärkt die Unterdrückung sozialer Proteste an. Spätestens seit im März auf den Straßen des Landes fast täglich Demonstrationen stattfanden, versucht die Regierung, die Idee der destabilisierenden Gefahr von Links im öffentlichen Raum zu etablieren.

Auch die wachsende Diskriminierung von Migrant*innen und die nicht zu übersehende Verstrickung des Clans Macri mit der Militärjunta sollten nicht unerwähnt bleiben: Die Firmengruppe SOCMA (SOCiedad MAcri) wuchs zwischen 1976 und 1983 von sieben auf 46 Unternehmen an und sie profitierte von der Verstaatlichung der privaten Schulden 1982. Die Regierung Macri hat viele Wahlversprechen gebrochen, eines nicht: Die Menschenrechte und die Kultur der Erinnerung nebensächlich laufen zu lassen.


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GESUNDHEIT VOR GERECHTIGKEIT?

Es wirkte fast schon verzweifelt. Ein weiterer Versuch in der Reihe der unermüdlichen Anstrengungen, endlich das lang gewünschte Ziel zu erreichen: Alberto Fujimori, der wegen Mord, schwerer Körperverletzung und Entführung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, aus dem Gefängnis zu holen. Im April wurde zuletzt ein Gesetzesvorhaben vor dem peruanischen Kongress vorgestellt. Der 78-Jährige ehemalige Politiker sei schwerkrank, was einen Arrest im eigenen Haus nötig mache, hieß es. Fujimori zählt zu den kontroversesten Politikern der peruanischen Geschichte. Die Auseinandersetzung zwischen den Anhänger*innen des „Fujimorismo“ und seinen Gegner*innen zeigte sich auch beim Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr. Keiko Fujimori, die älteste Tochter des Inhaftierten, kam mit ihrer rechtskonservativen Partei Fuerza Popular als stärkste Kraft in die Stichwahl. In der zweiten Runde musste sie sich nur knapp Pedro Pablo Kuczynski von der neoliberalen Partei Peruanos por el Kambio (PPK) geschlagen geben. Dass es am Ende für Keiko an einem Prozentpunkt scheiterte, war größtenteils der Anti-Fujimori-Bewegung zu verdanken. Mit Slogans wie „Fujimori nunca más“ (Nie wieder Fujimori), demonstrierte die Bewegung in den großen Städten gegen eine erneute Machtübernahme eines Fujimoris (siehe LN 503). Auch eine mögliche Haftentlassung von Alberto Fujimori trieb viele Demonstrant*innen auf die Straße.

Trotz der Wahlschlappe sind die Bestrebungen zur Entlassung Fujimoris nicht abgeklungen, sondern haben lediglich ein neues Gesicht erhalten. So stellte der fraktionslose Kongressabgeordnete Roberto Vieira am 24. April den Gesetzentwurf Nr. 1295 zur „Regelung der Strafe für Senioren ab 75 Jahren“ vor. Mit dem Entwurf sollte eine besondere Bedingung in das Strafgesetzbuch integriert werden. Schwerkranke, alte Gefangene sollten demnach den Rest ihrer Strafe zu Hause absitzen können. Obwohl das Gesetzesvorhaben keinen konkreten Namen nannte, bestätigte Vieira, dass er das Projekt unter Berücksichtigung des ehemaligen Präsidenten entworfen habe. Vieira bestand allerdings darauf, dass der Entwurf nicht mit einer Entlassung gleichzusetzen sei: „Es ist keine Begnadigung. Es wird nichts verziehen. Stattdessen können 820 Menschen, die die Anforderungen erfüllen, die Vorteile nutzen.“

Diese Anforderungen waren, dass der Gefangene ein Drittel der auferlegten Haftstrafe abgesessen hat, älter als 75 Jahre ist und an einer schweren Krankheit leidet und sich so in einer heiklen Gesundheitslage befindet. Im Falle Fujimoris, der 78 Jahre alt ist, wären die ersten beiden Bedingungen erfüllt gewesen. Der ehemalige Diktator hatte im vergangenen Jahr das erste Drittel seiner Haftzeit beendet. Bezüglich seines Gesundheitszustandes wurden verschiedene Beschwerden festgestellt. Im Februar musste Fujimori ins Krankenhaus eingeliefert werden, da ein Bandscheibenvorfall an seiner Wirbelsäule ihm am Laufen gehindert hatte. Der Neurochirurg Carlos Álvarez erklärte, dass dies ein typisches Anzeichen des Alterungsprozesses sei, was den Patienten in seiner Beweglichkeit einschränken würde. Zusätzlich wurden beim ehemaligen Diktator weitere Leiden wie Bluthochdruck, Herzrasen, Mundkrebs und eine Magenschleimhautentzündung diagnostiziert. Fujimoris Arzt, Alejandro Aguinaga, erklärte, dass sein Patient jedoch keinen Herzinfarkt gehabt hätte: „Ein Fehler der Mitralkappe verursacht sein Herzrasen, aber kein Infarkt.“ Inwieweit diese Beschwerden ausreichend sind, den Ex-Diktator aus humanitären Gründen zu begnadigen, ist unklar. Jedoch hätte die Verabschiedung des Gesetzentwurfes Fujimori eine Möglichkeit eröffnet, seine Haft legal zu umgehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen. Das Gesetz wäre nämlich nicht nur dem Ex-Diktator zu Gute gekommen. Eine Reihe weiterer Gefangener, unter denen sich auch Vladimiro Montesinos, der brutale und korrupte Geheimdienstbeauftragte der Regierung Fujimori, befindet, hätten auf diese Weise die Chance gehabt, ihre Haftstrafe in Hausarrest umzuwandeln. Laut dem Anwalt Alonso Gurmendi hätte dieses Gesetz sogar Abimael Guzmán, Anführer der maoistischen Terrororganisation „Leuchtender Pfad“, zu partieller Freiheit verhelfen können. Ein Schreckensszenario für viele Peruaner*innen, die die Grauen des bewaffneten Konfliktes zwischen der Terrororganisation und der peruanischen Armee in den 1980er und 1990er Jahren miterlebt haben.

Kritik an dem Gesetzesvorhaben äußerte auch die Fuerza Popular, die Partei des „Fujimorismo“. Die Kongresspräsidentin und Abgeordnete, Luz Salgado, erklärte im Interview mit dem Sender RPP Noticias, dass sie mit dem Hausarrest nicht einverstanden sei: „Ich möchte Alberto Fujimori frei sehen, nicht in einem Haus eingesperrt. Ich denke, dass es eine Begnadigung geben muss, und das liegt in der Macht von Präsident Kuczynski“.

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Perú befürwortet mehr als die Hälfte der peruanischen Bevölkerung eine Begnadigung Fujimoris aus humanitären Gründen. Diese kann allerdings nur vom Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski erteilt werden. Außerdem wird von 54 Prozent der Befragten die auferlegte Strafe von 25 Jahren Haft als zu streng empfunden. Diese Daten sind sinnbildhaft für die weiterhin starke Unterstützung, die Fujimori in der peruanischen Bevölkerung genießt. Dass er nach seiner Wahl den peruanischen Kongress im Jahr 1992 auflöste, alle oppositionellen Kräfte im Land durch den sogenannten autogolpe (Selbstputsch) zum Schweigen brachte, die Medien zensierte und mit Hilfe von Todesschwadronen unschuldige Menschen des Terrorismus beschuldigte und ermorden ließ, scheint aus der Erinnerung vieler Menschen verschwunden zu sein.

Am 10. Mai wurde das Gesetzesvorhaben Vieiras zur Haftentlassung Fujimoris vom peruanischen Kongress abgelehnt und archiviert. Der Versuch, Fujimori aus dem Gefängnis zu holen, scheiterte damit erneut. Ausschlaggebend war ausgerechnet der Widerstand der Fuerza Popular, die sich gegen den Hausarrest und für eine komplette Begnadigung aussprach. Ob die gesundheitlichen Beschwerden des Gefangenen ausreichend sind, um eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, bleibt also weiterhin ein strittiges Thema. Das Land ist in zwei gegensätzliche Lager gespalten. Fraglich ist auch, ob bei den vielen Verbrechen Alberto Fujimoris überhaupt eine frühzeitige Entlassung gerechtfertigt werden kann. Sind seine körperlichen Beschwerden wirklich schwerwiegender zu gewichten als die Erpressungen, Ermordungen und Entführungen, die während seiner 10-jährigen Regierungszeit stattgefunden haben? Eine Frage, die eine gründliche Reflexion benötigt – besonders von Seiten der peruanischen Regierung.


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“WIR HOFFEN, MIT DEM STAAT IN EINEN DIALOG ZU KOMMEN”

Sie haben den UN-Menschenrechtsrat in Genf vor der Überprüfung der Menschenrechtslage im April besucht. Welche Eindrücke haben Sie dort gesammelt und welche Erwartungen haben Sie an das Gremium?
Mónica Vera Puebla (MVP): Unsere Erwartungen sind, dass wir durch unseren Beitrag den Mitgliedern des Menschenrechtsrates vermitteln konnten, wie sich die Ernährungs- und Menschenrechtslage in Ecuador derzeit gestaltet. Dabei geht es insbesondere um den Zugang zu Land, Saatgut und Krediten, aber auch das Thema der Vertreibung, ohne andere Themen auszusparen. Uns ging es darum, einen integralen Blick auf die Menschenrechtsverletzungen darzulegen. Unsere Zielsetzung ist es, Räume für einen Dialog zu eröffnen, wie diesen Menschenrechtsverletzungen beizukommen ist. Unser Eindruck ist, dass uns das in Genf gelungen ist. Wir haben Statistiken über die Ernährungs- und Menschenrechtslage vorgestellt und Lösungsvorschläge unterbreitet, die auf offene Ohren gestoßen sind. Leider war es erforderlich, bis nach Genf zu fahren, um solche Dialogräume zu eröffnen. Dort sind wir mit der diplomatischen Vertretung Ecuadors ins Gespräch gekommen, die erste Annäherung an die ecuadorianische Regierung. In Ecuador selbst ist uns das mit der Regierung von Rafael Correa nicht gelungen. Unsere kritischen Anmerkungen zur Menschenrechtslage sind dort nicht gut aufgenommen worden. Unsere Dialogangebote wurden ausgeschlagen, auch der Versuch über die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu einem Dialog zu kommen, schlug fehl. Deswegen versuchen wir nun den Weg über die UNO und ihren Menschenrechtsrat.

In Ecuador gab es gerade Präsidentschaftswahlen. Der Kandidat der Regierungspartei, Lenín Moreno, hat knapp gewonnen, die zehnjährige Ära von Rafael Correa geht am 24. Mai zu Ende. Könnte es mit dem neuen Präsidenten nicht mehr Raum für Dialog geben?
MVP: Diese Hoffnung haben wir in der Tat. An einem möglichen Dialog sollten alle sozialen Organisationen teilnehmen. Wir hoffen, dass Moreno einen partizipativen Prozess mit der Zivilgesellschaft einläutet, so wie er das in Aussicht gestellt hat. Das halten wir für extrem wichtig, um die existierenden Spannungen zu mildern. Wichtig ist auch, dass Menschenrechtsverteidiger in diesem Raum geschützt werden und ihre Arbeit als wichtig anerkannt wird, statt als unbotmäßige Kritik zurückgewiesen zu werden.

Erwarten Sie von Moreno einen Kurswandel beim Wirtschaftsmodell, das vor allem auf Rohstoff- und Agrarexporten beruht?
MVP: Davon gehe ich nicht aus, zumindest keinen grundsätzlichen. Lenín Moreno kommt von der amtierenden Regierungspartei Alianza País und ist mit ihrem Personal verflochten. Zu erwarten ist, dass das vorherrschende Modell fortgesetzt wird. Das heißt eine Kontinuität des sogenannten Extraktivismus (Rohstoffförderung plus Export, Anm. d. Red.) und der Agrarindustrie. Dieses Modell ist bereits durch die Alianza País verankert worden. Moreno hat in Aussicht gestellt, den Dialog über den einen oder anderen Aspekt zu führen, aber es gibt keinerlei Signal, dass vom Modell abgewichen werden soll. Das bereitet uns durchaus Sorge. Zum einen geht mit der Agroindustrie eine Monokultur mit ihren ökologischen Risiken einher, zum anderen ist die Ausweitung des Bergbaus mit vielen lokalen Konflikten verbunden, weil die ansässige Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen gefährdet sieht.

Herr Carpio Cedeño , Sie gehören der Bauerngemeinde ASOMAC an. Viele Bauernfamilien wurden im Zuge eines Landkonflikts von staatlichen Sicherheitskräften vertrieben. Wie steht es in diesem Konflikt derzeit?
Carlos Carpio Cedeño (CCC): Unsere Hoffnung besteht darin, dass wir mit dem Staat in einen Dialog kommen. Man muss klar feststellen, dass die Räumungen und Vertreibungen 2015 illegal waren. Die Familien, die der Bauerngemeinschaft ASOMAC angehören, hatten die Felder seit Generationen bestellt. Der Staat hatte ihren Anspruch auf das Land vor zehn Jahren anerkannt. Die Räumung erfolgte ohne vorherige Ankündigung, was gegen ecuadorianisches Recht verstößt. Die Sache ist vor dem Verwaltungsgericht gelandet, dort ist noch nicht abschließend geklärt worden, wie die Besitzansprüche sind. Es ist ein Konflikt unter Brüdern, unter unterschiedlichen Bauernfamilien über das Recht, bestimmtes Land bebauen zu dürfen, zwischen Bäuerinnen und Bauern sowohl von ASOMAC als auch der Asociación La Lagartera. Die Räumung war Folge eines Regierungsbeschlusses aus dem Jahr 2011, das Gebiet von ASOMAC um 150 Hektar zu verkleinern.

Wie wirkt sich die Räumung auf die Lebensumstände der Familien aus?
CCC: Katastrophal. Häuser, Felder und Bewässerungssysteme wurden komplett zerstört. Obdachlosigkeit und fehlende Einkommen führen seitdem zu Mangelernährung, Krankheiten und psychischen Problemen, insbesondere bei Frauen und Kindern. Niemand will dafür die Verantwortung übernehmen. Zudem haben wir den Zugang zu Wasser verloren und unser Versuch, wieder Zugang zu erhalten, blieb unbeantwortet. Ohne Wasser können wir nicht säen. Wir suchen nach Antworten. Das Verwaltungsgericht in Guayaquil hat uns im März 2016 recht gegeben und den Regierungsbeschluss für unzulässig erklärt. Das zuständige Ministerium legte jedoch Berufung ein. Nun muss der Oberste Gerichtshof in Quito entscheiden, sodass die Rechtsunsicherheit bestehen bleibt.

Und wie macht ASOMAC unterdessen weiter?
CCC: Wir kämpfen weiter um unser Land. Wir sind Landwirte, ohne Land und ohne Wasser können wir nicht leben. Das Agrarministerium fordert Geld für die nur noch 325 Hektar, die uns zur Bebauung zugesprochen wurden. Aber wie sollen wir sie ohne Wasser kultivieren? Wie sollen wir unter diesen Bedingungen Erträge erwirtschaften, um zahlen zu können? ASOMACs Verschuldung steigt und steigt. Was können wir machen, ohne die Möglichkeit, Land zu bepflanzen? Als wir das brachliegende Gebiet damals besetzten, hatten wir eine klare Linie: Besetzen, um Lebensmittel für unsere Familien zu produzieren. Dieses Land haben sie uns nun genommen.

Der Gegner im Rechtsstreit ist die Asociación La Lagartera. Was verbirgt sich dahinter, eine große Firma oder Kleinbauer*innen?
CCC: Es sind auch Kleinbauern. Sie machen auch gute Projekte. Das Problem ist einfach, dass sie nicht berücksichtigt haben, gar nicht untersucht haben, dass wir bereits auf der Fläche des leer stehenden Gutes Leopoldina Landwirtschaft betrieben haben. Trotzdem hat die Asociación La Lagartera Ansprüche auf das Land angemeldet. Der Staat hört auf La Lagartera, aber auf ASOMAC reagiert er nicht.

Und wie lässt sich dieser Konflikt beilegen?
CCC: Über Dialog. Da wir in Ecuador nicht gehört wurden, haben wir als Opportunitätsfenster diesen internationalen Weg über den Menschenrechtsrat gewählt. Wir wollen einen Dialog, wir wollen eine Untersuchung darüber, was ASOMAC auf dem Land betrieben hat und was nun La Lagartera dort betreibt. Wir haben Flora und Flauna gepflegt, wir haben keine Bäume gefällt, wir haben der Umwelt keinen Schaden zugefügt. Aber was sehen wir jetzt: Monokultur! Bäume wurden gefällt, um Reis als Monokultur anzubauen.

Welche Bedeutung hat die Unterstützung von Solidaritätsgruppen und Organisationen wie FIAN für ASOMAC?
CCC: FIAN hat uns großartig geholfen, uns neue Wege gezeigt, wie wir unser Recht einfordern können. Dafür sind wir zu großem Dank verpflichtet. Umso mehr, als wir beim Staat kein Gehör für unsere Anliegen gefunden haben. Einer dieser Wege ist die Kleinbauernvereinigung Tierra y Vida (Land und Leben), der wir uns angeschlossen haben, um uns gegenseitig moralisch zu unterstützen und zu sehen, was wir gemeinsam in unseren Kämpfen bewegen können. An diesem Punkt befinden wir uns zur Zeit.

Zum Jahresbeginn ist ein Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der Europäischen Union in Kraft getreten, dem sich Ecuador lange verweigert hatte. Sind die Auswirkungen absehbar?
MVP: Der Freihandelsvertrag, der von der Regierung in Quito beschönigend als Übereinkommen bezeichnet wird, wurde Ende 2016 unterzeichnet, mitten im Wahlkampf, so dass es keine größeren Informationen für die Bevölkerung darüber gab. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Befürchtungen wurden auch nicht im Verhandlungsprozess berücksichtigt. Auch die indigenen Völker wurden bei den sie betreffenden Punkten nicht konsultiert, obwohl sie darauf einen Rechtsanspruch haben. Unsere Erwartungen beruhen auf den Erfahrungen der Nachbarländer Peru und Kolumbien, bei denen dieses Freihandelsabkommen, dem Ecuador nun verzögert beigetreten ist, schon seit Mitte 2013 in Kraft ist. Was sich dort abzeichnet, ist eine Zunahme an Konflikten rund um die Kleinbauern, die durch die Marktöffnung einer europäischen Konkurrenz ausgesetzt sind, der sie nicht gewachsen sind.
In Bezug auf Ecuador müssen wir noch untersuchen, wie sich dieses Freihandelsabkommen auswirken wird. Wir befürchten dasselbe Szenario, wie in Peru und Kolumbien, auch in Ecuador: Sprich, dass eine Zunahme der agroindustriellen Monokultur die Kleinbauern verdrängt und die Konflikte um den Zugang zu Land sich verschärfen, wenn die Türen für Investitionen geöffnet werden. Transnationale Investoren werden vermutlich tausende von Hektar kaufen, um Plantagenwirtschaft in Monokultur zu betreiben. Damit besteht das Risiko, dass die kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft verschwindet. Wir müssen sehen, wie sich die Preise bei Milch, Bananen, Früchten, beim Saatgut entwickeln. In Kolumbien gingen schon viele Milchbauern wegen der Einfuhr von EU-Milchpulver Pleite. Die Konkurrenz für und unter den Kleinbauern wird zunehmen.


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VERHANDLUNGEN INMITTEN DES KRIEGES

Am Morgen des 19. Februar erschütterte eine Explosion den belebten Stadtteil La Macarena im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Ziel des Anschlags waren offenbar Polizist*innen der mobilen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Diese bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf die Überwachung der geplanten Proteste gegen die Wiedereinführung von Stierkämpfen in der angrenzenden Arena vor. Die Bilanz des Anschlags: 30 Verletzte, darunter 26 Polizist*innen. Ein Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Analyst*innen zählen seit dem 7. Februar mindestens zehn Anschläge von der ELN.

Dies war bereits der vierte Anschlag im laufenden Jahr in Bogotá. Weniger als 24 Stunden zuvor explodierte ein Sprengkörper in einem Restaurant im Stadtviertel La Quesada. Ein ähnlicher Sprengkörper explodierte eine Woche vorher in einem Restaurant in der Nachbarschaft und verletzte sieben Menschen. Mitte Januar wurden bei einem Attentat im Eingangsbereich der staatlichen Zollbehörde (DIAN) zwei Menschen verletzt.

Aus Sicht der Regierung waren die Schuldigen schnell gefunden. Der Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas erklärte kurz nach dem Anschlag in La Macarena: „Der Bombenanschlag hängt sehr wahrscheinlich mit den Attentaten der vergangenen Wochen zusammen. Alles deutet darauf hin, dass urbane Zweige der ELN dahinterstecken“.

Nachdem die ELN Anfang Februar den Lokalpolitiker Odin Sánchez freigelassen hatte, begann am 7. Februar die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen Vertreter*innen der Regierung und der Guerilla. Den Gesprächsrunden, die unter internationaler Beobachtung in Quito stattfinden, ging eine dreijährige Erkundungsphase voraus, während der die Themen auf der Friedensagenda definiert wurden (siehe LN 511).

Während die ELN von Anfang an die Notwendigkeit eines beidseitigen Waffenstillstandes als Voraussetzung für den Friedensprozess betonte, hält die kolumbianische Regierung an ihrer Prämisse der Verhandlungen inmitten des Krieges fest. Eduardo Álvarez, Direktor der Abteilung für die Dynamik von Friedensprozessen der kolumbianischen Stiftung Ideen für den Frieden (FIP), begründete diese Politik mit einer Fehleinschätzung der Regierung: „Viele Analysten machen den Fehler, die ELN auf ihre militärische Stärke zu reduzieren: Sie hat 1800 Kämpfer, also ist sie schwach und leicht zu demobilisieren“, erläuterte er gegenüber dem Internetmedium La Silla Vacía. „Allerdings agiert die ELN völlig anders als die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC). Sie leistet sich weniger offene Gefechte mit den Streitkräften, sondern agiert vielmehr mit gezielten Entführungen und punktuellen terroristischen Attentaten, die nur wenig Aufwand erfordern: Anschläge auf die Infrastruktur, auf militärische Posten oder auf Polizisten wie im Fall des Attentates in La Macarena“. Demnach seien diese Anschläge vielmehr eine symbolische Ansage an die Regierung: „Wenn wir keinen beidseitigen Waffenstillstand schließen, setzen wir die Attentate fort“.

Pablo Beltrán: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse”.

Bereits kurz nach dem Anschlag in La Macarena forderten oppositionelle Politiker*innen ein sofortiges Ende der Friedensverhandlungen. Der ehemalige Präsident und Gegner des Friedensprozesses Álvaro Uribe Vélez beschuldigte die Regierung der Tatenlosigkeit: „Die ELN greift die Zivilbevölkerung Bogotás an, verletzt unzählige Menschen und es passiert gar nichts. Die Gespräche müssen sofort ausgesetzt werden, bis die ELN sämtliche militärischen Aktivitäten einstellt“, äußerte er in einer Fernsehansprache.

Die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der schwachen Position der ELN absolut unrealistisch, und wird der Struktur der Guerilla auch nicht gerecht. Im Gegensatz zu den FARC ist die ELN eher horizontal organisiert: Während die Führungsspitze der FARC ihren Kämpfer*innen vom Verhandlungstisch in Kuba aus Befehle erteilen konnte, agieren die einzelnen Gruppen der ELN mitunter autonom. Die FARC konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf militärische Aktionen in abgelegenen Gebieten Kolumbiens. Große Teile der ELN hingegen verstehen sich eher als sozio-politische Organisation. Seit ihrer Gründung 1964 rekrutierte die Guerilla ihre Unterstützer*innen hauptsächlich aus dem urbanen, intellektuellen Milieu und verfügt somit über eine viel breitere Basis innerhalb der Zivilgesellschaft als etwa die FARC. Ein Ende der Friedensverhandlungen mit der Guerilla würde dabei eher jenen ELN-Kämpfer*innen helfen, die intern gegen die Gespräche revoltieren. Analyst*innen wie der Journalist und Friedensaktivist Moritz Akermann verweisen daher auf die internen Grabenkämpfe der Guerilla: „Es gibt innerhalb der ELN verschiedene Gruppen, die gegen den Friedensprozess sind“, äußerte er gegenüber der Wochenzeitschrift Semana. „Attentate richten sich daher nicht direkt gegen die Bevölkerung, sondern können auch als Kritik an den ELN-Vertretern in Quito gedeutet werden“. Akermann betonte auch, dass die Regierung die ELN grundsätzlich falsch einschätze: „Die Regierung hat sich jahrzehntelang auf den Kampf gegen die FARC konzentriert. Teile der Streitkräfte haben sogar mit der ELN kooperiert, um eine Art Gegengewicht zu den FARC zu konstruieren.“

Ein beidseitiger Waffenstillstand käme der ELN insofern gelegen, als das dieser die militärischen Aktionen beider Parteien untersagen würde – nicht jedoch die Entführungen und Sabotageakte, die einen Großteil der Aktionen der ELN ausmachen. Der unter dem Alias „Pablo Beltrán“ bekannte Anführer der ELN-Verhandlungskommission machte Anfang Februar im Interview mit der Zeitung El Espectador deutlich: „Die Diskussion über den Frieden ist innerhalb der kolumbianischen Linken und auch innerhalb der ELN sehr facettenreich. Wir werden in Quito nichts vereinbaren, was nicht alle Teile unserer Organisation tragen können“, und ergänzte: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse. An diesem Verhandlungstisch gibt es zwei Parteien – also müssen beide Parteien auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“

Dass die Entscheidungswege innerhalb der ELN deutlich länger als innerhalb der FARC sind, wird auch an ihren offiziellen Mitteilungen deutlich. Erst eine Woche nach dem Anschlag in La Macarena bekannte sich die Führungsriege der Guerilla zu dem Attentat. Dieses habe sich gegen die Polizeieinheit ESMAD gerichtet. Die Einheit begehe ungestraft Menschenrechtsverletzungen und unternehme nichts, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zu schützen, lautete die Begründung.
Allein seit Beginn des Jahres wurden mindestens 15 Aktivist*innen in verschiedenen Teilen des Landes ermordet, davon mehrere mit Verweis auf ihre (vermeintliche) Nähe zur ELN. Seit Beginn der Demobilisierung der FARC übernehmen zunehmend kriminelle und paramilitärische Organisationen die Kontrolle über die von den FARC geräumten Gebiete. Doch auch die ELN füllen in einigen Regionen das neu entstandene Machtvakuum und bauen damit ihre politische Position aus.

Während sie die Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite anprangert, verübt die Guerilla auch parallel weiter Anschläge. So werden der ELN nicht nur die Attentate in Bogotá zugeschrieben. Analyst*innen zählen allein seit Beginn der Verhandlungen am 7. Februar mindestens 10 Anschläge, deren Ausführung die Handschrift der ELN trägt. Zuletzt wurden am 25. März fünf Menschen bei einem Angriff in der Region Chocó getötet, mindestens 50 Personen mussten aus ihren Häusern fliehen. Laut Augenzeugenberichten trugen die Angreifer die Banderole der ELN. Auch die Regierung lässt weiter Stellungen der ELN angreifen.

Angesichts dieser Situation lässt sich an baldigen Fortschritten am Verhandlungstisch in Quito zweifeln. Doch statt die Friedensgespräche abzubrechen oder einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla zu fordern – der schon bei den FARC mehrfach nach Angriffen auf Stellungen der Guerilla scheiterte – sollte die Regierung vielmehr an die Zivilbevölkerung appellieren und den Kampf gegen die elementaren Probleme des Landes angehen: gegen fehlende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, fehlende Nahrungsmittel und die Bedrohung durch paramilitärische Verbände. Denn gerade die engen politischen und sozialen Verbindungen der ELN verpflichten die Guerilla zur Rechenschaft gegenüber ihren Unterstützer*innen. Fehlte die politische Legitimation für Anschläge, Sabotageakte und Entführungen, würde die Position der Guerilla somit deutlich effektiver geschwächt als durch Militärschläge und Drohungen. Doch solange die Regierung weiterhin ihre elementaren Aufgaben nicht wahrnimmt und viele Regionen des Landes sich selbst – und damit kriminellen und paramilitärischen Banden – überlassen bleiben, wird die ELN auch weiterhin Legitimation und Unterstützung für ihre Aktionen finden.

 


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„SEIEN SIE KEINE KOMPLIZEN!“

Im letzten Jahr verzeichnete die Kohleproduktion einen Rekord  – 90 Millionen Tonnen. Im Verwaltungsbezirk Cesar im Nordwesten Kolumbiens wurde fast die Hälfte davon abgebaut. Nur die privaten Großkonzerne Drummond, Prodeco, ein Tochterkonzern der schweizerischen Unternehmensgruppe Glencore, und Murray Energy exportieren. Hat Cesar davon profitiert?
Es ist nicht zu ignorieren, dass die Kohlenindustrie nicht nur im Verwaltungsbezirk Guajira irreversible Spuren hinterlassen hat. Der Bergbausektor in Cesar ist immens wichtig für Kolumbien, circa 98 Prozent der im Land abgebauten Kohle werden exportiert. Doch wir haben errechnet, dass nur ein bis zehn Prozent der Bevölkerung, die in der Nähe der Minen wohnt, im Kohleabbau Beschäftigung findet. Die Arbeiter haben keine stabilen Arbeitsbedingungen oder Zugang zu entsprechenden Sozialversicherungen. Die Minen zerstören die Lebensräume der Menschen, den traditionellen Anbau von Nahrungsmitteln und den Fischfang. Einige wenige haben Zugang zu Arbeit, aber im Endeffekt werden die meisten Menschen arbeitslos. Wenn die privaten Bergbauunternehmen so die Natur verändern, ist die Zerstörung der lokalen Wirtschaft die Folge.

Tierra Digna unterstützt die Gemeinde Boquerón, die an den Bergbaukomplex La Jagua Ibirico grenzt und wegen der untragbaren Umweltverschmutzung seit 2010 umgesiedelt werden soll. Noch verhandeln die Gemeinden mit den Unternehmen. Wie konnte es erst soweit kommen?
Die aus dem Bergbau hervorgebrachten Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen häufen sich Jahr für Jahr, werden aber nie im vollen Umfang wahrgenommen oder bekämpft. Diese Industrie ist durstig, 17 Flüsse und Bäche wurden in Cesar für die Minen umgeleitet, die Wasservorkommen in der Region sind schrittweise verschwunden. Die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser durch den Kohlenstaub und sonstige freigesetzte Chemikalien sind das gravierendste Problem in der Gemeinde Boquerón. Noch heute ist die Qualität der Grundnahrungsmittel, die Gesundheit, schlicht das Leben der Bevölkerung der Region gefährdet. Wegen der ständigen Sprengungen, um die Gruben zu vergrößern, haben vieler Häuser in den am Bergbaukomplex La Jagua Ibirico angrenzenden Gemeinde Risse bekommen und drohen einzustürzen. Bereits vor der Niederlassung der Unternehmen vor 24 Jahren wurde in Cesar das Recht der Bevölkerung auf Beteiligung und Information verletzt. Als 2010 die Umweltbehörde Kolumbiens die untragbare Verschmutzung in Boquerón feststellte und die Umsiedlung anordnete, hatten die Bewohner keinen Handlungsspielraum mehr.

Kümmert sich die Regierung um die Umsiedlung der Betroffenen?
Die Regierung ordnete die Vertreibung der Gemeinden an, erlaubte den weiteren Abbau von Kohle und zog sich auch noch aus den Verhandlungen zwischen Unternehmen und den Gemeinden zurück. Damit hat der Staat einen Raum geschaffen, um über die Menschenrechte zu diskutieren – aber Menschenrechte dürfen nicht verhandelt, sie müssen geschützt werden. Der Bergbausektor wird als ein öffentliches Interesse des Staates betrachtet, weshalb die Regierung vor 2010 auf die Umweltlizenzen und Minderungsmaßnahmen der Unternehmen hinwies und nichts tat. Als deutlich wurde, dass diese in allen drei Minen nicht umgesetzt wurden, gründete die Umweltbehörde ein Überwachungspanel zu den ohnehin asymmetrischen Verhandlungen, beteiligte sich aber nicht daran.
 
Tierra Digna ist Teil des internationalen Netzwerks Red Sombra, welches die Aktivitäten der schweizerischen Unternehmensgruppe Glencore beobachtet. Das weltweit größte Rohstoffhandelsunternehmen hat die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte unterschrieben, welche 2011 vom Menschenrechtsrat der UN ratifiziert wurden. Trotzdem werden die Klagen seitens der Zivilgesellschaft lauter. Wo genau liegt das Problem?
Bis jetzt wird nicht richtig eingesehen, dass im Rahmen des Kohleabbaus nicht nur der Staat, sondern auch ausländische Unternehmen zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Seit vielen Jahren haben Menschenrechtsorganisationen auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, die Macht der Konzerne und deren Verantwortung im Rahmen des Völkerrechts anzuerkennen. Dafür reichen die Leitprinzipien nicht aus. Einerseits thematisieren die Prinzipien die Missachtung der Menschenrechte durch Konzerne, doch das Wort Verletzung, das im Rechtssystem Sanktionen, die Wiedergutmachung und Garantien der Nicht-Wiederholung impliziert, wurde bewusst ausgelassen.
Ein weiteres Problem ist der Mechanismus zur Wiedergutmachung. Nach dem Modell von John Ruggie (dem Sonderkommissar des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.) müssen die Konzerne die Beschwerden der betroffenen Gemeinden sammeln, bewerten und entsprechende Forderungen nachgehen. Sprich: die Unternehmen sind Beteiligte und Richter, können also frei entscheiden, ob und wie eine Entschädigung angemessen ist.

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Verantwortung der Länder, wo diese Unternehmen ansässig sind beziehungsweise jener Nationen, die Kohle aus Kolumbien importieren. Laut offiziellen Zahlen der Bundesregierung stammte 16 Prozent der im letzten Jahr nach Deutschland importierten Kohle aus Kolumbien. Was erwarten Sie von der deutschen Regierung und der  Bevölkerung?
Seien Sie keine Komplizen! Wir müssen unbedingt die Verantwortungskette deutlich machen. Denn die Kohle, die Glencore und Drummond abbauen, wird beispielsweise an Vattenfall verkauft und in Deutschland unter anderem zum Heizen genutzt. Ich kann nicht behaupten, dass die Endverbraucher bewusste Mittäter sind, aber ich kann erwarten, dass sie mit dem, was sie konsumieren, bewusst umgehen. Es reicht nicht aus, sich zu informieren und sich für die Realität anderer Menschen zu sensibilisieren. Man muss Position beziehen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv werden. Viele gravierende Menschenrechtsverletzungen entlang des Abbaus und Exports von Kohle sind unsichtbar und werden mit dem jetzigen Handel normalisiert. Die Idee, dass man von Menschenrechtsverletzungen befleckte Kohle kaufen kann, gehört abgeschafft. Es reicht aber auch nicht, neue Standards zu entwickeln – wir müssen aufhören, Kohle abzubauen.

Doch setzt Kolumbien seit Jahren auf nichts anderes…
Die Energiepolitik Kolumbiens zielt darauf ab, das Land an der Spitze der weltweiten Exporteure von Kohle und anderer fossiler Brennstoffe zu positionieren, bei gleichzeitiger Profilierung durch die Anwendung von „sauberer Energie“. Ein Jahr nach der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens von 2015 hat Kolumbien seine Strategie für die Reduzierung von Emissionen präsentiert – sie war heuchlerisch. Die Regierung warb dafür, dass die kolumbianische Bevölkerung mit Energie aus Wasserkraftwerken versorgt werde und daher im Vergleich zu anderen Industrienationen kaum zum Klimawandel beitrage. Doch einerseits sind die Megaprojekte, die der Staat als saubere Energie verteidigt, in Wirklichkeit nicht sauber. Auch sie verletzten Landrechte und belasten die Umwelt. Andererseits wurde in den Programmen der Regierung die 30-Jahre-Planung der Kohleindustrie nicht berücksichtigt. Man versucht, Anerkennung für die Einhaltung des internationalen Abkommens zu erhalten, gleichzeitig wird der eigene Beitrag zum Klimawandel als Kohleexporteur unsichtbar gemacht.

Die staatliche Antwort auf die Kritik verweist immer auf die Steuereinnahmen durch die Rohstoffindustrie. Doch in Regionen wie La Guajira wird es immer offensichtlicher, dass kaum Gelder in die Haushalte der Verwaltungsbezirke fließen. Ist das eine Folge der allgegenwärtigen Korruption?
Eine Analyse der Obersten Rechnungsprüfungsbehörde des Jahres 2013 belegt, dass der Staat durchaus Gelder für die Abbaurechte einkassiert. Abhängig von der Größe der Mine bezahlen die Bergbauunternehmen zwischen fünf und zehn Prozent der Gewinne für diese Abbaurechte. Jedoch sind die Gebühren im Vergleich zu anderen Ländern verhältnismäßig niedrig. Dazu kommt, dass das kolumbianische Unternehmensrecht eine Reihe von strukturellen Problemen aufweist, denn Unternehmen erhalten sehr einfach steuerliche Begünstigungen oder billige Abbaulizenzen, wodurch die Investitionen im Land attraktiver gemacht werden. Nach unseren Recherchen bezahlen derzeit zehn Bergbauunternehmen gar kein Steuern. Von welchem Geld kann also die Rede sein? Der Staat verzeichnet Rekorde in der Produktion, die Konzerne profitieren von laxen Regelungen und die Gemeinden bleiben die größten Verlierer.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen dem bewaffneten Konflikt und den Bergbausektor in Kolumbien?
Gerade wird der offensichtliche Konflikt mit den bewaffneten Akteuren beendet, doch die Strukturen, welche die Gewalt hervorgerufen haben, bleiben. Vorher war das Land in den Händen einiger Großgrundbesitzer, nun ist es in den Händen von Großkonzernen, welche der Bevölkerung den Zugang zum Land versperren. Dies findet in Cesar, La Guajira, in Cordoba und Antioquia statt. Die Bergbauprojektion Kolumbiens basiert beispielsweise auf der Auftragsvergabe von Bergbaukomplexen. Damit wurden 20 Prozent des Territoriums, sprich 22 Million Hektar, für den Abbau fossiler Brennstoffe reserviert! Dank einer Klage von Tierra Digna und anderen Organisationen wurde die Vergabe dieser Gebiete vorübergehend gestoppt, noch laufen die Untersuchungen des Verfassungsgerichts.

Haben sie Aufsicht auf Erfolg, mit solchen Maßnahmen die Energiepolitik zu ändern?
Das wird sich zeigen, denn wir sehen eine Vertiefung jener Ursachen, die die politisch motivierte Gewalt seit 60 Jahren ernähren. Im Auftrag der Regierung wird gerade eines von vielen Verständnissen der Landnutzung propagiert. Es ist besorgniserregend, dass Präsident Santos die Energiepolitik Kolumbiens nicht zu Debatte stellt, nur um Investoren nicht zu verschrecken. Das Gegenteil würde dem angestrebten dauerhaften Frieden viel mehr dienen.


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„DAS WAR KEIN UNFALL“

Am 7. März gegen Abend waren 50 Mädchen und Jungen aufgrund der miserablen Zustände aus dem Kinderheim in die nahe gelegenen Wälder geflohen. Die nationale Zivilpolizei (PNC) bringt sie auf direkte Anweisung des guatemaltekischen Präsidenten zurück und überwacht die Jugendlichen nach dem Fluchtversuch. Am frühen Morgen werden 52 Mädchen in einen Klassenraum gesperrt und weiterhin von der PNC überwacht, diese Maßnahme kann juristisch als institutionelle Entführung gewertet werden. Als die Mädchen trotz Bitten auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht heraus gelassen werden, beginnen Tumulte, bei denen einige Mädchen Matratzen im Klassenzimmer angezündet haben sollen. Das Feuer breitet sich schnell aus und noch immer wird den Mädchen die Befreiung aus dem Klassenzimmer verwehrt. Viele verbrennen vor den Augen der PNC. Diese soll die Kontrolle über das Einschließen der Mädchen gehabt haben, diese werden nicht heraus und die bald eintreffende Feuerwehr erst nach 40 Minuten herein gelassen. 19 Mädchen sterben in dem Feuer, die Zahl der in den Krankenhäusern Verstorbenen steigt innerhalb von drei Tagen auf 40 an.

Das 2006 zum Schutz der Kinder gegründete Heim ist eine staatliche Institution.

Das Kinderheim, welches im Jahre 2006 als Refugium zum Schutz von Minderjährigen gegründet wird, ist eine staatlich geführte Institution. Es beherbergt Kinder und Jugendliche von Null bis 18 Jahren, betroffen von Kindesmisshandlung, „leichten Behinderungen“, sexueller, psychischer und physischer Gewalt, Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und ohne familiäre Zufluchtsmöglichkeit.

Die räumlichen Kapazitäten der Herberge liegen bei 400-500 Kindern und Jugendlichen, zum Zeitpunkt des Brandes waren 807 Kinder und Jugendliche dort untergebracht. Einige Kinder wurden als Resultat sexuellen Missbrauchs – seitens der Lehrer*innen und Autoritäten der zuständigen Aufsichtsbehörde – innerhalb des Heims geboren. Bei der zuständigen staatlichen Wohlfahrtsbehörde (SBS) gingen immer wieder Anzeigen unter anderem wegen Prostitution, sexuellen Missbrauchs, körperlichen, psychischen, verbalen Miss­handlungen und fehlender medizinischer Versorgung innerhalb des Kinderheims ein. Zudem sollen Autoritäten der Behörde selbst an sexuellem Missbrauch beteiligt gewesen sein. Die Aufsichtsbehörde hat die Weiterreichung der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen verhindert und Namen sowie Details den zuständigen Behörden vorenthalten. Zwischen Januar und August 2014 waren 28 Anzeigen dokumentiert worden, es kam zu einzelnen juristischen Prozessen. Darunter war auch die Anzeige gegen den Maurer José Arias, der 2013 ein 17-jähriges Mädchen mit „kognitiven Defiziten“ in einem Klassenraum vergewaltigte und sich nun für acht Jahre in Haft befindet; oder gegen den Lehrer Edgar Rolando Dieguez Ispache, welcher mehrfach Kinder innerhalb seines Unterrichts demütigte und einzelne zu Oralverkehr zwang. Der Gerichtsprozess gegen ihn läuft seit 2016. Die meisten Anzeigen bleiben jedoch in der Investigationsphase stecken oder werden der Staats­anwaltschaft gar nicht erst übermittelt. Der nationale Adoptionsrat überprüfte das Heim trotz der Anzeigen nicht.

Dem Heim wird Kinderhandel vorgeworfen.

Am 11. März kommt es zu den ersten Massenprotesten in der Hauptstadt Guatemalas und vor den guatemaltekischen Botschaften verschiedener Länder. Auch hier findet der Verdacht auf ein Staatsverbrechen Ausdruck und die Aktivist*innen beginnen, über ein Netzwerk von Menschenhandel zu sprechen.
Die lokale Organisation „Kinder“ der Verschwundenen des Genozids („Hijos“) fordert in einem öffentlichen Schreiben Interventionen seitens nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen, unter anderem durch die Internationale Kommision gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) zur Tatortermittlung sowie die präventive Festnahme der Verantwortlichen unter dem Verdacht des Femizids.

Schon im November 2016 informierte die Ombudsstelle für Menschenrechte über möglichen Menschenhandel durch das Kinderheim. Eine anonyme Richterin erzählt in einem Interview mit dem Journalisten Francisco Goldman, dass 62 Kinder aus dem Heim verschwunden seien und dass sie glaube, diese seien noch vor dem Brand ermordet worden. Weiterhin berichtet sie über die Zwangsprostitution innerhalb des Kinderheims, auch wenn noch unklar sei, wer genau dahinter stecke.Der Journalist Camilo Villatoro bezeichnet die Tragödie des Kinderheims als „geplante Massenvernichtung um Zeuginnen und Betroffene eines möglichen kriminellen Netzwerks von Kinderhandel und Sexsklaverei zu eliminieren.“

Wegen der Vorfälle im Kinderheim sollen nun erneut die Untersuchungen bezüglich Kinderhandel aufgenommen werden. Aufgrund des Verschwindens vieler Mädchen existiere der Verdacht, dies sei zu Zwecken der Prostitution geschehen, sagt der Anwalt und Aktivist Alejandro Axpuac.

Der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales sowie der Sekretär des Büros für Gemeinwohl, Carlos Rodas, weisen alle Verantwortung und den Vorwurf eines Staatsverbrechens öffentlich zurück. Zwei Tage später, am 12. März, verstrickt sich Morales jedoch in seiner Argumentation während eines Interviews mit CNN. Er bejaht die Unfähigkeit der guatemaltekischen Instanzen und bestätigt den Vorwurf, die PNC habe auf seine Anordnung hin die Mädchen festgehalten. So bezeugt Morales, dass der Staat mit repressiven Mitteln agierte und die Sicherheit der Jugendlichen nicht priorisiert wurde.

Am 13. März werden drei leitetende Angestellte der SBS präventiv festgenommen. Die Anordnung kam von der Richterin Claudia Blandón Alegría unter dem Vorwurf von Mord, Nichterfüllung ihrer Aufgaben und Misshandlung von Minderjährigen.

Die Proteste in Guatemala halten an, einige Aktivist*innen fordern den Rücktritt des Präsidenten Morales. Es bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft.

 


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SIEG ÜBER BERGBAUINDUSTRIE IN EL SALVADOR

Jahrelang haben soziale Bewegungen in El Salvador erbittert dafür gekämpft: für das Verbot des umweltschädlichen Bergbaus. Bis vor kurzem hat kaum einer erwartet, dass das Parlament das Anti-Bergbaugesetz noch verabschieden würde. Dann ging aber alles sehr schnell: Vor einigen Wochen hatte die Kommission für Umwelt und Klimawandel des Parlaments einen Gesetzentwurf erarbeitet. Am 29. März verabschiedete dann das Plenum einstimmig das elf Artikel umfassende Gesetz. Einen kurzen Moment lang unterbrachen die linke Regierungsbank der FMLN und die rechte Oppositionspartei ARENA ihre Streitigkeiten, um „eine einstimmige Entscheidung für den Schutz der Wasservorkommen zu treffen“, laut dem Twitter-Account des Parlaments. Im Gesetz wird das Verbot der Erkundung und des Abbaus von Metallen im Tage- und Untertagebau sowie die Nutzung der im Goldbergbau verwendeten Chemikalien Zyanid und Quecksilber unter anderem folgendermaßen begründet: “Der metallische Bergbau stellt ein Attentat gegen die Gesundheit der Einwohner El Salvadors dar und birgt ernsthafte Risiken für die Umwelt, indem er durch die Auswaschung von Schwermetallen und hochgiftigen Abfällen (…) Wälder, Böden und Wasservorkommen gefährdet.”

Es gab Freudentränen nach der Verabschiedung des Gesetzes.

Für viele Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen hat die Verabschiedung eine hohe Bedeutung. Viele von ihnen haben die Abstimmung live im Parlament verfolgt: „Als wir heute hinter den Glasscheiben des Parlaments standen, haben sich viele von uns umarmt und Tränen der Freude vergossen. Das Gesetz ehrt all jene, die unzählige schlaflose Nächte in Angst verbrachten oder aufgrund ihres Widerstandes ermordet wurden“, schreibt Pedro Cabezas, Mitarbeiter von CRIPDES, einer Partnerorganisation der Christlichen Initiative Romeros (CIR), auf seiner Facebook-Seite. Die Partner*innen von CRIPDES haben die Menschen in den betroffenen Gemeinden mobilisiert und lokale Volksbefragungen gegen Bergbau organisiert.

Die sozialen Konflikte rund um den Bergbau in El Salvador haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Der kanadische Konzern Pacific Rim (später OceanaGold) reichte 2009 eine Klage auf 301 Millionen US-Dollar Schadensersatz beim Schiedsgericht der Weltbank (ICSID) ein. Die Regierung hatte dem Unternehmen aufgrund von Umweltbedenken und fehlender Landrechte nach einer Erkundungsphase keine Abbaulizenz erteilt. Gleichzeitig versuchte das Unternehmen, die Bevölkerung im Verwaltungsbezirk Cabañas für das Projekt zu gewinnen beziehungsweise sie zu spalten. Mit dem Versprechen, zahlreiche Arbeitsplätze und vermeintlich wohltätige Projekte zu schaffen, brachte das Unternehmen viele in den Gemeinden auf seine Seite. Die Spaltung der Gemeinden gipfelte in der Ermordung von fünf Umweltaktivist*innen, die sich für den Schutz des Gebiets vor dem hochgiftigen Goldbergbau einsetzten.

Aufwind bekam das Gesetzesprojekt erst, nachdem das ICSID im Oktober 2016 die Klage des Unternehmens ablehnte und die Rückzahlung von acht Millionen US-Dollar Prozesskosten an die Regierung El Salvadors forderte. Der Erzbischof Escobar Alas von El Salvador schloss sich der Antibergbau-Bewegung an und reichte Anfang März eine erneute Gesetzesinitiative beim Parlament ein. Es folgten zahlreiche Demonstrationen vor dem Parlament. Am 29. März stimmten dann 69 Abgeordnete (drei enthielten sich, drei waren abwesend) für die Verabschiedung und wiesen damit 16 Anträge transnationaler Konzerne auf Konzessionen zurück. Das Gesetz spiegelt die Mehrheit in der Bevölkerung wider. Laut einer Umfrage von 2015 der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador lehnen 77 Prozent der Bevölkerung den metallischen Bergbau ab.

Das Schiedsgericht der Weltbank lehnte die Klage des Unternehmens ab.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes ist das Thema für die Zivilgesellschaft aber noch nicht vom Tisch. Die in der Region Cabañas ansässige Stiftung El Dorado von OceanaGold hat ihre PR-Arbeit in den vergangenen Monaten intensiviert, indem sie zahlreiche vermeintlich gemeinnützige Projekte in den Gemeinden förderte oder Protestmärsche organisierte. Dabei sprach sie stets von „verantwortungsvollem Bergbau“. Kurz vor der Abstimmung veröffentlichte OceanaGold noch eine Stellungnahme und forderte die Parlamentarier*innen auf, die Modernität und Vorteile des Projekts für die Region zu bedenken. Vor einigen Tagen hat OceanaGold Arbeiter*innen nach San Salvador geschickt, um vor dem Parlament gegen das Bergbauverbot zu demonstrieren. „Wir verfolgen diese Aktivitäten mit Sorge, da es wieder zu Gewalt gegen Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen kommen könnte“, sagt Pedro Cabezas von CRIPDES. Die sozialen Bewegungen fordern nun vom Konzern, die Prozesskosten des Schiedsgerichtsverfahrens zu erstatten und sein Tochterunternehmen Minerales Torogoz sowie die Stiftung El Dorado aus dem Land abzuziehen.

Auch ein neuer Konflikt beschäftigt Organisationen wie CRIPDES. Das Gesetz sieht ein vollständiges Verbot des metallischen Bergbaus in El Salvadors vor und somit nicht nur des industriellen sondern auch des sogenannten kleinen Bergbaus. Im Verwaltungsbezirk La Unión suchen einige Hundert Kleinschürfer*innen in selbst gegrabenen Tunneln informell nach Gold. Sie befürchten nun eine Kriminalisierung und den Verlust ihrer Einkommensquelle. Es kam bereits zu ersten Streitigkeiten zwischen Aktivist*innen und Kleinschürfer*innen in der Region. Das Gesetz sieht für Kleinschüfer*innen einen Übergangszeitraum nach Inkrafttreten von zwei Jahren vor, in denen sie sich einer neuen Einkommensquelle widmen können. Der Staat will ihnen dafür Beratung sowie finanzielle und technische Unterstützung anbieten.

Das Gesetz ist nicht zuletzt ein beispielloser Erfolg internationaler Solidarität. Die “International Allies against Mining in El Salvador” mit Mitgliedsorganisationen unter anderem in Kanada, den USA, Australien und Deutschland haben die Zivilgesellschaft in El Salvador durch Delegationsreisen, Petitionen und offene Briefe an Entscheidungsträger*innen unterstützt. Die CIR hat sich aktiv an diesen Solidaritätsaktionen beteiligt.
Der „Runde Tisch gegen Bergbau“ in El Salvador hat auch immer wieder den Austausch mit betroffenen Gemeinden in anderen Ländern – auch in entlegenen Erdteilen – gesucht. Zuletzt besuchte der Gouverneur der philippinischen Provinz Nueva Vizcaya das mittelamerikanische Land. Die Regierung der Philippinen suspendierte kürzlich ein Bergbauprojekt von OceanaGold. Der Gouverneur fand bei seinem Besuch deutliche Worte: „Die Realität des sogenannten ‘verantwortungsvollen Bergbaus’ von OceanaGold auf den Philippinen ist ein Desaster. Urteilt nach dem Verhalten von OceanGold in meinem Land, nicht nach ihren Versprechen!“

Das Gesetz könnte auch den Antibergbaubewegungen in den mittelamerikanischen Nachbarländern, in Lateinamerika und weltweit Rückenwind verleihen. Auch Protestbewegungen, die sich für eine faire Handels- und Investitionspolitik weltweit einsetzen, sollten sich auf den Fall berufen: Schließlich zeigt er, dass internationale Schiedsgerichtsverfahren zu Investitionsstreitigkeiten nicht nur Konflikte anheizen, sondern auch demokratische Prozesse behindern. Das Gesetz konnte nämlich erst verabschiedet werden, nachdem eine hohe Strafzahlung wegen einer vermeintlich investitionsfeindlichen Politik El Salvadors abgewendet werden konnte.

 


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„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 


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DIFFAMIERUNG STATT AUFKLÄRUNG

Ein Jahr ist seit dem Mord an Berta Cáceres vergangen. Der Schock über den Verlust und die grausame Tat ist längst nicht überwunden. Berta Cáceres war eine nicht nur in Honduras herausragende Persönlichkeit, die sich schwer in Kategorien einordnen ließ. Sie war mehr als eine Umweltschützerin oder Menschenrechtsverteidigerin, sie war Kämpferin für indigene Rechte, Feministin, Antikapitalistin. Sie hatte den Zivilen Rat für Indigene und Basisbewegungen Honduras (COPINH) maßgeblich mit aufgebaut und dafür gesorgt, dass nicht nur die Verteidigung der Territorien der indigenen Gruppe der Lenca auf dem Programm stand, sondern auch ein kritischer Umgang mit patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Organisation. Sie war trotz all ihrer Reisen am liebsten vor Ort in den Lenca-Gemeinden.

Die Botschaft der Mörder bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten.

„Sie haben geglaubt, dass sie auf diese Art nicht nur die in Lateinamerika und weltweit bekannte Führungspersönlichkeit vernichten, sondern zugleich auch die Idee, den Kampf, das politische Projekt und die Organisation COPINH, dessen Mitbegründerin und Tochter Berta war“, schreibt COPINH über die Intention der Mörder. Gelungen ist ihnen das nicht, nach wie vor fordern solidarische Gruppen weltweit Gerechtigkeit für Berta. Berta Cáceres’ Name fand sich bereits im Jahr 2013 auf einer Todesliste. Sie erhielt über die Jahre eine Vielzahl von Morddrohungen. Viele glaubten, dass man es nicht wagen würde, Berta Cáceres zu ermorden, weil sie zu bekannt war. Doch in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 erschossen Auftragsmörder sie in ihrem eigenen Haus. Der Zeuge Gustavo Castro, mit dessen Anwesenheit die Mörder nicht gerechnet hatten, wurde angeschossen. Er überlebte, weil er sich tot stellte. Die schockierende Botschaft der Mörder an die Öffentlichkeit bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten. In dem Jahr seit Bertas Tod wurden weitere Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen ermordet: Nelson García und Lesbia Urquía von COPINH, José Ángel Flores und Silmer Dionisio George von der Bauernbewegung MUCA, José Santos Sevilla, aus der Führung des indigenen Volks der Tolúpan. Honduras ist, wie die internationale NGO Global Witness in ihrem Ende Januar erschienenen Bericht feststellt, das gefährlichste Land weltweit für Umweltschützer*innen und Kämpfer*innen für Landrechte. Der Mordfall Berta Cáceres droht sich als beispielhaft für eine Gesellschaft zu erweisen, in der Morde und Attentate durch die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise gedeckt werden.

Global Witness stellt aktuell fünf Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten ausführlich dar und benennt Mitverantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Militär. Seither läuft eine Diffamierungskampagne gegen die Verfasser*innen des Berichts sowie gegen die Gemeinden und Organisationen, die Informationen dazu beigetragen haben. Einmal mehr handeln die honduranischen Autoritäten nach dem Motto: diffamieren und kriminalisieren anstatt ernsthaft zu ermitteln. Am 8. Februar 2017 wurde Óscar Aroldo Torres Velásquez als achter Tatverdächtiger im Mordfall Berta Cáceres verhaftet. Er soll derjenige sein, der auf den einzigen Zeugen Gustavo Castro geschossen hat. Zwei der Beschuldigten haben Verbindungen zum Staudammunternehmen Desarrollos Energéticos S.A. (DESA), das für den Bau des von COPINH abgelehnten Wasserkraftprojekts Agua Zarca auf indigenem Territorium verantwortlich ist. Vier der Beschuldigten sind Militärs oder Ex-Militärs.

Bereits im Juni 2016 sprach ein weiterer ehemaliger Militärangehöriger gegenüber der Zeitung The Guardian von einer Todesliste, auf der Cáceres’ Name gestanden habe. Im September 2016 entdeckten Mitglieder von COPINH einen Militärspion in ihren Reihen, der Informationen über ihre Aktivitäten an das Präsidialamt schickte. „DESAs Verflechtungen mit dem honduranischen Militär reichen bis in die obersten Ränge. Dem Unternehmensregister zufolge, in das Global Witness Einsicht hatte, ist DESAs Präsident Roberto David Castillo Mejía ein ehemaliger Geheimdienstoffizier und Angestellter des staatlichen Energieunternehmens Empresa Nacional de Energía Eléctrica“, so Global Witness. Bereits 2009 habe es Indizien für korrupte Geschäfte Castillos gegeben. Unter anderem bezog er noch ein Gehalt der Armee, nachdem er dort ausgeschieden war und verkaufte überteuerte Waren an seinen ehemaligen Arbeitgeber. In DESAs Vorstand sitzen Vertreter der gut vernetzten wirtschaftlich-politischen Elite wie Ex-Minister Roberto Pacheco Reyes oder der Präsident der Bank BAC Honduras, Jacobo Nicolás Atala Zablah, der zu einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes gehört.

Die international investigativ tätige NGO Global Witness zeigt sich in ihrem Bericht davon überzeugt, dass die Auftraggeber*innen im Mordfall Cáceres in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen als die bisher Verhafteten. Die Verfasser*innen der Recherchen halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Hintermänner gefasst werden, wenn sie wirklich Verbindungen in die oberen Ebenen des Staudammprojekts oder des Militärs besitzen.

Nicht nur im Mordfall Berta Cáceres hat Global Witness belastendes Material gegen führende Unternehmer*innen, Politiker*innen oder Militärs zusammengetragen, etwa gegen die Vorsitzende der Nationalen Partei, Gladis Aurora López. So ist die Diffamierungskampagne, die bereits vor der Vorstellung der Studie begann, kaum verwunderlich. Es tauchten manipulierte Plakate im Internet auf, auf denen die Lenca- Organisationen MILPAH und COPINH, das Honduranische Zentrum zur Förderung der Gemeindeentwicklung CEHPRODEC sowie die NGO Global Witness bezichtigt werden, Honduras in Misskredit zu bringen sowie ökonomisch davon zu profitieren. Auf einem solchen Plakat abgebildet ist unter anderem Berta Isabel Zúñiga, Tochter von Berta Cáceres. Während eines Auftritts in der Fernsehtalkshow Frente a frente wurden Billy Kyte von Global Witness sowie zwei Vertreter von MILPAH als „Lügner“, „Entwicklungsfeinde“ und „Feinde des honduranischen Volkes“ verbal attackiert. Der Staatssekretär für Energie, Ressourcen, Umwelt und Bergbau, José Antonio Galdames, forderte in einem Telefonanruf während der Sendung, dass die Staatsanwaltschaft Kyte verhaften solle.

Auch dem Mord an Berta Cáceres war eine Diffamierungskampagne vorausgegangen, in der die Koordinatorin des COPINH der Lüge bezichtigt wurde und COPINH-Mitgliedern Vandalismus unterstellt wurde. Besonders im Monat vor dem Mord häuften sich die Diffamierungen. Global Witness betonte nach der jüngsten Rufmordkampagne, dass ihre Mitarbeiter* innen durchaus ein positives Bild der honduranischen Bevölkerung hätten: „In der vergangenen Woche haben uns die Führungspersonen der Gemeinden und der Indigenen erneut inspiriert, die Frauen und Männer, die die Menschenrechte verteidigen, die Mitglieder der Nichtregierungsorganisationen. Sie sind Heldinnen und Helden. Wenn der Regierung ein besseres Honduras wirklich am Herzen liegen würde, würde sie deren Sicherheit garantieren und ihre Stimmen anhören.“


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OFFENER BRIEF DER SHUAR

shuar_cidhEin Shuar-Vertreter vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte / Foto: CIDH (CC BY 2.0)

An meine Shuar-Brüder, an die Indigenen des Amazonasbeckens und der Anden, an die Männer und Frauen aus Ecuador und der Welt.

Wie viele von Euch wissen, waren die vergangenen Tage sehr gefährlich für unsere Leute. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich erst der Anfang einer großen territorialen Auseinandersetzung, die die nationale Regierung gegen die Shuar Arutam eingeleitet hat.

Unser Urwald wurde mit Tränen, Angst und Blut befleckt. Die Pfade, die wir in Frieden begingen, sind unsicher und gefährlich geworden. Es ist nun fast 30 Jahre her, dass die Ecuadorianer uns als Helden des Cenepa (Krieg um die Landesgrenze mit Peru Anm. d. Red.) anerkannten, als die Verteidiger von Ecuador, dem Land, dem wir angehören.

Nun ist es an der Zeit, dass die Leute aus unserem eigenen Mund erfahren, wer wir sind. Viele haben in unserem Namen gesprochen, ohne uns zu fragen: die Regierung, Politiker, soziale Aktivisten – manche mit guten, manche mit schlechten Absichten.

Wir sind hier geboren, in diesem riesigen Urwald, der die Cordillera del Cóndor und die Flüsse Zamora und Santiago umfasst. Stacheldraht und Privatbesitz kannten wir nicht. Bis der Staat unser Land zu Brachland erklärte und seine Besiedelung organisierte, mit dieser Überzeugung und Selbstlegitimierung, die allen Siedlern zueigen ist. Als die Siedler dann kamen, haben wir sie freundlich empfangen, weil wir wussten, dass sie arme, hart arbeitende Leute sind, die nur eine Chance für sich und ihr Leben suchen. Ganze Landstriche gehörten uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr, weil Besitztitel auf die Namen von Leuten ausgestellt worden waren, die wir zum Teil nicht einmal kannten.

In den 60er Jahren mussten wir die Interprovinzielle Shuar-Vereinigung FICSH gründen, die wir bis heute als unsere Mutter betrachten, damit der Staat endlich anerkannte, was immer unseres gewesen war: das Territorium, unsere Lebensräume und unsere Kultur. Erst in den 80er Jahren wurden dann Gemeinschaftstitel auf unser Land ausgestellt. Wir erhielten nicht nur aufgrund des Cenepa-Kriegs Anerkennung, sondern auch weil wir diese jahrtausendealten, riesenhaften Wälder erhalten hatten, in Frieden und zum Schutz der Landesgrenze.

Im Jahr 2000 bereiste eine Gruppe von Shuar-Anführern dieses Land und gründete das Shuar Arutam Territorium, so wie die Verfassung es vorschrieb. Das war nicht einfach; es gab hunderte von Versammlungen und Diskussionen, bis sich schließlich sechs Verbände mit ihren 48 Gemeinden zusammentaten, um so ein zusammenhängendes Territorium von 230.000 Hektar in der Provinz Morona Santiago an der Grenze zu Peru zu schaffen.

„Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben  worden.“


Die FICSH eröffnete uns ihr Pilotprojekt, innerhalb des ecuadorianischen Staates eine neue Form indigener Selbstregierung auszuprobieren, eine Art Spezialregime in den Grenzen dieses Shuar-Gebiets. Im Jahr 2003 entwickelten wir unseren Lebensplan, der das Rückgrat unserer Organisation darstellt. Er ist der Kompass, der uns die Richtung weist, der uns sagt, welche Flüsse wir befahren können und wo wir unsere Nase besser heraushalten. Unser Lebensplan behandelt grundlegende Fragen wie Gesundheit, Bildung, den Erhalt und die Kontrolle des Waldes und seiner Ressourcen, Wirtschaft und Umweltschutz. Wir sind praktisch die einzige Gruppe des Landes, die ihr Territorium nach Kategorien nachhaltiger Nutzung eingeteilt hat. 120.000 Hektar haben wir zum strikten Schutzgebiet erklärt, zum Nutzen aller Ecuadorianer.

Im Jahr 2006 wurden wir vom Entwicklungsrat der Nationalitäten und Völker Ecuadors CODENPE als Shuar Arutam Volk legalisiert. Zwei Jahre später unterzeichneten wir einen Vertrag mit der Regierung, um unseren Wald 20 Jahre lang in perfektem Zustand zu erhalten und dafür Zuschüsse zu bekommen, die uns helfen würden, unseren Lebensplan umzusetzen. Dieser Vertrag heißt Socio Bosque – Waldpartner.

Im Jahr 2014 haben wir unseren Lebensplan aktualisiert. Einmal mehr sprach sich unsere Generalversammlung dagegen aus, dass innerhalb unseres Gebiets Bergbau im mittleren oder industriellen Maßstab betrieben wird. Wir haben zu Präsident Correa gesagt: Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm.  Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.

In dieser Situation brach der Konflikt von Nankins aus. Schon seit dem Jahr 2008 bieten wir der Nationalregierung einen institutionalisierten Dialog an, doch trotz all unserer Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Rahmen des plurinationalen Staates ein ernsthaftes, ehrliches, aufrichtiges Gespräch auf Augenhöhe herzustellen. Das ist der Grund für das mangelnde Verständnis und die Fehlinterpretationen der Bedürfnisse der Shuar.

Im Namen eines „nationalen Interesses“, und indem die Vorfälle in Nankints zum Einzelfall erklärt werden, ignoriert die Regierung andere Rechte und Dinge, die laut Verfassung ebenfalls im nationalen Interesse liegen sollten: die Plurikulturalität und der Naturschutz. In Nankints benimmt sich die revolutionäre Regierung wie jeder x-beliebige Kolonisator und vergisst sogar die internationalen Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen ist.

Das Problem liegt nicht in dem Stück Land um Nankints, das wir mit den Siedlern teilen. Von dem die Leute glauben, dass es niemals den Shuar gehört hat. Es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt, dass einmal ein Bergbauunternehmen einfach das Land unserer Vorfahren vom Staat und von ein paar Siedlern kaufen könnte. Die Regierung ist vergesslich, und da sie viele Medien besitzt, um sich Gehör zu veschaffen, setzt sie ihre eigenen Wahrheiten durch. Unser Gebiet umfasst nicht nur Nankints. Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben worden. Die gesamten Flussläufe des Zamora und des Santiago wurden an den Klein-Bergbau konzessioniert. Und ein riesiges Wasserkraftwerk ist im Begriff, gebaut zu werden. Unsere Frage lautet: Wo sollen wir Eurer Ansicht nach leben?

„Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben?“


Aus diesem Grund haben wir vor neun Jahren dem Unternehmen gesagt, es soll unser Land verlassen, und uns Nankints zurückgeholt. Neun Jahre später hat irgendjemand den Präsidenten manipuliert, damit er uns gewaltsam vertreibt, noch bevor er abtritt. Weil wir uns das nicht gefallen lassen, kommt es zu Gewalt. Sie haben uns die Schuld für die Tragödie mit dem ermordeten Polizisten gegeben, aber wir haben keinerlei Befehl ausgegeben, jemanden umzubringen. Die Regierung hingegen schickt, anstatt mit uns zu sprechen, tausende von Polizisten und Militärs in unsere Häuser, auf unser Land, terrorisiert und bedroht unsere Kinder. Soweit ich weiß, ist keiner von uns Scharfschütze, noch besitzen wir Feuerwaffen, die einen Polizeihelm durchschlagen würden. Warum ermitteln sie nicht gründlich, bevor sie uns verfolgen, bevor sie Haftbefehle für all unsere Familienväter ausstellen? Warum verkünden sie bei uns den Ausnahmezustand, anstatt mit uns zu reden um zu ermitteln, um die Gewalt zu stoppen, um den dunklen Kräften die Türen zu verschließen? Warum dringen sie in unsere Häuser ein? Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben? Die Antwort, die wir erhalten, ist, dass wir angesichts des nationalen Interesses nur eine Handvoll folkloristischer und terroristischer Indios sind und nicht verstehen, was Buen Vivir bedeutet. Und schon gar nicht Sumak Kawsay oder das Projekt der Bürgerrevolution.

In diesem ersten Kommuniqué aus den Wäldern der Cordillera del Cóndor sagen wir tausend Familien Euch, dass wir es unter keinen Umständen zulassen werden, dass die Gewalt und die Macht der Regierung unser Haus, Dein Haus, das Haus der Welt zerstört.

Präsident Rafael Correa muss ein Klima des Friedens schaffen, seine Truppen zurückziehen, den Ausnahmezustand in unserer Provinz aufheben sowie die Haftbefehle gegen unsere Anführer und Angehörigen. Der einzig richtige Weg, um diesen Weg der Zerstörung zu beenden – der einzelne Shuar zu isolierten Widerstandsaktionen treibt, um ihr Gebiet zurückzuerobern –, ist der Dialog, der Respekt, das gegenseitige Verständnis.

Wir fordern alle Bewohner Ecuadors und Morona Santiagos auf, sich unserer Forderung nach Frieden, der Beendigung der Gewalt und einem ernsthaften Dialog mit der Regierung anzuschließen; einem Dialog, der unser Leben als Ureinwohner respektiert.


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“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

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Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.


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“SCHANDE FÜR DIE ARGENTINISCHE JUSTIZ”

Milagro Sala hat das Sagen / Foto: Tupac Amaru

Sie war die erste politische Gefangene der neuen argentinischen Regierung. Milagro Sala, soziale Basis-Aktivistin und eine der einflussreichsten Frauen Argentiniens, wurde im Januar 2016 mit dubioser Begründung festgenommen und saß seither ohne Gerichtsurteil in illegaler Präventionshaft. Am 29. Dezember 2016 schließlich verurteilte sie das Landesgericht der Jujuy wegen „Anstiftung zum Protest“ aufgrund eines Vorfalls aus dem Jahr 2009 zu drei Jahren Haft auf Bewährung. Am darauffolgenden Tag wurde sie in einem parallelen Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe sowie einem quasi Berufsverbot belegt, das ihr für drei Jahre und drei Monate die Mitgliedschaft in einer sozialen Organisation untersagt. Beide Urteile haben nicht nur aufgrund zahlreicher Verfahrensfehler, fehlender Beweise oder mangelnder Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen Empörung ausgelöst. Neben dem hohen Strafmaß verstößt das verhängte Verbot, sich in sozialen und kulturellen Vereinen und Organisationen zu beteiligen, gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Protest und öffentliche Meinungsäußerung. Beide Gerichtsprozesse verkommen so zu einer Farce, mit der der amtierende Gouverneur der Provinz Jujuy, Gerardo Morales, versucht, seine größte Widersacherin für den Rest seiner Amtszeit außer Gefecht zu setzen.

Die Dämonisierung der sozialen Figur Milagro Sala und die „fast pathologische Art“, wie sich Gouverneur Morales in den Fall hineinsteigere, seien „ein Skandal“, empört sich Salas Verteidigerin Elizabeth Gómez Alcorta am Tag des ersten Urteils, die Methoden, mit denen die Spielregeln der Justiz mit allen Mitteln umgeworfen werden, „unerhört“. Mit einem fairen Prozess habe sowieso niemand mehr gerechnet, aber das Urteil sei eine „Schande für die argentinische Justiz“, so Alcorta. Die persönliche „Hexenjagd“ des Gouverneurs beruht auf einer langen Geschichte. Denn Sala, von den einen verehrt, von den anderen gehasst, ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer unentbehrlichen politischen Figur und sozialen Referenz in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens geworden. Sie ist Kopf (und Herz) der sozialen Basisorganisation Túpac Amaru, die in den 1990er Jahren als Reaktion auf die politische Krise der Provinz gegründet wurde. Fehlende politische Repräsentation, inaktive Parteien und die „Unregierbarkeit“ einer der ärmsten Provinzen des Landes – kaum ein Gouverneur konnte seine reguläre Amtszeit beenden – führten zu einem politischen Vakuum, in dem Raum für neue Formen der außerparlamentarischen politischen und sozialen Organisation entstand. Die Menschen, geplagt von Massenarbeitslosigkeit und Entlassungen, machten sich diesen Raum zu eigen und entwickelten eine neue Protestkultur, in der sowohl die gewerkschaftliche Organisation als auch die Energie der Arbeitslosen kanalisiert wurde.

Auch Milagro Salas Figur ist in dieser Zeit gewachsen, heraus aus peronistischen Jugendbewegungen und Gewerkschaften und hinein in die neue aktive Rolle, die Frauen in den neuen sozialen Protesten einnahmen. Heute ist sie für viele eine Referenz, die inspiriert und ein anderes Selbstvertrauen gibt. Denen, die am wenigsten haben, Würde zu geben, sei das, was sie bei der Túpac gemacht habe, sagt sie selbst noch vor der Urteilsverkündung: „Wir haben gearbeitet, ausgebildet, erklärt, uns die Kultur der Arbeit zurückerobert. Und Arbeiten bedeutete, jedem einzelnen unserer compañeros Würde zu geben“.

Milagro Salas Organisation Túpac Amaru hat allein in Jujuy über 70.000 Mitglieder und ist als politische und soziale Akteurin in der Provinz nicht mehr wegzudenken. Die Túpac, wie sie in Kurzform genannt wird, verteilt Ressourcen des Staates um und ist der gesellschaftliche Kitt, der die Nachbarschaft organisiert und zusammenhält, für Ordnung sorgt, Protestpotenzial bündelt. Sie setzt sich für die ein, die es am meisten benötigen, mit Wohnraum, Bildung, medizinischer Versorgung und sozialem Zusammenhalt. Gefestigt hat sich die Stellung der Organisation vor allem seit 2003 durch die zunächst skeptische, dann immer fruchtbarere Zusammenarbeit mit den Vorgängerregierungen Néstor und Cristina Kirchners. Túpac Amaru ist ein Paradebeispiel für die Rolle sozialer Organisationen im Kirchnerismus als Mittlerin zwischen Staat und ärmeren Teilen der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Eine relativ neue Erscheinung – politischer Aktivismus, der zwar nicht parteilich gebunden ist, aber dennoch starke Verbindungen zur damaligen Regierungspartei Frente para la Victoria unterhielt.

Über die effiziente Verwaltung von Sozialprogrammen der Bundesregierung gewann die Túpac Bedeutung und Einfluss. Dabei bildete sie ein Flaggschiff in der Entwicklung von Kooperativen und dem damit verbundenen Wirtschaftsmodell, setzte sich ein für Arbeiter*innen- und Menschenrechte. In den eigens gegründeten Kooperativen zur Umsetzung von öffentlichen Programmen zum sozialen Wohnungsbau konnten sie vorhandene Mittel weitaus schneller, sparsamer und zielführender einsetzen als private Baufirmen und dabei weitaus mehr Menschen beschäftigen. Über 8.000 Wohnungen und ganze Stadtviertel wurden in Jujuy von den Menschen gebaut, die später selbst darin wohnen sollten. Auch das benötigte Material wurde in kooperativ betriebenen Fabriken produziert, somit Mittelsmänner ausgeschaltet und die eingesparten Ressourcen in Gesundheitszentren, Schulen, Rehabilitierungs- und Freizeitangebote innerhalb der Wohnblöcke investiert. Die Implementierung der staatlichen Programme hat die Túpac Amaru zu einem der größten Arbeitgeber in der Provinz gemacht. Mit dem Machtwechsel in Buenos Aires fiel Ende 2015 der größte Finanzgeber für die Túpac weg.

Die Gerichtsprozesse waren die reinste Farce.


Um die unangefochtene Führungsperson Milagro Sala existiert nahezu ein Kult. Wichtige Entscheidungen werden zwar im Plenum diskutiert, aber das Sagen hat Milagro Sala. Sie leitet mit Härte und Disziplin, es heißt, nicht wenige ihrer Anhänger*innen würden bis ans Äußerste für sie gehen. Sala hat selbst auf der Straße gelebt. Ihr politischer Aktivismus hat sie aus der Marginalität geholt, weg vom Drogensumpf und einem Leben zwischen Knast und Straße. Dort ist sie allerdings durch eine harte Schule gegangen und hat sich den Respekt der Menschen erkämpft. Durch Stärke, Strenge, Verbindlichkeit und Geradlinigkeit. Deswegen sind sie und die Organisation von den villeros, den Menschen, die in den Armenvierteln leben, akzeptiert, denn sie fühlen sich repräsentiert. Milagro Sala hat zudem die Fähigkeit, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen und sie oft gar zu lösen – mit staatlichen Mitteln. So wie es eigentlich sein sollte.

Doch durch ihr zunehmendes Gewicht ist die Organisation der Machtelite ein Dorn im Auge. Und Milagro Sala, als ihr Aushängeschild, wird als „Provokation“ wahrgenommen. Denn in der stark von Rassismus und Klassismus geprägten Provinz geht es nicht nur um politische und territoriale, sondern auch um symbolische Macht. Milagro Sala ist das absolute Gegenteil dieser Machtelite, von der sie gehasst wird: Sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, das heißt nicht weiß, sie stammt nicht aus der Oberschicht, sondern aus dem Slum, sie sieht aus wie eine Indígena, so wie alle einfachen Menschen im Norden Argentiniens, deren sozialer Status sinkt, je dunkler die Hautfarbe. Aber sie ist stolz, rotzig und trotzig statt unterwürfig – ein Affront. Social Media-Kampagnen gegen sie sind oft von grauenhaftem Rassismus durchzogen. Dass sie, dieses „Negativ“ der weißen Justiz- und Politikelite, Ansehen, Macht und Einfluss gewonnen hat und in ihrer Arbeit Prinzipien umsetzt, die den herrschenden Status quo herausfordern, ist für diese eine Verhöhnung. Für sie ist die Túpac Amaru allemal eine Unruhestifterin und gefährlich aufgrund des enormen Protestpotenzials, der politischen Mobilisierungskraft und ihrer Legitimation in der Bevölkerung. Mit ihren Anhänger*innen können sie die ganze Provinz lahmlegen. In den vergangenen Jahren gab es Dutzende (mittlerweile eingestellte) Anzeigen gegen Sala, bei denen es immer um Widerstand gegen die Staatsgewalt ging – Demonstrationen, Besetzungen, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber die Túpac ist weit mehr als bloßer Protest.

Die von der Túpac gebauten Stadtviertel sind eine Art Sozialbau, der seinesgleichen vergeblich sucht. In der britischen Zeitung The Guardian verglich der Journalist McGuirk das von Túpac gebaute Barrio Alto Comedoro mit einer ironischen Version der Country Clubs der Reichen, einer Kombination aus Vorstadt, disneyeskem Vergnügungspark und radikalem Sozialismus. Denn neben den Freizeitbädern wurden Nachbildungen indigener Kultstätten Tiwanakus gebaut und prangt die gesammelte revolutionäre Ikonographie auf den Wasserspeichern des Viertels: die Konterfeis Che Guevaras, Evitas und Túpac Amarus, Widerstandskämpfer der Indigenen gegen die spanische Kolonialisierung. Die Sport- und Freizeitangebote sind symbolische Gesten, die aber auch dazu führen, dass in den Vierteln eine Community nicht nur durch das Wohnen im Ballungsraum entsteht, sondern durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sonst nur Reichen vorbehalten sind. Die Wohnprojekte seien ein „Stinkefinger für Politiker und private Bauunternehmen“, so McGuirk.

Nicht weiter verwunderlich, dass die neu gewählte Regierung – bestehend aus der bourgeoisen Elite der Provinz – alles daran setzt, die Organisation zu zerschlagen. Allen voran der ehemalige Senator Gerardo Morales, der im Dezember 2015 zum neuen Gouverneur von Jujuy gewählt wurde. Angetreten war er für die aus Oppositionsparteien zum Kirchnerismus bestehende Wahlallianz Frente Cambia Jujuy, der lokalen Variante der Regierungskoalition Cambiemos von Präsident Maurico Macri auf Bundesebene. Eine von Morales’ ersten Amtshandlungen war die Inhaftierung Milagro Salas. Die vagen und unhaltbaren Anschuldigungen gegen Sala wurden im Laufe der Anklage ständig verändert. Eine klar politisch motivierte Verhaftung, die zudem aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Verfahren unrechtmäßig war. Festgenommen wurde Milagro Sala zunächst am 16. Januar 2016 aufgrund eines friedlichen Protestcamps zur Zahlung von Sozialprogrammen und Wiederaufnahme des Dialogs mit der neu gewählten Regierung: „Anstiftung zu kriminellen Aktivitäten“.

Salas ist das Gegenteil der regierenden Machtelite.

Nachträglich wurde die Anklage fallengelassen, aber am selben Tag mehrere Klagen aufgrund anderer Delikte eingereicht – Veruntreuung öffentlicher Gelder, öffentlicher Aufruhr, Nötigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das Protestcamp wurde stattdessen in einem Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit verhandelt, woraus das Urteil vom 30. Dezember resultierte. Das Vergehen, das jetzt vor dem Strafgericht beschieden wurde, ist allerdings ein Eierwurf aus dem Jahr 2009 auf den damals noch als Senator tätigen Morales, zu dem Sala angeblich aufgerufen haben soll, sie selbst aber nicht einmal anwesend war. Keine der anhängigen Klagen hatte jedoch die bald ein Jahr andauernde Präventionshaft gerechtfertigt, die unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen war: mit einem ad hoc erweiterten Obersten Gerichtshof, der dann von ehemaligen Abgeordneten aus der Partei neu besetzt wurde, die zuvor für seine Erweiterung gestimmt hatten; mit per Dekret ernannten Staatsanwält*innen, mit Untersuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, mit Aufnahme von Anklagen in der Ferienzeit der Gerichte, mit Diffamierungen der Verteidiger*innen von Milagro Sala und vielen weiteren Unregelmäßigkeiten im Verfahren im Laufe des vergangenen Jahres, die gegen lokale und nationale Rechtsprechung verstoßen. Die Willkürlichkeit der Methoden, mit denen versucht wird, Sala außerhalb rechtlicher Konventionen in Haft zu behalten, zeigt eine Gesetzesinitiative aus Morales Regierungskoalition kurz vor der Urteilsverkündung, die sich für ein Referendum über den Verbleib in Untersuchungshaft der Angeklagten einsetzt. In Jujuy sind Justiz und Politik so sehr miteinander verknüpft, dass praktisch keine Unabhängigkeit besteht. Man könne gar nicht von Rechtstaatlichkeit sprechen, erklärt der Journalist und Menschenrechtler Horacio Verbitsky. Zu alledem müsste Sala als Abgeordnete des PARLASUR eigentlich parlamentarische Immunität genießen und auch die UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Festnahmen hatte bereits im Oktober 2016 bestätigt, dass es keine legale Rechtfertigung für die Inhaftierung Salas geben würde – ohne Reaktion.

Auch nach der Urteilsverkündung gibt es weiterhin keine rechtliche Handhabe dafür, dass Sala in Haft verbleibt. Da es sich bei der Freilassung aber um eine rein politische Entscheidung handele, bleibe diese sehr unwahrscheinlich, bis sich die Machtverhältnisse geändert hätten, so die Pressesprecherin der Túpac Amaru Sabrina Roth gegenüber den LN. Dass die Willkürlichkeit und Korrumpierung des Justizsystems durch die Provinzregierung auch auf Bundesebene Unterstützung findet, ist besonders besorgniserregend. Denn nicht nur verfassungsmäßige Garantien und Regeln des Strafrechts werden missachtet, sondern friedlicher Protest und freie Meinungsäußerung werden als schwerwiegende kriminelle Handlungen dargestellt und auch als solche geahndet. Das kürzliche Urteil gegen Milagro Sala ist daher ein gefährlicher Präzedenzfall im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit von grundlegenden Menschenrechten und vertieft die Sorge der Aktivist*innen um ein wieder aggressiver werdendes Klima gegenüber sozialen Protesten im neoliberal regierten Argentinien.


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DER REBELLISCHE STEUERMANN

Als im Jahre 2001 im Berliner Kino Babylon der Film Los cuentos del timonel („Die Erzählungen des Steuermanns“) zum ersten Mal vorgeführt wurde, saßen im Saal viele Leute, die Osvaldo Bayer in den letzten 30 Jahren kennen gelernt hatten. Leute, die vor allem aus dem Umkreis des legendären Westberliner Chile-Komitees und der Redaktion der Lateinamerika Nachrichten stammten, Leute, die er als Freund*innen gewonnen hatte und die ihn bewunderten. Der Film beschreibt sein Leben mit Interviews, die mit ihm und anderen Zeitzeugen gedreht wurden. Er redet mit großer Bescheidenheit, aber auch mit Stolz über sein Leben, vor allem aber mit großem Zorn gegen das Unrecht in der qualvollen Geschichte seines Landes Argentinien und der Welt. Kein Wunder, dass das Publikum ihm am Ende der Veranstaltung heftig applaudierte und ein langes Leben wünschte.

Dass das nun schon wieder mehr als 15 Jahre her ist und er nun seinen 90. Geburtstag feiern wird, man mag es kaum glauben.

Osvaldo Bayer entstammte einer Familie, die aus Altenberg in Tirol nach Argentinien ausgewandert war. Sein Vater hatte den in Tirol üblichen Namen Payr in Bayer geändert. Osvaldo wurde am 18. Februar 1927 in Santa Fe geboren. Er wuchs auf in Bernal in der Provinz Quilmes und im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires. Nach einer Zeit in einem Versicherungsunternehmen und bei der Handelsmarine als Steuermannslehrling begann er an der Universität von Buenos Aires mit dem Studium der Philosophie und der Geschichte.

Im Januar 1952 reiste er nach Deutschland, weil die Philosophische Fakultät der Universität Buenos Aires, an der er studierte, von rechten Kräften dominiert wurde, vor allem von der katholische Kirche. Jeder Student, der im Verdacht stand, ein Linker zu sein, wurde verfolgt. Osvaldo betrachtete sich als Sozialisten und hielt dieses repressive Klima nicht aus. Deshalb beschloss er, nach Hamburg zu reisen, da dort seine Lebensgefährtin Marlies Joos lebte. Sie war gebürtig aus Argentinien, aber mit deutschen Eltern. In Hamburg wurde er Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Sie heirateten und kehrten 1956 mit zwei Kindern zurück nach Buenos Aires.

Dort arbeitete er für die Zeitung Noticias Gráficas. Als er zu Recherchezwecken Patagonien bereiste, erlebte er die Ausbeutung der indigenen Mapuche und der chilenischen Landarbeiter. So stieß er auf eines seiner Lebensthemen. Schon sein Vater hatte mit ihm von der Geschichte der Unterdrückung in Patagonien gesprochen. In seiner Zeitung machte er die patagonischen Verhältnisse öffentlich. Daraufhin wurde er aus der Provinz Chubut ausgewiesen.

Von 1958 bis 1973 arbeitete Osvaldo Bayer für die Zeitung Clarín. Er war Redaktionssekretär, dann Leiter des Ressorts Politik, schließlich des Feuilletons. Zudem war er von 1959 bis 1962 Generalsekretär der argentinischen Journalistengewerkschaft. Später gab er die Zeitschrift Imagen heraus.

Osvaldo Bayer bezeichnet sich selbst als radikalen „Anarchisten und Pazifisten“, was ihm in dieser aufgewühlten Zeit nicht gerade allseits Sympathien eintrug. Neben seiner journalistischen Arbeit widmete er sich der Erforschung der Geschichte Patagoniens und fand heraus, dass die Kenntnis der schlimmsten Verbrechen in dieser Geschichte vollständig unterdrückt war. Sie konnten vergessen werden, weil die Betroffenen sämtlich ermordet worden waren.

In seinem Buch La Patagonia Rebelde (Das Rebelische Patagonien) schildert er den Streik und den Aufstand der Landarbeiter*innen in Patagonien aus den Jahren 1920 bis 1922, den das Militär blutig unterdrückte. Zu Beginn des Jahrhunderts lebten in Patagonien Großgrundbesitzer*innen mit riesigen Ländereien und unermesslichem Reichtum, während die Landarbeiter*innen in bitterer Armut lebten. Alle Forderungen nach Änderung der Verhältnisse werden unnachgiebig verfolgt. Sogar als ein 18-jähriger spanischer „Agitator“ den Landarbeiter*innen 1915 den Vorschlag machte, gemeinsam in die Berge zu ziehen und dort eine landwirtschaftliche Kooperative zu gründen, landet er im Gefängnis.

1920 waren die Arbeiter*innen nicht mehr bereit, die schlechten Arbeitsbedingungen und die unzureichende Bezahlung zu akzeptieren. Nach den ersten Arbeitskämpfen erreichten sie tatsächlich ein Abkommen mit den Landbesitzer*innen, das diese jedoch nicht einhielten. Weitere Streiks und Besetzungen der großen Landgüter sollten den Forderungen im folgenden Jahr Nachdruck verleihen. Doch die politische Situation hatte sich geändert. Das argentinische Militär ging gegen die Streikenden vor und tötete mehr als 1.500 Arbeiter*innen – meist nachdem sie sich bereits ergeben haben.

Das Buch La Patagonia Rebelde erzählt anschaulich und mit vielen Beispielen die Geschichte der Streiks und die individuellen Schicksale vieler Beteiligten. Osvaldo Bayer selbst verglich dieses Massaker vom Ende der Welt in seinen Dimensionen mit der Massakrierung der Aufständischen im Deutzschen Bauernkrieg. La Patagonia Rebelde gilt mit Recht als eines der wichtigsten Bücher für die Geschichte Argentiniens im 20. Jahrhundert. Der Roman ist die Grundlage für den gleichnamigen Spielfilm, der 1974 mit dem Silbernen Bären der Filmfestspiele in Berlin ausgezeichnet wurde. Der junge Néstor Kirchner, der später Staatspräsident werden sollte, hatte darin eine Nebenrolle übernommen. Natürlich waren Buch und Film während der Militärdiktatur (1976-1983) verboten.

Als er 1972 und 1974 die ersten Bände von La Patagonia Rebelde veröffentlichte, wurde er von der Argentinischen Antikommunistischen Allianz, der so genannten Triple A, einer Todesschwadron, die unter der Leitung des Sozialministers der Präsidentin Isabel Perón, des „Hexers“ José López Rega, stand, mit dem Tode bedroht. Als die Lage immer brenzliger wurde, schickte er zuerst seine Frau und seine vier Kinder nach Deutschland, wollte aber selbst noch in Argentinien bleiben. Der Kulturattaché der Deutschen Botschaft und dessen Ehefrau schmuggelten ihn schließlich unter Lebensgefahr aus Argentinien heraus. Das ist sehr bemerkenswert, weil die Deutsche Botschaft in Buenos Aires und das Auswärtige Amt sich geweigert hatten, zu Gunsten von Verfolgten in Argentinien zu intervenieren, beispielsweise im Fall von Elisabeth Käsemann.

Von 1974 bis zum Ende der Militärdiktatur 1983 blieb Osvaldo Bayer wieder in Deutschland, schrieb unter andem für die LN und warb nach Kräften für die Solidarität mit Argentinien und Lateinamerika. Als er wieder nach Buenos Aires zurückkehren konnte, war er sehr froh darüber, dass er sofort auf eine neu geschaffene Professur für Menschenrechte an der Universität von Buenos Aires berufen wurde. In den Folgejahren erhielt Osvaldo Bayer zahlreiche Ehrungen. So wurde er  Ehrenbürger von Buenos Aires und Ehrendoktor zahlreicher Universitäten. Am meisten aber fühlte er sich geehrt durch den Preis der Mütter der Plaza de Mayo. Sie hatten schon seit kurz nach dem Anfang der Militärdiktatur gegen alle Widerstände regelmäßige Demonstrationen für die Rückkehr ihrer verschwundenen Töchter und Söhne durchgeführt.

Wir wünschen Osvaldo Bayer noch ein langes Leben und dass sein Zorn gegen das Unrecht nicht nachlässt.


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ENDE DER GEWALT?

Das überarbeitete Friedensabkommen zwischen den revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) und der kolumbianischen Regierung ist in beiden Kammern des Kongresses ratifiziert worden. Seit dem 6. Dezember hat die Konzentration der Kämpfer*innen in den Demobilisierungszonen begonnen. Dieser Prozess wird jedoch von ersten Desertationen und Sorgen um die zukünftige Sicherheitslage im Land begleitet.

Meta

 Leben in Frieden? Der Verwaltungsbezirk  Meta im Südosten war Jahrzehnte lang eine Hochburg der FARC

Nach dem knappen Sieg des ‚Nein‘ in der Volksbefragung zum Friedensabkommen vom 2. Oktober, das Kolumbien und die Welt erschütterte, verhandelte die Regierung von Juan Manuel Santos mit der FARC-EP über Änderungen am ursprünglichen Friedensvertrag. Parallel dazu führte Santos auch Verhandlungen mit Vertretern des ‘Nein’-Lagers rund um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez und die Partei Centro Democrático (CP), um deren Unterstützung für ein neues Friedensabkommen zu gewinnen. Den Unterhändlern von Regierung und FARC-EP gelang es, sich innerhalb von nur wenigen Wochen auf ein neues Abkommen zu einigen, das am 12. November in der kubanischen Hauptstadt verabschiedet und  am 24. November von Santos und dem Führer der FARC-EP Rodrigo Londoño Echeverria in Bogotá unterzeichnet wurde.
Die Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritiker*innen des ursprünglichen Vertrages, die durch ihre polarisierende  Kampagne eine knappe Mehrheit der wählenden Bevölkerung von der Ablehnung des Friedensvertrages überzeugen konnten. Beinahe alle Punkte des 310-Seiten starken Vertrages wurden überarbeitet, wobei die wohl bedeutendste Änderung die rechtliche Implementierung des Abkommens betrifft. So werden im Gegensatz zum ursprünglichen Vertrag nur die Punkte in die Verfassung übernommen, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht betreffen. Zwar soll ein Übergangsgesetz dafür sorgen, dass in zukünftigen Legislaturperioden keine Veränderungen am Friedensvertrag vorgenommen werden können, allerdings gilt dieses nur für drei präsidentielle Legislaturperioden.
Die Gegner*innen des Friedensvertrages haben ihren Widerstand allerdings nicht eingestellt. Ex-Präsident Uribe und das CP bezeichneten die Änderungen lediglich als kosmetisch und verweigerten ihre Unterstützung im Kongress. Sie forderten vielmehr einen erneunten Plebiszit, was allerdings von der Regierung angesichts der starken Polarisierung in der Gesellschaft abgelehnt wurde.
Zwar galt eine Zustimmung aufgrund der Mehrheit der Regierungspartei als wahrscheinlich, die fehlende Unterstützung seitens der Opposition wird die zukünftige Implementierung in Form von politisch bindenden Gesetzten allerdings erschweren. Entsprechend äußerte sich auch ein hochrangiger Berater der Regierung: „Die Situation ist äußerst kompliziert. Wenn das zweite Abkommen von Havanna über den Parlamentsweg bestätigt wird, muss es dennoch rechtlich im Kongress ausgearbeitet werden. Dies wird sehr viele Probleme generieren, da für die Implementierung dieser Gesetzte eine Verfassungsänderung mit entsprechender Mehrheit notwendig sein wird.“ Im Rahmen der rechtlichen Implementierung des Abkommens bleibt vor allem die Gefahr, dass in künftigen Legislaturperioden die dringend notwendigen politischen und sozialen Veränderungen verwässern.
Weiteres Konfliktpotential birgt die Verwicklung der FARC-EP in den  Drogenhandel und die mit dem Friedensabkommen verbundene Übergangsjustiz. Laut dem neuen Abkommen sind nur diejenigen Drogendelikte von einer Amnestie betroffen, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt stehen und zu dessen Finanzierung beitrugen. Strafbar dagegen sind alle Delikte, die der persönlichen Bereicherung dienten oder im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit standen.  Die rechtliche Aufarbeitung entlang dieser Definition wird gerade im Kontext des kolumbianischen Konflikts eine Mammutaufgabe werden. Sollte die Übergangsjustiz daran scheitern, geht mit der Amnestie bzw. der Aussicht auf verringerte Haftstrafen ein Hauptanreiz für die Demobilisierung der Kämpfer*innen verloren, die dann sogar der Auslieferung an die USA aufgrund von Drogendelikten entgegensehen.
Besonders die unteren und mittleren Kommandostrukturen der FARC-EP dürften davon betroffen sein. Hierbei handelt es sich um äußerst erfahrene Kämpfer*innen und Strateg*innen, die neben militärischen Kenntnissen auch über das Knowhow verfügen, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Das Konfliktpotential, das von diesen Gruppen ausgeht, wurde bereits 2006 nach der Demobilisierung der Paramilitärs deutlich. Auch damals wurde den mittleren und unteren Kommandeur*innen der einzelnen Gruppen kaum ein Anreiz für die Integration in die zivile Gesellschaft gegeben, weswegen innerhalb kürzester Zeit neue Organisationen entstanden, die bis heute massiv zu den Gewaltdynamiken im Land beitragen.
„Es gibt bereits seit Jahren Kooperationen zwischen der FARC-EP und den neuen bewaffneten Gruppen was den Drogenhandel betrifft“, so Alberto Santos vom Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH), das sich mit der Aufarbeitung des Konflikts beschäftigt. „Eine Einheit der FARC-EP ist bereits desertiert und nimmt nicht mehr am Friedensprozess teil. […] Diese desertierten Einheiten sind isoliert und ohne Schutz und werden aller Wahrscheinlichkeit nach Unterschlupf in den bestehenden, stärkeren Strukturen suchen, zu denen auch die neuen bewaffneten Gruppen gehören. Diese finden unter den ehemaligen Guerillas potentielle Rekruten, auch wenn die Demobilisierung von Guerillagruppen in Kolumbien traditionell mit geringeren Problemen zu kämpfen hatte, als die der Paramilitärs.“
Der Friedensprozess wird also nur bedingt zu einer Reduzierung der Gewalt in Kolumbien beitragen können. „Ich glaube man hat in diesem Land noch nicht verstanden, dass dieser Konflikt ein politischer Konflikt ist und dass ein Friedensabkommen daher auch politische Auswirkungen haben wird“, so Lukas Rodríguez, der ebenfalls für das CNMH arbeitet. „Das neue Abkommen betrifft bestimmte Faktoren nicht, die eine hohe Relevanz für das gesamte Land haben und vor allem einen Konsens unter der Bevölkerung verlangen würden. […] Es steht außerdem die Frage im Raum, was mit dem Abkommen passiert, wenn [2018] ein neuer Präsident gewählt wird, ob das Abkommen so beibehalten und weiter umgesetzt wird.“
Die Befürchtungen, dass Kolumbien auch trotz des Endes des über 50 Jahre alten Konfliktes zwischen Regierung und FARC-EP auch weiterhin ein von Gewalt gezeichnetes Land sein wird, scheinen sich leider zu bestätigen. Der Friedensprozess wurde von einer Reihe von Morden an Aktivist*innen begleitet, die vor allem aus dem linken Spektrum stammen. Manche Quellen sprechen von über 50 Morden allein in diesem Jahr, unter ihnen zahlreiche Mitglieder des Marcha Patriótica (MP), einer linken politischen Bewegung. So wurde zum Beispiel der MP-Aktivist Jhon Jairo Rodríguez Torres am 10. November in der Region Cauca auf offener Straße erschossen. Allerdings ist unklar, wer für diese und zahlreiche andere Taten verantwortlich ist. Viele vermuten konservative Eliten und Reste der demobilisierten Paramilitärs hinter den Morden, die das gemeinsame Interesse am Erhalt des Status Quo verbindet. Allerdings verhindert die äußerst fragmentierte Präsenz des Staates und der große politische Einfluss der ökonomischen Eliten in ländlichen Gebieten die Aufarbeitung der allermeisten politischen Verbrechen und führt zu einer weitgehenden Straflosigkeit für die Täter*innen. Viele sehen in dieser Entwicklung eine Parallele zu den Massakern an den Mitgliedern der Union Patriótica, denen in den 80ern und 90ern zwischen 3000 und 5000 Menschen zum Opfer fielen.
Hier würde die Integration der ehemaligen FARC-EP Kampfer*innen in die staatlichen Strukturen großes Potential bieten. Einerseits haben diese Personen gerade in den ländlichen Gebieten, in denen der Staat nicht präsent ist, in den vergangenen Jahren quasi-staatliche Funktionen übernommen, verfügen über territoriale Kenntnisse und in manchen Fällen sogar über einen Bezug zur Bevölkerung. Andererseits würde die Integration von Kämpfer*innen in den kolumbianischen Staat sowohl eine berufliche Perspektive für die Guerilla bieten als auch ein starkes Signal der Versöhnung senden. Diese Option wurde aber durch die Kampagne der Gegner des Abkommens unmöglich, da die Bevölkerung durch massive Falschinformation gegen diese Lösung polarisiert wurde. Überhaupt scheint sich der Staat nur begrenzt seiner Verantwortung zu stellen. So wurde unmittelbar vor der Unterzeichnung des neuen Abkommens ein Passus gestrichen, der die Befehlsverantwortung der Militärhierarchie etabliert hätte. Demzufolge wären beispielsweise Offiziere im Ruhestand für die Taten der ihnen unterstellten Ränge verantwortlich gewesen.
Dieser Punkt findet sich auch in der Kritik wieder, die der Journalist Juan David Ortiz Franco an dem neuen Friedensabkommen übt: „Das neue Abkommen behandelt eine zentrale Frage nicht, die meiner Meinung nach von größter Bedeutung ist und die mit den objektiven Gründen des Konflikts in Kolumbien zu tun hat. Dies ist die Bedeutung, die dritten Parteien in diesem Konflikt zukommt. Also solchen, die nicht unmittelbar am Kampf beteiligt waren, die aber von höchster Bedeutung für die Aktionen von bewaffneten Gruppen in Kolumbien waren. Diese Auslassung wird keine wirkliche Aufarbeitung der Verbrechen erlauben, die im Interesse von ökonomischen und politischen Eliten durch die bewaffneten Akteure verübt wurden.“
Ein Punkt, der die Probleme des neuen Abkommens wohl am besten verdeutlicht, betrifft die Gleichstellung von  LGBT-Gemeinschaften. Auf Drängen der evangelikalischen Kirchen wurde der explizite Genderfokus des ersten Abkommens als Angriff auf die Familie abgelehnt. LGBT-Rechte werden nun nicht mehr konkret benannt. Vielmehr wird die traditionelle Familie zum Nukleus der Gesellschaft erklärt. Zwar war dieser Diskurs keine Konfliktlinie, an der sich der Krieg zwischen FARC-EP und Regierung entwickelte. Jedoch zeigte die prominente Positionierung dieses Diskurses im ursprünglichen Friedensabkommen den Willen auf wirklichen gesellschaftlichen Wandel. Dass dieser Diskurs nun den konservativen Kräften zum Opfer gefallen ist, versinnbildlicht die mangelnde Bereitschaft dieser Bevölkerungsteile, auch die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse wirklich zu ändern, die der Motor der Gewalt in Kolumbien sind. Solange sich aber kein gesellschaftlicher Konsens bezüglich der dringend notwendigen Veränderungen in Kolumbien bildet, werden die dem Konflikt zugrundeliegenden Faktoren weiterhin die diversen Gewaltdynamiken im Land befeuern.


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