“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

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Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.

“SCHANDE FÜR DIE ARGENTINISCHE JUSTIZ”

Milagro Sala hat das Sagen / Foto: Tupac Amaru

Sie war die erste politische Gefangene der neuen argentinischen Regierung. Milagro Sala, soziale Basis-Aktivistin und eine der einflussreichsten Frauen Argentiniens, wurde im Januar 2016 mit dubioser Begründung festgenommen und saß seither ohne Gerichtsurteil in illegaler Präventionshaft. Am 29. Dezember 2016 schließlich verurteilte sie das Landesgericht der Jujuy wegen „Anstiftung zum Protest“ aufgrund eines Vorfalls aus dem Jahr 2009 zu drei Jahren Haft auf Bewährung. Am darauffolgenden Tag wurde sie in einem parallelen Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe sowie einem quasi Berufsverbot belegt, das ihr für drei Jahre und drei Monate die Mitgliedschaft in einer sozialen Organisation untersagt. Beide Urteile haben nicht nur aufgrund zahlreicher Verfahrensfehler, fehlender Beweise oder mangelnder Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen Empörung ausgelöst. Neben dem hohen Strafmaß verstößt das verhängte Verbot, sich in sozialen und kulturellen Vereinen und Organisationen zu beteiligen, gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Protest und öffentliche Meinungsäußerung. Beide Gerichtsprozesse verkommen so zu einer Farce, mit der der amtierende Gouverneur der Provinz Jujuy, Gerardo Morales, versucht, seine größte Widersacherin für den Rest seiner Amtszeit außer Gefecht zu setzen.

Die Dämonisierung der sozialen Figur Milagro Sala und die „fast pathologische Art“, wie sich Gouverneur Morales in den Fall hineinsteigere, seien „ein Skandal“, empört sich Salas Verteidigerin Elizabeth Gómez Alcorta am Tag des ersten Urteils, die Methoden, mit denen die Spielregeln der Justiz mit allen Mitteln umgeworfen werden, „unerhört“. Mit einem fairen Prozess habe sowieso niemand mehr gerechnet, aber das Urteil sei eine „Schande für die argentinische Justiz“, so Alcorta. Die persönliche „Hexenjagd“ des Gouverneurs beruht auf einer langen Geschichte. Denn Sala, von den einen verehrt, von den anderen gehasst, ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer unentbehrlichen politischen Figur und sozialen Referenz in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens geworden. Sie ist Kopf (und Herz) der sozialen Basisorganisation Túpac Amaru, die in den 1990er Jahren als Reaktion auf die politische Krise der Provinz gegründet wurde. Fehlende politische Repräsentation, inaktive Parteien und die „Unregierbarkeit“ einer der ärmsten Provinzen des Landes – kaum ein Gouverneur konnte seine reguläre Amtszeit beenden – führten zu einem politischen Vakuum, in dem Raum für neue Formen der außerparlamentarischen politischen und sozialen Organisation entstand. Die Menschen, geplagt von Massenarbeitslosigkeit und Entlassungen, machten sich diesen Raum zu eigen und entwickelten eine neue Protestkultur, in der sowohl die gewerkschaftliche Organisation als auch die Energie der Arbeitslosen kanalisiert wurde.

Auch Milagro Salas Figur ist in dieser Zeit gewachsen, heraus aus peronistischen Jugendbewegungen und Gewerkschaften und hinein in die neue aktive Rolle, die Frauen in den neuen sozialen Protesten einnahmen. Heute ist sie für viele eine Referenz, die inspiriert und ein anderes Selbstvertrauen gibt. Denen, die am wenigsten haben, Würde zu geben, sei das, was sie bei der Túpac gemacht habe, sagt sie selbst noch vor der Urteilsverkündung: „Wir haben gearbeitet, ausgebildet, erklärt, uns die Kultur der Arbeit zurückerobert. Und Arbeiten bedeutete, jedem einzelnen unserer compañeros Würde zu geben“.

Milagro Salas Organisation Túpac Amaru hat allein in Jujuy über 70.000 Mitglieder und ist als politische und soziale Akteurin in der Provinz nicht mehr wegzudenken. Die Túpac, wie sie in Kurzform genannt wird, verteilt Ressourcen des Staates um und ist der gesellschaftliche Kitt, der die Nachbarschaft organisiert und zusammenhält, für Ordnung sorgt, Protestpotenzial bündelt. Sie setzt sich für die ein, die es am meisten benötigen, mit Wohnraum, Bildung, medizinischer Versorgung und sozialem Zusammenhalt. Gefestigt hat sich die Stellung der Organisation vor allem seit 2003 durch die zunächst skeptische, dann immer fruchtbarere Zusammenarbeit mit den Vorgängerregierungen Néstor und Cristina Kirchners. Túpac Amaru ist ein Paradebeispiel für die Rolle sozialer Organisationen im Kirchnerismus als Mittlerin zwischen Staat und ärmeren Teilen der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Eine relativ neue Erscheinung – politischer Aktivismus, der zwar nicht parteilich gebunden ist, aber dennoch starke Verbindungen zur damaligen Regierungspartei Frente para la Victoria unterhielt.

Über die effiziente Verwaltung von Sozialprogrammen der Bundesregierung gewann die Túpac Bedeutung und Einfluss. Dabei bildete sie ein Flaggschiff in der Entwicklung von Kooperativen und dem damit verbundenen Wirtschaftsmodell, setzte sich ein für Arbeiter*innen- und Menschenrechte. In den eigens gegründeten Kooperativen zur Umsetzung von öffentlichen Programmen zum sozialen Wohnungsbau konnten sie vorhandene Mittel weitaus schneller, sparsamer und zielführender einsetzen als private Baufirmen und dabei weitaus mehr Menschen beschäftigen. Über 8.000 Wohnungen und ganze Stadtviertel wurden in Jujuy von den Menschen gebaut, die später selbst darin wohnen sollten. Auch das benötigte Material wurde in kooperativ betriebenen Fabriken produziert, somit Mittelsmänner ausgeschaltet und die eingesparten Ressourcen in Gesundheitszentren, Schulen, Rehabilitierungs- und Freizeitangebote innerhalb der Wohnblöcke investiert. Die Implementierung der staatlichen Programme hat die Túpac Amaru zu einem der größten Arbeitgeber in der Provinz gemacht. Mit dem Machtwechsel in Buenos Aires fiel Ende 2015 der größte Finanzgeber für die Túpac weg.

Die Gerichtsprozesse waren die reinste Farce.


Um die unangefochtene Führungsperson Milagro Sala existiert nahezu ein Kult. Wichtige Entscheidungen werden zwar im Plenum diskutiert, aber das Sagen hat Milagro Sala. Sie leitet mit Härte und Disziplin, es heißt, nicht wenige ihrer Anhänger*innen würden bis ans Äußerste für sie gehen. Sala hat selbst auf der Straße gelebt. Ihr politischer Aktivismus hat sie aus der Marginalität geholt, weg vom Drogensumpf und einem Leben zwischen Knast und Straße. Dort ist sie allerdings durch eine harte Schule gegangen und hat sich den Respekt der Menschen erkämpft. Durch Stärke, Strenge, Verbindlichkeit und Geradlinigkeit. Deswegen sind sie und die Organisation von den villeros, den Menschen, die in den Armenvierteln leben, akzeptiert, denn sie fühlen sich repräsentiert. Milagro Sala hat zudem die Fähigkeit, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen und sie oft gar zu lösen – mit staatlichen Mitteln. So wie es eigentlich sein sollte.

Doch durch ihr zunehmendes Gewicht ist die Organisation der Machtelite ein Dorn im Auge. Und Milagro Sala, als ihr Aushängeschild, wird als „Provokation“ wahrgenommen. Denn in der stark von Rassismus und Klassismus geprägten Provinz geht es nicht nur um politische und territoriale, sondern auch um symbolische Macht. Milagro Sala ist das absolute Gegenteil dieser Machtelite, von der sie gehasst wird: Sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, das heißt nicht weiß, sie stammt nicht aus der Oberschicht, sondern aus dem Slum, sie sieht aus wie eine Indígena, so wie alle einfachen Menschen im Norden Argentiniens, deren sozialer Status sinkt, je dunkler die Hautfarbe. Aber sie ist stolz, rotzig und trotzig statt unterwürfig – ein Affront. Social Media-Kampagnen gegen sie sind oft von grauenhaftem Rassismus durchzogen. Dass sie, dieses „Negativ“ der weißen Justiz- und Politikelite, Ansehen, Macht und Einfluss gewonnen hat und in ihrer Arbeit Prinzipien umsetzt, die den herrschenden Status quo herausfordern, ist für diese eine Verhöhnung. Für sie ist die Túpac Amaru allemal eine Unruhestifterin und gefährlich aufgrund des enormen Protestpotenzials, der politischen Mobilisierungskraft und ihrer Legitimation in der Bevölkerung. Mit ihren Anhänger*innen können sie die ganze Provinz lahmlegen. In den vergangenen Jahren gab es Dutzende (mittlerweile eingestellte) Anzeigen gegen Sala, bei denen es immer um Widerstand gegen die Staatsgewalt ging – Demonstrationen, Besetzungen, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber die Túpac ist weit mehr als bloßer Protest.

Die von der Túpac gebauten Stadtviertel sind eine Art Sozialbau, der seinesgleichen vergeblich sucht. In der britischen Zeitung The Guardian verglich der Journalist McGuirk das von Túpac gebaute Barrio Alto Comedoro mit einer ironischen Version der Country Clubs der Reichen, einer Kombination aus Vorstadt, disneyeskem Vergnügungspark und radikalem Sozialismus. Denn neben den Freizeitbädern wurden Nachbildungen indigener Kultstätten Tiwanakus gebaut und prangt die gesammelte revolutionäre Ikonographie auf den Wasserspeichern des Viertels: die Konterfeis Che Guevaras, Evitas und Túpac Amarus, Widerstandskämpfer der Indigenen gegen die spanische Kolonialisierung. Die Sport- und Freizeitangebote sind symbolische Gesten, die aber auch dazu führen, dass in den Vierteln eine Community nicht nur durch das Wohnen im Ballungsraum entsteht, sondern durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sonst nur Reichen vorbehalten sind. Die Wohnprojekte seien ein „Stinkefinger für Politiker und private Bauunternehmen“, so McGuirk.

Nicht weiter verwunderlich, dass die neu gewählte Regierung – bestehend aus der bourgeoisen Elite der Provinz – alles daran setzt, die Organisation zu zerschlagen. Allen voran der ehemalige Senator Gerardo Morales, der im Dezember 2015 zum neuen Gouverneur von Jujuy gewählt wurde. Angetreten war er für die aus Oppositionsparteien zum Kirchnerismus bestehende Wahlallianz Frente Cambia Jujuy, der lokalen Variante der Regierungskoalition Cambiemos von Präsident Maurico Macri auf Bundesebene. Eine von Morales’ ersten Amtshandlungen war die Inhaftierung Milagro Salas. Die vagen und unhaltbaren Anschuldigungen gegen Sala wurden im Laufe der Anklage ständig verändert. Eine klar politisch motivierte Verhaftung, die zudem aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Verfahren unrechtmäßig war. Festgenommen wurde Milagro Sala zunächst am 16. Januar 2016 aufgrund eines friedlichen Protestcamps zur Zahlung von Sozialprogrammen und Wiederaufnahme des Dialogs mit der neu gewählten Regierung: „Anstiftung zu kriminellen Aktivitäten“.

Salas ist das Gegenteil der regierenden Machtelite.

Nachträglich wurde die Anklage fallengelassen, aber am selben Tag mehrere Klagen aufgrund anderer Delikte eingereicht – Veruntreuung öffentlicher Gelder, öffentlicher Aufruhr, Nötigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das Protestcamp wurde stattdessen in einem Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit verhandelt, woraus das Urteil vom 30. Dezember resultierte. Das Vergehen, das jetzt vor dem Strafgericht beschieden wurde, ist allerdings ein Eierwurf aus dem Jahr 2009 auf den damals noch als Senator tätigen Morales, zu dem Sala angeblich aufgerufen haben soll, sie selbst aber nicht einmal anwesend war. Keine der anhängigen Klagen hatte jedoch die bald ein Jahr andauernde Präventionshaft gerechtfertigt, die unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen war: mit einem ad hoc erweiterten Obersten Gerichtshof, der dann von ehemaligen Abgeordneten aus der Partei neu besetzt wurde, die zuvor für seine Erweiterung gestimmt hatten; mit per Dekret ernannten Staatsanwält*innen, mit Untersuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, mit Aufnahme von Anklagen in der Ferienzeit der Gerichte, mit Diffamierungen der Verteidiger*innen von Milagro Sala und vielen weiteren Unregelmäßigkeiten im Verfahren im Laufe des vergangenen Jahres, die gegen lokale und nationale Rechtsprechung verstoßen. Die Willkürlichkeit der Methoden, mit denen versucht wird, Sala außerhalb rechtlicher Konventionen in Haft zu behalten, zeigt eine Gesetzesinitiative aus Morales Regierungskoalition kurz vor der Urteilsverkündung, die sich für ein Referendum über den Verbleib in Untersuchungshaft der Angeklagten einsetzt. In Jujuy sind Justiz und Politik so sehr miteinander verknüpft, dass praktisch keine Unabhängigkeit besteht. Man könne gar nicht von Rechtstaatlichkeit sprechen, erklärt der Journalist und Menschenrechtler Horacio Verbitsky. Zu alledem müsste Sala als Abgeordnete des PARLASUR eigentlich parlamentarische Immunität genießen und auch die UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Festnahmen hatte bereits im Oktober 2016 bestätigt, dass es keine legale Rechtfertigung für die Inhaftierung Salas geben würde – ohne Reaktion.

Auch nach der Urteilsverkündung gibt es weiterhin keine rechtliche Handhabe dafür, dass Sala in Haft verbleibt. Da es sich bei der Freilassung aber um eine rein politische Entscheidung handele, bleibe diese sehr unwahrscheinlich, bis sich die Machtverhältnisse geändert hätten, so die Pressesprecherin der Túpac Amaru Sabrina Roth gegenüber den LN. Dass die Willkürlichkeit und Korrumpierung des Justizsystems durch die Provinzregierung auch auf Bundesebene Unterstützung findet, ist besonders besorgniserregend. Denn nicht nur verfassungsmäßige Garantien und Regeln des Strafrechts werden missachtet, sondern friedlicher Protest und freie Meinungsäußerung werden als schwerwiegende kriminelle Handlungen dargestellt und auch als solche geahndet. Das kürzliche Urteil gegen Milagro Sala ist daher ein gefährlicher Präzedenzfall im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit von grundlegenden Menschenrechten und vertieft die Sorge der Aktivist*innen um ein wieder aggressiver werdendes Klima gegenüber sozialen Protesten im neoliberal regierten Argentinien.

DER REBELLISCHE STEUERMANN

Als im Jahre 2001 im Berliner Kino Babylon der Film Los cuentos del timonel („Die Erzählungen des Steuermanns“) zum ersten Mal vorgeführt wurde, saßen im Saal viele Leute, die Osvaldo Bayer in den letzten 30 Jahren kennen gelernt hatten. Leute, die vor allem aus dem Umkreis des legendären Westberliner Chile-Komitees und der Redaktion der Lateinamerika Nachrichten stammten, Leute, die er als Freund*innen gewonnen hatte und die ihn bewunderten. Der Film beschreibt sein Leben mit Interviews, die mit ihm und anderen Zeitzeugen gedreht wurden. Er redet mit großer Bescheidenheit, aber auch mit Stolz über sein Leben, vor allem aber mit großem Zorn gegen das Unrecht in der qualvollen Geschichte seines Landes Argentinien und der Welt. Kein Wunder, dass das Publikum ihm am Ende der Veranstaltung heftig applaudierte und ein langes Leben wünschte.

Dass das nun schon wieder mehr als 15 Jahre her ist und er nun seinen 90. Geburtstag feiern wird, man mag es kaum glauben.

Osvaldo Bayer entstammte einer Familie, die aus Altenberg in Tirol nach Argentinien ausgewandert war. Sein Vater hatte den in Tirol üblichen Namen Payr in Bayer geändert. Osvaldo wurde am 18. Februar 1927 in Santa Fe geboren. Er wuchs auf in Bernal in der Provinz Quilmes und im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires. Nach einer Zeit in einem Versicherungsunternehmen und bei der Handelsmarine als Steuermannslehrling begann er an der Universität von Buenos Aires mit dem Studium der Philosophie und der Geschichte.

Im Januar 1952 reiste er nach Deutschland, weil die Philosophische Fakultät der Universität Buenos Aires, an der er studierte, von rechten Kräften dominiert wurde, vor allem von der katholische Kirche. Jeder Student, der im Verdacht stand, ein Linker zu sein, wurde verfolgt. Osvaldo betrachtete sich als Sozialisten und hielt dieses repressive Klima nicht aus. Deshalb beschloss er, nach Hamburg zu reisen, da dort seine Lebensgefährtin Marlies Joos lebte. Sie war gebürtig aus Argentinien, aber mit deutschen Eltern. In Hamburg wurde er Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Sie heirateten und kehrten 1956 mit zwei Kindern zurück nach Buenos Aires.

Dort arbeitete er für die Zeitung Noticias Gráficas. Als er zu Recherchezwecken Patagonien bereiste, erlebte er die Ausbeutung der indigenen Mapuche und der chilenischen Landarbeiter. So stieß er auf eines seiner Lebensthemen. Schon sein Vater hatte mit ihm von der Geschichte der Unterdrückung in Patagonien gesprochen. In seiner Zeitung machte er die patagonischen Verhältnisse öffentlich. Daraufhin wurde er aus der Provinz Chubut ausgewiesen.

Von 1958 bis 1973 arbeitete Osvaldo Bayer für die Zeitung Clarín. Er war Redaktionssekretär, dann Leiter des Ressorts Politik, schließlich des Feuilletons. Zudem war er von 1959 bis 1962 Generalsekretär der argentinischen Journalistengewerkschaft. Später gab er die Zeitschrift Imagen heraus.

Osvaldo Bayer bezeichnet sich selbst als radikalen „Anarchisten und Pazifisten“, was ihm in dieser aufgewühlten Zeit nicht gerade allseits Sympathien eintrug. Neben seiner journalistischen Arbeit widmete er sich der Erforschung der Geschichte Patagoniens und fand heraus, dass die Kenntnis der schlimmsten Verbrechen in dieser Geschichte vollständig unterdrückt war. Sie konnten vergessen werden, weil die Betroffenen sämtlich ermordet worden waren.

In seinem Buch La Patagonia Rebelde (Das Rebelische Patagonien) schildert er den Streik und den Aufstand der Landarbeiter*innen in Patagonien aus den Jahren 1920 bis 1922, den das Militär blutig unterdrückte. Zu Beginn des Jahrhunderts lebten in Patagonien Großgrundbesitzer*innen mit riesigen Ländereien und unermesslichem Reichtum, während die Landarbeiter*innen in bitterer Armut lebten. Alle Forderungen nach Änderung der Verhältnisse werden unnachgiebig verfolgt. Sogar als ein 18-jähriger spanischer „Agitator“ den Landarbeiter*innen 1915 den Vorschlag machte, gemeinsam in die Berge zu ziehen und dort eine landwirtschaftliche Kooperative zu gründen, landet er im Gefängnis.

1920 waren die Arbeiter*innen nicht mehr bereit, die schlechten Arbeitsbedingungen und die unzureichende Bezahlung zu akzeptieren. Nach den ersten Arbeitskämpfen erreichten sie tatsächlich ein Abkommen mit den Landbesitzer*innen, das diese jedoch nicht einhielten. Weitere Streiks und Besetzungen der großen Landgüter sollten den Forderungen im folgenden Jahr Nachdruck verleihen. Doch die politische Situation hatte sich geändert. Das argentinische Militär ging gegen die Streikenden vor und tötete mehr als 1.500 Arbeiter*innen – meist nachdem sie sich bereits ergeben haben.

Das Buch La Patagonia Rebelde erzählt anschaulich und mit vielen Beispielen die Geschichte der Streiks und die individuellen Schicksale vieler Beteiligten. Osvaldo Bayer selbst verglich dieses Massaker vom Ende der Welt in seinen Dimensionen mit der Massakrierung der Aufständischen im Deutzschen Bauernkrieg. La Patagonia Rebelde gilt mit Recht als eines der wichtigsten Bücher für die Geschichte Argentiniens im 20. Jahrhundert. Der Roman ist die Grundlage für den gleichnamigen Spielfilm, der 1974 mit dem Silbernen Bären der Filmfestspiele in Berlin ausgezeichnet wurde. Der junge Néstor Kirchner, der später Staatspräsident werden sollte, hatte darin eine Nebenrolle übernommen. Natürlich waren Buch und Film während der Militärdiktatur (1976-1983) verboten.

Als er 1972 und 1974 die ersten Bände von La Patagonia Rebelde veröffentlichte, wurde er von der Argentinischen Antikommunistischen Allianz, der so genannten Triple A, einer Todesschwadron, die unter der Leitung des Sozialministers der Präsidentin Isabel Perón, des „Hexers“ José López Rega, stand, mit dem Tode bedroht. Als die Lage immer brenzliger wurde, schickte er zuerst seine Frau und seine vier Kinder nach Deutschland, wollte aber selbst noch in Argentinien bleiben. Der Kulturattaché der Deutschen Botschaft und dessen Ehefrau schmuggelten ihn schließlich unter Lebensgefahr aus Argentinien heraus. Das ist sehr bemerkenswert, weil die Deutsche Botschaft in Buenos Aires und das Auswärtige Amt sich geweigert hatten, zu Gunsten von Verfolgten in Argentinien zu intervenieren, beispielsweise im Fall von Elisabeth Käsemann.

Von 1974 bis zum Ende der Militärdiktatur 1983 blieb Osvaldo Bayer wieder in Deutschland, schrieb unter andem für die LN und warb nach Kräften für die Solidarität mit Argentinien und Lateinamerika. Als er wieder nach Buenos Aires zurückkehren konnte, war er sehr froh darüber, dass er sofort auf eine neu geschaffene Professur für Menschenrechte an der Universität von Buenos Aires berufen wurde. In den Folgejahren erhielt Osvaldo Bayer zahlreiche Ehrungen. So wurde er  Ehrenbürger von Buenos Aires und Ehrendoktor zahlreicher Universitäten. Am meisten aber fühlte er sich geehrt durch den Preis der Mütter der Plaza de Mayo. Sie hatten schon seit kurz nach dem Anfang der Militärdiktatur gegen alle Widerstände regelmäßige Demonstrationen für die Rückkehr ihrer verschwundenen Töchter und Söhne durchgeführt.

Wir wünschen Osvaldo Bayer noch ein langes Leben und dass sein Zorn gegen das Unrecht nicht nachlässt.

ENDE DER GEWALT?

Das überarbeitete Friedensabkommen zwischen den revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) und der kolumbianischen Regierung ist in beiden Kammern des Kongresses ratifiziert worden. Seit dem 6. Dezember hat die Konzentration der Kämpfer*innen in den Demobilisierungszonen begonnen. Dieser Prozess wird jedoch von ersten Desertationen und Sorgen um die zukünftige Sicherheitslage im Land begleitet.

Meta

 Leben in Frieden? Der Verwaltungsbezirk  Meta im Südosten war Jahrzehnte lang eine Hochburg der FARC

Nach dem knappen Sieg des ‚Nein‘ in der Volksbefragung zum Friedensabkommen vom 2. Oktober, das Kolumbien und die Welt erschütterte, verhandelte die Regierung von Juan Manuel Santos mit der FARC-EP über Änderungen am ursprünglichen Friedensvertrag. Parallel dazu führte Santos auch Verhandlungen mit Vertretern des ‘Nein’-Lagers rund um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez und die Partei Centro Democrático (CP), um deren Unterstützung für ein neues Friedensabkommen zu gewinnen. Den Unterhändlern von Regierung und FARC-EP gelang es, sich innerhalb von nur wenigen Wochen auf ein neues Abkommen zu einigen, das am 12. November in der kubanischen Hauptstadt verabschiedet und  am 24. November von Santos und dem Führer der FARC-EP Rodrigo Londoño Echeverria in Bogotá unterzeichnet wurde.
Die Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritiker*innen des ursprünglichen Vertrages, die durch ihre polarisierende  Kampagne eine knappe Mehrheit der wählenden Bevölkerung von der Ablehnung des Friedensvertrages überzeugen konnten. Beinahe alle Punkte des 310-Seiten starken Vertrages wurden überarbeitet, wobei die wohl bedeutendste Änderung die rechtliche Implementierung des Abkommens betrifft. So werden im Gegensatz zum ursprünglichen Vertrag nur die Punkte in die Verfassung übernommen, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht betreffen. Zwar soll ein Übergangsgesetz dafür sorgen, dass in zukünftigen Legislaturperioden keine Veränderungen am Friedensvertrag vorgenommen werden können, allerdings gilt dieses nur für drei präsidentielle Legislaturperioden.
Die Gegner*innen des Friedensvertrages haben ihren Widerstand allerdings nicht eingestellt. Ex-Präsident Uribe und das CP bezeichneten die Änderungen lediglich als kosmetisch und verweigerten ihre Unterstützung im Kongress. Sie forderten vielmehr einen erneunten Plebiszit, was allerdings von der Regierung angesichts der starken Polarisierung in der Gesellschaft abgelehnt wurde.
Zwar galt eine Zustimmung aufgrund der Mehrheit der Regierungspartei als wahrscheinlich, die fehlende Unterstützung seitens der Opposition wird die zukünftige Implementierung in Form von politisch bindenden Gesetzten allerdings erschweren. Entsprechend äußerte sich auch ein hochrangiger Berater der Regierung: „Die Situation ist äußerst kompliziert. Wenn das zweite Abkommen von Havanna über den Parlamentsweg bestätigt wird, muss es dennoch rechtlich im Kongress ausgearbeitet werden. Dies wird sehr viele Probleme generieren, da für die Implementierung dieser Gesetzte eine Verfassungsänderung mit entsprechender Mehrheit notwendig sein wird.“ Im Rahmen der rechtlichen Implementierung des Abkommens bleibt vor allem die Gefahr, dass in künftigen Legislaturperioden die dringend notwendigen politischen und sozialen Veränderungen verwässern.
Weiteres Konfliktpotential birgt die Verwicklung der FARC-EP in den  Drogenhandel und die mit dem Friedensabkommen verbundene Übergangsjustiz. Laut dem neuen Abkommen sind nur diejenigen Drogendelikte von einer Amnestie betroffen, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt stehen und zu dessen Finanzierung beitrugen. Strafbar dagegen sind alle Delikte, die der persönlichen Bereicherung dienten oder im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit standen.  Die rechtliche Aufarbeitung entlang dieser Definition wird gerade im Kontext des kolumbianischen Konflikts eine Mammutaufgabe werden. Sollte die Übergangsjustiz daran scheitern, geht mit der Amnestie bzw. der Aussicht auf verringerte Haftstrafen ein Hauptanreiz für die Demobilisierung der Kämpfer*innen verloren, die dann sogar der Auslieferung an die USA aufgrund von Drogendelikten entgegensehen.
Besonders die unteren und mittleren Kommandostrukturen der FARC-EP dürften davon betroffen sein. Hierbei handelt es sich um äußerst erfahrene Kämpfer*innen und Strateg*innen, die neben militärischen Kenntnissen auch über das Knowhow verfügen, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Das Konfliktpotential, das von diesen Gruppen ausgeht, wurde bereits 2006 nach der Demobilisierung der Paramilitärs deutlich. Auch damals wurde den mittleren und unteren Kommandeur*innen der einzelnen Gruppen kaum ein Anreiz für die Integration in die zivile Gesellschaft gegeben, weswegen innerhalb kürzester Zeit neue Organisationen entstanden, die bis heute massiv zu den Gewaltdynamiken im Land beitragen.
„Es gibt bereits seit Jahren Kooperationen zwischen der FARC-EP und den neuen bewaffneten Gruppen was den Drogenhandel betrifft“, so Alberto Santos vom Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH), das sich mit der Aufarbeitung des Konflikts beschäftigt. „Eine Einheit der FARC-EP ist bereits desertiert und nimmt nicht mehr am Friedensprozess teil. […] Diese desertierten Einheiten sind isoliert und ohne Schutz und werden aller Wahrscheinlichkeit nach Unterschlupf in den bestehenden, stärkeren Strukturen suchen, zu denen auch die neuen bewaffneten Gruppen gehören. Diese finden unter den ehemaligen Guerillas potentielle Rekruten, auch wenn die Demobilisierung von Guerillagruppen in Kolumbien traditionell mit geringeren Problemen zu kämpfen hatte, als die der Paramilitärs.“
Der Friedensprozess wird also nur bedingt zu einer Reduzierung der Gewalt in Kolumbien beitragen können. „Ich glaube man hat in diesem Land noch nicht verstanden, dass dieser Konflikt ein politischer Konflikt ist und dass ein Friedensabkommen daher auch politische Auswirkungen haben wird“, so Lukas Rodríguez, der ebenfalls für das CNMH arbeitet. „Das neue Abkommen betrifft bestimmte Faktoren nicht, die eine hohe Relevanz für das gesamte Land haben und vor allem einen Konsens unter der Bevölkerung verlangen würden. […] Es steht außerdem die Frage im Raum, was mit dem Abkommen passiert, wenn [2018] ein neuer Präsident gewählt wird, ob das Abkommen so beibehalten und weiter umgesetzt wird.“
Die Befürchtungen, dass Kolumbien auch trotz des Endes des über 50 Jahre alten Konfliktes zwischen Regierung und FARC-EP auch weiterhin ein von Gewalt gezeichnetes Land sein wird, scheinen sich leider zu bestätigen. Der Friedensprozess wurde von einer Reihe von Morden an Aktivist*innen begleitet, die vor allem aus dem linken Spektrum stammen. Manche Quellen sprechen von über 50 Morden allein in diesem Jahr, unter ihnen zahlreiche Mitglieder des Marcha Patriótica (MP), einer linken politischen Bewegung. So wurde zum Beispiel der MP-Aktivist Jhon Jairo Rodríguez Torres am 10. November in der Region Cauca auf offener Straße erschossen. Allerdings ist unklar, wer für diese und zahlreiche andere Taten verantwortlich ist. Viele vermuten konservative Eliten und Reste der demobilisierten Paramilitärs hinter den Morden, die das gemeinsame Interesse am Erhalt des Status Quo verbindet. Allerdings verhindert die äußerst fragmentierte Präsenz des Staates und der große politische Einfluss der ökonomischen Eliten in ländlichen Gebieten die Aufarbeitung der allermeisten politischen Verbrechen und führt zu einer weitgehenden Straflosigkeit für die Täter*innen. Viele sehen in dieser Entwicklung eine Parallele zu den Massakern an den Mitgliedern der Union Patriótica, denen in den 80ern und 90ern zwischen 3000 und 5000 Menschen zum Opfer fielen.
Hier würde die Integration der ehemaligen FARC-EP Kampfer*innen in die staatlichen Strukturen großes Potential bieten. Einerseits haben diese Personen gerade in den ländlichen Gebieten, in denen der Staat nicht präsent ist, in den vergangenen Jahren quasi-staatliche Funktionen übernommen, verfügen über territoriale Kenntnisse und in manchen Fällen sogar über einen Bezug zur Bevölkerung. Andererseits würde die Integration von Kämpfer*innen in den kolumbianischen Staat sowohl eine berufliche Perspektive für die Guerilla bieten als auch ein starkes Signal der Versöhnung senden. Diese Option wurde aber durch die Kampagne der Gegner des Abkommens unmöglich, da die Bevölkerung durch massive Falschinformation gegen diese Lösung polarisiert wurde. Überhaupt scheint sich der Staat nur begrenzt seiner Verantwortung zu stellen. So wurde unmittelbar vor der Unterzeichnung des neuen Abkommens ein Passus gestrichen, der die Befehlsverantwortung der Militärhierarchie etabliert hätte. Demzufolge wären beispielsweise Offiziere im Ruhestand für die Taten der ihnen unterstellten Ränge verantwortlich gewesen.
Dieser Punkt findet sich auch in der Kritik wieder, die der Journalist Juan David Ortiz Franco an dem neuen Friedensabkommen übt: „Das neue Abkommen behandelt eine zentrale Frage nicht, die meiner Meinung nach von größter Bedeutung ist und die mit den objektiven Gründen des Konflikts in Kolumbien zu tun hat. Dies ist die Bedeutung, die dritten Parteien in diesem Konflikt zukommt. Also solchen, die nicht unmittelbar am Kampf beteiligt waren, die aber von höchster Bedeutung für die Aktionen von bewaffneten Gruppen in Kolumbien waren. Diese Auslassung wird keine wirkliche Aufarbeitung der Verbrechen erlauben, die im Interesse von ökonomischen und politischen Eliten durch die bewaffneten Akteure verübt wurden.“
Ein Punkt, der die Probleme des neuen Abkommens wohl am besten verdeutlicht, betrifft die Gleichstellung von  LGBT-Gemeinschaften. Auf Drängen der evangelikalischen Kirchen wurde der explizite Genderfokus des ersten Abkommens als Angriff auf die Familie abgelehnt. LGBT-Rechte werden nun nicht mehr konkret benannt. Vielmehr wird die traditionelle Familie zum Nukleus der Gesellschaft erklärt. Zwar war dieser Diskurs keine Konfliktlinie, an der sich der Krieg zwischen FARC-EP und Regierung entwickelte. Jedoch zeigte die prominente Positionierung dieses Diskurses im ursprünglichen Friedensabkommen den Willen auf wirklichen gesellschaftlichen Wandel. Dass dieser Diskurs nun den konservativen Kräften zum Opfer gefallen ist, versinnbildlicht die mangelnde Bereitschaft dieser Bevölkerungsteile, auch die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse wirklich zu ändern, die der Motor der Gewalt in Kolumbien sind. Solange sich aber kein gesellschaftlicher Konsens bezüglich der dringend notwendigen Veränderungen in Kolumbien bildet, werden die dem Konflikt zugrundeliegenden Faktoren weiterhin die diversen Gewaltdynamiken im Land befeuern.

DAS TÖTEN NIMMT KEIN ENDE

Jose Angel Flores und Silmer Dionosio George verließen gerade ein Treffen der Vereinigten Bewegung der Kleinbauern im Aguan (MUCA), als bewaffnete Männer das Feuer eröffneten. Beide starben bei dem Attentat. Angel Flores war Präsident des MUCA, George ein Koordinator der Bewegung in der Region Bajo Aguán, die in besonderem Maße vom agroindustriellen Anbau von Palmöl betroffen ist. Beide waren von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) schon länger als „gefährdet“ eingestuft worden, so dass der honduranische Staat eigentlich dafür verantwortlich war, ihr Leben durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen zu schützen. Eigentlich.
Tomás Gómez Membreño, seit der Ermordung der Menschenrechtsverteidigerin Berta Cáceres am 3. März dieses Jahres Koordinator der indigenen Organisation COPINH, fuhr am 9. Oktober einen Wagen von COPINH, als Unbekannte das Feuer  auf ihn eröffneten. Gómez überlebte das Attentat nur mit viel Glück. Bereits im Morgengrauen desselben Tages hatten Unbekannte das Haus beschossen, in dem Alexander García, lokaler Koordinator von COPINH, mit seiner Frau und seinen Kindern schlief. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt. COPINH wehrt sich seit mehreren Jahren friedlich gegen die Errichtung des Wasserkraftwerks Agua Zarca, das mit internationalen Krediten finanziert wird. Auch für Gómez und García hatte die CIDH geeignete Schutzmaßnahmen gefordert.
Am 30. Oktober verließ Fernando Alemán Banegas eine Diskothek in der Stadt Ceiba, als ein Bewaffneter unvermittelt auf ihn schoss. Der 28-Jährige war der Sohn von Esly Emperatriz Banegas, Präsidentin der Koordination der Basisorganisationen von Aguan (COPA). Sie war an demselben Tag von der oppositionellen Partei LIBRE (Libertad y Refundación) als Kandidatin für das Bürgermeisteramt in Tocoa nominiert worden. Esly Banegas steht für eine kritische Haltung gegenüber internationalen Bergbau-Unternehmen und hat im April dieses Jahres an den öffentlichen Anhörungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission teilgenommen. Bereits seit längerem erhält sie Todesdrohungen gegen sich und ihre Familie, ihr Haus wurde dauerhaft überwacht, Unbekannte verfolgten sie. Auch für den Schutz von Esly Banegas war der honduranische Staat nach Anordnung von Schutzmaßnahmen durch die Interamerikanische Menschenrechtskommission in besonderem Maße verantwortlich.
Drei verschiedene Komitees der Vereinten Nationen haben in diesem Jahr die Menschenrechtslage in Honduras untersucht: Das Komitee für ökonomische, kulturelle und soziale Rechte, das Komitee gegen Folter und das Komitee zum Schutz der Rechte aller Arbeitsmigranten und ihrer Familien. In den Anhörungen fragten die UN-Expert*innen insbesondere nach den Maßnahmen des honduranischen Staates, um die Arbeit und die Sicherheit von Menschenrechtsvertei­diger*innen zu garantieren. Die staatliche Antwort: Die Arbeit der Menschenrechtsverteidiger*innen werde anerkannt, das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen sei verabschiedet und implementiert und die 38 Personen, die Schutzmaßnahmen bis Juni 2016 beantragt hätten, würden ausreichend geschützt.
Wie die honduranische Menschenrechtsorganis­tion COFADEH angesichts der jüngsten Mordfälle in einem offenen Brief feststellte, „hat sich dieser Mechanismus als wenig effektiv erwiesen, da sowohl ausreichende Ressourcen fehlen als auch keine konkreten und spezifischen Maßnahmen ergriffen werden, um die gefährdeten Personen zu schützen; ohne Risiko-Analyse wird allein mit Notmaßnahmen reagiert und nicht mit einem professionell geplanten Schutz.“ 170 internationale Organisationen und 16 Wissenschaftler*innen haben am 26. Oktober einen Appell der Internationalen Plattform gegen Straflosigkeit unterzeichnet, in der die zuständigen staatlichen Stellen in Honduras aufgefordert werden, endlich die Sicherheit von Menschenrechtsverteidiger*innen im Land zu garantieren.
Doch die honduranischen Behörden handeln vor allem dann professionell und entschlossen, wenn es darum geht, das Land vor einem „Imageschaden“ zu bewahren. Der internationale Menschenrechtsbeobachter Luis Díaz de Terán López wollte am 25. Oktober aus Spanien über den internationalen Flughafen in Tegucigalpa in Honduras einreisen. López hat in den vergangenen Monaten die Arbeit von COPINH, die auch nach dem Tod von Berta Cáceres ständig Repression und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt war, über einen längeren Zeitraum begleitet. Er wollte nach Honduras zurückkehren, um die Begleitung als internationaler Menschenrechtsbeobachter wieder aufzunehmen. Unmittelbar vor der Einreise wurde López jedoch festgenommen und umgehend nach El Salvador und anschließend nach Kolumbien deportiert; von wo aus er nach Spanien zurückkehrte. Während der Verweigerung der Einreise wurde ihm die Unterstützung durch Anwält*innen der honduranischen Menschenrechtsorganisation C-Libre verwehrt. Die Regierung beschlagnahmte unter anderem die Festplatte seines Computers und sein Handy. Der Vorwurf: López schädige das Image des Landes.
Eine Image-Offensive hat auch Präsident Juan Orlando Hernández gestartet: Er nahm eine US-amerikanische PR-Firma unter Vertrag und reiste in den vergangenen vier Monaten viermal in die USA. Offensichtlich erfolgreich: Am 30. September bescheinigte das US-amerikanische State Department dem honduranischen Staat, effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtslage durchgeführt zu haben. Damit wurde der Weg frei für die Zahlung von Hilfsgeldern in Höhe von 55 Millionen US-Dollar.
Im US-amerikanischen Abgeordnetenhaus formiert sich allerdings Widerstand gegen die unabhängig davon seit dem Militärputsch 2009 stetig erhöhte Hilfe für Militärausgaben. Nicht nur im Fall des Mordes an Berta Cáceres ließ sich eine Verbindung zwischen der Ermordung von Men-schenrechtsverteidiger*innen und dem Militär oder spezieller Polizei-Einheiten belegen. Im Juni 2016 brachten 42 Kongress-Abgeordnete das „Berta Cáceres Menschenrechte in Honduras“ – Gesetz HR5474 im Parlament ein. Einmal angenommen, würde das Gesetz die Finanzierung und Unterstützung des honduranischen Militärs und der nationalen Polizei ebenso beenden, wie die Finanzierung von Mega-Projekten, die gegen die Wünsche der Bevölkerung durchgesetzt werden. Die Unterstützung für HR5474 im Abgeordnetenhaus wächst.
Die Ermittlungsakten im Mordfall Berta Cáceres wurden derweil am 29. September aus dem Wagen eines staatlichen Justizangestellten gestohlen und sind seither nicht wieder aufgefunden worden. Es gibt in Honduras offensichtlich viele Wege, Straflosigkeit statt Strafverfolgung zu garantieren.

“DIESEM MEXIKANER SCHIEBEN WIR DAS IN DIE SCHUHE”

„Niemand ahnte, dass ich dort sein würde“. Nahezu Minute für Minute erzählt Gustavo Castro die Tage und Stunden nach, während derer er mehr als Verdächtiger denn als Opfer betrachtet wurde. In der Nacht, in der er Zeuge der Ermordung von Berta Cáceres wurde, wurde er selbst von einer Kugel getroffen. Abgesehen von dem Schmerz und dem Risiko, dem er sich ausgesetzt sah, ist er dankbar, an diesem Morgen vor genau sechs Monaten vor Ort gewesen zu sein. Wäre es nicht so gewesen, wäre er nicht Zeuge an der Ermordung der anerkannten Aktivistin geworden. „Dann wäre es unmöglich, die offizielle Version der Ereignisse zu widerlegen. Sie hätten sich alles Mögliche ausdenken können“, erklärt der Umweltaktivist in der Zentrale von Amnesty International Spanien. „Aber es ist ihnen nicht gelungen. Ich war dort“.

Es sind nun sechs Monate seit der Ermordung von Berta Cáceres vergangen. Was sind Ihre Erinnerungen an jenen Tag, als die Mörder in das Haus in dem Ort La Esperanza eindrangen, in dem Sie beide sich aufhielten?
Es war 20 Minuten vor Mitternacht. Alles war ganz ruhig. Einer der Männer ging in Bertas Zimmer, der andere in meins, obwohl sie nicht davon ausgehen konnten, dass ich da war. Niemand wusste das. Auf mich wurde geschossen, die Kugel streifte meine Hand und mein Ohr (zeigt die Narben an seinem linken Ohr und der linken Hand). Als sie gingen, schrie Berta aus ihrem Zimmer nach mir. Ich verließ verletzt mein Zimmer und eilte zu ihr. Eine Minute darauf starb sie.
Ich begann, die Leute von COPINH (Zivile Kommission Sozialer und Indigener Organisationen von Honduras, Anm. d. Red.) anzurufen, aber niemand nahm ab, sie schliefen alle. Ich habe Leute aus Mexiko kontaktiert, um Mitternacht, die legten los, um jemanden von der COPINH zu erreichen, damit ich dort rausgeholt werde. Um Viertel nach zwei haben sie mich aus Bertas Haus geholt. Wir warteten in einem Pick-up mit brennenden Scheinwerfern, Polizei und Militär kamen. Aber die Staatsanwaltschaft rief mich an und sagte, ich solle nicht mit der Polizei mitgehen, bis sie selbst da sei.

Hatten Sie Angst, sie wüssten, dass Sie am Tatort waren?
Als die Polizei zum Haus kam, haben sie gemerkt, dass jemand dort gewesen ist, sie sahen das Blut, da stand mein Koffer, mit Namen. Sie kannten schon die Identität des Zeugen, sie wussten bereits, dass ich es war.
Sie haben nicht erwartet, mich dort anzutreffen. Sie haben Berta überwacht, aber in dieser Nacht bin ich einfach spontan geblieben. Ich musste an etwas arbeiten und Berta hat mir gesagt, ich könne bleiben und die Internetverbindung nutzen. Und jetzt, sechs Monate danach, bin ich immer mehr davon überzeugt, dass sie einen sauberen Mord durchführen wollten. Dann, wenn sie allein zu Hause ist, so dass jede mögliche Erklärung des Mordes glaubwürdig oder sehr schwer zu widerlegen gewesen wäre.
Man hätte sagen können, es wäre ein Raub oder ein Überfall gewesen. Es war das perfekte Szenario. Aber ich war da und sie haben es nicht fertig gebracht, mich zu ermorden, darum greifen sie auf ihre anderen Pläne zurück.

Die Polizei ging anfänglich davon aus, dass es Mitglieder von COPINH gewesen seien. Warum glauben Sie, wollten die Polizei sie anschuldigen?
Das war ihr Plan B. Die Polizei nahm mich mit, um meine Aussage aufzunehmen. Sie hatten bereits ein Mitglied von COPINH festgenommen, sie sperrten ihn ein als ob er verdächtigt würde, aber davon wusste ich noch nichts. Zu dem Zeitpunkt war ich bei der Polizei und sprach mit dem Phantomzeichner. Er zeichnete mit dem Computerprogramm eine Person, die nicht auf meine Beschreibung passte.
Ich sagte zu ihm: Das ist nicht die Person, die ich gesehen habe, das ist jemand anderes. Er hat alles gelöscht und nochmal genau dieselbe Person gezeichnet. Es wurde mir erst nachher klar, aber er zeichnete Aureliano. Er hat das Mitglied von COPINH gezeichnet, das sie bereits in Gewahrsam hatten. Ich wusste das nicht, ich kannte ihn ja nicht. Es wurde mir erst Tage später klar, als ich sein Foto in der Zeitung sah.
Meine Aussage passte einfach nicht mit dem zusammen, was die versucht haben daraus zu machen. Das zeigt doch, dass sie die klare Absicht hatten, Leute von COPINH mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Aber das schaffen sie nicht.

Glauben Sie, sie wollten ihnen den Mord an Berta anhängen?
Das war ihr Plan C, nach dem Motto: Diesem Mexikaner schieben wir das in die Schuhe. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass die Militärs, die Polizei, eben die Killer, nur darauf warteten, zu Ende zu bringen, was sie angefangen hatten. Mit jedem weiteren Tag, den ich in La Esperanza verbrachte, stieg das Risiko. Ich habe zwei Tage nicht geschlafen, zwei Polizisten überwachten meine Unterkunft, aber das hätten auch dieselben sein können, die vorher Berta zugesetzt haben.
Zwei Tage nach dem Mord durfte ich gehen. Aber am nächsten Morgen baten sie mich freundlich, noch für eine Überprüfung zu bleiben. Das tat ich. Sie wollten eine weitere Rekonstruktion der Ereignisse. Als sie fertig waren, das war im Morgengrauen gegen vier oder fünf Uhr, sagten sie mir, jetzt könne ich gehen. Die Botschaft (von Mexiko, Anm. d. Red.) organisierte mir den Flug, aber noch bevor ich einsteigen konnte, tauchten mehrere Chef-Ermittler und Polizisten auf und blockierten den Einstieg. Ich fragte sie, wer sie seien, aber sie sagten es mir nicht. Sie antworteten lediglich: „Sie dürfen nicht gehen“. „Warum?“ „Sie dürfen nicht gehen”, wiederholten sie, ohne irgendetwas vorzuzeigen, nicht mal einen Ausweis. Es war eine Entführung.
Danach schlug die Botschafterin, die das Ganze nicht glauben konnte, vor, dass wir zur Botschaft gehen. Sie hinderten mich am Verlassen des Flughafens und sagten, dass ich mit ihnen gehen müsse, ohne Begründung. Da ich nicht bereit war, in ihr Auto zu steigen, drohten sie damit, mich festzunehmen.
Die Botschafterin und der Konsul hakten sich rechts und links bei mir unter und sagten: „Diplomatischer Schutz. Von hier bewegt er sich nicht weg”. Gegen die Botschafterin und den Konsul unternahmen sie natürlich nichts, das trauten sie sich nicht, darum ließen sie mich schlussendlich zur Botschaft gehen.

Sie durften das Land 30 Tage lang nicht verlassen.
Sie wollten mich als Kriminellen hinstellen, mir den Mord in die Schuhe schieben und mich dort behalten, falls es ihnen gelänge. Danach wies meine Anwältin das Gericht auf diverse juristische Ungereimtheiten hin, woraufhin die Richterin veranlasste, dass meine Anwältin an der Ausübung ihres Berufes gehindert wurde.
Diese Zeit war für mich sehr belastend, jeden Moment hätten sie mit fadenscheinigen Begründungen kommen und mich mitnehmen können. Sie versuchten sogar, meine Schuhe mit den Abdrücken an der von den Mördern eingetretenen Eingangstür in Verbindung zu bringen.

Im Moment sind fünf Personen verhaftet, unter ihnen ein Militärangehöriger, ein Manager und ein Arbeiter der Firma DESA (AG Energetische Entwicklung). Glauben Sie, dass das alle sind?
Nein, aber es blieb ihnen ja keine andere Möglichkeit. Alle sind daran beteiligt: Die Firma, das Militär, die Killer, die Richter … Sie haben die Unbedeutendsten geopfert, für sie das geringste Übel. Wir sind der Überzeugung, dass es noch mehr Beteiligte gab. Sie haben nicht allein gehandelt, dieser Killer war nicht allein, es gab noch mehr. Es sind Amtsträger der honduranischen Regierung daran beteiligt, einflussreiche honduranische Familien.

In der Nacht des Attentates an Berta konnten Sie das Gesicht des Killers sehen, der auf Sie geschossen hat. Haben Sie ihn als einen der fünf Verhafteten wiedererkannt?
Die Regierung hat mich bisher nicht dazu aufgefordert, an einer Gegenüberstellung mit den Beschuldigten teilzunehmen. Sie wurden aufgrund sehr schwacher Beweisen verhaftet, wohl wissend, dass sie somit im Laufe eines Jahres wieder frei sein werden. Und, ich wiederhole, es gibt noch mehr Beteiligte. Der Leiter der honduranischen Staatsanwaltschaft ist Partner in der Anwaltskanzlei, deren Klient die Firma DESA ist.

Der Name von Berta Cáceres tauchte nach Informationen von The Guardian auf einer Todesliste des Militärs auf. Wissen Sie, ob die Ermittlungsbehörden dem nachgehen?
Soweit wir wissen, wurde diesbezüglich nicht ermittelt. Da die Information von einem der mutmaßlichen Killer stammt, wollte die Regierung nicht weiter bohren.

Warum ist es so riskant, sich für Umweltbelange einzusetzen?
Es geht um Geschäfte, bei denen Millionen und Abermillionen auf dem Spiel stehen. Wir sprechen hier von Gas, von Fracking, Strom, von Kontrolle und Zugang zu Wasser, von Agrarprodukten und deren Export, von Holz, von Zellstoffen … Von einer großen Anzahl an Produkten, die für den Konsum in Europa und den USA vorgesehen sind. Damit aber das Unternehmen investiert, musst du die Regularien in deinem Land abschaffen. Während früher die Parlamente ausländischen Investoren den Zugang zu Stränden, zu Küstengebieten und zum Öl im Sinne des Gemeinwohls verweigerte, werden heutzutage die Gesetze geändert, um solche Güter privatisieren zu können. Das ruft eine Konfrontation zwischen der Bevölkerung, die ihre natürlichen Ressourcen verteidigt, und der Regierung, die nicht bereit ist, Abfindungen für Gewinnausfälle zu zahlen, hervor.
Freihandelsabkommen zwingen die Regierungen dazu, ihre Gesetze für Investitionen ohne größere Hürden anzupassen. Wenn sie das nicht tun, oder einem Unternehmen die Konzession aufgrund von Verstößen gegen die Menschenrechte, illegaler Abholzung oder Umweltverschmutzungen entziehen, kann die Firma sie verklagen. Ein Schiedsgericht entscheidet dann über eine Abfindung der Regierung an das Unternehmen. Die Regierungen wollen es vermeiden, überhaupt an diesen Punkt zu gelangen. Diese Schlussfolgerung wird selten wahrgenommen. Wir sehen nur den Aktivisten, der ankommt, verprügelt wird, ermordet wird, und wir wissen nicht warum. Arme Schweine.

Diese Situation führt dann dazu, dass Umweltaktivist*innen verstärkt unter Druck gesetzt werden?
Von Seiten multinationaler Unternehmen wird sehr starker Druck ausgeübt. Die Regierung sagt sich: Für mich ist es günstiger, Menschen zu unterdrücken, als den Unternehmen die Konzessionen zu entziehen. Die sind für den Abbau von Gold, Silber und den Anbau von Monokulturen… Dann werden die Gesetze in Lateinamerika so angepasst, dass Gegenproteste kriminalisiert werden. Ich gehe auf die Straße, weil ich ohne Wasser dastehe und das wird zu einem Verbrechen gemacht, zu einem Terrorakt, zu einem Raub natürlicher Ressourcen. Weil du Investitionen im Wege stehst.

Für Sie sind dementsprechend auch Freihandelsabkommen für den Tod von Berta Cáceres verantwortlich?
Freihandelsabkommen sind der Mechanismus. Transnationale Unternehmen wollen um jeden Preis an die Ressourcen ran und die Regierungen, die so etwas zulassen, sind mitverantwortlich an der Ermordung von Aktivisten wie Berta Cáceres. Freihandelsabkommen nehmen diese Länder an die Leine, damit Verletzungen gegen die Menschenrechte zugelassen werden.

Inwieweit hat die Ermordung von Berta diesen Kampf beeinflusst?
Der Mord an Berta machte einige unterbewusste Erkenntnisse bewusst. Auch wenn Auszeichnungen wie der Goldman-Preis oder Menschenrechtspreise bedeutend sind, werden durch sie nicht die Leben der Aktivisten geschützt. Es ist auch nicht ausreichend für uns, dass staatliche Organe zum Schutz von Menschenrechten uns eigentlich schützen sollen. Sie sind schließlich Teil derselben Regierung, die uns beschützen soll, aber das nützt nichts. Das ist eine sehr bittere Botschaft, nicht nur für Lateinamerika, sondern für alle. Berta sendet uns aber auch eine klare Botschaft: Menschheit, wach auf! Berta ist nicht gestorben, sie hat sich vervielfacht: Es ist beeindruckend, wie sie sich überallhin verteilt hat. Wir begraben Berta nicht. Wir säen sie. Sie hat überall zu blühen begonnen.

EIN SCHIMMER HOFFNUNG

Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)
Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)

#ElUltimoDiaDeLaGuerra (Der letzte Tag des Krieges) – lautete es bereits einen Tag vor der Verabschiedung des Waffenstillstandes zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla verheißungsvoll von kolumbianischen Twitter-Benutzer*innen am 22. Juni dieses Jahres. Angestoßen wurde dieses Motto von FARC-Chef Rodrigo Londoño Echeverry alias ‚Timoleón Jiménez‘. Es verbreitete sich dann in Windeseile über Nichtregierungsorganisationen und kolumbianische Medien.
Die Friedensverhandlungen, die seit November 2012 in der kubanischen Hauptstadt Havanna stattfinden, waren zuletzt eher schleppend verlaufen. Das Versprechen, bis zum 23. März 2016 eine vollständige Einigung in allen verbliebenen Punkten zu erzielen, mussten die Verhandlungs­partner*innen bereits im Vorfeld widerrufen. Damit boten sie der Opposition eine ideale Zielscheibe für Kritik, angeführt von Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez (siehe LN 501). Im Juni, drei Monate später, dann der entscheidende Durchbruch: Nach zähen Verhandlungen konnten sich die Vertreter*innen der FARC und der kolumbianischen Regierung in fünf der sechs Unterpunkte des wohl wichtigsten Themas, dem Ende des Konfliktes, einigen.
Das am 23. Juni 2016 geschlossene, beidseitige Waffenstillstandsabkommen besiegelt den Konsens. Neben einer Leitlinie für den Prozess zur Entwaffnung der Angehörigen der FARC umfasst das 28 Seiten starke Dokument eine Festlegung auf spezifische Schutzzonen, in die sich die Guerrillerxs für maximal sechs Monate – nach der offiziellen Beendigung der Friedensgespräche – zurückziehen können, um im Anschluss „in das zivile Leben re-integriert zu werden“.

Ein weiterer strittiger Teil der Agenda war der zukünftige Umgang mit paramilitärischen sowie anderen bewaffneten Gruppen und Akteur*innen, die die allgemeinen Menschenrechte verletzten. Dieser Punkt ist besonders entscheidend, weil er die Sicherheitsgarantieren für die Angehörigen der Guerilla definiert. Vor dem Hintergrund des Massenmordes an Mitgliedern der Partei Patriotische Union (UP), zeigten sich die Guerilleros zunächst nicht zu einer Niederlegung der Waffen bereit. Die Partei hatte sich Mitte der 1980er Jahre unter anderem aus dem entwaffneten, politischen Arm der FARC gebildet.
Die Aufsicht über die vereinbarten Punkte übernehmen Organe der Vereinten Nationen (UN), was Menschenrechtsaktivist*innen im Gespräch mit der kolumbianischen Wochenzeitung Semana als Beweis der Ernsthaftigkeit des Abkommens betonen. Die Ratifizierung der gesamten Agenda durch Vertreter*innen der UN führe des Weiteren zu einer „Internationalisierung des Friedens“, was darauf hindeute, dass „die Weltgemeinschaft den kolumbianischen Friedensprozess unterstütze“.
Erstmals seit ihrer offiziellen Gründung am 27. Mai 1964, zeigen sich die Angehörigen der FARC, die aus einer Bauernorganisation in der Region Marquetalia entstanden war, nun also bereit, ihren militärischen Kampf zu beenden und stattdessen auf politischer Ebene für ihre Ziele zu streiten. Die genaue Form dieser aktiven, politischen Teilhabe ist jedoch noch nicht geklärt. Das Waffenstillstandsabkommen gilt dennoch als Meilenstein, da es quasi den gesetzlichen Rahmen der Übergangsphase zum sogenannten posconflicto (Post-Konflikt) und den Entwaffnungsprozess der Guerilla definiert. So betonte der oberste FARC-Befehlshaber ‚Timoleón Jiménez‘ in seiner Rede während des symbolischen Verkündungsaktes am 23. Juni nochmals: „Lass diesen Tag den letzten Tag des Krieges sein!“ – um von Präsident Santos ergänzt zu werden: „Wir haben den Zeitpunkt erreicht, von dem an wir ohne Krieg leben können. […] Der Frieden ist nicht mehr nur ein Traum, sondern wir haben ihn endlich in den Händen. Auch wenn wir heute und vermutlich auch in Zukunft nicht mit der FARC einverstanden sind, rechnen wir ihr dennoch hoch an, dass sie bereit ist, den Schritt vom bewaffneten zum politischen Kampf zu gehen.“
Bei aller Euphorie darf jedoch nicht vergessen werden, dass nach wie vor das letzte Thema, die Umsetzung des Friedensvertrages, nicht geklärt ist. Auch in einigen anderen Punkten gibt es noch offene Fragen, die in den nächsten Wochen geklärt werden müssen. Denn es gilt weiterhin der Grundsatz, dass es keine Einigung gibt, solange nicht Einigkeit in allen Punkten herrscht. Fraglich ist weiterhin, ob und wie es zu dem von der Regierung versprochenen Referendum der kolumbianischen Bevölkerung über das endgültige Friedensabkommen kommen wird (siehe LN 501).
Inwiefern die Regierung und die FARC in ihren eigenen Reihen dazu fähig sein werden, die Beschlüsse auf landesweiter Ebene durchzusetzen, wird sich erst im Anschluss an die Unterzeichnung des Friedensabkommens zeigen. Präsident Santos brachte als mögliches Datum hierfür den 20. Juli, den kolumbianischen Nationalfeiertag, ein. Kolumbianische Medien gehen von ein bis zwei Monaten aus. Noch ist offen, ob aus dem Frieden mit der FARC auch das Ende aller bewaffneter Konflikte in Kolumbien einhergehen wird. So besteht die Gefahr, dass FARC-Mitglieder nachdem Friedensschluss zur zweitgrößten Guerilla des Landes, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) wechseln werden. Erste Friedensgespräche zwischen ELN-Vertreter*innen und der Regierung Kolumbiens erbrachten bisher keine nennenswerte Erfolge. Die Gefahr paramilitärischer Gruppen, die zuletzt einen Aufschwung erlebten und die statistisch für mehr Todesfälle verantwortlich sind als alle Guerilla-Gruppen zusammen, darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.
Bis in Kolumbien von einem endgültigen „letzten Tag des Krieges“ gesprochen werden kann, gilt es daher noch einige Hürden zu meistern. Nichtsdestotrotz ist der beidseitige Waffenstillstand ein großer Fortschritt. Die bittere Spaltung zwischen Regierungspartei und Opposition, in welcher die FARC immer eine zentrale Rolle spielte, könnte endlich überwunden werden. Eingefahrene Muster der „Politik mit Waffengewalt“, der Korruption, des Klientelismus und der Benachteiligung eines Großteils der Bevölkerung können ab jetzt hinterfragt werden. Es  ist ein  Hoffnungsschimmer, dass der Frieden endlich in greifbare Nähe rückt.

** ‚Timoleón Jiménez‘ wird in kolumbianischer und deutscher Presse häufig ‚Timochenko‘ genannt. Er selbst und die FARC lehnen diesen Namen jedoch ab, da er als kommunistische Verunglimpfung seines Aliasnamens erfunden wurde und genutzt wird.

DAS PRINZIP DES KLEINEREN ÜBELS

Peru hat viele Tage der Anspannung hinter sich. Am 5. Juni gingen die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde – eine Stichwahl zwischen der rechtspopulistischen Keiko Fujimori und dem liberalen Technokraten Pedro Pablo Kuczynski, der in Peru in der Vergangenheit schon die Posten als Wirtschafts- und Premierminister inne hatte. Die Hochrechnungen am Wahltag sahen Kuczynski mit seiner Partei Peruanos Por el Kambio (PPK) mit etwa einem Prozent vor der Kandidatin Fujimori von der Partei Fuerza Popular – zu feiern wagte bei solch einem knappen Vorsprung jedoch niemand.
Vier Tage lang blieb die Situation unklar und mit der wachsenden Unsicherheit kam auch die Angst vor einem Wahlbetrug auf – und zwar auf beiden Seiten. Am 9. Juni gab die Nationale Wahlorganisation (ONPE) schließlich die Ergebnisse bekannt, die den Sieg von Kuczynski mit knappen 50,12 Prozent bestätigten – gegen 49,88 Prozent der Stimmen für Keiko Fujimori.
Das Erstaunliche daran: Noch zehn Tage vor den Wahlen hatte Keiko Fujimori bei allen Umfragen vorne gelegen, während Kuczynski eine Niederlage vorausgesagt wurde. Was auf den ersten Blick wie ein plötzliches Erstarken der PPK aussieht, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nicht der Partei als solcher zuzurechnen. „Die Ergebnisse der Stichwahl stellen weniger einen Triumph des Kandidaten Kuczynski, als vielmehr einen Sieg der Kampagne ‚Nein zu Keiko‘ dar“, so die Einschätzung des Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlers Augusto Álvarez Rodrich in der Zeitung La República.
Keiko Fujimori ist die Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 als Präsident von Peru amtierte und extrem autoritär unter Missachtung der Menschenrechte regierte. Für viele Peruaner*innen symbolisiert Keiko Fujimori die Fortsetzung des autoritären Regimes – von Mitte bis Links gibt es daher eine geschlossene Ablehnung gegen alle Politiker*innen der Familie Fujimori.
Kuczynski hat diese Stimmung vor der anstehenden Stichwahl für sich zu nutzen gewusst. „Ich möchte Präsident von Peru sein, um die Demokratie zu verteidigen”, sagte er im zweiten Fernsehduell, das Ende Mai zwischen ihm und Fujimori stattfand. „Ich glaube an die Freiheit und ich bin überzeugt, dass diese Freiheit in Peru extrem gefährdet ist. Deshalb möchte ich alle Peruaner, egal welcher politischen Überzeugung, dazu aufrufen, die Freiheit zu verteidigen und die Rückkehr der Diktatur, der Korruption und der Lügen mit unseren Stimmen zu verhindern. Bürger, jetzt oder nie. Bis zum letzten Tisch, bis zur letzten Wahlstimme, es lebe Peru!“. Mit diesen Worten hatte Kuzcynski sich erfolgreich als Antifujimorist und als Demokrat positioniert, was denn auch der Schlüssel zu höheren Umfragewerten war. Wähler*innen von links und aus der Mitte konnte Kuzcynski für sich gewinnen, sofern sie gegen Fujimori waren. Auch hatte Kuczynski es geschafft, sich glaubhaft als Bekämpfer der Korruption zu präsentieren.
Fujimori hatte sich besonders mit zwei Fällen in der Öffentlichkeit unbeliebt gemacht. Zum einen wird der Generalsekretär und Hauptfinanzier der Wahlkampagne von Keiko Fujimori, Joaquín Ramírez, offenbar von der US-amerikanische Drogenfahndung DEA gesucht – wegen möglicher Verbindungen zum Drogenhandel und Verwicklung in Geldwäsche. Das behauptet zumindest der peruanische Ex-Pilot Jesús Vásquez. Zum anderen besteht der Verdacht, dass José Chlimper, der unter Fujimori als Vizepräsident kandidierte und die Kampagne ihrer Partei anführt, einem Fernsehsender eine gefälschte Audio-Datei zukommen lassen habe, auf der angeblich derselbe Jesús Vásquez gesteht, dass die Anschuldigungen gegen Ramírez falsch seien.
Dieser versuchte Betrug, zusammen mit den Beschuldigungen gegen Ramírez und gegen andere Mitglieder der Fuerza Popular, von denen sich Keiko Fuijimori bis heute nicht klar distanziert hat, dürfte viele ihrer Anhänger*innen und Sympathisant*innen abgeschreckt haben. Das war wiederum entscheidend für die Stärkung der anti-fujimoristischen Bewegung, der sich Kuczynski am Ende seiner Wahlkampagne anzunähern vermochte.
Aber auch die formale Unterstützung in letzter Minute von Seiten der peruanischen Linken war entscheidend für den plötzlichen Stimmungswechsel unter den Wähler*innen. Die Kandidatin des linken Parteienbündnisses Frente Amplio („Breite Front“), Verónika Mendoza, verpasste in der ersten Wahlrunde als Dritte knapp die Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang rief sie ihre Anhänger*innen überraschend dazu auf, Kuczynski zu wählen „um dem Fujimorismus den Weg zu versperren, der heute eng mit Korruption und Drogenhandel verbunden ist.“
Durch diesen Aufruf, der auch auf Quechua über  diverse lokale Radios ausgestrahlt wurde, konnte Verónika Mendoza die Bevölkerung im Süden des Landes erreichen, die eigentlich gegen Kuyzynski und vor allem das von ihm repräsentierte Wirtschaftsmodell ist. Der Süden hatte in der ersten Runde großenteils Mendoza gewählt. Ihr Aufruf dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Wähler*innen für Kuzcynski zu gewinnen, die andernfalls ungültige oder leere Wahlzettel bei der Stichwahl abgegeben hätten.
Der Anti-Fujimorismus stellte das ganze Land unter Spannung. Bezeichnend dafür war eine nationale und internationale Großkundgebung am 31. Mai, die von dem Kollektiv „Nein zu Keiko“ organisiert wurde. Eine große Demonstration fand unter anderem auf dem Platz Dos de Mayo in Lima statt: Mehr als 70.000 Menschen nahmen teil, unter ihnen Politiker*innen, Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, unabhängige Aktivist*innen, Angehörige der Opfer des Regimes von Alberto Fujimori, soziale Bewegungen, öffentliche Personen, Journalist*innen und Studierende. Obwohl bei dieser Demonstration nicht dazu aufgerufen wurde, Kuczynski zu wählen, gab es eine klare Ablehnung der Wahlenthaltung. Dadurch wurden indirekt viele noch unentschiedene Anti-Fujimorist*innen überzeugt, den Ökonomen und ehemaligen Minister zu wählen.
„Der Anti-Fujimorismus stabilisiert sich als ein großer Akteur des politischen Lebens“, schreibt auch der Historiker Antonio Zapata mit Anspielung auf die peruanischen Wahlen im Jahr 2011, wo es zu einem ähnlichen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Keiko Fujimori und dem damaligen Kandidaten Ollanta Humala gab, bei dem die rechtspopulistische Kandidatin ebenso verloren hatte. Damals hatte es eine ähnliche Bewegung gegen sie gegeben, die das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst hatte.
Die Partei Fujimoris ist damit dauerhaft in eine schwierige Situation geraten. Für den Historiker und Sozialwissenschaftler Nelson Manrique werden sich „die Spannungen zuspitzen, die den Fujimorismus zerreißen“, so seine Einschätzung. Tatsächlich trägt Keiko Fujimoris Partei auch intern viele Konflikte aus. Ihr Vater Alberto Fujimori hat zum Beispiel wiederholt seine Unzufriedenheit mit der Wahlstrategie seiner Tochter gezeigt. Hinzu kommt ein Machtstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Kenji darüber, wer die Partei anführt.
Vom Tisch ist das Erbe Alberto Fujimoris damit aber noch lange nicht. Mit 73 von insgesamt 130 Kongressmitgliedern stellt die Partei Fuerza Popular die absolute Mehrheit im Kongress und kann Kuczynskis Regierung in vielen Punkten blockieren. Keiko Fujimori hat außerdem eine starke Opposition angekündigt. Es bleibt offen, ob das in Form von Boykott passiert, oder ob es doch ein Stück weit Kooperationen geben wird, etwa in wirtschaftlichen Fragen, bei denen Fujimori und Kuczynski sich gar nicht so uneinig sind. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Fuerza Popular, die – wie Kuzcynski – den internationalen Markt für Bergbau-Investitionen öffnen will, Interesse daran hat, dass dieses Modell während der PPK-Regierung funktioniert, da sie im Falle eines Scheiterns keine Chance hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen.
Sie könnten aber auch die Taktik einschlagen, die nun an die Macht kommende Kuczynski-Regierung zu destabilisieren. „Wir wissen schon, wem der Kongress gehört“, sagte Pedro Spadaro, Vorsitzender von Fujimoris Partei Fuerza Popular, in einem Anfall von Überheblichkeit. Dieser Vorgeschmack auf möglicherweise Kommendes deutet eher auf eine autoritär und anmaßend agierende Fraktion hin.
Ein Fragezeichen ist die peruanische Linke mit der Fraktion der Frente Amplio. Einerseits war ihr Aufruf entscheidend für den Wahlsieg des zukünftigen Präsidenten: andererseits bedeutete diese Unterstützung in letzter Minute aber noch lange keinen Pakt mit Kuczynski. Die Frente Amplio hat nun also die Hände frei, um als echte Opposition zu handeln, die „die Logik der neoliberalen Akkumulation hinterfragt, die von beiden Präsidentschaftskandidaten repräsentiert wird“, wie Manrique hofft, und die „eine inklusive Politik fordert, ein Zurückholen unserer Kulturen und unserer Identität, und die sich mit jeder Form von Diskriminierung auseinandersetzt, indem sie radikale Änderungen fordert.“
Eine Koalition mit Kuczynski schloss Verónika Mendoza indes aus. Sie stellte klar, dass ihre 20 Kongressmitglieder eine wachsame Opposition stellen würden, die aber jene Projekte der Regierung unterstützen werden, die mit dem Programm der Fraktion vereinbar sind. Wenn die Frente Amplio sich Chancen auf die Präsidentschaft ab 2021 eröffnen will, wird ihre Arbeit im Kongress von zentraler Bedeutung sein. Dafür muss die Fraktion geschlossen und zusammen bleiben, und ihre politische Linie beibehalten, mit der sie sich als dritte politische Kraft in Peru stabilisiert hat – als progressive Linke: inklusiv, offen zum Dialog, dezentralistisch, interkulturell und respektvoll gegenüber Menschenrechten und  Umwelt. Es wird aber auch nötig sein, die mehr als acht Millionen Anhänger*innen von Fujimori zu verstehen und auf sie einzugehen, anstatt sie zu verteufeln.
Kuzcynski wird seine Amtszeit indessen in einem besonderen Kontext antreten. Für Sinesio López, Sozialwissenschaftler von der Katholischen Universität Lima, wird sich mit dem Wahlsieg Kuczynskis in Peru eine geteilte Regierung etablieren: Eine Partei stellt den Präsidenten, die andere Partei stellt die Mehrheit im Kongress. Angesichts diesem möglichen Problem der „Unregierbarkeit“ hält López es für wahrscheinlich, dass Kuczynski „die Konfrontation vermeiden und eine Politik der Einigung in mehrere Richtungen verfolgen wird: Einigungen mit dem Fujimorismus, was das wirtschaftliche Modell angeht, und Abkommen mit der Mitte und der Linken, was die Sozialpolitik und den Kampf gegen Korruption oder für Freiheit und Menschenrechte angeht.“ Das waren auch die ersten Worte Kuczynskis als gewählter Präsident. In einer Rede nach dem Wahlsieg stellte er klar, dass er eine Politik des Dialogs mit allen politischen Kräften im Land etablieren wolle.
Die Herausforderung, vor der der neue Präsident somit steht, ist groß: Ein Land regieren, das polarisiert ist zwischen einem starken Fujimorismus  im Kongress, und einem starken Anti-Fujimorismus, für den die Menschen auf die Straße gehen und der sowohl in der politischen Mitte als auch bei der Linken sehr präsent ist. Er wird daher zeigen müssen, mit beiden Seiten auf ausgeglichene Art und Weise verhandeln zu können. Das ist aber nicht einfach. Wird Kuczynski zum Beispiel mit den Fujimorist*innen über die Freilassung des Ex-Präsidenten verhandeln, der seit Jahren im Gefängnis ist? Als ihm die Frage gestellt wurde, antwortete Kuczynski, dass er Fujimori nicht begnadigen würde, ließ aber die Möglichkeit eines Hausarrests statt einer Gefängnisstrafe offen. Dabei darf er aber auch nicht vergessen, dass es der starke Antifujimorismus war, der ihn überhaupt in den Regierungspalast gebracht hat. Für diese Bewegung ist es inakzeptabel, den Ex-Präsidenten aus dem Gefängnis zu lassen.
Für Salomón Lerner Febres, ehemaliger Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, ist einer der wichtigen Faktoren, dass die neue Regierung ihre Versprechen in Sachen Menschenrechte einhält. Das heißt, dass nicht nur alle Arten der Diskriminierung bekämpft werden, sondern auch ein Plan der Personensuche von Verschwundenen aufgestellt wird. Der „Plan Integral de Reparaciones“ für die Opfer der Gewaltperiode, die Peru zwischen 1980 und 2000 erlebt hat, müsse weitergeführt werden, so Lerner. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass nach einem Null-Toleranz-Prinzip mit Korruption verfahren wird. Das Gesetzesprojekt des „zivilen Todes“ für Korrupte müsste daher weitergeführt werden, sowie die Unverjährbarkeit für Korruptionsdelikte.
Und schließlich müsste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Wirtschaftspolitik Kuczynskis, die ausländische Investitionen besonders im Bergbau fördern will, und dem Schutz der Umwelt, zu dem sie sich verpflichtet hat, sowie der Einhaltung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Befragung indigener Völker bei allem, was auf ihren Territorien stattfinden soll, vorschreibt.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Kuczynski in der Vergangenheit sein öffentliches Amt als Minister dazu genutzt hat, den transnationalen Firmen große Vorteile zu bescheren – zum Nachteil der peruanischen Bevölkerung. Bekannt ist unter anderem der auf Kuczynski lastende Vorwurf, er habe der International Petroleum Company geholfen, aus dem peruanischen Finanzsystem 115 Millionen US-Dollar herauzuziehen, als er 1968 Geschäftsführer der Zentralbank war. Außerdem wurde er 2001 als Berater der Firma Hunt Oil eingestellt, im selben Jahr also, in dem er sein Amt als Wirtschaftsminister antrat. Als Minister soll er dem Unternehmen ein Preiszugeständnis für das Erdgasfeld (lote) Nr. 56 gewährt haben. Zudem hatte er auch maßgebliche Gesetzesänderungen unterstützt, die Hunt Oil ermöglichten, die Produktion des Erdgasfeldes Nr. 88 zu exportieren, was die Deckung des nationalen Gasbedarfs gefährdete.
Kuczynski bestreitet diese Vorwürfe bis heute. Viele befürchten, dass er transnationalen Unternehmen Vorteile einräumen wird. Seine öffentlich gezeigte Geringschätzung der andinen und indigenen Völker lassen jedenfalls Jahre der sozialen und ökologischen Konflikte befürchten, deren Preis menschliche Leben sein könnten, wie es in Bagua, Tía María oder Conga der Fall war. Man solle ihn nicht als „kleineres Übel“ wählen, hatte Kuczynski noch gesagt, sondern als Vorteil für das ganze Land. Wie das mit seiner industrienahen Position vereinbar ist, wird sich in den kommenden fünf Jahren zeigen.

RÜCKKEHR DER ALTEN REPUBLIK

Einen guten Start stellt man sich anders vor. Michel Temer dürfte mit den ersten Wochen seiner Amtszeit als Übergangspräsident alles andere als zufrieden sein. Man könnte fast abergläubisch werden, war es doch Freitag der Dreizehnte, an dem Brasilien zum ersten Mal mit einem regierenden Präsidenten Namens Temer erwachte.Dabei lief zunächst alles nach Plan für den regierenden Vizepräsidenten: Nachdem am 17. April die Abgeordnetenkammer für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff gestimmt hatte (siehe LN 503), gab auch der Senat am 11. Mai grünes Licht für das Impeachment. Verfassungsgemäß suspendierte damit die Legislative die Präsidentin der Arbeiterpartei PT für maximal 180 Tage von ihrem Amt.
Am 12. Mai übernahm Michel Temer die Regierung in Vertretung der gewählten Präsidentin. Doch er tat es nicht als Regierungsvertreter. Bereits am 29. März hatte seine Partei, die rechtsliberale PMDB, die Koalition mit der PT aufgekündigt (siehe LN 502). Im Kabinett von Temer befinden sich folglich keine Mitglieder der PT. Es sind ausschließlich Politiker von rechten Parteien für die 20 Ministerposten nominiert – und es sind ausschließlich weiße Männer. Die öffentliche Empörung folgte sofort. Seit 1979 und der Diktatur von General Ernesto Geisel, gab es in Brasilien kein Kabinett mehr, in dem nicht eine Frau vertreten war. Ebenfalls fehlen schwarze Brasilianer*innen und Repräsentant*innen von sozialen Bewegungen im Kabinett. Auch ethnische Minderheiten sind nicht vertreten. Es ist eine Regierung von alten Männern aus der Elite, die in keiner Weise repräsentativ für die Bevölkerung und die Diversität des Landes ist.
Dies erkannte Temer selbst in seinem ersten Fernsehinterview der Sendung Fantástico von TV Globo an: „Ich schließe eine Wiederwahl für mich aus, auch weil mir das mehr Ruhe bei meinen Entscheidungen gibt […] Ich kann sogar – sagen wir es so – unpopulär sein, aber wenn das dem Land Vorteile bringt, reicht mir das aus.“ Ganz so selbstlos für das Wohl des Landes ist Temers Entscheidung, bei der kommenden Wahl nicht als Kandidat anzutreten, aber nicht. Aufgrund eines Urteils wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung seines letzten Wahlkampfs ist der 76-Jährige für acht Jahre von der Ausübung des passiven Wahlrechts ausgeschlossen.

Interimspräsident Temer - Zustimmung der Bevölkerung nicht zwingend notwendig
Interimspräsident Temer – Zustimmung der Bevölkerung nicht zwingend notwendig (Foto: Agencia Brasil)

Dennoch scheint die neue Regierung gewillt, eine 180-Grad-Wende in der Regierungspolitik zu vollziehen. Die Anzahl der Ministerien wurde von 31 auf 21 gekürzt. Welche Ministerien dem Rotstift zum Opfer fielen, weist den Weg: Das Ministerium für Ländliche Entwicklung, das für die Agrarreform zuständig war, wurde dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Das Sekretariat für Menschenrechte wird von nun an Teil des Justizministeriums sein. Dessen neuer Chef, Alexandre de Moraes von der rechten PSDB, war Sicherheitssekretär des Bundesstaates von São Paulo. Für seine harte Hand und die brutale Repression von sozialen Protesten wurde er in der Vergangenheit scharf kritisiert.
Dies ist allerdings nicht der einzige Fall, in dem Temer den Bock zum Gärtner macht. Landwirtschaftsminister ist Blairo Maggi, Großgrundbesitzer, auch bekannt als „Sojakönig“. Als Senator hatte er noch das Projekt für den Verfassungszusatz PEC 65/2012 auf den Weg gebracht. Nach Maggis Entwurf soll kein Bauvorhaben mehr gestoppt werden können, wenn ein Umweltverträglichkeitsgutachten vorliegt, egal wie Umwelt- und Indigenenbehörden das Gutachten bewerten.
Auch andere Gesetzesvorhaben von Poli­ti­ker*in­nen der neuen Regierungsparteien stellen direkte Angriffe auf die Rechte von Arbeiter*innen und Indigenen dar. Das Gesetzesprojekt PL 3842/12 des Abgeordneten Moreira Mendes ist ein deutliches Beispiel: Mit ihm soll die Definition, welche Arbeitsverhältnisse als Sklaverei gelten, abgeschwächt werden, ganz im Interesse der Agrarindustrie, denn auf Farmen im Hinterland gibt es immer wieder Fäller von extremer Ausbeutung, die eigentlich Sklaverei darstellen.
Die Agrarlobby freut sich auch über den geplanten Verfassungszusatz PEC 215/2000. Wenn der Text verabschiedet wird, ist in Zukunft der Kongress für die Ausweisung indigener Territorien verantwortlich, und nicht mehr die Indigenen-Behörde FUNAI. Da im Kongress die Lobby der Agrarindustriellen die Mehrheit hat, wäre das wohl das Ende von jeglicher Demarkierung indigener Gebiete. Zahlreiche Indigenengruppierungen protestieren seit Monaten gegen dieses Projekt.
Auch die Finanzpolitik der neuen Regierung ist wirtschaftsfreundlich und setzt auf klassisch neoliberale Rezepte. Neuer Finanzminister ist Henrique Meirelles. Der ehemalige Spitzenbanker und Ex-Chef der brasilianischen Zentralbank kündigte eine rigide Sparpolitik sowie eine Anhebung des Rentenalters an. Der Minister für Stadtentwicklung Bruno Araújo teilte mit, starke Kürzungen im staatlichen Wohnungsbauprogramm „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, Mein Leben) vornehmen zu wollen. Auch erließ Temer bereits die Provisorische Maßnahme MP 727, mit der ein Programm zur Erleichterung von Public-Private-Partnerships geschaffen wird.
Die Entscheidung, das Kulturministerium abzuschaffen, musste die Regierung nach heftigen landesweiten Protesten von Künstler*innen wieder zurücknehmen. Aber das noch von Rousseff erlassene Präsidialdekret, das Transsexuellen das Verwenden ihres selbstgewählten Namens bei öffentlichen Angelegenheiten erlaubte, nahm Temer bereits zurück. Auch in anderen Bereichen legt Temer den Rückwärtsgang ein. Ebenfalls sollen Abtreibung – selbst nach Vergewaltigungen – künftig komplett verboten werden. Schließlich befinden sich in der Regierung auch evangelikale Pastoren. Ultrakonservative Christ*innen zählen zu einer der wichtigsten Stützen der politischen Rechten in Brasilien.

Nur wenige Tage im Amt: Ex-Minister Romero Jucá (Foto: Agencia Brasil)
Nur wenige Tage im Amt: Ex-Minister Romero Jucá (Foto: Agencia Brasil)

Renato Boschi, Professor für soziale und politische Studien an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro, erklärte gegenüber dem britischen Guardian: „Sogar Macri in Argentinien ist nicht so rechts wie Temers Regierung.“ Und Macris Regierung ist zumindest durch Wahlen legitimiert, die von Temer dagegen nicht. In seiner Kolumne in der Folha de São Paulo schrieb der Abgeordnete des Landesparlaments von Rio de Janeiro und Führungsfigur der linken Partei PSOL, Marcelo Freixo: „Die Regierung Temers würde mit ihrer Agenda niemals eine Wahl gewinnen!“
Dies alles scheint ihr herzlich egal zu sein. Dem Rückhalt der alten Eliten ist sie sich sicher. Die mehrheitlich älteren Minister aus den wirtschaftlich starken Bundesstaaten São Paulo und Minas Gerais haben beste Verbindungen in die Industrie. Die Regierung sieht aus wie eine Rückkehr in die „Alte Republik“ (1889-1930), als die kolonialen Eliten das Land wie ihren Privatbesitz regierten. Damals hatten weniger als fünf Prozent der Brasilianer*innen das Wahlrecht. Der Bevölkerungsteil, dessen Interessen von der jetzigen Regierung vertreten werden, dürfte kaum größer sein.
Um Korruptionsbekämpfung ging es bei der Regierungsbildung indes gar nicht. Gegen viele neue Minister wird in der Operation Lava Jato (Autowaschanlage) der Bundespolizei wegen Korruption ermittelt. Dabei geht es um ein gigantisches Komplott bei dem Baufirmen – darunter der Gigant Odebrecht – und der staatliche Erdölkonzern Petrobras Millionenzahlungen an Politiker*innen aller Parteien leisteten.
Der britische Journalist Glenn Greenwald erklärte deshalb, dass es beim Impeachmentverfahren nicht um die Bekämpfung der Korruption, sondern um die Bekämpfung der Aufklärung der Korruption gehe. Dies mag paradox erscheinen, gingen doch in den vergangenen Monaten Millionen Menschen in Brasilien wegen der Enthüllungen der Operation Lava Jato auf die Straße. Es war erst dieses gesellschaftliche Klima, das das Impeachmentverfahren ermöglichte. Bislang stützen aber die dominierenden Medien – allen voran das Konsortium Rede Globo – die rechte Regierung. Die Theorie des „Parlamentsputschs der Vertuschung“ wurde als linke Verschwörungstheorie abgetan.
Doch diese Sicht hat sich in den vergangenen Tagen massiv geändert. Die Zeitungen Folha de São Paulo und O Globo publizierten Tonbandaufnahmen von Gesprächen zwischen führenden Politikern und José Sérgio Machado, einem Ex-Manager von Petrobras. Offenbar nahm Machado die Gespräche heimlich im Rahmen einer Kronzeugenregelung auf. Aus der Staatsanwaltschaft wurden die Aufnahmen vermutlich an die Medien geleakt. Entstanden sind sie wohl im März, kurz vor der Abstimmung über das Impeachment.

In den Aufnahmen, die zu Redaktionsschluss nicht vollständig veröffentlicht waren, bespricht Machado mit führenden Politikern, dass man Rousseff absetzen müsse, um die wegen der Korruption in Misskredit geratene politische Klasse zu retten. Unter den Aufnahmen war auch ein Gespräch mit Romero Jucá. Der Interimsminister für Planung und enger Vertrauter von Michel Temer musste nach der Veröffentlichung zurücktreten. In den Tonaufnahmen erklärt Jucá, dass man das „Blutbad“ beenden müsse. Würde Rousseff abgesetzt, so Jucá, „dann haben wir alles begrenzt, dann hört das auf“. Worauf der Politiker aus dem nordbrasilianischen Bundesstaat Roraima hinaus will ist klar: eine Beendigung der Ermittlungen im Rahmen der Operation Lava Jato. In dem Gespräch ist außerdem davon die Rede, dass auch der Oberste Gerichtshof und die Militärführung in das Komplott involviert seien.
Auch Gespräche mit dem Präsidenten des Senats Renan Calheiros – gegen den die Bundespolizei im Rahmen von Lava Jato ermittelt – wurden von Machado aufgezeichnet. In den ebenfalls geleakten Aufnahmen spricht Calheiros von einem „großen Nationalen Pakt“. „So wie die Amnestie nach der Militärdiktatur: Ab jetzt läuft alles sauber“, erklärt Calheiros in dem Telefonat. Deutlicher formuliert: Alles Vergangene möge nun in Vergessenheit geraten.
Selbst in Brasilien, wo Korruption zum Alltag gehört, erstaunt und empört die kriminelle Energie, mit der die Absetzung Rousseffs geplant wurde. Viele Brasilianer*innen, die die Absetzung von Rousseff befürworteten, zeigen sich angesichts der Intrigen in der neuen Regierung erschüttert. Die jüngsten Enthüllungen diskreditieren die politische Klasse in ihrer Gesamtheit.

MENSCHENRECHTE IN DER KRISE

Aktuelle Nachrichten aus Mexiko erinnern an den Titel eines Buch über den ersten Weltkrieg: Im Westen nichts Neues. Wie verhält es sich mit der aktuellen Situation der Menschenrechte? Ist dieses Bild auf eine einseitige und negative Berichterstattung der Medien zurückzuführen?
Die Medien beschreiben eher eine optimistische Version der Menschenrechtslage in Mexiko, optimistischer als wir von Amnesty International die Situation wahrnehmen. In Mexiko sehen wir eine Krise der Menschenrechte, eine Krise, die immer stärker wird, sich ausdehnt und immer mehr Teile der Gesellschaft betrifft.

Betrifft diese Krise das gesamte Land oder ist sie nur auf wenige Regionen beschränkt?
Die Regierung und verschiedene Medien beschreiben die Krise als eine, die nur ganz bestimmte Regionen betrifft, wie zum Beispiel die Grenzregionen im Norden zu den USA oder im Süden zu Guatemala. In Wahrheit existieren die Probleme im ganzen Land. Es sind zwar unterschiedliche Probleme, aber die Krise der Menschenrechte hat das gesamte Land erfasst.

Wie ist die Situation in den verschiedenen Regionen des Landes?
Die Region Vera Cruz zum Beispiel ist ein besonders entmutigender und besorgniserregender Fall. Die bundesstaatliche Regierung ist völlig unfähig und zeigt keinen Willen, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen zu schützen. In den letzten Jahren sind viele Journalist*innen in Vera Cruz getötet worden. Noch mehr von ihnen werden dort bedroht. Sie haben Angst davor, ihre Berichterstattungen zu den Themen Verbrechen und Korruption weiterzuführen. In verschiedenen Regionen Mexikos gibt es zahlreiche Militäreinsätze. Die starke Präsenz der organisierten Kriminalität des Drogenhandels und der Militärs auf den Straßen führt zu einer Situation, die regelrecht anfällig für die Verletzung der Menschenrechte ist.

Wie sieht es in relativ friedlichen Städten Mexikos aus?
In Mexiko-Stadt wie auch in anderen friedlichen Städten, die klar durch staatliche Organe kontrolliert werden, stellen wir Verletzungen der Menschenrechte fest: beispielsweise durch willkürliche Festnahmen am Rande von Demonstrationen.

Wie ist die Situation in Guerrero?
In Guerrero herrscht ein allgemeines Klima der Gewalt – dort, wo vor 19 Monaten die 43 Studenten in Iguala verschwunden sind. Der komplette Name dieser Stadt ist Iguala de la Independencia, weil sie für die Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hat. Diese symbolische Stadt wurde in den letzten Jahren komplett vom Drogenhandel kontrolliert. Dort ließen sich ganz klar die engen Beziehungen der lokalen Autoritäten und der organisierten Kriminalität des Drogenhandels erkennen, mit denen die Polizei direkt zusammen arbeitete. Es konnte nicht zwischen Handlungen unterschieden werden, die die Polizei als Polizei ausführte und denjenigen, die sie als kriminelle Vereinigung verübte. Und genau diese Polizei hat die 43 Studenten 2014 festgenommen. Solche Geschichten wiederholen sich im ganzen Land.
Warum hat Guerrero in Mexiko den Ruf eines ausgesprochen gewalttätigen Bundesstaates?
Es ist ein historisches Vergessen. Guerrero hat viele wirtschaftliche Reichtümer. Acapulco war immer ein wichtiger Hafen. In den letzten Jahren war dieser Ort ein Touristenzentrum. Mittlerweile ist Acapulco eine der gewalttätigsten Städte Mexikos, mit der höchsten Mordrate. In Guerrero gibt es viele Minen und andere natürliche Reichtümer. Jedoch sind diese ausgesprochen ungleich verteilt. Es gab verschiedene Bewegungen, die gegen diese Ungleichheit kämpften, einige mit friedlichen Mitteln, andere griffen zur Waffe. Die Antwort des Staats war immer die der brutalen Repression sozialer Bewegungen. Die bundesstaatlichen Regierungen haben bis heute nicht versucht die Probleme der Menschen zu lösen.

Wie arbeiten Sie von Amnesty International in einem solchen Land? Suchen Sie sich Verbündete in den politischen Parteien?
In den politischen Parteien als solche suchen wir uns keine Verbündeten, aber natürlich arbeiten wir mit Personen zusammen, die öffentliche Ämter innehaben, also mit politischen Organen. Natürlich kommen die Personen sehr oft aus den politischen Parteien. Wir glauben, dass es notwendig ist, die Regierung mit einzubinden und immer wieder zu fordern, dass die Tatsachen auf den Tisch kommen. Wir müssen uns mit der Regierung hinsetzten und zusammenarbeiten, damit es einen Wandel gibt. Wir gehen auf die Generalstaatsanwaltschaft zu, um Akteneinsicht zu bekommen. Wir arbeiten kontinuierlich mit dem Senat zusammen, um dort Gesetzesinitiativen zu diskutieren. Wir werden vom Abgeordnetenhaus eingeladen, um unsere Sichtweise darzustellen. In verschiedenen öffentlichen Räumen stellen wir unsere Position immer wieder dar. Die Bundesregierung verschickt Gesetzesentwürfe an die verschiedenen Organisationen, nicht nur an Amnesty International, und die Organisationen geben ihre Kommentare ab. Das Problem ist, dass es den Prozess der Anhörung von NGOs gibt, dann aber nichts von dem, was wir fordern, aufgenommen wird. Das ist jedoch nicht immer so, manchmal bewirken unsere Kommentare auch etwas.

Wovon hängt es ab, ob Ihre Eingaben und Kommentare aufgenommen werden?
Wenn es mehr Druck aus der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft gibt, wenn es eine öffentliche Diskussion gibt, sind die Behörden und politischen Organe offen für einen Wandel und dafür, neue Vorschläge aufzunehmen. Wenn ein Thema keine Aufmerksamkeit bekommt, ist es sehr schwierig etwas zu bewegen. Zum Beispiel ist es gerade relativ einfach, die Menschen und Politiker*innen in der Frage der Verschwundenen zu bewegen. Es ist zurzeit ein sehr wichtiges Thema in Mexiko. Mit der Forderung nach einem ordnungsgemäßen juristischen Prozess oder in Bezug auf Folter, was in Mexiko ebenfalls wichtige Themen sind, lassen sich dort viel weniger Menschen bewegen.

Warum ist das Thema der Verschwundenen so wichtig?
Seit einigen Jahren gab es einen gravierenden Anstieg der Zahl an Verschwundenen. Es entstand in der Gesellschaft das Bewusstsein, dass jede*r selbst Opfer werden kann. Seit dem Fall der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa hat sich die Empörung und Wut artikuliert. Das hat zu großen Demonstrationen in Mexiko Stadt und anderen Städten geführt. Es kam zu einer dichteren und komplexeren Debatte. Eine solche Stimmung begünstigt, dass die Behörden darauf reagieren.

Kann man eine klare Trennung zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Politiker*innen aufmachen?
Das ist schwierig. Natürlich gibt es Politiker*innen, die sich sehr für die Menschenrechte einsetzen, die wachsam sind, immer wieder verschiedene Wege suchen und tun, was sie können. Um aber einen Wandel in einem so komplexen Thema herbeizuführen, muss es tiefgreifende Veränderungen geben, die unterschiedliche politische Kosten bedeuten: Man muss Institutionen verändern. Man muss Gesetze verändern. Man muss neue Haushalte verabschieden. Es ist also kein Wandel, der von nur einer Person abhängt. Deshalb ist es auch so schwierig , dass eine Person, die sich der Menschenrechtsfrage verpflichtet fühlt, ihr politisches Kapital riskiert, um einen Wandel zu befördern, wenn nicht genug Druck von anderer Seite ausgeübt wird.

Wird dieser Druck weiterhin von den zivilgesellschaftlichen Bewegungen ausgeübt oder sind die verschwunden und gescheitert?
Sie sind nicht gescheitert! Sie verändern sich. Sie suchen neue Formen der Reaktion, aber sie sind nicht gescheitert. Die Bewegung „Por la Paz, Justicia y Dignidad“ von Javier Scicilia hat dazu beigetragen, dass die Opfer im ganzen Land anerkannt wurden und das Ausmaß dieser Menschenrechtskrise öffentlich wahrgenommen wurde. Es wurde ein Entwurf zu einem generellen Opfergesetz von den Opfern und deren Angehörigen in das Parlament eingebracht und mit Einstimmigkeit in beiden Kammern des Kongresses angenommen. Es gab keine Gegenstimme. Das war ein Ergebnis der Bewegung. Aber die zivilgesellschaftlichen Bewegungen haben auch ihre Grenzen. Eine Bewegung allein kann nicht das ganze Land verändern, kann nicht die Strukturen der Gesetzgebung verändern. Aber sie bringen das Thema immer wieder auf die Agenda.

// ARGENTINIENS DUNKLE ZEITEN

„Die dunkelste Etappe unserer Geschichte.“ Als Vertreter der Neuen Rechten fällt Argentiniens Präsident Mauricio Macri im Gegensatz zur Alten Rechten die verbale Distanzierung von der bis dato letzten argentinischen Militärdiktatur nicht schwer. Diese nahm vor 40 Jahren, am 24. März 1976 mit einem Militärputsch ihren Ausgang und forderte bis zu ihrem Ende 1983 rund 30.000 Opfer. Macri erdreistete sich am Jahrestag gar zu betonen, dass er mit seinem Gast Barack Obama übereinstimme: „Heute müssen wir unsere Verpflichtung bekräftigen, die Demokratie und die Menschenrechte zu verteidigen, die überall auf der Welt täglich auf dem Spiel stehen.“
Zum Beispiel in Argentinien: 6835 Fälle von Folter und Misshandlungen stellte eine Gruppe um Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel 2015 bei einer landesweiten Untersuchung von 50 Gefängnissen fest. Hierbei ist Macri noch aus dem Schneider, da er sein Präsidentenamt erst am 10. Dezember 2015 angetreten hatte – wie in Argentinien üblich just am Tag der Menschenrechte. An der Tendenz ändert das nichts.
Macris These von der dunkelsten Etappe unserer Geschichte würde Nora Cortiñas von den „Müttern der Plaza de Mayo“ nie widersprechen, seiner Politik jedoch schon: „Mit der Regierung Macri hat Argentinien einen Rückschritt um 30 Jahre gemacht, was die Menschenrechte angeht“, so die Aktivistin, deren Sohn Gustavo zu den „Verschwundenen“ gehört. In einem offenen Brief an den Präsidenten forderte sie das argentinische Volk auf, weiter um Gerechtigkeit zu kämpfen.
Macri kämpft derweil um anderes: um die Rückkehr an die internationalen Finanzmärkte, um ein schuldenfinanziertes Wachstum zu generieren, wie es einst die Militärdiktatur vorgemacht hatte: In nur sieben Jahren wurden damals die Auslandsschulden von 7,5 Milliarden auf über 40 Milliarden Dollar katapultiert und so der Grundstein für die Überschuldung gelegt. Diese mündete schließlich 2001/2002 im staatlichen Bankrott– und dem der politischen Klasse, für die die Argentinier*innen nur noch ein „que se vayan todos!“ (Haut alle ab!) übrig hatten.
Mit dem Beginn der Militärjunta hatte Argentinien dereguliert und liberalisiert, Staatsunternehmen privatisiert und Märkte geöffnet wie kaum ein anderes Land auf der Welt. Seit den 1980er Jahren hielt sich das Land streng an alle Auflagen aus Washington und entsprechend großzügig flossen die Kredite an den Musterschüler des Internationalen Währungsfonds (IWF). Eben dieser IWF applaudierte Macri nun in persona seiner Chefin Christine Lagarde. Sie hatte die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung nach den ersten Maßnahmen als sehr „ermutigend“ bezeichnet und zeigte sich erleichtert über den Deal mit den „Geierfonds“, jenen Hedgefonds, die nach der Krise argentinische Staatsanleihen zum Schrottwert aufgekauft und danach in New York auf den vollen Nominalwert geklagt hatten.
Wozu der IWF Beifall spendet, ist die Wiederholung der argentinischen Wirtschaftstragödie als Farce: die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten in einer schlicht perversen Dimension. Der IWF erteilt Beifall für einen goldenen Handschlag, der den Geierfonds über 1000 Prozent Rendite beschert und der die 93 Prozent der Gläubiger*innen, die sich 2005 und 2010 zähneknirschend auf Umschuldungen mit hohen Verlusten einließen, wie Idiot*innen da stehen lässt, denn Verzicht lohnt sich nicht.
Um den milliardenschweren Deal mit den Geierfonds zu finanzieren, hat Macri bereits ein Bankenkonsortium beauftragt, neue Staatsanleihen für 12 Milliarden Dollar auf dem internationalen Finanzmarkt zu platzieren, von dem Argentinien seit 2001 abgeschnitten war. Die Investor*innen stehen Schlange. Sie wissen, dass eine Regierung, die bereits damit begonnen hat, 100.000 Staatsbedienstete auf die Straße zu setzen, willfährig ist, den Ansprüchen der Gläubiger*innen um jeden Preis nachzukommen. Macri hat das nächste Kapitel der Wachstum-per-Auslandsverschuldung-Geschichte Argentiniens begonnen. Alle mündeten in dunkle Zeiten für Argentiniens Bevölkerung – außer für die Elite.

RASANTE REFORMEN

100 Tage Regierung Macri, 40 Jahre Putsch, der Besuch des US-Präsidenten Barack Obama: Der März war in Argentinien politisch überfrachtet. Der neue Präsident Mauricio Macri baut das Land im Eiltempo um und zieht Teile der Opposition auf seine Seite, während die Linke noch nach geeigneten Strategien gegen die neoliberale Regierungspolitik sucht.

Immer wieder hallen Sprechchöre durch die überfüllten Straßen. Obwohl viele Argentinier*innen in der Osterwoche traditionell verreisen, ist es eng an diesem Gründonnerstag, dem 24. März. Am 40. Jahrestag des Militärputsches erinnern in zahlreichen Städten Argentiniens hunderttausende Menschen an die Opfer der letzten Diktatur (1976-1983). Auf der größten Demo in Buenos Aires ziehen Menschenrechtsgruppen, Anhänger*innen der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und soziale Bewegungen von der Avenida 9 de Julio im Zentrum zur Plaza de Mayo, wo sich der Präsidentenpalast Casa Rosada befindet. Viele Teilnehmer*innen beteuern, dass es mehr seien als jemals zuvor an einem 24. März. Das hat allerdings nicht nur mit dem runden Jahrestag zu tun. „Schon seit der Schulzeit gehe ich jedes Jahr zu dieser Demonstration, aber heute hat es einen besonderen Beigeschmack“, sagt Laura Corti, die mit ihrem zwei Monate alten Sohn im Tragetuch gekommen ist. „Wir haben eine neue Regierung und den Besuch des US-Präsidenten, der mir in diesem Kontext ein wenig provokativ erscheint.“
Tatsächlich ist die Ablehnung gegen die Regierung unter Mauricio Macri an diesem 24. März überall spürbar. Kirchneristische Gruppen skandieren kämpferisch den Slogan „Vamos a volver“ („Wir werden zurückkommen“). Auf der Tribüne vor der Casa Rosada verlesen Vertreter*innen von Menschenrechtsgruppen einen gemeinsam verfassten Text, der kein gutes Haar an Macris Politik lässt. Bereits am Morgen hatte US-Präsident Barack Obama am Erinnerungsort Parque de la Memoria gemeinsam mit seinem argentinischen Amtskollegen den Opfern der Diktatur gedacht. Die USA hätten „lange gebraucht“, um die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien zu kritisieren, räumte er ein und sagte die Freigabe weiterer Militär- und Geheimdienstdokumente über die Diktatur zu. Am Vortag hatte Obama bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Macri erklärt, „dass die Anerkennung der Menschenrechte in den 70er Jahren ebenso wichtig war, wie der Kampf gegen den Kommunismus.“ An Selbstkritik mangele es aber nicht.
An Kritik allerdings noch weniger. Nach dem Willen der argentinischen Regierung hätte Obama die ehemalige Mechanikerschule der Marine (ESMA) besuchen sollen, auf deren Gelände sich nach dem Putsch eines der wichtigsten geheimen Haftzentren Argentiniens befand. Doch Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen wie die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo oder H.I.J.O.S, die Organisation der Kinder von Verschwundenen, setzten sich erfolgreich dagegen zu Wehr. Daran, dass der US-Präsident auf dem ESMA-Gelände unerwünscht ist, erinnern dort in diesen Tagen an fast jedem Baum und jeder Wand US-kritische Flugblätter. Auch zu dem Akt im Parque de la Memoria erscheint trotz offizieller Einladung keine der Organisationen, die sich mit der Aufarbeitung der Diktatur beschäftigen.
Am 24. März 2004 hatte der damalige Präsident Néstor Kirchner das ESMA-Gelände an die Stadt Buenos Aires übergeben, um einen Ort der Erinnerung und zur Förderung der Menschenrechte zu schaffen. Heute haben die wichtigsten Menschenrechts- und Erinnerungsorganisationen hier ihren Sitz und verwalten das 17 Hektar große Grundstück gemeinsam mit der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires. Bis zum letzten Jahr arbeiteten die Organisationen eng mit Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner zusammen, der Ehefrau des 2010 verstorbenen Nestór Kirchner. Doch seit Macris Amtsantritt im Dezember vergangenen Jahres ist die Stimmung angespannt. Abgesehen davon, dass einige Organisationen von Regierungsgeldern abhängig waren, die nun ausbleiben, befinden sich auf dem Gelände auch staatliche Institutionen, die mittlerweile mit Gefolgsleuten von Macri besetzt sind. Dazu zählt etwa das Büro des neuen Menschenrechtssekretärs, Claudio Avruj. „Dieses Ambiente wurde durch Präsident Kirchner geschaffen. Die Menschenrechtsgruppen glauben, dass ihnen dieser Ort gehört“, kritisierte er die Ablehnung Obamas in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País. „Auch wenn wir hier zusammen leben, fehlt ihnen das Verständnis dafür, dass dies ein Raum des argentinischen Staates ist.“ Die Menschenrechtsorganisationen sehen das freilich anders. „Es gibt hier eine grundlegende Konfrontation mit der Macri-Regierung“, sagt Martín Ortíz, der auf dem ESMA-Gelände arbeitet, seinen richtigen Namen zurzeit aber lieber nicht in der Zeitung lesen will. „Unter Kirchner hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass es während der Militärdiktatur einen Staatsterrorismus gegeben hat. Nun wird zunehmend wieder die „Theorie der zwei Dämonen“ bedient, wonach die Gesellschaft Opfer der beiden Extreme Militär und linker bewaffneter Gruppen gewesen sei.“ Seit der Amtsübernahme durch die neue Regierung würden wieder Meinungen geäußert, die in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs tabuisiert waren.
Zum Beispiel von Darío Lopérfido, Kulturminister der von Macris Partei PRO (Republikanischer Vorschlag) regierten Stadt Buenos Aires. Die Zahl von 30.000 Verschwundenen bezeichnete er als „Lüge, die am Verhandlungstisch entstanden sei“, um internationale Aufmerksamkeit und Gelder zu erhalten. „Sie testen gerade die Grenzen aus“, ist sich Ortíz sicher. Die Arbeit auf dem ESMA-Gelände wird derweil zusätzlich durch diffuse Drohungen erschwert. Seit Anfang vergangenen Jahres, also auch noch während der Kirchner-Regierung, gingen etwa 50 telefonische Bombendrohungen ein. Jedes Mal musste das komplette Areal geräumt werden. Wer dahinter steckt, ist unklar. Nach Macris Wahlsieg blieb es eine Zeit lang ruhig, doch mittlerweile seien wieder regelmäßig Drohungen eingegangen. Dass Obama weitere Dokumente zur Militärdiktatur freigibt, begrüßt Ortíz zwar, schließlich hätten die Menschenrechtsorganisationen dies seit langem gefordert. „Aber er hätte sich zumindest für die damalige US-Politik entschuldigen sollen“, fügt er hinzu.
Neben der historisch symbolischen Bedeutung seines Besuches, geht es Obama vor allem darum, der rechten argentinischen Regierung politisch und wirtschaftlich den Rücken zu stärken. Mit dem Wahlsieg der argentinischen Rechten kehrt ein bedeutendes lateinamerikanisches Land in die Einflusssphäre der USA zurück. Macri hofft seinerseits auf eine enorme Investitionswelle und inszeniert das neue Argentinien wie die Rückkehr eines verlorenen Sohnes. Der US-Präsident selbst sprach bei seinem Besuch offen aus, warum er an den Río de la Plata gereist ist: „Wir sind von der Arbeit der ersten 100 Tage beeindruckt.“
In gut drei Monaten Regierungszeit gelang es Macris unternehmernaher Regierung in rasanter Geschwindigkeit zahlreiche Eckpfeiler der Kirchner-Ära zu demontieren, die meisten davon per Dekret. Gleichzeitig pflegt er einen gänzlich anderen politischen Stil als die Kirchners, indem er sich etwa gegenüber Teilen der Opposition dialogbereit zeigt, Pressekonferenzen abhält und reguläre Kabinettssitzungen einberuft.
Kurz nach Amtsantritt vereinheitlichte die Regierung zunächst die unterschiedlichen Wechselkurse des US-Dollars und gab den Devisenhandel frei. Dadurch zieht die ohnehin schon hohe Inflation weiter an, Macri verspricht eine signifikante Senkung in der zweiten Jahreshälfte. Es folgten die Abschaffung beziehungsweise Senkung von Exportabgaben auf Agrar- und Bergbauprodukte. Durch gestrichene Subventionen stieg der Strompreis um bis zu mehrere hundert Prozent, bei Gas, Wasser und dem öffentlichen Nahverkehr sind bereits ähnliche Maßnahmen ankündigt. Einige der kommerziellen Beschränkungen, die das progressive Mediengesetz aus der Kirchner-Ära den großen Medienkonzernen auferlegt hatte, hob Macri wieder auf. Zudem ging in seiner bisherigen Amtszeit bisher eine sechsstellige Zahl von Arbeitsplätzen verloren. Dies betrifft teilweise die Privatwirtschaft, auch weil beispielsweise Bauprojekte aus der Kirchner-Regierung nun nicht umgesetzt werden. Vor allem aber hat die Regierung massenhaft Staatsangestellte mit der Begründung entlassen, sie hätten ihre Posten von der Vorgängerregierung nur aus Gefälligkeit bekommen. In einem Fernsehinterview am 20. März beteuerte Macri, seine Regierung ermögliche den Entlassenen ein neues Leben, denn diese „gingen acht Stunden lang zur Arbeit, ohne irgendetwas zu tun. Das ist erniedrigend.“
Wie schon als Bürgermeister von Buenos Aires setzt Macri außerdem auf ein repressives Vorgehen gegenüber sozialen Protesten. Ein neues Sicherheitsprotokoll sieht eine harte Linie gegenüber den als piquetes bekannten organisierten Straßensperrungen vor. Zwar wurde es bisher noch nicht angewendet, macht staatlicher Repression aber den Weg frei.
Trotz dieser Bilanz sitzt der Präsident erstaunlich fest im Sattel. Zwar gab es seitens der Gewerkschaften Proteste gegen die Entlassungen, doch scheinen die Regierungsgegner*innen mit dem Reformtempo derzeit kaum mithalten zu können. Im Parlament brachte Macri einen Teil der Opposition hinter sich, um den jahrelangen Schuldenstreit mit den so genannten Geierfonds beizulegen. Diese hatten nach der Staatspleite Argentiniens 2001 Schuldentitel zum Ramschpreis aufgekauft und pochen jetzt auf die Rückzahlung des vollen Nominalwertes samt Zinsen. Um die Fonds auszahlen und das dafür nötige Geld auf dem Kapitalmarkt als Neuschulden aufnehmen zu können, müssen zwei Gesetze geändert werden. Macri verfügt jedoch in keiner der Kammern über eine eigene Mehrheit. Sollte mit den Geierfonds keine Einigung erzielt werden, drohten „Sparzwang oder Hyperinflation“, sagte er im Vorfeld der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer. Dort stimmten Mitte März schließlich sowohl die Rechts-Peronist*innen um den Ex-Präsidentschaftskandidaten Sergio Massa, als auch die jüngste Abspaltung des Kirchnerismus, dem Bloque Justicialista um Diego Bossio, für eine Einigung mit den Geierfonds.
Selbst aus der kirchneristischen Frente para la Victoria (FPV) votierten sechs Abgeordnete für die Gesetzesänderungen. Im Senat, wo die FPV die absolute Mehrheit stellt, erreichte Macri Ende März mit 54 Stimmen gar eine Zweidrittelmehrheit, obwohl sein Bündnis Cambiemos (Lasst uns verändern) selbst hier nur über 15 Senator*innen verfügt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die im Senat vertretenen Provinzpolitiker*innen durch Argentiniens mögliche Rückkehr an die Kapitalmärkte neuen finanziellen Spielraum versprechen. Der durchschlagende Abstimmungserfolg bedeutet aber nicht, dass sich Macri nun auf stabile Mehrheiten verlassen könnte. Momentan sehen die meisten Akteur*innen innerhalb des breiten und teilweise diffusen peronistischen Spektrums ihren Gegner aber eher im Kirchnerismus als in Macri.
Für das ehemalige Regierungsbündnis FPV, das sich mehrheitlich der peronistischen Partei (PJ) zugehörig fühlt, steht eine Menge auf dem Spiel. „Entscheidend für die nächsten Jahre ist, wer jetzt die Oberhand gewinnt“, sagt Cristina Quiroga, Politikwissenschaftlerin und kirchneristische Aktivistin. Sollte sich bei den internen Wahlen der PJ am 8. Mai eine rechtsperonistische Führung durchsetzen, würden sich die progressiven Sektoren um die Jugendorganisation La Cámpora wahrscheinlich abspalten. „Das FPV-Bündnis droht dann auseinander zu brechen“, warnt Quiroga.
Argentiniens Linke betont derzeit vor allem die nötige Einheit. Doch daran, wie diese geschaffen werden soll, scheiden sich die Geister. „Optimistisch gesehen scheint es auf der Hand zu liegen, dass angesichts einer Strukturanpassung unter einer rechten Regierung Allianzen von unten geschaffen werden“, sagt die Soziologin und Bewegungsforscherin Maristella Svampa. Grundlegend für diese Allianz zwischen Kichnerismus und unabhängiger Linker sei aber eine Selbstkritik von ersterem und eine Praxis, die nicht auf eine Unterordnung der anderen Organisationen hinauslaufe.
Auch die Basisorganisation Frente Popular Darío Santillán (FPDS) fordert eine Selbstkritik der sozialen Bewegungen, die sich dem Kirchnerismus angeschlossen haben. „Die Grundlage für den Rechtsruck ist auch in den letzten zwölf Jahren gelegt worden, da die Kirchners das Wirtschaftsmodell nicht grundlegend verändert haben“, betont Florencia Puente, Aktivistin der FPDS. Gleichzeitig sei sie aber froh darüber, dass es neue Möglichkeiten gebe, um mit eben diesen Aktivist*innen wieder in Dialog zu treten. „Nur gemeinsam mit allen, die von der Politik Macris betroffenen sind, können wir einen breiten Widerstand aufbauen“. Nach Ansicht der FPDS und einiger anderer Bewegungen soll dieser Widerstand vor allem von einem alternativen Konsens in der Zivilgesellschaft ausgehen, der mittelfristig auch Grundlage für ein neues (Wahl-) Bündnis außerhalb des Peronismus sein sollte.
So viel Geduld haben andere nicht, auch wenn sie ebenfalls davon überzeugt sind, dass eine Alternative innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen muss. „Nur basierend auf der Hegemonie des Kirchnerismus und der dadurch ermöglichten Selbstermächtigung von Teilen der Bevölkerung können wir eine starke Opposition aufbauen“, erklärt Facundo Taboada. Er ist Aktivist beim neu gegründeten Bündnis Proyecto Popular, dem Zusammenschluss einer kirchneristischen und einer unabhängigen Basisorganisation. Die politische Kehrtwende, die die aktuelle Regierung sowohl innen- als auch außenpolitisch bedeute, sei zu drastisch und erfordere eine unmittelbare strategische Einheit, die auf eine Regierungsübernahme ausgerichtet sein müsse. „Trotz aller Kritik ist die Frente para la Victoria momentan die einzige realistische Möglichkeit, die Regierung der neuen Rechten zu beenden“, so Taboada.
Die unterschiedlichen Strategien in der Linken schlugen sich auch am 24. März nieder. Während sich die Aktivist*innen von Proyecto Popular an der kirchnernahen Großdemonstration beteiligten, zogen die Aktivist*innen der FPDS mit anderen unabhängigen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien am späten Nachmittag vom Kongressgebäude zur Plaza de Mayo. Trotz einer ähnlichen Analyse und der allgemeinen Ablehnung der Macri-Regierung gelang es auch dieses Jahr nicht, eine zentrale Demonstration zu organisieren. Dass beide Demos letztlich zu einer verschmolzen, war nicht der politischen Strategie, sondern der massiven Teilnahme geschuldet.

MORD MIT ANKÜNDIGUNG

„Wir werden angegriffen, sowohl vom juristischen Auftragsmord, der uns mit ungerechten Prozessen verfolgt, als auch von den Killern der Oligarchie und der Multinationalen. Es gibt viele politische Gefangene und viele Ermittlungsverfahren. Doch im Gefängnis zu enden, ist das kleinere Übel. Erst vor Kurzem haben sie das Auto sabotiert, in dem wir gereist sind, sie haben meine Familie bedroht. In Honduras existiert kein Rechtsstaat, jeden Tag setzen wir unser Leben aufs Spiel,“ sagte Berta Cáceres, Koordinatorin des indigenen Rates COPINH (Ziviler Rat der Völker und Indigenen von Honduras) in einem der letzten Interviews vor ihrem Tod mit der italienischen Tageszeitung Il Manifesto. Seit dem Putsch 2009, gegen den sie vehement aktiv war, erhielt Berta Cáceres massive Morddrohungen, seit November 2015 wurde sie mehrfach direkt bedroht. Vielen multinationalen Firmen war sie ein Dorn im Auge, weil sie Proteste gegen industrielle Großprojekte organisierte. Amnesty International erklärte auf einer Pressekonferenz in Tegucigalpa Anfang März, dass in Honduras 111 Menschrechts­­­aktivst*innen zwischen 2012 und 2014 ermordet wurden. Berta Cáceres traf es in der Nacht vom 2. auf den 3. März, Unbekannte erschossen sie in ihrem Haus. Keine zwei Wochen später fiel mit Nelson García ein weiteres Mitglied von COPINH einem Mord zum Opfer.
In den Wochen vor Berta Cáceres‘ Tod verschärfte sich die Repression gegen Proteste und Versammlungen von COPINH durch private Sicherheitskräfte des Hydroelektrikunternehmens Desarrollos Energéticos S.A. de C.V. (DESA) und der Polizei. Ein schwerwiegender Zwischenfall ereignete sich am 20. Februar 2016. Rund 100 Gegner*innen des von DESA durchgeführten Staudammprojekts Agua Zarca demonstrierten friedlich in San Francisco de Ojuera. Sie wurden von den privaten Sicherheitskräften von DESA und Angestellten des Bürgermeisters bedroht, festgehalten und schikaniert. Polizei und Militär, die vor Ort waren, griffen nicht ein, auch dann nicht, als Fahrzeuge und Busse durch DESA-Mitarbeiter zerstört wurden. Als die Mitglieder des Protestes aufgrund der zerstörten Fahrzeuge zu Fuß einen fünfstündigen, nächtlichen Marsch antreten mussten, um nach La Esperanza zurückzukehren, zog sich die Polizei zurück. Vermutlich verhinderte nur die sofortige Eilaktion internationaler Menschenrechts­beobachter*innen ein Massaker.
Die Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) gewährte Berta Cáceres aufgrund der anhaltenden Bedrohung bereits 2009 vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen. Den honduranischen Staat forderte die CIDH wiederholt auf, diese umzusetzen und für den Schutz der renommierten Menschenrechts- und Umweltaktivistin zu sorgen, zuletzt am 21. Oktober 2015. Tomás Gómez, Interimsnachfolger von Berta Cáceres, berichtete im März der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation National Lawyers Guild, wie die honduranischen Polizei vorging: „Die Maßnahmen waren unzureichend, unangenehm und zudringlich. Wenn Schutz durch die Polizei beantragt wurde, forderte diese aufwändige Vorankündigungen. Zusätzlich sollte die Organisation der Polizei Unterkunft, Transport und Verpflegung während der Dauer des Einsatzes stellen.“ Aktuell berichten die Kinder von Berta Cáceres, dass Bewaffnete sie verfolgen. Für ihren Schutz sind dieselben Polizeibeamt‘innen zuständig, die bereits die Sicherheit ihrer Mutter garantieren sollten.
Die Untersuchung des Mordes an Berta Cáceres durch die Polizei hat bisher keine Ergebnisse­ geliefert. Der anerkannte honduranische Forensiker Dennis Castro Bobadilla kritisierte Ende März, dass drei Wochen nach ihrem Tod kein forensisches Gutachten vorliege, der Tatort von Polizeibeamt*innen ohne angemessene Schutzkleidung kontaminiert wurde, sowie wichtige Beweise, wie die eingeschlagene Eingangstür des Hauses, nicht beschlagnahmt wurden. Die Polizei konzentrierte sich bei der Suche nach Verdächtigen darauf, Mitglieder von COPINH zu verhören und nach Beweisen für einen Mord aus „persönlichen Motiven“ zu suchen. Aureliano Molina, Mitglied von COPINH wurde von der Polizei verhaftet und 48 Stunden festgehalten, obwohl mehrere Augenzeug*innen bestätigten, dass er sich zum Tatzeitpunkt in einem entfernten Ort aufgehalten hatte. Erst am 13. März, zehn Tage nach dem Mord, wurde laut Staatsanwaltschaft der Firmensitz der DESA durchsucht. Dabei wurden Waffen und Dokumente beschlagnahmt und Zeugen vernommen. Der die Ermittlungen leitende Staatsanwalt, José Duarte Portillo, arbeitete früher in einer Kanzlei, welche die DESA juristisch berät.
Der einzige Zeuge des Mordes an Berta Cáceres, Gustavo Castro Soto, ein bekannter mexikanischer Umweltschützer, der in derselben Nacht auch in dem Haus schlief, wurde ebenfalls von der Polizei in Gewahrsam genommen und tagelang verhört. Er wurde an der Ausreise gehindert und 24 Tage lang in Honduras festgehalten. Seine Rechtsanwältin, Ivania Galeano, wurde von der zuständigen Richterin in La Esperanza 15 Tage von der Ausübung ihres Mandats suspendiert. Laut Oscar Castro, Bruder des Zeugen, war dieser während mehrstündiger Verhöre enormem Druck durch die Polizei ausgesetzt, Schlaf wurde ihm entzogen und er wurde psychologisch gefoltert. Die sofortige medizinische Versorgung – auch Castro wurde während des Mordanschlags verletzt – wurde ihm verweigert. Amnesty International initiierte eine Eilaktion für Gustavo Castro Soto, woraufhin die honduranische Regierung 100.000 Briefe erhielt, die seine Freilassung forderten. Mit seiner Ausreise am 1. April ist der offensichtliche Versuch der Justiz, ihn als Täter zu präsentieren, gescheitert.
Im Fall des Mordes an Nelson García hat die Polizei mittlerweile einen Tatverdächtigen präsentiert, der am 31. März einem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde. Tomás Garcia von COPINH äußerte aber öffentlich Zweifel an dessen Tatbeteiligung.
Inzwischen fordern neben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission auch Amnesty International, Unterorganisationen der UN, Mitglieder des US-amerikanischen Kongresses und des EU-Parlaments, der Vatikan sowie fast 100 Träger des renommierten Goldman-Umweltpreises eine unabhängige Untersuchung des Todes von Berta Cáceres, das Ende des Agua-Zarca-Projekts und einen wirksamen Schutz von Menschrechtsverteidiger*innen in Honduras. 62 Mitglieder des US-amerikanischen Kongresses forderten die sofortige Einstellung der Militärhilfe an Honduras sowie aller weiteren Finanzierungen, bis sich die Menschenrechtslage in dem Land verbessert.
Dennoch kommt die honduranische Regierung bisher den Forderungen nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung des Mordes an Berta Cáceres unter der Leitung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission nicht nach. Es steht daher zu befürchten, dass sich die nahezu hundertprozentige Straflosigkeit bei Mordfällen in Honduras auch im Fall von Berta Cáceres und Nelson García fortsetzen wird.

UNERMÜDLICHE KÄMPFERIN

Denken wir an Berta Cáceres, dann sehen wir sie als erstes auf einem Pickup mit einem Megafon, inmitten einer Demonstration, wie sie kämpferisch ruft: „La tierra no se vende, la tierra se defende!“ – Das Land verkauft man nicht, das Land verteidigt man! Sie war nicht nur die unbestrittene Führungspersönlichkeit der indigenen Organisation COPINH (Ziviler Rat der Völker und Indigenen von Honduras), sondern auch eine unermüdliche, kompetente und motivierende Kämpferin vieler sozialer Bewegungen in Honduras. Nach dem Putsch von 2009 musste sie zeitweise im Untergrund leben, weil die Morddrohungen gegen sie immer zahlreicher wurden. Als Mitbegründerin von COPINH wählten sie die mehr als 200 indigenen Lenca-Gemeinden zur Generalkoordinatorin. In dieser Rolle förderte sie Basisdemokratie und Partizipation. Junge Frauen und Männer trugen im Leitungsteam von COPINH gemeinsam mit den Älteren die Verantwortung für den politischen Widerstand gegen die zerstörerischen Umweltprojekte der honduranischen Regierung.
„Wann auch immer Berta in die Gemeinden kam, wurden spontane Versammlungen einberufen“, berichten Paola Reyes und Domingo Marin, internationale Menschenrechtsbeobachter*innen, die COPINH 2013 und 2014 begleiteten. „Sie war eine mitreißende Rednerin, die komplexe Inhalte in einfachen, aber klaren Worten erklären konnte. Ganz gleich, ob sie über den Artikel 169 der Internationalen Arbeitsorganisation oder den Zusammenhang zwischen Minenkonzessionen und Privatisierung der Flüsse sprach. Dabei hat sie es verstanden, den Lenca zu vermitteln, dass sie stolz auf ihre Identität sein können, auf ihre Weltsicht und Lebensweise, ihren Widerstand gegen Rassismus und gegen die Ausbeutung der Natur.“
Berta Cáceres selbst schöpfte Kraft aus ihrer tiefen Verwurzelung in der Kultur der Lenca und ihrer spirituellen Verbindung zu Land und Natur. Zuletzt kämpfte sie gegen die Errichtung des Wasserkraftwerkes Agua Zarca am Fluss Gualcarque, ein Kampf gegen die Oligarchie ihres Landes, gegen transnationale Unternehmen und internationale Banken. Dieser Fluss ist für die Lenca heilig: „Nach unserer Kosmovision wird er von femininen Geistern bewohnt, sie verkörpern die Spiritualität, sie schenken und bewahren Leben“, betonte Berta Cáceres, als sie 2015 den renommierten Goldman Umweltpreis entgegennahm.
Geprägt wurde sie in ihrer Kindheit und Jugend von der Arbeit ihrer Mutter Austra Bertha Flores, Hebamme und zeitweise Bürgermeisterin in La Esperanza. Das repressive politische Klima im Honduras der 1980er Jahre und die Situation der vor dem Krieg in El Salvador Geflüchteten beeinflussten sie. Als junge Erwachsene wurde sie zur Aktivistin gegen eine US-amerikanische Militärbasis. Sie engagierte sich in den sozialen Kämpfen in Honduras und in anderen Ländern, mit den Mapuche gegen Staudämme oder beim Kampf um Autonomie in Kurdistan. Nicht zuletzt durch diese internationale Ausrichtung inspirierte sie Menschen auf der ganzen Welt.
Berta Cáceres hinterlässt vier Kinder. Tausende begleiteten ihren Sarg in Tegucigalpa und trugen sie in La Esperanza zu Grabe. Der Welt hinterlässt sie die Mahnung, die Zerstörung der Umwelt aus Profitgier zu beenden: „Lasst uns erwachen, Menschheit, wir haben keine Zeit mehr!“

TOTE FÜR TURBINEN

Nach den Morden an Berta Cáceres und Nelson Garcia sowie weltweiten Protesten gegen die Gewalt in Honduras (siehe LN-Artikel auf Seite 36), sahen die europäischen Finanziers endlich Handlungsbedarf. Die Entwicklungsbanken FMO aus den Niederlanden und FinnFund aus Finnland, die das umstrittene Agua-Zarca-Staudammprojekt mitfinanzieren, gaben am 16. März bekannt, dass sie sämtliche Geschäfte in Honduras stoppen und alle laufenden Zahlungen suspendieren würden. Die Zentralamerikanische Bank für Wirtschaftliche Integration (CABEI), die das Agua-Zarca-Projekt mitfinanziert, schloss sich dieser Entscheidung der beiden europäischen Finanzinstute am 1. April an. Die Verantwortlichen der drei Entwicklungsbanken kündigten an, sich gemeinsam vor Ort ein Bild von der Lage zu machen, bevor sie über die weitere Finanzierung entscheiden.
Das deutsche Konsortium Voith Hydro distanzierte sich vorerst nur von der Gewalt in Honduras, hat aber weitere Untersuchungen angekündigt. Die brasilianische Niederlassung der Firma will drei Turbinen mit jeweils 7,52 MW Leistung, Generatoren und die Steuerungsanlagen an das geplante Wasserkraftwerk liefern. Voith Hydro gehört zu 65 Prozent dem Familienunternehmen Voith GmbH und zu 35 Prozent der Siemens AG.
In Pressemitteilungen erklärten Vertreter*innen der drei Banken und von Voith und Siemens, dass sie sich nicht in der Verantwortung für die Gewalt in Honduras sehen. Dass die europäischen Finanzinstitutionen und Unternehmen jegliche Mitverantwortung für den Mord an Berta Cáceres bestreiten, ist bestenfalls naiv. Schließlich gab es schon lange Morddrohungen. Dass die Menschenrechts- und Umweltaktivistin wegen ihres Kampfes gegen das Staudammprojekt Agua Zarca umgebracht wurde, wird kaum bezweifelt, auch wenn das Verbrechen noch nicht aufgeklärt ist. Als Koordinatorin von COPINH war sie eine der exponiertesten Aktivist*innen in der Protestbewegung gegen das geplante Wasserkraftwerk. Sie und andere Mitglieder von COPINH erhielten Morddrohungen, in denen sie aufgefordert wurden, die Proteste gegen Agua Zarca einzustellen.
Das Staudammprojekt Agua Zarca am Fluss Gualcarque in Honduras soll auf dem historischen Territorium der indigenen Lenca in der Region Rio Blanco (Departements Intibucá und Santa Barbara) realisiert werden. Wenn das Wasserkraftwerk gebaut würde, wären die Lenca ihrer Lebensgrundlage beraubt und massive Umweltschäden zu erwarten. Die dort lebende Bevölkerung wurde niemals nach ihrer Zustimmung zu dem Projekt gefragt, wie es die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verlangt, die 1995 von Honduras ratifiziert wurde. Im Gegenteil: Seit das Projekt 2011 bekannt wurde gab es friedliche Proteste der Lenca gegen das Staudammprojekt, die immer wieder zum Ziel gewalttätiger Repressionen durch staatliche Institutionen und private Sicherheitsfirmen wurden. Nachweisbar wurden Unterschriften von Staudammgegner*innen gefälscht, um deren angebliche Zustimmung zum Projekt zu belegen.
Derartige kriminelle Machenschaften gehen direkt oder indirekt auf die honduranische Firma Desarrollo Energético S.A. de C.V. (DESA) zurück, die das Staudammprojekt realisieren will. Agua Zarca ist ein Modell für 47 weitere Projekte: Wird das Wasserkraftwerk realisiert, könnten noch zahlreiche andere Flussläufe in Honduras verbaut werden. Diese Staudammprojekte sind ein Teil wesentlich weitreichender Pläne zur Umgestaltung weiter Landstriche in Honduras, in denen die indigenen Lenca und Garifuna kollektive Landrechte besitzen. Die Staudämme sollen Infrastruktur und Energie für Bergbauunternehmen und große Hotelanlagen bereitstellen. Die einkommensschwache Landbevölkerung würde durch solche Entwicklungspläne weiter an den Rand gedrängt und von ihrem Land vertrieben werden.
Die Betreibergesellschaft DESA gehört zum Netzwerk des Atala-Klans, einer der zehn Familien, die praktisch alle Unternehmen und Medien in Honduras kontrollieren. Jose Eduardo Atala Zeblah hat das Grundkapital für das Unternehmen beigesteuert und sitzt zusammen mit zwei seiner Brüder im Aufsichtsrat. Das Energieunternehmen ist dafür bekannt Sicherheitskräfte einzusetzen, die brutal gegen Staudammgegner*innen vorgehen. Über ihre Netzwerke besitzt die Firma gute Verbindungen in die Politik und die Justiz. Anzeigen, die die COPINH gegen die DESA oder das Staudammprojekt eingereicht hatte, verschleppte die Justiz. Polizei und Armee schauten bei der Repression durch das Sicherheitspersonal systematisch weg oder beteiligten sich sogar daran. Praktisch genießt die DESA Straffreiheit in Honduras.
Europäische Unternehmen und Finanzinstitutionen sind letztlich Komplizen dieser verbrecherischen Praktiken der DESA, wenn sie mit dem Unternehmen Geschäfte machen. Da die europäischen Partner von dem Staudammprojekt profitieren, tragen sie eine Mitverantwortung für Menschenrechtsverstöße und Umweltverbrechen, die im Kontext des Projekts begangen werden. Dass die Unternehmen sich nun von der Gewalt in Honduras distanzieren und erste Untersuchungen ankündigen, wirkt verlogen. Schließlich werden die Unternehmen bereits seit Jahren auf die Repression im Kontext des Agua-Zarca-Projektes hingewiesen.
Seit 2013 machen Nichtregierungsorganisationen die Verantwortlichen von Voith Hydro auf die Verbrechen aufmerksam, die im Kontext von Agua Zarca begangen werden. Auf den Hauptversammlungen der Siemens AG wurde der Vorstand immer wieder vom Dachverband der Kritischen Aktionär*innen über die Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung im Zuge des Agua-Zarca-Projektes informiert. Den Verantwortlichen beider Firmen wurde 2015 ein entsprechendes Dossier vorgelegt.
Zuletzt am 26. Januar diesen Jahres, also wenige Tage vor dem Mord an Berta Cáceres, wies Andrea Lammers vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit in einer Rede auf der Hauptversammlung von Siemens auf die Bedrohung der Aktivist*innen hin, die gegen Agua Zarca demonstrieren. In der Rede hieß es: „Siemens weiß, dass seit Oktober 2015 eine Todesliste lokaler Auftragskiller gegen mehr als 20 Staudammgegner und -gegnerinnen im Umlauf ist.“ Doch Siemens und Voith ignorierten bislang diese Hinweise. Offenbar waren ihnen die Gewinne aus dem Turbinenverkauf wichtiger.
Ein Bündnis internationaler Nichtregierungsorganisationen forderte deshalb am 18. März erneut in einem offenen Brief an die Vorstände der Voith GmbH und der Siemens AG, dass Voith Hydro keine Turbinen an das geplante Wasserkraftwerk liefern soll. In der Antwort vom 29. März auf den offenen Brief erklärte der Vorstandschef von Voith Hydro, Uwe Wenhard, dass das Unternehmen die Morde an Cáceres und García verurteile und sein Engagement bei Agua Zarcas „auf den Prüfstand stelle“. Das Unternehmen stehe dabei unter anderem in Kontakt mit der Betreibergesellschaft DESA. Das bedeutet, dass Voith Hydro seine Entscheidung für oder gegen eine weitere Beteiligung an Agua Zarca von Informationen abhängig macht, die von denen geliefert werden, die an der Repression gegen COPINH maßgeblich beteiligt sind.
Ähnlich ist die Lage bei den Entwicklungsbanken FMO und FinnFund. Auch hier haben internationale NRO gemeinsam mit Vertreter*innen von COPINH die Geschäftsführungen der Banken immer wieder auf die Folgen von Agua Zarca hingewiesen. Da die Entwicklungsbanken der DESA direkt Kredite zum Bau von Agua Zarca gaben, sahen sie offenbar schneller die Notwendigkeit zu handeln und stoppten vorläufig alle Zahlungen in das Land. Nun sollen alle Projekte der Banken in Honduras erneut untersucht werden.
Auch wenn dieser Schritt zunächst zu begrüßen ist, bedeutet das nicht das Ende von Agua Zarca. Johan Frijns von der niederländischen NRO Banktrack befürchtet, dass die Entwicklungsbank FMO die angekündigte Untersuchung aller Kredite in Honduras dazu nutzen will, die momentane mediale Aufmerksamkeit für Agua Zarca abzulenken. Wenn sich dann die Welt nicht mehr für Berta Cáceres und COPINH interessiert, könnte die Bank das Vorhaben einfach weiter finanzieren. Ohne weiteren öffentlichen und internationalen Druck wird der Bau von Agua Zarca wohl weiterlaufen.

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