Interview mit AEU-VertreterInnen

Präsident Serrano Elias: Rechter Demagoge

Frage: Der neue Präsident Serrano Elias ist in Guatemala einerseits als Mitglied der Nationalen Versöhnungskommission (CNR) bekannt und war damit maßgeblich am Dialogprozeß mit der Guerilla beteiligt, andererseits war er an der extrem repressiven Militärregierung von Rios Montt beteiligt. Wie schätzt ihr sein Verhältnis zu den Militärs ein?
Otto: Serrano Elias nahm an der CNR als Vertreter der Oppositionsparteien teil und war einer derjenigen, die im März 1990 die Abkommen von Oslo unterschrieben. Seine Geschichte zeigt jedoch sehr enge Verbindungen mit den Militärs, die am meisten in das guatemaltekische Aufstandsbekämpfungsprojekt verwickelt sind. So war er Staatsratspräsident unter Rios Montt und Unterstützer und Berater des Fuero Especial, des geheimen Sondergerichtes gegen Oppositionelle. Auch war er einer derjenigen Sektenführer, die die Religion als eine Methode der Aufstandsbekämpfung etablierten. Mit dieser Vorgeschichte trat Serrano Elias die Präsidentschaftskampagne an. Er äußerte sich zwar zunächst sehr kritisch gegenüber Cerezos Regierung und griff in Debatten teilweise scharf die Verdeckung von Korruption und Menschenrechtsverletzungen an; aber jetzt sieht man, daß das pure Demagogie war, um einen bestimmten Wählerkreis anzusprechen. Der verbrecherischste Teil der Militärs sitzt jetzt in der Regierungsmannschaft von Serrano Elias. Das zeigt zur Genüge, daß auch Serrano Elias das militärische Aufstandsbekämpfungsprojekt, die Politik der Zerschlagung der Volksbewegungen, fortführen wird.

Frage: Wird Serrano Elias den letztes Jahr begonnenen nationalen Dialog jetzt als Präsident weiter fördern?

Otto: Der Dialogprozeß könnte jetzt zum Stillstand kommen, wenn wir, die beteiligten Organisationen, ihn nicht weitertreiben, da jetzt neue Strategien wie etwa der Sozialpakt eingeführt werden, die die Aufmerksamkeit von dem ablenken könnten, was mit dem Dialogprozeß schon er¬reicht wurde. Jetzt, wo Serrano die Präsidentschaft angetreten hat, erklärte er bisher nur, daß die Regierung mit der Guerilla (URNG) in Dia¬log treten wird. Dies aber nur bis Juni, und das be¬deutet einen langen Zeit¬raum, der dem Heer als Spielraum zugestanden wird. Denn die Militärs wol¬len nicht, wie im nationalen Dialog vorgesehen, direkt, sondern nur über die Regierung am Dialogprozeß teilnehmen. Sie wissen, daß der Dialogpro¬zeß und die darin erreichten Beschlüsse uns Volksbewegungen dazu dienen können, politischen Spielraum zu gewinnen und die Regierung und die Armee unter Druck zu setzen.

Frage: Könntet ihr erklären, um was es sich bei dem Sozialpakt handelt und wie die Volksbewegungen darauf reagieren wollen?

Carmen: Uns scheint, daß die neue Strategie des “Sozialpaktes” eine Fortset¬zung der Strategie der “Concertacion”, der “Versöhnung” unter Vinicio Cerezo ist, die 1986 eröffnet wurde, um unter der Zivilregierung durch interne Vermittlungsbemühungen langfristig eine politische und ökonomische Stabilisierung zu erreichen. Auf diese Weise soll dem Ziel der Auflösung der Guerillabewegungen nähergekommen werden. Die Politik der Concertacion wurde jedoch von der nationalen Bourgeoisie und den Militärs blockiert und ein solches Projekt verunmöglicht. Heute nennt sich die neue Strategie “Sozialpakt”. Zunächst soll es eine Annäherung zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft sein, ohne daß jedoch Fragen wie z. B. Lohnerhöhungen oder Höchstpreise für Grundbedarfsprodukte überhaupt angesprochen werden sollen, weil die Unternehmerschaft und die Regierung dazu nicht bereit sind. Deswegen sollen in diesem Sozialpakt wohl vor allem einige allgemeine soziale Fragen, wie z. B. Gesundheitsversorgung oder staatliche Sozialleistungen besprochen werden. Das erscheint zwar positiv, aber die Art und Weise, wie sie es entwickeln und der politische Hintergrund dabei ist eine Strategie der Vereinnahmung der Volksbewegungen. Für den Sozialpakt ist der populistische Sozialdemokrat Mario Solórzano als Arbeitsminister eingesetzt worden, der unserer Einschätzung nach für Strategien wie die von Unternehmern unterstützte, gegen die Gewerkschaften gerichtete Solidarismobewegung eintreten wird.
Uns erscheint der Sozialpakt als unsinnige Parallelstruktur und Ablenkungsmanöver von dem tiefergehenden Dialogprozeß, innerhalb dessen bereits strukturelle gesellschaftliche Veränderungen angesprochen wurden. Verschiedene Volksorganisationen haben bereits erklärt, daß sie dieses Spiel nicht mitspielen werden. Es scheint, daß das Ziel des Sozialpaktes es ist, einerseits Arbeitsgruppen für Verhandlungen aufzubauen, um öffentliche Demonstrationen, den Kampf und Protest auf der Straße, zu verhindern und andererseits die eigentlichen Konfliktparteien, nämlich die Armee und die Guerilla aus der öffentlichen Auseinandersetzung herauszuhalten.
Wir Volksorganisationen haben deswegen folgendes vor: Wir werden den Sozialpakt zwar nicht ablehnen, aber nur in Verbindung mit dem nationalen Dialog zulassen, für dessen Fortsetzung als viel weitergehender politischer Diskussionsprozeß wir Druck ausüben wollen.

Frage: Wie sieht denn überhaupt die wirtschaftspolitische Orientierung der neuen Regierung aus?

Carmen: Serrano Elias wird mit der neoliberalen Strukturanpassungspolitik fortfahren müssen, die der IWF und die Weltbank für verschuldete Länder der Dritten Welt vorschreiben. Der Schuldendienst und der Etat des Verteidigungsministeriums für den internen Krieg werden weiterhin einen Großteil des Staatshaushaltes verschlingen.
Bis jetzt kann die Wirtschaftspolitik Serrano Elias’ allerdings noch nicht in allen Einzelheiten analysiert werden. Erst nach dem 2. Wahlgang ist seine Wirtschaftstruppe mit der ihn unterstützenden Allianz der Rechten, insbesondere dem CACIF (Unternehmerverband des Agrar-, Finanz- und Industriesektors) ausgehandelt worden. Der CACIF hat damit direkt die wirtschaftspolitischen Schlüsselministerien übernommen. Der CACIF hat bereits letztes Jahr einen Wirtschaftsplan ausgearbeitet, der unter dem Namen der Unternehmergruppe Piramide bekannt wurde. Der neoliberale Plan Piramide des CACIF sollte zunächst den Präsidentschaftskandidaten Jorge Carpio der UCN unterstützen, dem ca. 9 Millionen Quetzales angeboten wurden, falls er dem CACIF das Wirtschafts- und Finanzministerium überließe, wurde von diesem aber abgelehnt. Jetzt soll er unter Serrrano Elias verwirklicht werden.

Neuanfang studentischer Organisierung und der Aufbau von Frau¬engruppen

Frage: Wie habt ihr nach dem Massaker 1989 die Arbeit der AEU wieder aufgebaut und welche organisatorischen Veränderungen haben sich danach ergeben?

Otto: Die studentische Bewegung wurde mit verschiedenen Aktivitäten reorganisiert. Als erstes wurden 5 progressive studentische Gruppen zur Unidad Estudiantil zusammengeführt, die zusammen mit Resten der alten AEU die Arbeit aufrechterhielten. Innerhalb dieses Reorganisierungsprozesses wurden die Statuten und die Organisationsstruktur der AEU verändert und die AEU für neue Compañeros geöffnet. Im September 1990 gewann die Unidad Estudiantil die AEU-Wahlen und kann so seitdem die Arbeit innerhalb der Leitung der AEU weiterführen. Wir befinden uns heute in einem Prozeß der organisatorischen Umstrukturierung, der vor allem darauf abzielt, eine stärkere Partizipation und eine Verbreiterung der studentischen Basis der AEU zu erreichen. Dafür bieten wir vorzugsweise wissenschaftliche Arbeitsgruppen innerhalb von studentischen Forschungszentren, aber auch kulturelle und sportliche Aktivitäten an. Das Zentrum “Juventud Universitaria para la Paz” möchte z. B. im Rahmen des Studiums über den Friedensprozeß in Zentralamerika aufklären, das Centro de Promocion Estudiantil möchte die Aktivitäten und Forschung von StudentInnen im Bereich Umweltschutz, Menschenrechte, die Situation von Frauen, Educación Popular u.a. unterstützen. Wir wollen die Beteiligung an der StudentInnenbewegung über wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Themen fördern, weil nämlich die rein politische Beteiligung z. B. auf Demonstrationen und der traditionelle politische Diskurs wegen der großen Angst vor der Repression oftmals nicht angemessen ist, um die StudentInnen einzubeziehen. Im Rahmen dieser neuen Or¬ganisationsformen sind wir auch dabei, eine Volksklinik aufzubauen und haben eine Gruppe von MedizinstudentInnen, die bereit sind, dort zu arbeiten. Es gibt viele StudentInnen, die wir über solche Aktivitäten jetzt neu kennengelernt haben, und die dieselben Themen beschäftigen wie uns von der AEU, die diese Themen aber gern im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit behandeln möchten, die also gleichzeitig die Realität unseres Landes in ihrem Studium besser kennenlernen und an einem politischen Projekt studentischer Organisierung teil¬nehmen möchten.
Carmen: Ich möchte hinzufügen, daß diese neuen alternativen Formen der studentischen Partizipation nicht nur eine Strategie sind, um Fliegen auf eine andere Art und Weise für die politische Arbeit der AEU anzulocken, sondern daß sie aus dem Gefühl heraus entstanden sind, daß es der guatemaltekischen Jugend versagt ist, sich persönlich zu entwickeln. Guatemala ist eine kulturell sehr beschränkte und sehr repressive Gesellschaft, die über das individuelle Überleben hinaus keine menschliche Entwicklung zuläßt. Deswegen sollen die Leute eine Möglichkeit finden, sich der Realität dieses Landes nach ihren eigenen spezifischen Interessen anzunähern und ihre Fähigkeiten für den Aufbau einer demokratischeren Gesellschaft so zu entwickeln, daß sie sich damit identifizieren können. Wir wollen sie nicht ausnutzen, um sie auf eine subtilere Art und Weise für unsere Zwecke einzufangen. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe von ÖkologInnen, denen wir nie gesagt haben, sie sollten den Sitz der AEU mit Grünzeug schmücken, sondern die von uns unterstützt werden, ihre eigenen Projekte zu entwickeln, und die nicht unter dem Namen der AEU auftreten müssen, wenn sie nicht wollen. Es geht um eine breite Bewegung, die auch z. B. im Bereich von Kunst und Kultur die grundlegenden Probleme unseres Landes erkennt und zusammen mit den Volksorganisationen für demokratische Veränderungen kämpfen möchte. Jede/r StudentIn soll den Bereich finden, mit dem sie/er sich identifiziert und wo er/sie gerne mitmachen möchte.

Frage: Wie funktioniert das bei den neuen Frauengruppen, von denen du erzählt hast?

Carmen: Die Entwicklung der Frauengruppen ist eine ganz besonders wichtige Angelegenheit. Wenn mensch sich die Situation von Frauen in Guatemala und überhaupt in Latenamerika anschaut, wird klar, daß hier ein Schema der Unterdrückung und Ausbeutung reproduziert wird, das seit der Kolonisierung besteht, und außerdem von Frauen durch eine patriarchale Kultur und Sozialisation internalisiert wird, indem sie sich selbst als Sexualobjekt betrachten und sich minderwertig fühlen. Diese Kultur des Machismo setzt sich auch innerhalb der AEU fort; so bin ich in der Leitung der AEU die einzige Frau. In den anderen studentischen Organisationen sind noch einige mehr, aber auch nicht viele. Uns Studentinnen geht es aber nicht nur darum, einfach mehr Frauen an der AEU zu beteiligen, sondern wir wollen eine neue Perspektive zugunsten der Emanzipation von Frauen in die AEU hineintragen. Wir stoßen dabei jedoch auf viele Hindernisse nicht nur von Seiten der Männer, sondern auch vieler Frauen.
Wir haben zwei Frauengruppen, eine bei den Wirtschaftswissenschaften und eine bei den Agrarwissenschaften. Die Gruppe der Wirtschaftswissenschaftlerinnen entstand auf die denkbar antifeministischste Art und Weise, nämlich aus einem Schönheitswettbewerb heraus! Die studentische Vertretung hat nämlich nicht erlaubt, an eine Frauengruppe überhaupt nur zu denken. Sie sagten, daß eine Frauengruppe zur Spaltung der StudentInnenbewegung beitragen würde, einen Irrweg, ja eine Degeneration darstelle und den reaktionären Kräften an der Uni Vorschub leisten würde! So übernahmen ich und eine andere Frau die Leitung des Schönheitswettbewerbes, denn das fanden sie gut; ja sie hatten sogar vor, hübsche Frauen mit Miniröcken zur Werbung einzusetzen! Die Handhabung von Frauen als Sexualobjekt findet also selbst in den demokratischsten Gruppen der Volksbewegungen statt. Wir aber gaben dem Schönheitswettbewerb einige feministische Inhalte, nahmen Studentinnen der AEU in die Jury und riefen die Teilnehmerinnen dazu auf, ihr Konkurrenzdenken aufzugeben und untereinander solidarisch zu sein. Aus dem Schönheitswettbewerb entstand dann eine Gruppe von 15 Frauen, die sich seitdem zu Gesprächen und Diskussionen über Frauenbefreiung und ihren gesellschaftlichen Kontext trifft.

Frage: Welche feministischen Themen besprecht ihr in euren Gruppen und welche Aktionen habt ihr bisher gemacht?

Carmen: Wir sind noch in einem sehr embrionalen Stadium. Diese Gruppen sind noch nicht einmal 6 Monate alt und als aller erstes müssen die Studentinnen ein Selbstbewußtsein darüber erlangen, daß es berechtigt ist, ihre untergeordnete, gesellschaftliche Rolle als Frauen in Frage zu stellen. Sie müssem sich gegen Belästigungen der männlichen Mitstudenten zur Wehr setzen, die die Frauengruppen nicht akzeptieren. Ansonsten versuchen wir zur Zeit an den anderen Fachbereichen auch Frauengruppen aufzubauen. Als Aktionsformen haben z. B. die Agrarwissenschaftlerinnen verschiedene Theaterstücke entwickelt, die sie selbst geschrieben haben und aufführen und die von Vergewaltigung und Ausbeutung von Frauen, aber auch von ihrer Beteiligung an politischen Veränderungsprozessen handeln.
Insgesamt wollen wir von unseren konkreten, alltäglichen Erfahrungen ausgehen und uns von daher an allgemeine Zusammenhänge annähern. Die Frauen in den Gruppen sind noch sehr jung, aber sie haben alle schon auf Arbeitsplätzen, in der Uni usw. unter verschiedensten Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung gelitten.
Für uns muß es in einer so extrem gespaltenen Gesellschaft wie Guatemala drei gleichwertige grundsätzliche Ebenen gesellschaftlicher Auseinandersetzung geben: den Klassenkampf zwischen der extrem reichen herrschenden Oberschicht und den 70% unter der Armutsgrenze lebenden GuatemaltekInnen; die ethnische Problematik, da doch 70% und damit auch die am meisten diskriminierten und marginalisierten Frauen Indígenas sind; und den Geschlechterkampf für die Be¬freiung der Frauen, der in alle sozialen Auseinandersetzungen der Volksbewe¬gungen integriert werden muß.

Frage: Habt ihr Kontakt mit anderen Frauengruppen, wie z. B. der Witwenorganisation CONAVIGUA?

Carmen: Es gibt Kontakte zu CONAVIGUA. Aber wir haben uns gesagt, daß wir zunächst innerhalb der Uni als Studentinnen ein Bewußtsein für Frauenkampf schaffen müssen, um uns dann erst mit ganz anderen Frauenwelten auseinanderzusetzen. Denn die Studentinnen kommen meistens von der Mittelschicht, haben deren Werte verinnerlicht und leben eine ganz andere Realität als z. B. die direkt mit der Repression der Armee konfrontierten Indígenafrauen von CONAVIGUA, die meistens alleinstehende Mütter und Arbeiterinnen sind. Wir müssen von der konkreten Lebenssituation von Studentinnen ausgehen, denn wir erleiden eine spezifische Diskriminierung z. B. durch die Ausgrenzung von Arbeitsgruppen, durch die Minderbewertung unserer intellektuellen Fähigkeiten oder durch die Ausnutzung und Betrachtung als reines Sexualobjekt, wie es auch innerhalb der studentischen Organisationen geschieht. Auch dort gewähren viele Männer Frauen nur einen Aufstieg, weil sie attraktiv sind und versuchen immer wieder, sie sexuell zu mißbrauchen. Wir müssen erst von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen und uns darüber bewußt werden, um dann längerfristig für eine nationale Einheit von Frauen einzutreten. So als kleine Grüppchen wollen wir uns erst in der Uni formieren, bevor wir uns z. B. CONAVIGUA anschließen, die schon eine große, erfahrene und kämpferische Organisation ist.

Danke für das ausführliche Gespräch.

Das Ende der Colonia Dignidad?

Die letzten Schachzüge

Am 22. September 1989 – wenige Tage vor dem verfassungsändernden Plebiszit vom 5. Oktober – haben die Führer der Kolonie, Probleme mit der zu erwartenden demokratischen Regierung voraussehend, das gesamte Grundeigentum der Kolonie, etwas mehr als 13.000 Hektar, an 30 Mitglieder der Gruppe verkauft. Diese blieben gerade drei Monate und 19 Tage Landeigentümer/innen. Am 10. Januar 1990 übertrugen sie ihre Ländereien an eine extra zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft. In den folgenden Monaten wurden vier weitere Gesellschaften gegründet, die letzte am 1. Februar 1991, dem Tag des Regierungserlasses, der die Rechtsperson der Colonia aufhebt. Zwischen dem 30. Januar 1990 und dem 15. Januar 1991 wurden dem Abratec praktisch alle beweglichen Güter der Colonia übereignet, unter anderem 42 Lastwagen, landwirtschaftliche Maschinen, ein Schotterwerk, das Restaurant und die gesamte medizinische Einrichtung des Krankenhauses. Die chilenische Abratec wird von den Mitgliedern der Dignidad-Führungsclique Gert Seewald (Vorsitzender), Hans Jürgen Blank (Geschäftsführer) und Siegfried Hoffman (Direktor) geleitet. Die Muttergesellschaft gleichen Namens hat ihren Sitz in Beldien.
Im Laufe der Untersuchungen über die Colonia wurde schon Ende 1989 deutlich, daß sie ihren Statuten nicht gerecht wird. Daraufhin hat sie im Januar 1990 eine Veränderung ihrer Statuten beantragt. Das infolgedessen vom Gobernador (Regierungspräsidenten) der Provinz Linares, Manuel Francisco Mesa, erstellte Gutachten über die Kolonie fiel vernichtend aus. Darauf reagierte die Kolonie mit Verleumdungsklagen, der Zürücknahme ihres Antrags auf Änderung der Statuten und seit dem 30. Januar mit einem Hungerstreik von 200 Mitgliedern.

Die Entscheidung der Regierung

In einem Interview mit “24 Stunden”, dem Nachrichtenmagazin von Televisión Nacional, am Abend des 31. Januars, kündigte der Regierungssprecher Enrique Correa eine Regierungsentscheidung an, die ausschließt, daß es weiterhin in Chile einen Staat im Staate gibt. Am 1. Februar verlas der Innen-Staatssekretär Belisario Velasco in Anwesenheit des Innen- und des Justizministers eine Erklärung, die besagt, daß die juristische Person der Colonia Dignidad aufgehoben ist und ihre Besitztümer an die Methodistische Korporation übergehen. Velasco erläuterte, daß die Entscheidung auf einer Untersuchung beruht, die bereits im März 1988 unter der Militärregierung begonnen hatte, als der damalige Außenminister das Innenministerium um Informationen über die Unregelmäßigkeiten in der Kolonie bat. Die Untersuchung ergab mehrere Anormalitäten in der Befolgung der Statuten sowie verschiedene andere Gesetzeswidrigkeiten im Bereich von Erziehung, Steuer, Wehrpflicht und Gesundheit.
Nach den wiederholten Anklagen wegen Verletzungen der Menschenrechte durch den Geheimdienst DINA im Inneren der Kolonie befragt, äußerte der Innenminister Enrique Krauss: “Nachdem die juristische Person aufgehoben wurde, kann man nun nachweisen, ob tatsächlich andere Arten von Gesetzeswidrigkeiten vorliegen.”

Rechtsnachfolger – Methodistische Corporation

“Die “Corporación Metodista” ist der Dachverband der Methodistischen Kirchen in Chile. Sie besteht seit 85 Jahren und arbeitet unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Arbeit, Erziehung und Bauernfortbildung. Sie ist Eigentümerin des “Radio Umbral”, das bekannt ist für seine Beteiligung am Kampf für die Menschenrechte und deshalb als kommunistisch apostrophiert wird. Wichtige Arbeit für die Menschenrechte haben die Methodisten auch mit der Fundación de Ayuda Social de las Iglesias Cristianas – FASIC (Stiftung für soziale Hilfe der Kirchen) geleistet. Während der Militärregierung hat FASIC sich auf die Verteidigung politisch Verfolgter konzentriert. Seit März waren ihre Schwerpunkte die Begleitung von Angehörigen Verschwundener bei der Identifikation von Leichenfunden, die Zuarbeit für die Kommission “Wahrheit und Versöhnung”, die Hilfe für die Vereinigung der Angehörigen von Opfern der Repression und die Arbeit für eine Gesetzgebung, die die Befreiung der politischen Gefangenen ermöglicht.
Der Vorsitzende des Direktoriums der Corporación, Presbyter Juan Osorio, äußerte sich zu den Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad deutlicher als der Innenminister: “Nun erwartet die Kirche den Bericht der Rettig-Komission (Wahrheit und Versöhnung), in dem Folterungen und Angriffe auf die menschliche Würde ausführlich vermerkt sein werden.”
Nachdem der größte Teil der Ländereien und auch die Schule und das Krankenhaus der Colonia in den letzten Monaten an private Gesellschaften verkauft worden sind ist zu befürchten, daß es nicht viel ist, was die methodistische Corporación in ihre gemeinnützige Arbeit eingliedern kann.

Reaktionen der Kolonie…

Neben dem bereits erwähnten Hungerstreik und der Verleumdungsklage gegen den Gouverneur Mesa hat der Rechtsanwalt der Colonia, Fidel Reyes, alle möglichen Rechtsmittel angekündigt. Reyes behauptet eine “internationale Verschwörung von hohen Regierungsfunktionären Chiles und Deutschlands gegen Dignidad” sei im Gange. Als Beweis präsentiert er beglaubigte Fotokopien eines Fernschreibens der deutschen Botschaft in Chile an das deutsche Außenministerium, in dem die Möglichkeiten der Auslieferung Schäfers diskutiert werden (s.Kasten)
Reyes erklärte, daß das Verfahren am Bonner Gericht auf eine Anzeige des früheren Kolonie-Mitglieds Hugo Baar beruht, “der hier als Drogenabhängiger und Alkoholiker aufgenommen, behandelt und geheilt worden ist, aber es scheint, daß jemand ihm die 30 Judas-Silberlinge angeboten hat, und jetzt verbreitet er die Verleumdung, daß er hier keine Freiheit hatte”. Wegen des Telex der deutschen Botschaft hat Reyes ein vorsorgliches Schutzgesuch für Schäfer beim Obersten Gerichtshof eingereicht.
Die chilenische Kriminalpolizei teilte mit, daß sie die Vorladung an Schäfer nicht zustellen konnte, weil die Kolonie behauptet, daß dieser nicht anwesend sei, was mangels Haft- oder Durchsuchungsbefehl nicht nachprüfbar ist.

…und der Politik

Wie zu erwarten, verurteilt die politische Rechte die Regierungsentscheidung. “Ich fürchte, in diesem Moment verlieren wir nicht die ‘Kolonie Würde’, sondern unsere Würde als Land”, äußert der ‘unabhängige’ Vizepräsident des Senats Beltrán Urenda, sich auf den Druck der Bonner Regierung beziehend. Der Abgeordnete der rechten UDI Víctor Pérez behauptete, die Colonia Dignidad habe ihre Ziele treu erfüllt. Der Abgeordnete der ebenfalls rechten RN, Angel Fantuzzi, meinte, es sei “nicht das erste Mal, daß eine christdemokratische Regierung böswillig mit dieser Organisation umgeht”.
Die sozialistischen Abgeordneten der Region, in der sich die Colonia Dignidad befindet, Jaime Naranjo und Sergio Aguilo, die die Aufhebung der Rechtspersönlichkeit der Kolonie im vergangenen November gefordert hatten, zeigten sich befriedigt über die Entscheidung und erwarten, daß sich nun “die Türen öffnen”, um “alle der deutschen Kolonie vorgeworfenen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen”. Sie sind mit der Übergabe der Besitztümer der Colonia an die Methodistische Korporation einverstanden. Die kommunistische Partei erklärte ihre Hoffnung, daß dieser Schritt “erlaubt, voranzukommen mit der Aufklärung der Rolle, die diese Nazi-Enklave während der Diktatur Pinochets spielte”.
Quellen: El Mercurio, La Epoca, La Nación

Kasten:
Telex im Wortlaut (Rückübersetzung)

“Aus Santiago de Chile. N 630 vom 23-11-90, 16.30 Ortszeit. Nach Bonn, Aus¬wärtige Angelegenheiten. Telex (verschlüsselt) an 330. Erhalten: 23-11-90, 16.25 Ortszeit. Verfaßt von Botschaftsrat Nr. 1, Dr.Kliesow. Code pol 543.00. Betr.: Colonia Dignidad.
Hier: Unterredung mit Staatssekretär B. Velasco am 22-11-90 betreffend Nr. 260 vom 14-11-90, 330-504.00 Chl. Im Rahmen der vollständigen Aufklärung des Komplexes Colonia Dignidad, über die getrennt berichtet wird, teilte der Staatssekretär des Inneren Velasco die Entscheidung der chilenischen Regie¬rung mit, Schäfer und 5 oder 6 Mitglieder der Führungsclique der C.D. (Colonia Dignidad) auszuweisen. Er (Velasco) fragte, ob Schäfer dann in Deutschland verhaftet werde. Ich (Pabsch) verwies auf den Prozeß vor dem Bonner Gericht und die großen Beweisprobleme, die einen Haftbefehl schwie¬rig oder unmöglich erscheinen lassen. Daraufhin erbat Velasco wenigstens eine Vorladung für Schäfer vor das Bonner Gericht über Interpol. Wenn auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausweisung und Auslieferung Schäfers und anderer – sagt Velasco – die Störung der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland sei, müsse man doch die öffentliche Mei¬nung aufklären und überzeugen, daß Schäfer auch schwebende Prozesse bei der deutschen Justiz hat.
Es wird um umgehende Information gebeten, ob der Bonner Staatsanwalt oder das Bonner Gericht bereit sind, eine entsprechende Vorladung über In¬terpol an Interpol-Chile auszustellen.
Unterschrift Pabsch (Botschafter).”

Wechselnde Konjunkturen im “Vormärz”

Erst Reformen – dann Waffenstillstand

Zur Erinnerung: Im April 1990 vereinbarten die beiden Konfliktparteien in Genf, politische Reformen in den Bereichen Armee, Menschenrechte, Verfassungs-, Justiz- und Wahlsystem sowie Veränderungen der sozialen und ökonomischen Lage zu beschließen. Dabei sollte der UNO-Generalsekretär bzw. sein Vertrauter Alvaro de Soto eine “sehr aktive Rolle” spielen. Neu in der Kette der erfolglosen Verhandlungsrunden seit 1984 war auch die Übereinkunft, daß die oppositio­nellen Parteien und Organisationen sich an dem Verhandlungsprozeß beteiligen sollten. Erst nach diesen Übereinkünften – so die Vereinbarung von Genf – könne es zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Integration der FMLN in das legale politische Leben des Landes kommen. Diese Reihenfolge wird von de Soto in einem Beitrag für die Wall Street Journal vom 11. Januar besonders unterstrichen: “Selbstverständlich ist ein Waffenstillstand vor der Verabschie­dung tiefgreifender Veränderungen wenig wahrscheinlich.”
Schon nach den ersten Zusammenkünften wurde deutlich, daß die Militärs und die Regierung nicht die geringste Bereitschaft zeigten, in dem zentralen Punkt der Säuberung der Armee einzulenken. Im Oktober, als nicht mehr zu verheimli­chen war, daß die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen und Hintermänner des Mordes an den Jesuiten im Sande verlaufen würden, verkündete die US-Regierung die Kürzung der Militärhilfe um 50% auf 42,5 Mio US-$. Einen Monat später lancierte die FMLN eine begrenzte militärische Offensive, in der sie sich auf militärische Ziele in wenig besiedelten Regionen konzentrierte um zu ver­hindern, daß die Armee die Zivilbevölkerung als Faustpfand benutzt, wie sie es mit den Bombardierungen von San Salvador im November 1989 getan hatte. Dabei setzte die FMLN erstmals Boden-Luft-Raketen ein, die die absolute Luft­hoheit der Armee empfindlich einschränkten. Ziel der FMLN-Aktivitäten ein Jahr nach den Jesuitenmorden war die Bestrafung der Militärs und ein verstärkter Druck zugunsten eines Verhandlungsfortschrittes noch vor den Wahlen. Das dahinter stehende Kalkül war durchaus plausibel: Immerhin hatte die 1989er Offensive den Weg für die Verhandlungen unter UNO-Aufsicht geebnet.

Teilnehmen oder nicht?

Die Verknüpfung der Verhandlungen mit den Märzwahlen tritt seit Monaten immer stärker in den Vordergrund. In der Frage Teilnahme der Opposition oder nicht scheiden sich jedoch die Geister (Vgl. LN 198). Die KP-nahe Oppositions­partei UDN kündigte bereits ihre Wahlteilnahme an, während verschiedene Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände betonen, daß die Wahlen in der aktuellen Situation keinerlei friedensstiftende Funktion haben könnten. Auf der anderen Seite geben einzelne Funktionäre des von den Christdemokraten (PDC) gegründeten Gewerkschaftsverbandes UNOC und einer weiteren ArbeiterInnen­vertretung (CTS) bekannt, daß sie auf der Liste der PDC kandidieren werden, was die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der Gewerkschaften gefährdet. Diese befürchten wie die FMLN, daß die bescheidenen Reformen des Wahlrechtes (z.B. Erhöhung der Parlamentssitze von 60 auf 84, verstärkte WählerInnenregistrie­rung, begrenzte Wahlpropaganda) kaum ausreichen werden, um das Klima des Terrors zu beseitigen. Darüber hinaus ist auch kaum zu erwarten, daß die Regie­rungspartei ARENA sich an all die Vereinbarungen halten wird. So beklagten die wichtigsten Oppositionsparteien (PDC, UDN und das linke Wahlbündnis Con­vergencia Democrática – CD -) bereits Anfang Januar den vereinbarungswidrigen frühen Beginn der Wahlkampagne durch ARENA.
Um wählen zu können, müssen die Wahlberechtigten im Wahlregister stehen. Wer registriert ist, kann einen Wahlausweis beantragen, der erst die Stimmab­gabe ermöglicht. Gemeinsam mit ARENA ist beschlossen worden, daß alle, die lediglich im Wahlregister stehen, wählen können, wenn die Differenz dieser Gruppe zu jenen, die bereits über einen Wahlausweis verfügen, am 17. Februar mehr als 10% ausmacht. Ob sich die Regierungspartei am 17. Februar noch an diese Vereinbarung erinnern möchte, darf ebenfalls bezweifelt werden. Mögli­cherweise ist der Bruch dieser Übereinkunft die letzte Klippe, an der die Opposi­tion (gemeinsam oder einzelne Parteien?) aus dem Wahlprozeß aussteigen kön­nen, um diesem Urnengang insgesamt seine Legitimation zu entziehen.
Mittlerweile haben PDC und CD (am 19. Januar) in einer gemeinsamen Erklä­rung verbreiten lassen, daß die Auflösung aller paramilitärischen Gruppen die Mindestbedingung für ihre Teilnahme an den Wahlen sei. Ob diese – unter den gegebenen Bedingungen – unrealistische Forderung einen Ausstieg dieser Par­teien vorbereiten soll, darf allerdings angesichts der wankelmütigen PDC in Frage gestellt werden. Mit wachsender Spannung wird darauf gewartet, daß die FMLN ihre Position zu den Wahlen definiert.

Wechselwirkungen

Das Problem liegt auf der Hand: Aller Voraussicht nach werden die Wahlen stattfinden. Sie werden keinesfalls frei und gleich und vermutlich noch nicht einmal geheim sein (Vgl. LN 191). Dennoch wird der Ausgang der Wahlen erhebliche Rückwirkung auf den Verhandlungsprozeß haben, wenn die Opposi­tionsparteien teilnehmen und damit grundsätzlich ihr Einverständnis dokumen­tieren. Gewinnt ARENA, wird sie mit einem Hinweis auf das Wahlergebnis wei­terhin Verhandlungsfortschritte torpedieren. Gewinnt trotz aller Behinderungen und Einschüchterungen die Opposition in der einen oder anderen Konstellation, könnte eine neue und durchaus vielversprechende Dynamik in diesem Prozeß entstehen.
In diese außerordentlich schwierige Situation fielen nun im Januar einige bemer­kenswerte Ereignisse:
– Mit dem nicaraguanischen Raketendeal, der nur durch die offene Kollaboration der Sowjetunion mit den USA an die Öffentlichkeit geraten konnte, bekommen die USA das erste Mal den langersehnten Beweis, daß nicaraguanische Stellen (Einzelpersonen?) die FMLN mit Waffen versorgten.
– Am 2. Januar schoß eine FMLN-Einheit einen Hubschrauber ab, in dem sich drei US-Militärberater befanden. Wie die FMLN inzwischen zugab, überlebten zwei von ihnen den Absturz; sie wurden später im Widerspruch zu den Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen getötet.
– Baker und Schewardnadse gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie – eindeutig gegen den Geist der vereinbarten Verhandlungslogik – einen Waffen­stillstand noch vor den Wahlen fordern.
Die Ereignisse wurden weidlich ausgeschlachtet, um die FMLN als politische Kraft zu marginalisieren. Natürlich fragt niemand, was die US-Berater im Hub­schrauber taten; natürlich schweigen die USA zu den Folterungen an FMLN-Angehörigen in den salvadorianischen Kerkern, niemand erinnert sich mehr an die Aussagen ehemaliger Angehöriger der salvadorianischen Sicherheitskräfte, nach denen US-Militärberater bei Folterungen zugegen waren, diese sogar ange­ordnet und geleitet haben. Die Zeichen stehen auf Sturm; Schadensbegrenzung ist angesagt. Die FMLN hat bereits ein unabhängiges Gerichtsverfahren ange­kündigt, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit die zwei mutmaßlichen Mörder der Militärberater verurteilt werden. Diese schnelle Reaktion wird von vielen Seiten positiv aufgenommen, zumal am 9. Januar zwei Staatsanwälte, die mit dem Fall der Jesuiten befaßt waren, zurückgetreten sind. Sie begründeten ihren Schritt mit der Unmöglichkeit, die Ermittlungen gegen den Widerstand des Generalstabes zu führen. Nur die Militärs besäßen den Schlüssel zur Enthüllung der Hintergründe des Massakers.

Kein “Jesuitenfall der FMLN”

Erzbischof Rivera y Damas und Oppositionspolitiker lobten den Rücktritt der Staatsanwälte als sehr mutig und strichen die Unterschiede bei den Ermittlungen im Fall der Jesuiten und der Militärberater heraus. Mit diesen Äußerungen traten sie auch Vorwürfen entgegen, die FMLN habe nun in ihren eigenen Reihen einen “Jesuitenfall” produziert und damit jede Legitimation verwirkt, Menschenrechts­verletzungen der Armee anzuklagen.

Die Einsamkeit der “Dritten Welt”

Die angekündigte Wiederaufnahme der vollen Militärhilfe durch US-Außenmi­nister Baker aufgrund der obengenannten Vorkommnisse stieß in El Salvador und in Washington auf Protest und Besorgnis. Die Washington Post warnte am 8. Januar davor, kurz vor den Wahlen eine so eindeutige Wahlkampfunterstützung für ARENA zu leisten wie es die Wiederaufnahme der Hilfe wäre. Repräsentan­ten des Gewerkschaftsdachverbandes UNTS und anderer Einzelgewerkschaften betonten, daß die Wiederaufnahme der Militärhilfe lediglich die Jesuitenmörder ermutigen und stärken würde und eine politische Lösung des Konfliktes in weite Ferne rücken würde. Allerdings ist die Entscheidung noch einmal bis nach den Wahlen vertagt worden. Das Signal an die FMLN ist deutlich: “Wenn Ihr die Wahlen boykottiert, wird das Geld wieder zu 100% ausgezahlt werden”. Darüber hinaus wird die FMLN implizit aufgefordert, innerhalb der nächsten 60 Tage einem Waffenstillstand zuzustimmen – unabhängig vom Verlauf der Verhand­lungen. Falls es in dieser Frist zu keinen substantiellen Verhandlungsfortschritten kommt, widerspräche ein Waffenstillstand Geist und Buchstabe des UNO-Ver­handlungsprozesses, den sowohl die USA wie die Sowjetunion vorgeben zu unterstützen.

“Operación Causa Justa” und die Menschenrechte

Bis heute ist die Zahl der Opfer nicht bekannt

“Ich will nicht mehr hinuntersteigen ins Grab, ich kann die vielen Toten nicht mehr sehen! Ich weiß, daß ich das nicht mehr aushalte!” Elira de Del Rio weint und kann sich kaum beruhigen. Mehrfach ist sie bereits in das Massengrab von Jardín de Paz, ursprünglich einem kleinen Privatfriedhof in der Nähe der Haupt­stadt, hinuntergestiegen, in der Hoffnung die Leiche ihres am 20.Dezember getöteten Mannes zu finden. Auf einer Namensliste von Invasionsopfern, zusammengestellt vom “Komitee der Familienangehörigen von Opfern des 20.Dezember” (AFC-20), hatte Elira de Del Rio den Namen ihres Mannes gefun­den und war nach Jardín de Paz gekommen, um ihn zu identifizieren. Aber es handelte sich um einen Irrtum. Und so wurden die großen Plastiksäcke mit den Leichen einer nach dem anderen geöffnet, damit sie und die zahlreichen Angehö­rigen ihre Toten identifizieren könnten. Aber viele Leichen sind nicht mehr iden­tifizierbar. Durch den Einsatz von Bomben und Flammenwerfern sind sie völlig entstellt. Hinzu kommt der Zustand der Verwesung, der bei den eilig von den US-Truppen in Massengräbern verscharrten Leichen schon fortgeschritten ist. Der bestialische Verwesungsgestank tut ein übriges, um die Identifizierung der Leichen für die Familienangehörigen zur Tortur werden zu lassen. Aber viele von ihnen werden weiter geduldig an den Gräbern Schlange stehen müssen in Ungewißheit, ob eines Tages wirklich ihre Angehörigen gefunden werden.
In der detailierten Registrierung der AFC-20 sind inzwischen über 600 Namen von identifizierten Toten zusammengetragen worden, aber es ist bekannt, daß Unzählige fehlen, nämlich die, die nicht identifiziert werden konnten, deren Lei­chen ins Meer geworfen wurden, die bei der Bombardierung der Einrichtung der “Verteidigungskräfte” völlig verbrannt sind und schließlich die, die von ihren Familienangehörigen heimlich im eigenen Garten beerdigt worden sind, aus Angst vor Repressalien. Dazu kommt eine bisher unbekannte Zahl von Vermiß­ten. VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen gehen von Zahlen zwi­schen 2000 und 4000 Toten aus.

“Die Toten werden das Land zurückerobern!”

Früher war Isabel Corro in den Reihen der Cruzada Civilista zu finden, die den Protest gegen das Noriega-Regime auf die Straße brachte. Heute ist sie die Präsi­dentin der “Vereinigung der Familienangehörigen der bei der Invasion am 20.Dezember 1989 gefallenen Militärs und Zivilisten”.
“Die in den Menschenrechtsorganisationen, bei CONADEHUPA und COPODE­HUPA arbeiten, sind Frauen”, sagt sie. “Die Mehrheit derer, die wir im Kampf für die Menschenrechte in der AFC-20 organisiert sind, sind Frauen, und auch in der Führung der Organisation sind wir drei Frauen neben einem Mann. Die Frau beschäftigt sich mit den Toten und die Toten werden dieses Land führen und die Toten werden die Zukunft dieses Landes bestimmen und die Toten werden die­ses Land zurückerobern. Die Toten werden das Bewußtsein des Landes entwik-keln”, so die engagierte Menschenrechtsvertreterin. “Die Regierung hat verges­sen, daß sie über die Leichen unserer Gefallenen zur Präsidentschaft gekommen ist, daß es ein verdammt hoher Preis war, den das Land bezahlen mußte, damit sie dahin gekommen sind, wo sie sich jetzt befinden.” Und sie fügt hinzu, daß weder die katholische Kirche noch die zivilen Clubs in dieser Angelegenheit etwas unternommen hätten. Ihre Organisation überlegt, eine umfassende Forde­rung an die Regierung der USA zu stellen, nämlich alle Schäden, die durch die Invasion entstanden sind, zu begleichen. Die Menschenrechtsbewegung insge­samt fordert zunächst eine internationale Untersuchung der Folgen der Invasion.

Verlust der Heimat: El Chorillo

Die Angriffe der US-Streitkräfte während der Invasion richteten sich insbeson­dere auf die armen Stadtviertel, insbesondere auf El Chorillo. Noriega und seine Truppe habe sich hier verschanzt, lautete die Legitimation für die Zerstörung eines ganzen Stadtteiles.
El Chorillo war für die Arbeiter am Kanal zu Beginn des Jahrhunderts errichtet worden. Hier lebten fast 30 000 Menschen überwiegend in einfachen Holz- und Wellblechhütten. Aber sie hatten in El Chorillo mehr als ein einfaches Dach über dem Kopf. Ihre Kinder waren hier großgeworden, ihre eigene, soziale Lebenswelt und Kultur waren hier über Jahrzehnte gewachsen. Doch mit der Entscheidung der US-Regierung zur Invasion sollte dieses Viertel mit seinen Menschen, Gebäuden und sozialen Traditionen von der Landkarte ausradiert werden. Es wurde zum Testgebiet für neueste Laserkanonen und Kampfhubschrauber, für Panzer und Bomben.
Allein in El Chorillo sind mehrere tausend Familien obdachlos geworden. Nach Angaben des “Komitees für Kriegsflüchtlinge” gibt es in Panama acht Flücht­lingszentren, die zur Zeit fast 3500 Familien beherbergen. Dazu kommen knapp 14 000 Menschen, die lediglich vorübergehend bei Verwandten unterkommen konnten, dort jedoch aufgrund der räumlichen Enge und schlechten Versor­gungslage nicht langfristig bleiben können. Aber auch in den Flüchtlingszentren herrscht große Enge. Es gibt zu wenig sanitäre Anlagen, die Zahl von Erkran­kungen wächst, die sozialen Konflikte häufen sich.
“Wir sind nicht Produkte eines Unfalls oder einer Naturkatastrophe, sondern eines Krieges. Deswegen sind wir Kriegsflüchtlinge!”, insistiert Rafael Olivardía, einer der Sprecher des “Comité de Refugiados de Guerra”, das die Interessen der in Flüchtlingscamps lebenden Panamaer vertritt. Ihre Organisation kritisiert ins­besondere die Informationspolitik der “Stiftung für die Geschädigten des Stadt­viertels El Chorillo”. Bereits im Juni hatte es die ersten Proteste von Chorilleros gegeben. Lediglich 700 Balboas (Der Balboa ist die panamaische Bezeichnung für den Dollar) sollten sie als Schadensausgleich von der Stiftung erhalten. Informa­tionen über die Aufteilung des Stiftungsfonds wurden nicht gegeben. In den Stiftungsgremien sind die Betroffenen selbst über­haupt nicht vertreten. Dement­sprechend lauten die unmittelbaren Forderungen der Betroffenen des Stadtvier­tels El Chorillo auf: die gerechte Entschädigung für die erlittenen Verluste, den raschen Bau von Wohnungen im alten Viertel und die Gründung einer Kommis­sion zur Beseitigung der Wohnungsnot.

Festival der Frauen

Invasion der Feministinnen

San Bernardo, ein Badeort, der 9 Monate im Jahr schläft und nur 3 Monate durch die Touristen zum Leben erwacht, wird jäh aus seinem Winterschlaf gerissen noch bevor die Saison beginnt. 70 Omnibusse bringen 3.000 Frauen aus 39 Län­dern, aus ganz Lateinamerike und der Karibik und Gästinnen aus Nordamerika, Europa, Asien und Afrika, die sich hier zum 5. lateinamerikanischen Feministin­nenkongreß trafen, um über 10 Jahre Feminismus in Lateiname­rika Bilanz zu ziehen. Den knapp 4.000 Einwohnern San Bernardos mag die Ankunft der Massen von Frauen wie eine Invasion vorgekommen sein. Neugierig bis ablehnend beäugten sie die Ankommenden und in nicht wenigen Gesichtern stand die bange Frage geschrieben: Warum gerade in San Bernardo? So standen sie staunend angesichts der vielen Frauen, die mit ihrer Buntheit, Vielfältigkieit und ihrem Selbstbewußtsein eine Woche lang das Straßenbild be­stimmten.
Das Feministinnentreffen in Lateinamerika hat bereits Geschichte: Zum 5. Mal innerhalb von 10 Jahren trafen sich Frauen aus Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Die Treffen ermöglichen, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und bieten die seltene Gelegenheit, Frauen aus anderen Ländern zu treffen und wiederzusehen. So hat der Kongreß mittlerweile eine enorme Wichtigkeit er­langt, dementsprechend steigt auch jedesmal die Zahl der Teilnehmerinnen: Beim ersten Mal in Kolumbien 1980 waren es noch 260 Frauen, 1983 in Peru be­reits 600, nach Brasilien kamen 1985 850 und in Mexiko waren es 1987 bereits 1 500. Daß zum Kongreß nach Argentinien 3.000 Frauen kamen, erfüllte alle mit Stolz. Doch das Treffen in Argentinien hat mittlerweile eine Größenordnung erreicht, die organisatorisch kaum mehr zu bewältigen ist, noch dazu unter den gegebenen schlechten Bedingungen.

Herzlich willkommen

Eigentlich sollte der Frauenkongreß in den Räumlichkeiten der Energiegewerk­schaft stattfinden, einem riesigen Komplex mit 800 Hotelbetten und zahlreichen Tagungsräumen. Doch kurzfristig wurde der vereinbarte Sonderpreis um über 300% erhöht. Der Kongreß drohte zu scheitern, doch konnten die Organisatorin­nen mit der Stadtverwaltung einen Kompromiß erreichen und viele Hotels, Cafés und Boutiquen stellten in Erwartung einer finanzkräftigen Invasion von kauf und konsumfreudigen Frauen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Stadt­verwaltung war offensichtlich das leidige Vorgeplänkel sehr unangenehm. Sie sah sich bemüßigt, ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das die Frauen in San Bernardo herzlich willkommen hieß. Auch der kirchliche Vertreter begrüßte aus­drücklich die ankommenden Frauen, um Gerüchten entgegenzuwirken, die Kir­che wolle den Kongreß verhindern.
Die Veranstaltungen fanden an allen möglichen und unmöglichen Stellen statt: die großen Cafés und Hotels waren ausnahmslos alle besetzt. Sogar in den Ho­telhallen, in Garagen, in Staßencafés und in noch leerstehenden Boutiquen saßen diskutierende Gruppen, wobei es der vorbeitosende Verkehr der Hauptstrasse oft unmöglich machte, auch nur ein Wort zu verstehen. Nicht selten nervten neugierige Auto- oder Motorradfahrer mit laufendem Motor, die versuchten her­auszubekommen, was die Feministinnen zu bereden hatten. Zudem wurde aller­orts gebaut, gebohrt und gehämmert: der Badeort machte sich fertig für die Saison, die 14 Tage später beginnen sollte.

Das “Nicht-Treffen” und das “Suchen” statt “Treffen”

Einen Großteil der Zeit auf dem Treffen verbrachte frau damit, ihre Workshops zu suchen. Hunderte von Frauen wanderten mit dem Tagesprogramm und dem Stadtplan in der Hand die Hauptstraße rauf und runter, suchten und fragten sich durch, trafen zufällig Bekannte, blieben auf ein Schwätzchen stehen, vergaßen die Zeit, hetzten weiter, um wenigstens noch ein halbes Stündchen mitzube­kommen, oder blieben unterwegs in einem der einladenden Straßencafés hängen und gaben frustriert die Suche auf.
War dann endlich der Ort gefunden, mußte frau nicht selten feststellen, daß der Workshop ausgefallen, die Veranstaltung auf den nächsten Tag verschoben war oder tags zuvor bereits stattgefunden hatte. Los gings dann auf die Suche nach dem nächsten Workshop, mit der Hoffnung, da wenigstens noch ein paar inter­essante Sätze zu ergattern, oder ab ins nächste Café oder an den Strand.

San Bernardo – Stadt der Frauen

Die Frauen erobern San Bernardo. Endlich keine Angst mehr haben müssen nachts beim Nachhausegehen, denn immer sind Frauen in der Nähe unterwegs. Die Frauen erobern sich die Discos, die Cafés, und sogar die Männerklos.
Vielen Männern in San Bernardo waren diese Feministinnen sehr suspekt. Die einen sahen in ihnen eine Gefahr für San Bernardo, sie hatten Angst, daß die Feminis­tinnen, ihnen ihre Frauen wegnehmen oder ihnen zumindest den Kopf verdrehen wollen. Andere machten sich große Hoffnungen (“von den 3.000 Frauen kommen mindestens 2-3 auf mich”). Sie wollten mitfeiern und verstanden die Welt nicht mehr, weil diese vielen Frauen nichts von ihnen wissen wollten, weil sie draußen bleiben mußten. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, was es soviel zu reden und diskutieren gab und manche beschwerten sich, keiner habe sie vorher gefragt, ob sie mit dieser Invasion einverstanden wären.
Auch die Frauen von San Bernardo beäugten zunächst recht skeptisch bis ableh­nend die fremden Artgenossinnen, die selbstbewußt, schwatzend und singend durch die Straßen zogen und sich nicht um Konventionen und Machos scherten. Einige wenige machten bei den Workshops mit, andere nahmen in den Cafés oder bei den abendlichen Festen Kontakt auf oder sahen begeistert oder befrem­det zu.
Und als die 70 Busse wieder wegfuhren, war wieder Frauenalltag angesagt.

Der Mammutkongreß – ein organisatorischer Wahnsinn

Trotz guter Laune und Frauenpower erschwerten die schlechten infrastrukturel­len Bedingungen die ohnehin schwierige Aufgabe organisatorisch einen solch riesigen Kongreß zu bewältigen! Die Suche kostete viel Zeit und erschwerte die Kommunikation untereinander. Das stundenlange Schlangestehen mit hungri­gem Magen zum Mittag- oder Abendessen nervte und nur besonders Unverdros­sene sahen darin die Möglichkeit, sich im Gespräch näher zu kommen.
Als am dritten Tag der Regen prasselte und alle Straßen überflutete und der Strom ausfiel und es weder Programme gab noch Veranstaltungen stattfanden, drohte der Kongreß im Chaos zu ersticken. Doch dank der hervorragenden Im­provisationsgabe der lateinamerikanischen Organisatorinnen und der uner­schütterlichen Geduld der Teilnehmerinnen lief er trotzdem irgendwie weiter.
Es war schier unmöglich, auch nur ansatzweise einen Überblick über das Diskus­sionsgeschehen der einzelnen Veranstaltungen zu bekommen. Ein gezieltes Tref­fen und Austausch mit Frauen aus anderen Ländern schien unmöglich und dem Zufall überlassen. Es gab kein gemeinsames Diskussionsziel. Zu groß war das Angebot an Workshops, Gesprächskreisen und Kultur. An sechs Tagen wurden 300 offizielle Veranstaltungen angeboten, nicht mitgerechnet die zahlreichen selbstorganisierten spontanen Diskussionsrunden und Foren. Es gab viel zu viele interessante Angebote, die alle zur selben Zeit stattfanden: Von der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus, seiner Beziehung zur Macht, Politik oder Basisbewegung, über gesundheitliche Themen (Abtreibung und Verhü­tungsmittel, Psychopharmaka…) Gewalt gegen Frauen hin zu religiösen ethischen Fragen, zu Selbsterfahrungsgruppen, Körperübungen, Lesungen, Videos … für jeden Geschmack etwas. Bedauerlich, daß Diskussionen über wich­tige Themen mangels Zeit nur angerissen und kaum vertieft werden konnten.
Beeindruckend auch das Angebot an Publikationen, vor allem deswegen, weil noch vor wenigen Jahren feministische Publikationen in Lateinamerika fast aus­schließlich aus Übersetzungen von Artikeln US-amerikanischer und europäischer Feministinnen bestanden.
Aus der Masse der Angebote möchte ich trotzdem einige Diskussions- oder Kri­tikpunkte aus diversen Workshops erwähnen.

Diversität und Ungleichheit – Herausforderung oder Komplikation?

Die Diversität und Ungleichheit innerhalb der feministischen Bewegung (die Autonomen, die Sozialistinnen …) von vielen als bremsend beargwöhnt, werden jedoch auch als eine Herausforderung und eine Bereicherung für die Diskussion innerhalb der Bewegung erkannt. Genauso verhält es sich mit neuen Themen, wie Ökologie, Gewalt gegen Frauen, Ethik…
Ein Widerspruch, der immer wieder auftaucht, ist der Ruf nach charismatischen Führerinnen einerseits, die die Bewegung voranbringen sollen, der aber anderer­seits mit dem Wunsch nach kollektiver Arbeitsweise kollidiert.
Eine immer wieder spannende Frage taucht auf: Radikalität oder Kompromisse? Im Workshop “Feminismus 90” zum Beispiel einigten sich dazu die Frauen auf die Grundaussage des Feminismus: Demokratie, Diversität und Kompromisse. Das bedeutet: Zusammenarbeit mit offiziellen (auch staatlichen) Stellen ist mög­lich und fördert mehr interne Demokratie innnerhalb der Bewegung. Gewalt wird als Grundhindernis für die Entwicklung der Frauen in ganz Lateinamerika und der Karibik angeprangert. Die Konzepte für Entwicklungspolitik werden als sexistisch und gegen die Frauen gerichtet verurteilt. Die Rechte der Frauen sollen als Menschenrechte festgeschrieben und das Konzept der Menschenrechte, dem bisher jegliche Frauenperspektive fehlt, umdefiniert werden.
Bei vielen Themen wiederholten sich die Diskussionen und die Argumente aus den vorherigen Treffen und bei bestimmmten Punkten traten auch diesmal wie­der dieselben Konflikte auf, die unüberbrückbar scheinen: Zum Beispiel die Fra­gen: Sollen Frauen, die an der Macht sind, unterstützt werden? Vertreten sie die Interessen der Frauen oder sind sie mehr ihrer Partei verbunden? Wird sich für Frauen etwas verändern, wenn Frauen als Politikerinnen an die Macht kommen? Oder ändern sich Frauen, sobald sie an der Macht sind? Welche Macht ist das, die angestrebt wird, eine feministische Macht?

Feministometer

Manche der Alt-Feministinnen denken noch wehmütig an das erste Treffen in Kolumbien, wo noch der reine feministische Geist herrschte. Denn schon in Peru kamen auch Frauen aus anderen Bereichen mit dazu: Frauen aus politischen Or­ganisationen, Gewerkschaften, aus Basisbewegungen etc., die sich alle als mehr oder weniger feministisch definierten, was zu Konflikten führen mußte. In Me­xiko, als die mittelamerikanischen Frauen mit ihrer spezifischen Problematik mit dazu kamen, mußte endlich erkannt werden, daß es nicht nur einen Feminismus gibt. So auch in Argentinien: “Was ist das für eine Feminismus, der uns nicht be­achtet”, fragt Sergia, eine schwarze Frau aus der Dominikanischen Republik. “Die weißen Frauen distanzieren sich von uns”, klagten die indianischen Frauen über ihre “feministischen Schwestern”. Eine Frau aus einer Villa Miseria in Argenti­nien berichtete, daß sie in ihrer Arbeit mit den Frauen
nicht dazu kommt, spezifische Frauenthemen anzusprechen, denn “in einem Jahr starben uns 12 Kinder, so daß Erziehung und Gesundheit Vorrang haben.”
In einem Workshop zum 500. Jahrestag der Kolonisation meldet sich eine Gua­temaltekin zu Wort, die, wie sie sagt zum ersten Mal auf so einem Treffen mit Frauen aus unterschiedlichen Ländern ist und alles ganz toll findet, “aber”, bittet sie, “es würde mir besser gefallen, wenn Sie etwas konkreter reden würden, in Worten, die wir auch verstehen, die aus dem Gefühl jeder einzelnen Frau kom­men.” Nach der Veranstaltung sprach ich eine der Wortführerinnen darauf an, eine Chilenen, die in der Dominikanischen Republik an der Uni arbeitet. Ihre Antwort spricht für sich: “Tja, wir müssen sie halt auch mal reden lassen.”
Rassismus? Nein, den gibt es bei uns nicht! Bekräftigen mir einhellig die weißen Frauen aus Uruguay, Argentinien und Chile, die sich am Abend vorher in der Kneipe ausführlich über den Rassismus in Deutschland ereifert hatten. Doch viele Teilnehmerinnen auf dem Kongreß haben dazu eine andere Meinung.

Schwarze Frauen

Auf dem Kongreß waren nur relativ wenige schwarze Frauen vertreten und nur wenige definieren und organisieren sich als schwarze Frauen. Ihre alltägliche Diskriminierung zeigt sich schon in der Sprache: schwarzes Schaf, Schwarz­markt. Sie als schwarze Frauen werden am meisten ausgebeutet, haben den geringsten Zugang zu Bildung, Aus­bildung und Arbeit. Viele versuchen der Diskriminierung zu entgehen, in dem sie sog. Weißmachungsmittel vermitteln: spezielle Cremes um die Haut heller zu machen, oder Mittel, die das krause Haar glätten. Untersuchungen haben mitt­lerweile bewiesen, daß diese Weißmachungsmittel im höchsten Grad krebserre­gend sind.
Eine Informationskampagne über AIDS, nach der der AIDS-Virus aus Afrika kommt, hatte zur Folge, daß die schwarzen Prostituierten nicht mehr so stark frequentiert werden, weil sie als Überträgerinnen von AIDS stigmatisiert werden. In Uruguay war der erste AIDS-Fall, der bekannt wurde, eine schwarze Frau. Daraufhin führte die Gesundheitsbehörde eine starke Kontrolle bei den schwar­zen Prostituierten durch, sperrte sie ins Gefängnis, mißhandelte sie und läßt sie ihre Arbeit nicht mehr durchführen. Der Arbeitsmarkt für schwarze Frauen ist jedoch sehr eingeschränkt (55% von ihnen arbeiten als Hausmädchen) und eine schwarze Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird kaum mehr eine andere Arbeit finden.
Schwarzen Frauen hängt der Mythos nach, besonders “sexy” zu sein. “Aber das ist eine Interpretation des weißen Mannes. Sie sehen uns als exotische Sexualob­jekte, die sie zu ihrer Befriedigung nutzen können. Die schwarzen Männer be­nutzen uns auch, aber bei den weißen Männern kommt neben dem Sexismus noch der Rassismus hinzu.”

Lesbenphobie

Nur relativ wenige Lesben in Lateinamerika bekennen sich offen als Lesben, zu stark sind die Vorurteile der Gesellschaft, der Einfluß der katholischen Kirche und zu stark ist auch die Repression durch den Staat. In einigen Ländern gibt es spezielle Gesetze gegen Homosexualität, worin die Lesben einbezogen sind, an­derswo wird das Gesetz über Sodomie so ausgelegt, daß lesbische Liebe auch im privaten Rahmen unter Strafe steht. Auch das Gesetz der “Erregung öffentlichen Ärgernisses” wird benutzt, um Lesben festzunehemn, zu schlagen, zu demütigen und etliche Jahre ins Gefängnis zu werfen. Viele Lesben leben auch in der Angst, als Lesben erkannt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren… Aber auch auf dem Feministinnen-Kongreß in San Bernardo mußten sie vielen Vorurteilen begegnen: Eine Frau aus Brasilien berichtet, daß ihre Tischnachbarin beim Mit­tagessen aufgestanden ist und sich woanders hinsetzte, als sie erwähnte, daß sie Lesbe sei. Es wurden anonyme Forderungen gestellt, die Lesben von Tanzveran­staltungen auszuschließen, sie wurden als Exhibitionistinnen beschimpft, die öf­fentlich ihre Zärtlichkeiten austauschen, und würden dem Ansehen des Femi­nismus schaden…
In ihren Veranstaltungen und in einer Pressekonferenz wandten sich die lebsbi­schen Frauen energisch gegen die Lesbenphobie, die ihnen massiv von vielen Feministinnen entgegenschlug. Sie forderten für das nächste Treffen mehr Raum für sich und ihre Themen und wollten die spezifische Lesbenproblematik, die Lesbenphobie und Zwangsheterosexualität in allen Workshops behandelt wis­sen. Sie verlangten, respektiert zu werden in ihrer Lebensphilosophie. Amparo aus Costa Rica bringt das Problem auf den Punkt: “Wir wollen dahin kommen, daß ich nicht erklären muß, warum ich Lesbe bin und du nicht erklären mußt, warum du heterosexuell bist, sondern daß wir Feministinnen sind, in einer Be­wegung, in der wir gemeinsam kämpfen. Wir Lesben sind solidarisch mit allen Feministinnen und kämpfen für die Legalisierung der Abtreibung, obwohl das für viele von uns kein Thema mehr ist, und für alle Problematiken der Frau. Wir wollen nun auch Solidarität von den Hetero-Feministinnen, daß sie nicht nur für ihre eigenen Forderungen, sondern auch für die Forderungen der Lesben kämp­fen.”

Abtreibung

Ein zentrales Thema bei diesem Treffen war wie immer die Abtreibung. Zu ei­nem der diversen Abtreibungs-Workshops hatte die argentinische Frauenorgani­sation “Nonnen für die Legalisierung der Abtreibung” eingeladen. In der Einfüh­rung begründeten sie ihre Position mit einem sehr einleuchtenden Argument aus der Bibel: Als Maria erfuhr, daß sie ein Kind bekommen sollte, ließ ihr der Verkündi­gungsengel einige Zeit zum Überlegen, ob sie die Schwangerschaft an­nehmen wollte oder nicht. Maria entschied sich schließlich dafür, das Kind zu bekommen. Die Atheistinnen in der Gruppe haben dazu eine andere Meinung, aber allen gemeinsam ist die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit Ausnahme von Kuba in allen Län­dern verboten ist. Die einzelnen Länderbeispiele zeigten zwar Unterschiede in der Gesetzeslage (in einigen wenigen Ländern ist Abtreibung nach einer Vergewalti­gung oder aus gesundheitlichen Gründen erlaubt), überall gibt es je­doch eine erschreckend hohe Zahl der illegalen Abbrüche, die die Haupttodesur­sache bei Frauen im gebärfähigen Alter ist. In Nicaragua haben die Frauen mitt­lerweile zur Selbsthilfe gegriffen und kämpfen dafür, daß der von ihnen bereits praktizierte ambulante Abbruch legalisiert wird.

Konkrete Ergebnisse

Es gab viel Kritik an diesem fünften lateinamerikanischen FeministinnenKon­greß. Es gab kein gemeinsames Abschlußkommuniqué, doch es gab viele Vor­schläge aus einzelnen Workshops. Hier die wichtigsten davon: Um von der ewi­gen Jammerei wegzukommen, hin zu konkreten Aktionen, wurden zu diversen Themen kontinentweite Netze gegründet: Zum Beispiel zu Medien, physischer Gesundheit, zu Gewalt von Frauen… Der Straferlaß der argentinischen Regierung gegenüber der Verbrechen den Militärs wurde verur­teilt und die Ablehnung der Zahlung der Auslandsschulden bekräftigt. Außerdem wurde die Solidarität mit dem revolutionären Prozeß in Kuba betont.
Der Vorschlag der Vertreterinnen der spanischen Frauenorganisation Flora Tri­stan aus Madrid, die Feierlichkeiten zum 500.Jahrestag der “Entdeckung” Latein­amerikas zu einer großen Protestveranstaltung von Frauen aus Lateinamerika und Europa im Oktober 1992 in Sevilla zu nutzen, wurde mit großem Protest ab­gelehnt. Die Lateinamerikanerinnen fühlten sich von den Spanierinnen domi­niert. Sie wollten nicht feiern, sondern lieber selbst auf ihren eigenen Spuren der Geschichte nachgehen.
Das nächste Treffen wird 1992 in Mittelamerika stattfinden, in einem noch aus­zuwählenden Land. Den mittelamerikanischen Frauen bleibt es überlassen, wie des nächste Kongreß gestaltet werden soll: ein weiterer Mammutkongreß mit dann vielleicht 57.000 Frauen oder Delegiertenprinzip oder dezentrale themenbezogene Treffen.

“Diese Politik begünstigt nur die herrschenden Klassen”

Frage: Fujimori ist im Juni mit einem erdrutschartigen Sieg zum Präsidenten gewählt worden. Es war vor allem auch die einfache Bevölkerung, die ihn ge­wählt hat. Aber es fällt auch auf, daß er in den Gebieten unter Ausnahme­zustand, wo Sendero Luminoso aktiv ist, Ergebnisse weit über dem Landes­durchschnitt erzielen konnte. Wenn man noch die Unterstützung durch die im “informellen Sektor” tätige städtische Bevölkerung hinzunimmt, so entsteht der Eindruck, daß er ein Präsident des Volkes ist. Danach jedoch überraschten seine Wirtschaftsmaßnahmen, unter denen ja vor allem diejenigen zu leiden haben, die ihn wählten. Wie erklärst Du Dir diesen Widerspruch?

Walter Palacios: Alberto Fujimori wurde von einer so breiten Mehrheit gewählt, weil er zwei Sachen auszunutzen verstand: auf der einen Seite die Ablehnung gegenüber der Programmatik der rechten Frente Democrático (FREDEMO), die, von Mario Vargas Llosa angeführt, Wirtschaftsmaßnahmen verkündete, die für das Volk sehr hart gewesen wären. Auf der anderen Seite die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Führung der IU. Aber das bedeutet nicht, daß Alberto Fujimori eine soziale Basis hat. “Cambio 90” ist keine Partei, das ist ein Name, den sich Fujimori ausgedacht hat, um seine Wahlkampagne zu führen. Nach den Wirtschaftsmaßnahmen und angesichts der Repression ist es absurd, wenn jemand meint, Fujimori habe seine Basis in der armen Bevölkerung. Seine Basis sind der IWF, die Großunternehmer und das Militär, das gegen die protes­tierende Bevölkerung vorgeht.

Frage: Wenn wir mal die Frage nach der Unterstützung durch die Bevölkerung beiseite lassen, so könnte man/frau vielleicht dennoch sagen, daß die Re­gierung von Fujimori zumindest eine Regierung von Fachleuten ist, die im Gegensatz zu vorherigen Regierungen wenigstens nicht versuchen, die Staatsein­nahmen zu unterschlagen oder irgendwelchen Fremden zuzu­schachern. Ist es nicht auch in den Augen der UDP ein Fortschritt, daß die Re­gierung tatsächlich versucht, Lösungen für die Probleme des Landes zu fin­den?

Dieser Begriff der “Fachleute” wird benutzt, um die öffentliche Meinung in die Irre zu führen. Der Premierminister Juan Carlos Hurtado Miller, der zugleich das Amt des Wirtschaftministers bekleidet, ist z.B. ein hochrangiger Vertreter von Acción Popular, einer der Parteien der FREDEMO, und er war schon unter Belaúnde Minister. Das zeigt klar, was von diesen angeblichen Fachleuten zu halten ist. Andere Beispiele sind Minister wie Sánchez Salavera, ein Fürhrer der Partido Socialista Revolucionaria von der Izquierda Socialista (IS) oder Gloria Helfer, die einen wichtigen Posten in MAS, einer der Parteien der IU bekleidete. Die Regierung Fujimori wird von Politikern gebildet. Ganz abgesehen davon meinen wir von der UDP, daß das Entscheidende nicht ist, wer die Regierung bildet, sondern welche Maßnahmen diese Regierung trifft. Wichtig ist, ob die Maßnahmen dieser Regierung dem Land und der Bevölkerungsmehrheit helfen oder nicht. Und unserer Meinung nach bringen die vom IWF diktierten Wirtschaftmaßnahmen dem Volk seit dem achten August nichts weiter als Unglück und Elend.

Frage: Aber glaubst Du nicht, daß gerade diese Wirtschaftsmaßnahmen Aus­druck einer realistischen Politik sind, die sich an der tatsächlichen internatio­nalen und nationalen Situation orientiert und nicht an irgendwelchen Wunschvorstellungen? Ist es nicht sinnvoll, mit dem IWF und den US-ameri­kanischen Banken auch über die Auslandsschuld zu reden?

Diese Politik ist schon realistisch, aber nur im Sinne der Großunternehmen und der herrschenden Klassen. Es ist keine realistische Politik, wenn man vorhat, die Probleme des Landes und das Elend der Bevölkerung zu lindern. Es heißt, es gäbe keinen anderen Ausweg, als sich wieder in die internationale Finanzwelt zu integrieren und mit dem IWF zu verhandeln. Wir denken, daß man damit die Unabhängigkeit Perus aufgibt. Wenn man die Wirtschaftskraft Perus betrachtet, weiß man, daß die Auslandsschuld nicht bezahlt werden kann. Wenn jetzt irgend­jemand trotzdem versucht, sie zu zahlen, indem er die Löhne senkt und die indirekten Steuern erhöht, um den Staatshaushalt zu sanieren, dann ist das auch auf lange Sicht keine Politik, die dem Volke nützt, da diese Politik die Rezes­sion verstärkt. Diese Politik begünstigt nur die herrschenden Klassen, deren Interessenvertreter eben jene vermeintlichen Fachleute sind.

Frage: Ist es nicht vorstellbar, daß das jetzt zwar eine harte Phase für das Volk, für die Armen, ist, daß sich aber langfristig die wirtschaftliche Situation bes­sert, und dann auch die Armen von der Verbesserung profitieren?

Unserer Meinung nach gibt es keine Lösung für die Probleme des Landes inner­halb dieses Systems des abhängigen Kapitalismus. Es kann zwar vorübergehende Erfolge für diese Regierungen geben, wie z.B. die Inflation zu senken, aber das geschieht immer mit enormen sozialen Kosten. Und die Schwächsten der Gesell­schaft – die Kinder, die Frauen und die Allerärmsten – sind diejenigen, die es am härtesten trifft. Die Erfolge dieser Maßnahmen werden dem Volk also überhaupt nichts nützen. Das gilt nicht nur in Peru sondern in ganz Lateinamerika. Diese Maßnahmen verschärfen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und führen zu sozialen Explosionen.

Frage: Manchmal hat es den Anschein, daß die Opposition – und nicht nur die IU, sondern auch andere Parteien – eigentlich keine Alternativen zu der herr­schenden Politik entwickeln können. Stimmte das Volk nicht auch deshalb für Fujimori, weil die IU offensichtlich nicht wußte, wie sie das Land regieren sollte?

Die Opposition gegen Fujimori und auch gegen die vorherigen Regierungen war und ist vielfältig. Es gibt die legale Linke im Parlament, es gibt die konkreten und täglichen Kämpfe der Bevölkerung, die in Gewerkschaften und anderen Zusam­menschlüssen organisiert ist. Und es gibt eine bewaffnete Opposition. Unserer Meinung nach hat die legale, parlamentarische Linke es bisher leider nicht geschafft, eine konsequente Opposition zu entwickeln und gleichzeitig mögliche Alternativen vorzuschlagen. Das ist ein Ergebnis der Desorientierung und der Krise von Sektoren der parlamentarischen Linken der IU. Das ist auch ein Ergeb­nis davon, daß Teile dieser Linken Alberto Fujimori nicht nur im Wahlkampf geholfen haben, sondern ihn auch heute noch unterstützen. Mitglieder von Par­teien der Linken haben wichtige Posten in der Regierung Fujimoris, und das zeigt, daß die parlamentarische Linke die Wirtschaftsmaßnahmen Fujimoris nicht konsequent ablehnt und auch keine gangbare Alternative präsentieren kann.

Frage: Du siehst in der IU keinerlei Ansatz für eine solche Opposition?

Die parlamentarische Linke arbeitet nicht in der Form, in der sie arbeiten müßte. Wo sich etwas entwickelt, das ist in den direkten Aktionen der Massen.

Frage: Es sieht so aus, als hätte die IU jeglichen Anstand verloren. So schloß sie sich zum Generalstreik gegen das Schockprogramm Fujimoris mit der APRA zusammen. Wie kann die IU nach fünf Jahren Opposition gegen die APRA eine solche Oppositionskoalition mit dieser machen – einen Monat, nachdem die APRA die Regierung verlassen hat?

Ich glaube, man muß hier zwei Sachen differnzieren. Zum einen ist die IU ein Zusammenschluß verschiedener politischer Parteien, die zu bestimmten Proble­men auch unterschiedliche Meinungen haben. Und zum anderen muß man bei der IU auch zwischen Basis und nationaler Leitung unterscheiden. Es gab immer Sektoren in der IU, die den Kontakt zur APRA suchten und das nicht erst, seit­dem Fujimori an der Macht ist. Andere Sektoren der IU und vor allem die Basis waren immer dagegen und wollten eine unabhängige und in der Volksbewegung verwurzelte Position entwickeln. Und man muß auch sehen, daß die APRA nach ihrem Scheitern als Regierungspartei eine völlig opportunistische Politik macht, während die IU tatsächlich Repräsentanten hat, die die Kämpfe des Volkes unter­stützen.

Frage: Es ist auch hier in der BRD davon gesprochen worden. daß die MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru – neben Sendero Luminoso derzeit die zweite wichtige Guerilla in Peru) mit der Regierung Fujimoris – nicht mit Fujiomori persönlich – verhandeln will. Weißt Du etwas darüber?
In der Presse konnte man lesen, daß die MRTA meint, der Dialog könne eine Waffe sein, um die Unehrlichkeit der Herrschenden offenzulegen. Sowohl Alan García als auch Fujimori haben vor Amtsantritt gesagt, sie wären zu einem Dia­log mit den bewaffneten Gruppen bereit. Die MRTA hat diese Vorschläge aufge­griffen, worauf dann sowohl Alan García als auch Fujimori abgewinkt haben. Diese Dialogvorschläge sind also ein Mittel der herrschenden Klassen, um die Unterstützung des Volkes zu gewinnen.

Die Dialogvorschläge sind ein Mittel der herrschenden Klassen

Denn das Volk will keine irrationale ungebremste Gewalt. Es will kein Blutbad, auch wenn es bereit ist zu kämpfen. Nach den kriminellen Wirtschaftsmaßnah­men Fujimoris hat die MRTA über verschiedene Zeitungen mitteilen lassen, daß es weder mit Fujimori noch mit seiner Regierung einen Dialog geben kann.

Frage: Die überdurchschnittlichen Wahlergebnisse für Fujimori in den Gebieten unter Ausnahmezustand zeigen, daß die Bevölkerung mit Fujimori eine Humanisierung der Streitkräfte erwartete, denn von Vargas LLosa und der FREDEMO erwarteten alle eine Verschärfung des schmutzigen Krieges. Was kann man nach den ersten Monaten der Präsidentschaft Fujimoris sagen? Hat sich diese Hoffnung erfüllt? Fangen die Streitkräfte und die Polizei lang­sam an, die Menschenrechte zu beachten?

Nein, diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Repression wird im Gegenteil immer härter, denn diese Politik ist nicht von einer Regierung oder einer Person gemacht worden, sondern von den herrschenden Klassen und dem nordamerika­nischen Imperialismus. In einem krisengeschüttelten Land hat das Volk das Recht zu rebellieren und zu kämpfen. Das geschieht in Peru. Genauso wie sich Fujimori ökonomisch auf die großen Monopole, auf den IWF und die internatio­nalen Banken stützt, so stützt er sich intern, um die “Ordnung” aufrecht zu hal­ten, auf die peruanischen Streitkräfte, vor allem auf das Heer. So wird ein aktiver General des Heeres Innenminister und damit zum Chef der Polizei und das, ob­wohl das Innenministerium traditionell mit einem Zivilisten oder einem ranghohen Polizisten im Ruhestand besetzt wurde. Auch der Verteidigungsminis­ter ist ein aktiver General. Klarer kann man die Beziehung zwischen Fujimori und der Armee nicht ausdrücken. Das Heer hat die Hände frei für den schmutzigen Krieg und die Repression.

Frage: Angesichts dieser Situation: Was sind die Alternativen, die Deine Organisa­tion, die UDP, vorschlägt?

Das Land befindet sich in einer strukturellen Krise, deswegen können die Proble­me nur durch tiefgreifende revolutionäre Veränderungen gelöst werden. Trotz­dem meinen wir, daß wir auch Forderungen aufstellen müssen, die schon inner­halb dieses liberalen kapitalistischen Systems erfüllt werden können. Es gibt einen Forderungskatalog, den nicht nur die UDP, sondern auch andere linke Kräfte wie die Nationale Volksversammlung und die Verteidigungsfronten unter­stützen: eine unabhängige Wirtschaftspolitik, die nicht den Diktaten des IWF, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank folgt; keine inflationäre und rezessive Wirtschaftspolitik, die den Produktionsapparat des Landes gefährdet, sondern im Gegenteil Reaktivierung des Produktionsapparates durch Erhalt der Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit; eine gerechte Steuerpoli­tik, die hohe Steuersätze für die großen Unternehmen und reiche Privatpersonen vorsieht und die indirekten Steuern, die das ganze Volk zahlt, beseitigt; keine Steuervergünstigungen für die großen ausländischen Firmen, vor allem nicht für die Erdöl- und Bergbauunter­nehmen, die unsere Bodenschätze ausbeuten; besondere Vergünstigungen für die Landwirtschaft, um durch höhere Erträge die Versorgung mit Lebensmitteln zu verbessern; Verurteilung aller, die sich in illegitimer Weise auf Staatskosten be­reichert haben, Ende des schmutzigen Krieges und Demilitarisierung des Landes; Rücktritt der Generäle von Innen- und Verteidigungsministerium und von anderen öffentlichen Ämtern; Strafe für diejenigen, die Kriegsverbrechen begangen haben und schließlich eine Politik, in der soziale Gerechtigkeit und Frieden gleichzeitig angestrebt werden. Jede Regierung, die die Leiden des Volkes wirklich mindern will, kann diese Vorschläge aufgreifen, die die Nationale Volksversammlung, die UDP und andere Organisationen gemacht haben.

Kasten:

Als Mitbegründer und Mitglied des Zentralkomitees des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria – “linksrevolutionäre Bewegung”) beteiligte sich Walter Palacios an der Guerilla von 1965. Von 1988 bis 1989 war er Chefredakteur der Wochenzeitung “Cambio”. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Unidad Democrática Popular (UDP), einer linken Partei außerhalb der Izquierda Unida (vereinigte Linke).

Götzendämmerung ?

September, der Monat mit seiner Häufung patriotischer Daten vom Jahrestag des Put­sches bis zum Tag der nationalen Unabhängigkeit hatten die Chilenen mit be­klommener Spannung entgegengesehen, weil er als ein Kräftemessen zwischen Militärs und der neugewählten Regierung gesehen wurde. Als Aylwin bei der traditionellen Militärparade von Teilen des rechten geladenen Publikums aus­gepfiffen wurde, signalisierte das die ungebrochene Arroganz der Rechten. Vom glänzenden Schein des Heeres in jenen Paradetagen ist wenig geblieben.
Seinen ersten schweren Fehler beging Pinochet, als er sich mit der Bundeswehr anlegte; er hatte seine Kräfte sträflich überschätzt. Es reicht wohl, an die Anek­dote zu erinnern, die Chile auch für unsere Medien plötzlich wieder interessant machte: als Schwule, Drogenabhängige und Gewerkschafter hatte Pinochet “unsere Jungs” geschmäht. Die energischen Proteste des AA konnten der chileni­schen Regierung eigentlich nur recht sein – der Oberkommandierende hatte ein­deutig seine Kompetenzen überschritten und sich in die Politik eingemischt. Um die wichtigen Beziehungen zur damaligen BRD nicht weiter zu belasten, konnte Aylwin gar nicht anders, als Pinochet zum Rapport zu bestellen und ihn zu rüf­feln…Für die Regierung der erste Punktgewinn.
Im Oktober fielen zwei Ereignisse zusammen, die sich in ihrer Wirkung poten­zierten: der Cutufa-Skandal und das alljährliche Ritual der Beförderungen im Heer.

CUTUFA

Die Aufklärung des Cutufa – Skandals steckt erst in den Anfängen, aber soviel ist bisher klar: etwa 1986 gründeten Offiziere des Heeres und Agenten des Geheim­dienstes CNI eine illegale Finanzgesellschaft, in der überwiegend Mili­tärs, aber auch Zivilisten ihre Gelder anlegten. Die Zinsen lagen mit 10-15 % monatlich erheb­lich über den banküblichen Zinsen; das “Gesellschaftskapital” soll in der Hoch-Zeit bis zu 50 Millionen US-Dollar betragen haben. Der Kreis der Anleger und Schuldner soll nach Aussagen des inzwischen inhaftierten Ex-Hauptmanns Castro ca. tausend Personen umfassen, davon 150 Offiziere aller Ränge.
Anlaß zur Aufdeckung der geheimen Gesellschaft war die Ermordung eines Mit­glieds im Juli vor einem Jahr. Angesichts der ungewissen Zukunft, 1989 standen die Präsidentschaftswahlen an, wollte der Restaurantbesitzer Sichel seine Einlage von ca. 1 Million. Dollar abziehen; das wurde ihm nach wiederholtem Drängen zugesagt. Die Rückzahlung aber hätte die Cutufa in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, so wurde er ermordet; Unterlagen, die seine Beteiligung an der Finanz­gesellschaft belegten, wurden von Geheimdienstagenten aus seinem Hause ent­fernt.
Der mit der Untersuchung des Mordes beauftragte Richter konnte (oder wollte ?) ein Jahr lang rein gar nichts herausfinden, obwohl die Witwe des Ermordeten von Beginn an die Geschäftspartner ihres Mannes verdächtigte. Erst im Septem­ber 1990 gelang der Durchbruch an die Öffentlichkeit, als ein Hauptmann wegen Scheckbetrugs verhaftet wurde. Seitdem haben sich die Ereignisse erheblich be­schleunigt; inzwischen sitzen zwei Offiziere in Haft, einer davon ist der Beteili­gung am Mord verdächtig; eine mit der Untersuchung des Scheckbetrugs beauf­tragte Richterin hat sich mysteriöserweise in ihrem Auto verbrannt.
Pinochet hatte zunächst einen General mit der internen Untersuchung beauftragt, inzwischen hat er zusätzlich seinen früheren obersten “Terroristenverfolger” ein­gesetzt, dem möglichen Mißbrauch staatlicher Gelder nachzuspüren; auf Antrag des Nationalen Verteidigungsrats wurde ein weiterer ziviler Richter zur Unter­suchung des Falles eingesetzt, bei dem selbst die rechte Zeitschrift “Qué pasa” auf das beliebte Bild von der Spitze des Eisbergs zurückgreift.
Offene Fragen bleiben in der Tat genug. Bis in welche militärischen Ränge rei­chen die Verwicklungen? Chilenische Zeitschriften verweisen immer wieder. Auf anonyme Militärs mit Erklärungen, daß Außenstehende sich keinen Begriff machen könnten, was intern los sei.
Sechzehn Offiziere wurden wegen ihrer Beteiligung an der illegalen Finanzge­sellschaft entlassen, weit über hundert andere erhielten Einträge in ihre Perso­nalakten, womit ihre militärische Karriere im nächsten Jahr beendet ist. Von den sechs im Herbst pensionierten Generälen werden unterschiedlich zwei bis vier Namen mit der Cutufa in Verbindung gebracht. Die im Heer entstandene Unruhe hat mit dem militärischen Ehrenkodex zu tun: Unter den Nicht-Beteilig­ten ist es die Betroffenheit über den Skandal selbst; unter den Beteiligten die Frage, ob noch aktive vermutlich beteiligte Generäle in gleicher Weise zur Ver­antwortung gezogen werden wie ihre Untergebenen.
Noch brisanter aber wird natürlich die Antwort auf die Frage, an was für Geschäften die Cutufa eigentlich verdiente. Angesichts der Gewinnspannen, d.h. den lukrativen Zinsen, können es keine legalen Geschäfte gewesen sein. Bislang kann die chilenische Presse dazu nur Spekulationen bieten, durch einige Indizien gestützt – und die weisen in Richtung Drogen- und illegaler Waffenhandel sowie Kreditgeschäfte zu Wucherzinsen. Sollte sich das bestätigen, stünden die Streit­kräfte und der Terrorapparat der CNI auch vor ihren rechten Sympathisanten ganz schön nackt da.(Die Luftwaffe übrigens, ohnehin agiler in der Phase des Übergangs zur Demokratie, gab auf Nachfrage zu verstehen, daß auch in ihren Reihen eine solche Anlagegesellschaft existiert habe, das Problem aber bereits intern bereinigt worden sei.

Pinochet reibt sich an seiner Verfassung wund

Zeitlich parallel zu dieser Korruptionsaffaire bereitete Pinochet den jährlichen Höhepunkt militärischer Rituale vor – die Verkündung über Beförderungen und Abschiede der Kameraden; in dieser Entscheidungsgewalt über militärische Kar­rieren sehen chilenische Kommentatoren den eigentlichen internen Machtfaktor eines Oberkommandierenden. Die vermeintliche Sternstunde wurde zur bisher schwersten politischen Niederlage Pinochets, denn Aylwin akzeptierte nur vier der vorgeschlagenen sechs Beförderungen vom Brigadegeneral zum Generalma­jor; den dritten und vierten Vorschlag nach der hierarchischen Rangordnung akzeptierte er nicht.
Auf dem Spiel stand natürlich das Prinzip, daß das Militär der demokratisch ge­wählten Exekutive untersteht. Die Verfassung, unter Pinochet geschneidert, gibt eindeutig dem Präsidenten das letzte Wort; Pinochet stützte sich auf ein ebenfalls unter ihm erlassenes Gesetz, das Beförderungen nach Dienstalter zwingend vor­schreibt. Die Controlaría, die die Entscheidung auf ihre formale Richtigkeit zu überprüfen hatte, gab nach tagelangem Grübeln der Regierung Recht. Aylwin hatte einen entscheidenden politischen Sieg über Pinochet errungen, das Prinzip der Unterordnung der Militärs unter die Regierung in diesem Präzedenzfall durchgesetzt.
Selbstverständlich durfte die Regierung Aylwin in dieser Grundsatzfrage keine Schwäche zeigen, und sie war entschlossen, diesen Konflikt für sich zu entschei­den: Sie war vorbereitet, sich der Verfassung entsprechend gegen eine eventuelle negative Entscheidung der Controlaría mit der Unterschrift aller ihrer Minister unter das Dekret durchzusetzen.
Der Verlauf des Konfliktes zeigte darüber hinaus, wie isoliert Pinochet außerhalb des Heeres ist. Luftwaffe und Marine hatten es vorgezogen, ihre Beförderungs­vorschläge vorab mit dem Verteidigungsminister abzuklären – entsprechend rei­bungslos nach außen verlief die Angelegenheit.
Aber auch die politische Rechte hatte wenig Lust, in diesem Fall weiter auf Pino­chet zu setzen. Sie hat keine Initiative ergriffen, die widersprüchliche Gesetzes­lage vor dem Verfassungsgericht klären zu lassen. Noch sitzt übrigens Pinochet mit dem Schwarzen Peter in der Hand, was er mit den nicht-beförderten Generälen anfängt. Da sie von Dienstjüngeren übersprungen wurden, müßten sie nach ihrem Ehrenkodex ausscheiden. Davon ist bislang wider Erwarten keine Rede; für Parera hat Pinochet nur den Posten eines Militär-Attachés gefunden.

Vorsicht -nicht stürzen

Es sind eigene Fehler, die Pinochet in diese Lage manövriert haben. Sein Anspruch, die Streitkräfte unter einer zivilen Regierung als autonom behaupten zu können, ist schmerzhaft gedämpft worden. Angesichts der bekannt werden­den Korruption in Heer und Sicherheitsapparat stellt sich natürlich die Frage nach seiner Verantwortung für “seine” Leute, und sie wird innerhalb wie außer­halb des Heeres gestellt.
Der Konflikt um die Beförderungen zeigt darüber hinaus, daß innerhalb der Streitkräfte bedingungslose Loyalität gegenüber diesem Oberkommandierenden sich nicht mehr auszahlt – beide von Aylwin nicht beförderten Generäle waren entschiedene Pinochet- Leute; gegen Parera, den Kommandanten der wichtigen Garnison Santiago, sprach nicht nur das Pfeifkonzert der vom Militär geladenen Gäste gegen Aylwin auf der Septemberparade, sondern der Affront, daß er selbst bei der Parade dem Präsidenten (also Aylwin) den militärischen Gruß verweigert hatte. Der andere nicht beförderte General, Ramón Castro, war Pinochet bei einem anrüchigen Grundstücksgeschäft hilfreich.
In dieser Situation setzt die Regierung Aylwin auf Erosion der Position Pino­chets, nicht auf Sturz. Von offizieller Seite kein Wort über Rücktritt !Von Regie­rungsseite kein Schritt, der als Angriff verstanden werden könnte und möglicher­weise dazu führt, daß sich die Reihen der Kameraden noch einmal schließen.
Trotzdem finden sich Spekulationen in der chilenischen Presse, daß Pinochet spätestens im August nächsten Jahres “ehrenvoll” verabschiedet werde. Wie das ?
Voraussichtlich im Januar wird die zur Untersuchung der Menschenrechtsverlet­zungen eingesetzte Kommission “Wahrheit und Versöhnung” ihren Bericht an Aylwin übergeben; der zunächst bis November befristete Auftrag wurde verlän­gert. Obwohl die Kommission ihr Schweigegelöbnis bisher offenbar strikt einge­halten hat, also bislang keinerlei Details bekannt wurden, sollen auch rechte Mit­glieder der Kommission über die Ergebnisse betroffen sein. Welchen Gebrauch Aylwin von dem Bericht macht, ist ihm überlassen; der Auftrag an die Kommis­sion lautete nur, schwere Fälle von Menschenrechtsverletzungen (mit Todes­folge) zu dokumentieren. Aber es liegt in der Natur dieser Sache, daß sie politi­sche Konsequenzen wird haben müssen. Der Zeitpunkt dafür dürfte März sein, wenn das politische Leben nach dem chilenischen Sommer wieder beginnt. Aber auch dann ist kaum mit einem unter öffentlichem Druck erzwungenen Rücktritt zu rechnen.
Die von Aylwin bisher verfolgte Politik läßt eher vermuten, daß dann – während der Bericht über die Menschenrechtsverletzungen unter dem Tisch des Präsi­denten liegt – mit dem Ex-Diktator sein baldiger Abgang ausgehandelt wird.

Kasten:

Ein Stimmungsbericht aus Chile

Mit der neuen Regierung hat es natürlich schon Veränderungen im Land ge­geben, z.B., was die Pressefreiheit, die Kultur, die Repressionskräfte betrifft, aber was die wirtschaftliche Lage und die Menschenrechte angeht, passiert in Chile überhaupt nichts.
Wirtschaftlich geht es weiter mit dem ultraliberalen Modell der Chicago-Boys, und das führt – zusammen mit der Ölkrise – zu einer Beschleunigung der In­flation. In den letzten beiden Monaten stieg sie um 8%. Das bedeutet, daß sich die sozialen Probleme verschärfen, daß die Menschen enttäuscht sind, aber sie haben Angst, laut zu protestieren, denn die Miltärregierung könnte ja wieder kommen. Die Regierung nutzt das aus und betreibt eine gegen die Armen ge­richtete Wirtschaftspolitik.
Davon profitiert die Rechte. Z.B. hat die UDI (ultrarechte Partei) jetzt Organi­sationen für Wohnungslose, Arbeitslose usw. aufgebaut, das bedeutet, daß dieselben, die keinerlei Änderung wollen, gleichzeitig die Unzufriedenheit des Volkes ausnützen für ihre Zwecke.
Was die Menschenrechte angeht, ist die Situation schlimm: Es werden weiter­hin überall in Chile laufend Leichen gefunden, viele Menschen klagen an, aber die Regierung tut nichts, damit die Schuldigen bestraft werden, vielmehr verhandelt sie weiter mit ihnen, mit der Rechten und mit Pinochet, dem Ver­antwortlichen für diese ganzen Schrecken. Es ist paradox, daß es immer noch politische Gefangene gibt, und die CNI (Geheimdienst) gleichzeitig weiter agieren kann. Die christdemokratischen Abgeordneten haben sogar, gemein­sam mit der Rechten, der CNI Haushaltsmittel für das nächste Jahr zugeteilt. Es gibt weiterhin politische Verbrechen und Entführungen. Kein einziger Fol­terer oder Mörder ist im Gefängnis oder vor Gericht.
Das alles, und dazu noch die Krise aller linken Parteien (PC, Sozialisten, Christliche Linke, MIR), das ist sehr entmutigend und ich frage mich jetzt oft, ob es sich wirklich gelohnt hat, so viele Jahre lang hart zu arbeiten und zu kämpfen, und alles andere zu vernachlässigen, um dazu beizutragen, eine ge­rechtere Gesellschaft aufzubauen.
R.S.

Die Linke im Bann der verfassunggebenden Versammlung

“Im Establishment herrscht Angst und Zittern” und der rechtsgerichtete Kolumnist D’Artagnan der konservativen Tageszeitung E1 Tiempo bringt es auf den Punkt: “Werden wir zusehen müssen, wie die Verursacher des Holocausts des Justizpalasts (‘) als Mitglieder in unsere verfassungsgebende Versammlung gewählt werden?” Gemeint sind Exguerilleros der linkspopulistischen M-19, die im März 1990 abgerüstet und legalisiert wurde und heute als reputierliche Mittelklassepartei mit ihren Augenaufschlägen vor der deutschen Sozialdemokratie und ihren Diskursen von einem “demokratischen Kapitalismus” nicht nur die traditionelle und revolutionäre Linke aus der (Ver-) Fassung bringt. Auch gewählt wird schon wieder: das Volk hat es so gewollt. Von einer Studentenbewegung lanciert und als Initiative der hijos de papi (Muttersöhnchen der Reichen) gutwillig von Präsident Barco gegen Ende seiner Amtszeit aufgenommen (er hatte ja nichts mehr zu verlieren), fand bei den Gemeinde-und Parlamentswahlen im März (inoffiziell auf Initiative von Studenten und Volksorganisationen), sowie bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai (offiziell durchgeführt und ausgezählt) eine Volksabstimmung über die Konstitution einer verfassunggebenden Versammlung statt, “um die partizipative Demokratie zu stärken, ja/nein”. In der Gewißheit, mit den traditionellen klientelistischen Hilfsmitteln (auf gut deutsch: Stimmenkauf gegen Geld, Einflug und Pöstchen) und der konservativen Presse noch genügend Steuerungskraft zu besitzen, ließen sich die traditionellen Parteien sogar auf eine direkte Wahl der zukünftigen Verfassungsmütter und -väter ein -nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Versammlung soll nach ihrer Wahl am 6. Dezember in völliger Selbstbestimmung das erstarrte und korrumpierte politische System reformieren und, soweit gehen heute die Erwartungen, einen neuen “Sozialpakt” auf einer völlig erneuerten verfassungsrechtlichen Grundlage in dem von politischer Gewalt zerrütteten Land möglich machen.
Zu Beginn schien grundsätzliche Skepsis noch angebracht, war doch zu erwarten, daß es der Konservativen und Liberalen Partei, den traditionellen Eliten, gelingen würde, das Vorhaben für sich zu instrumentalisieren. Doch schon heute hat die Asamblea Constituyente auf der politischen Bühne so viel in Gang und gleichzeitig durcheinander gebracht, daß Konservativen und Liberalen in weiten Bereichen die Kontrolle entglitten zu sein scheint und ihre alten Muster, nach denen sie jahrzehntelang gemeinsam Politik machten, nicht mehr gelten. Und das Allerschlimmste im Sinne des eingangs zitierten Kolumnisten: In den Umfragen liegt die M-19 vor Liberalen oder Konservativen in der Gunst des Wahlvolkes. Ihre Liste, angeführt von Antonio Navarro Wolf, birgt in der Tat Überraschungen: angeschlossen haben sich ihr drei Liberale, der progressiv- konservative Alvaro Leyva Durán und der bekannte Soziologieprofessor Orlando Fals Borda. Doch auch links von der M-19 hat sich Interessantes getan, wurden alte Unvereinbarkeiten linken Sektierertums aufgegeben. So haben Kommunisten, Sozialisten, Castristen und Unabhängige sich in einer Liste geeint und setzen alles daran, mit ihrem Spitzenkandidaten Alfredo Vásquez Carrizosa, Ex-Außenminister und Vorsitzender des Permanenten Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte, mit neuer Offenheit und Toleranz als linke Alternative ernst genommen zu werden. Egal ob revolutionäre, dem Guerillakampf verbundene und bisher abstentionistische Kräfte wie A Luchar, reformistisch orientierte Kommunisten oder konziliante, bezüglich ihrer Herkunft schwer erkennbare Exmaoisten: sie legen in diesem Jahr ohne Ausnahme den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit und mehrheitlich auch ihre Hoffnungen (also nicht nur Taktik) in eine verfassungsrechtliche Reform, verstanden als zukünftige Grundlage für einen Umbau der Gesellschaft, der als nicht mehr hinausschiebbar wahrgenommen wird. Kein Wunder: Kolumbien hat im lateinamerikanischen Vergleich die höchste Mordrate, die höchste Boden(Besitz-)konzentration und die unerbittlichsten neoliberalen Wirtschaftssitten in Gestalt des Drogenhandels. Doch wie kam es zu den programmatischen und organisatorischen Veränderungen in der Linken? Ein Blick zurück kann vielleicht ansatzweise eine Antwort geben.
Seit Ende der 50er Jahre bis in die Gegenwart wurde Kolumbien durch ein ausschließliches Zweiparteien-System (dem sogenannten Bipartidisrno) beherrscht, das in der Nationalen Front institutionell und auch verfassungsrechtlich bis 1978 abgesichert war. Nach der bürgerkriegsähnlichen Violencia der 40er und 50er hatten sich die verfehdeten Liberalen und Konservativen Parteien auf dieses Modell der Kooptation und paritätischen Amterbesetzung geeinigt, nach-dem der damalige Konflikt klassenspezifische Dimensionen angenommen hatte. Die Nationale Front sicherte nicht nur jahrzehntelang das trügerische Bild einer stabilen Präsidialdemokratie, sie garantierte und reproduzierte immer wieder auch den Ausschluß oppositioneller politischer Bewegungen. In diesem Kontext ist die marginale Entwicklung der Linken zu sehen, die sich, von der halblegalen und isolierten Kommunistischen Partei einmal abgesehen, nie im legalen Raum als Volks-oder Massenpartei über punktuelle historische Momente hinaus institutionalisieren konnte. Entweder wurde sie in die Illegalität (zur Guerilla) getrieben wie die Volksbewegung der Frente Unido um Camilo Torres (er ging zur ELN und fiel wenige Monate später), oder sie wurde von den traditionellen Parteien gespalten, korrumpiert und aufgesogen wie die “Revolutionäre Liberale Bewegung” MRL -Prozesse, die Mitte der sechziger Jahre stattfanden. Oder sie zerbrach an institutionellen Hürden, Wahlbetrug und fehlendem inneren Zusammenhalt wie die populistische ANAPO und ihr sozialistisches Strömungsanhängsel im Jahr 1970 (das zur Geburtsstunde der M-19 wurde), oder, letztes Beispiel, sie wurde in einem strategisch geführten Schmutzigen Krieg physisch liquidiert, wie die Unión Patriótica (UP)der 80er Jahre. Die UP war als legales Projekt der Kommunistischen Partei und der kommunistischen Guerilla aus dem “Friedensprozeß” unter dem damaligen Präsidenten Betancur hervorgegangen. (Anderen Guerillaorganisationen wie der M-19 -deren Popularität damals schon weit in die Mittelschichten hinein reichte -gelang die Konstitution einer legalen politischen Partei zu diesem Zeitpunkt aufgrund der massiven Verfolgung durch Todesschwadronen nicht). Bei den Präsidentschaftswahlen 1986 gelang es der UP noch mit Jaime Pardo Leal(1987 ermordet) für kolumbianische Verhältnisse beachtliche 4,5% der Stimmen zu erringen. Bei den Wahlen 1990 war sie für eine Kandidatur physisch nicht mehr in der Lage: ihr Kandidat Bernardo
Jaramillo wurde schon vorher umgebracht. Obwohl -oder gerade weil? -sich die politischen.Morde vorwiegend gegen die perestroikos,die Vertreter einer politischen Öffnung richteten, brachte die Perestroika-Diskussion in den letzten zwei Jahren die Linke erneut in Bewegung. Doch auch die Friedensverhandlungen, die die M-19 mit der Regierung Barco ab dem Frühjahr 1989 führte, beeinflusste die “Öffnungsdiskussion”der Linken und führte zu einem neuen Stellungbeziehen in der Frage des bewaffneten Kampfes -in klarer Abgrenzung zur M-19. “Keine Verhandlungen, keine Waffenniederlegung, ohne daß die Oligarchie zu Verhandlungen über soziale und politische Reformen bereit ist”, blieb die Devise. Nichtsdestoweniger wird unter Marxisten diverser Richtungen immer mehr der orthodoxe Diskurs durch eine allgemein-verständlichere Sprache abgelöst und der Avantgarde-Anspruch immer mehr durch die Idee der “kollektiven Avantgarde”. Diskussionen um eine Demokratisierung der Partei-bzw. Organisationsstrukturen sind in Gang.
Die M-19 hingegen hat in dieser Zeit vorgeführt, wie es geht, mit möglichst viel Prinzipien in möglichst kurzer Zeit zu brechen -und damit Wähler zu gewinnen: Bei den Präsidentschaftswahlen am 27. Mai verwies sie den offiziellen Kandidaten der Konservativen Partei auf den vierten Platz und errang auf Anhieb 12,5 % der Stimmen. Nicht nur, daß sie das Ende des Guerillakampfes in Lateinamerika ausrief und in einer parlamentarischen Demokratie -einer reformbereiten natürlich -nur noch Gutes sah. Nein, sie bekennt sich auch (laut Wahlprogramm) zu einem “Kapitalismus der Besitzenden”, einem Kapitalismus, “in dem alle reale Chancen auf Eigentum haben”. -Doch vielleicht hatte sie genau das unter “Volksmacht” immer verstanden? Und wenn in diesem Versprechen vielleicht gerade ihr Erfolgsgeheimnis läge?
Sicher ist, daß die alte, sich mühsam reformierende Linke, zwischen Neid auf die Popularitätswelle der Eme und Ablehnung von deren Anbiederung an die Macht, gleichzeitig vom Erfolg des Zivilismus und des demonstrierten Glaubens an eine Reformierbarkeit des abgewirtschafteten Systems in den Bann gezogen wird. Doch auch wenn diese Hoffnung berechtigt ist, wenn es gelingen sollte, mit neuen Mehrheitsverhältnissen die Verfassung des Landes zu reformieren und das Legitimationsdefizit der alten Eliten für eine Demokratisierung von Politik und politischer Kultur zu nutzen: Die Macht über die materiellen Reichtümer und zu deren Umverteilung ist damit noch nicht in anderen Händen.

(‘) Im November 1985 wurde der Justizpalast von der M-19 besetzt. Bei der Gegenoffensive der Streitkräfte kamen über 100Menschen ums Leben; zahlreiche Personen, Guerilleros wie Zivilisten, wurden vom Militär verschleppt und zu Tode gefoltert.

“Es gibt keine Alternative zum parlamentarischen Weg”

LN: Der MCP ist die größte Bauernorganisation in Paraguay. Welches sind die Strukturen und wie groß ist der Stellenwert des MCP in der Politik Paraguays?

Pastora Coronel: Der MCP ist eine der größten Bewegungen, die im Moment in Paraguay existieren. Er entstand 1980 und seitdem kämpfen wir für die Erfüllung von 14 Forderungen: Als wichtigstes fordern wir eine wahrhaftige, integrale Agrarreform in Paraguay, denn Paraguay ist ein durch und durch agrarisches Land. Mehr als 70% der Bevölkerung sind Campesinos. Außerdem fordern wir gerechte Preise für die Agrarprodukte der vielen Kleinbauern. Seit der Gründung haben wir für eine wirkliche Arbeiterorganisation gekämpft, die für die Rechte der Arbeiter und Baueren kämpft. Unter der Stroessner-Diktatur gab es lediglich regierungstreue Gewerkschaften, wie die CPT. Deswegen erachten wir die Gründung der CUT am 6.8.1989 ,als erste unabhängige Arbeitervertretung, als einen der größten Erfolge seit dem Sturz Stroessners. Der MCP ist eines der Gründungsmitglieder dieses unabhängigen Gewerkschaftsdachverbandes. Darüberhinaus kämpfen wir für einen nationalen Zusamrnenschluß der Bauern. Zur Zeit bestehen in Paraguay drei nationale Campesino-Organisationen. Die Gründung eines nationalen Zusammenschlusses ist gerade in diesem konjunkturell wichtigen Moment von besonderer Bedeutung, denn der Kampf der Campesinos ist sehr glühend und wir denken, daß mittels dieser Konföderation der Kampf der Bauern konsolidiert werden kann. Wir kämpfen für die Respektierung der Menschenrechte in Paraguay und haben innerhalb des MCP eine spezielle Gruppe für dieses Thema. Außerdem verlangen wir die Respektierung der Kulturen der existierenden Ethnien und Indígenas in Paraguay. Dies sind unsere wichtigsten Ziele.
Der MCP ist eine der wichtigsten Organisationen in Paraguay mit 100.000 bis 120.000 Mitgliedern. Wir arbeiten in 14 der 19 Departements in Paraguay. Das Organisationssystem ist von der Basis der Campesino-Gemeinschaften ausgehend regional und dann national strukturiert.

LN: Wie arbeitet der MCP?

P.C. Der MCP definiert sich als Klassenorganisation und hat verschiedene Kampfmethoden, unter ihnen vor allem die Organisation von Landbesetzungen. In Paraguay existiert seit der Stroessner-Diktatur das nationale Agrarentwick­lungsinstitut IBR, das eine Lösung des Landproblems herbeiführen soll. Diese Organisation hat nie nach einer Lösung der Probleme der Campesinos gesucht, sondern immer die Interessen der Großgrundbesitzer vertreten. Außerdem organisiert der MCP große Kundgebungen und Besetzungen z.B. des IBR. Im Moment ist zum Beispiel die Kathedrale in Asunción permanent von Landlosen besetzt, die ihre Rechte einfordern. Straßen werden blockiert etc. Ohne Zweifel hat General Rodríguez nach dem Sturz Stroessners viele Versprechungen gemacht, unter anderem die, eine wahre integrale Agrarreform durchzuführen. Diese Versprechen hat er im Laufe der Zeit keineswegs eingelöst. Im Gegenteil: Er hat neue repressive Instrumente geschaffen, um den Kampf der Landlosen in Paraguay zu unterdrücken.

‘Die Repression wächst in Paraguay …’

Drei Monate nach der Wahl hat er den CONCODER (Consejo Nacional de Coordinación Para el Desarrollo Rural) gegründet, der von einem General des Heeres geleitet wird. Dieser hat als einziges Produkt eine Spezialeinheit gegründet, ein Repressionsinstrument von bewaffneten Zivilisten und Polizisten. Seine einzige Aufgabe war die Vertreibung von Campesinos, die Land besetzen, sie zu foltern und gefangenzunehmen. Nachdem vom MCP und der CUT Druck ausgeübt wurde, verschwand diese Spezialeinheit von der Bildfläche. Aber heute haben wir in Paraguay weitere besondere Unterdrückungsinstrumente, spezielle Einheiten innerhalb der Polizei. So konnte das Militär sich zurückziehen und die Hände in Unschuld waschen, aber für uns ist klar, daß sich die Armee öffentlich zurückzieht, um im Geheimen zu arbeiten. Die Repression wächst in Paraguay. Neben diesen Repressionsinstrumenten der Regierung existieren in Paraguay Gruppen und Organisationen der Großgrundbesitzer. Diese haben ihre eigenen bezahlten Pitoleros, die die friedlichen Landbestzungen unterdrücken sollen. Diese haben immer die Unterstützung der Regierung.
Auch die Volksorganisationen werden unter Druck gesetzt. Im Moment haben wir in Paraguay mehr als 250 politische Gefangene wegen Landbesetzungen. Wir haben mehr als zweihundert Landbesetzungen von unproduktiven Latifundien, von denen 90% geräumt wurden. Aber es gibt keine andere Aiternative zu den Landbesetzungen unproduktiver Ländereien. Innerhalb der Besetzungen haben wir natürlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten. Fehlende Gesundheitsvorsorge, fehlende Ausstattung und Nahrungsmittelversorgung Obdachlosigkeit, und dies hat weitere Probleme zur Folge.

‘Wir haben uns keine Illusionen über die ‘Demokratisierung’ in Para- guay gemacht.’

LN: Hat der Regierungswechsel im Februar letzten Jahres Freiräume eröffnet oder bedeutet er lediglich die Kontinuität der Diktatur?

P.C.: Wir haben uns keine Illusionen über die “Demokratisierung” in Paraguay gemacht. Für uns war klar, daß es eine weitere Taktik des nordamerikanischen Imperialismus ist, um die lateinamerikanischen Länder auszubeuten. Die Diktaturen in den Ländern waren zu kriminell geworden, und so mußten sie gegen demokratische Regime ausgewechselt werden, um eine weitere Ausbeutung für 30 oder 40 Jahre und ihre Interessen zu sichern. Wir wußten, daß Rodríguez nichts in Paraguay ändern würde.
Gegenteil, das Leben der Arbeiter ist generell wesentlich schwieriger geworden. Rodriguez hat 35 Jahre lang eine kriminelle Politik gegenüber dem Volk getragen, und von einen Tag auf den anderen war er so schnell demokratisch, daß es lächerlich wirkte. Aber speziell nach sechs, sieben Monaten gab es eine kleine politische Öffnung. Aber heute hat er wiederum diese Öffnung enorm eingeschränkt. Die soziale und politische Struktur hat sich kein Stück geändert. Die Volkssektoren haben die politische Öffnung maximal ausgenutzt. So sind zum Beispiel nach dem Sturz Stroessners mehr als 200 Gewerkschaften in Asuncion entstanden, was vorher nie möglich war. Die CPT war immer von der Regierung gesteuert, unter der Leitung des Führers der antikommunistischen Einheit, die extrem faschistisch war. Auf dem Land haben sich die Campesino-Organisationen sehr stark konsolidiert.

‘Die Parteien verlieren an Glaubwürdigkeit.’

LN: Wie ist das Verhältnis des MCP zu den verschiedenen Parteien.
P.C.: Die Colorado-Partei, die 35 Jahre lang das kriminelle Regime von Stroessner getragen hat ist im Moment total atomisiert und zerstritten. Die liberale PRLA, die wesentlichste Oppositionspartei unter Stroessner, hat immer die Diktatur unterstützt und ist heute die Partei, die am meisten mit dem Demokratisierungsprozeß -dem imperialistischen Projekt -kompromittiert ist.
Für uns sind dies die wesentlichen Betrüger-Parteien des Volkes. Die PRLA hatte nie eine Verankerung in den Massen und verliert immer mehr an
Glaubwürdigkeit. Beide Parteien verlieren Terrain. Aber in dem Freiraum des Übergangs sind verschiedene kleine linke Parteien entstanden. Zum Beispiel entstand die PT, die Arbeiterpartei, ein Produkt der Assimilierung der Volkskämpfe von Arbeitern und Bauern, eine wichtige linke Partei. Die Partido Democratico Pupular PDP unterscheidet sich kaum von der PT, aber sie hat die bessere Arbeitstaktik innerhalb der Arbeiter-und Bauernmassen. Die Arbeiter und Bauern diskutieren ihr eigenes Projekt und in kurzer Zeit wird eine neue Partei entstehen, die der MCP gründen wird, als wahre Repräsentanz der Arbeiter und Bauern und der progressiven Sektoren in Paraguay. Die Mehrheit
der MCP-Mitglieder ist in dieses Projekt integriert.

LN: Für den MCP ist also der parlamentarische Weg eine konkrete Perspektive?

P.C.: Das ist eine schwierige Frage. Aus Taktik beschreiten wir diesen Weg. Aber es gibt keine Alternative, das hat das Beispiel Salvador Allendes gezeigt. Diese Erfahrung wollen wir wenn möglich nicht wiederholen. Die Mehrheit der Linken in Paraguay denkt, daß es keine Alternative zum parlamentarischen Weg gibt, auch wenn wir denken, daß das Parlament ein Ort vieler Scharlatane ist, die viel reden und nichts tun. Der bewaffnete Kampf einer Guerilla ist für Lateinamerika im Moment kein gangbarer Weg. Man muß abwarten, was der konjunkturelle historische Moment für Freiräume Iäßt. Die linken Parteien sitzen noch nicht im Parlament, weil sie neu sind und dabei sind, sich zu konsolidieren. Jetzt muß die Basis in den Massen konsolidiert werden, bevor sie im Parlament sitzen.

Die politische Strategie der FMLN – Die demokratische Revolution

Am 24. September veröffentlichte die Comandancia General der FMLN eine Pro­klamation an die Nation mit dem Titel “Die demokratische Revolution”. In einem Minimalprogramm werden die politischen Grundlinien aktualisiert und in die nationale Debatte eingebreacht. Es richtet sich an die “Nation”, nicht an die mit der FMLN in Verhandlung stehende Regierung. Es skizziert den Weg einer “demokratisch nationalen Revolution” zur Wiedererlangung der nationalen Sou­veränität und zur Schaffung eines dauerhaften Friedens in El Salvador.

Zum 10. Jahrestag der FMLN – Veränderte Positionen

Nach den Konzepten der FMLN über die “revolutionär-demokratische Regie­rung” von 1980 und über die “Regierung mit breiter Partizipation” von 1983 ist das jüngste Programm der FMLN das weitreichendste und umfassendste. Neben bereits in früheren Dokumenten publizierten Grundlinien lassen sich revidierte Positionen feststellen:
– Statt der Verteidigung der einen Partei als Motor des revolutionären Prozesses propagiert die FMLN nun den politischen und ideologischen Pluralismus
– Von der Vorstellung des Staatseigentums als maximalem Ausdruck des gesell­schaftlichen Eigentums ist die FMLN abgegangen und plädiert dafür, das gesell­schaftliche Eigentum direkt unter Arbeiterkontrolle zu stellen. Zudem ist neben kollektiven und assoziativen Eigentumsformen auch Privateigentum vorgesehen.
– Neu ist die Bereitschaft der Befreiungsbewegung in einen permanenten Kon­zertationsprozeß mit allen gesellschaftlichen Gruppen und Sektoren zu treten.
– Zum ersten Mal taucht programmatisch die Forderung auf, die ungleiche Posi­tion der Frau in der Gesellschaft zu ändern.

Die demokratische Revolution

Die “national-demokratische Revolution” beinhaltet vier wesentliche Verände­rungen der salvadorenischen Bevölkerung, so die FMLN: 1) Die erste und zugleich grundlegende für den weiteren Entwicklungsweg sei die Beendigung der Militarisierung der Gesellschaft. Das Thema, aufgrund dessen die Verhand­lungen mit der Regierung immer wieder zum Stillstand kamen. 2) Darauf auf­bauend fordert die FMLN eine neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung, die nationale Demokratisierung und die Wiedererlangung der nationalen Souverä­nität.
3) Um die militarisierten Strukturen der Gesellschaft zu demokratisieren sei zunächst die totale Abschaffung der Streitkräfte notwendig, so die Forderung der Befreiungsbewegung. Die dadurch freiwerdenden Finanzmittel sollten in Erzie­hungs- und Gesundheitsprojekte investiert werden. Zur Sicherung der internen Ordnung ist die Schaffung von “Kräften der öffentlichen Sicherheit” vorgesehen, die vom Parlament kontrolliert und von zivilen Kräften geleitet werden. 4) Die Todesschwadronen der Streitkräfte und der privaten Unternehmer sollen aufge­löst und alle für Repression, politische Verfolgung und Morde Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Die neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung

Sieben Maßnahmen sind vorgesehen, um die wirtschaftliche Macht der Oligar­chie zu brechen. Durch eine tiefgreifende Agrarreform soll der Boden im Agrarsektor zugunsten der kleinen und mittleren Bauern umverteilt werden. Vorgesehen sind Kooperativen sowie kleine und mittlere private Eigentumsfor­men. Achse des neuen Wirtschaftssystems soll die Entwicklung eines “wirtschaftlichen Pols” der Bevölkerung (polo economico popular) sein. Gemeint ist die Entwicklung und Verstärkung von Kooperativen und selbstverwalteten kollektiven Eigentumsformen in allen produktiven Sektoren. Der größte Bereich der Ökonomie soll direkt in die Hände von ländlichen und städtischen Arbeiter­Innen gelangen und ihnen so die Partizipation an wirtschaftlichen Entscheidung­en garantieren.
Ebenso soll eine Reform des städtischen Eigentums zugunsten der marginali­sierten Bevölkerung erfolgen. Der Staat soll für alle sozialen Belange der Gesell­schaft, wie Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Kultur, zuständig sein. Durch eine permanente nationale Konzertation, an der UnternehmerInnen, ArbeiterIn­nen und der Staat teilnehmen, sollen Löhne, Preise, Arbeitsplätze und Kredite festgelegt werden.
Den Frauen wird durch eine neue Gesetzgebung eine den Männern gleichge­stellte gesellschaftliche Position formaljuristisch garantiert. Festgeschrieben werden gleichzeitig ihre Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen, bes­sere Arbeitsbedingungen, Schwangerschafts- und Mutterschutz.

Nationale Demokratisierung

Das demokratische System basiert nach Vorstellung der FMLN grundlegend auf der Anerkennung der individuellen Freiheit und dem Respekt der Menschen­würde. Angestrebt wird repräsentatives, partizipatives und pluralistisches politisches System, in dem dem Parlament eine starke Position zugesprochen wird. Neben einer unabhängigen Justiz, dem Schutz der Menschenrechte sowie Meinungs- und Medienfreiheit werden in Minimaldefinitionen ein neues Wahl­gesetz und eine neue Verfassung gefordert.

Nationale Souveränität – Unabhängige Außenpolitk

Das vierte und letzte vorläufige Ziel einer zukünftigen Gesellschaftsordnung um­faßt Grundsätze und Maßnahmen zur internationalen und Außenpolitik. Zu den USA sollen Beziehungen des gegenseitigen Respekts aufgebaut werden, wenn diese die nationale Souveränität und Selbstbestimmung El Salvadors anerkennen. Außenpolitisches Ziel ist der Kampf für eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die Interessen Zentral- und Südamerikas und der gesamten “Dritten Welt” verteidigt werden. Ausgangspunkt der Außenpolitk sind die Neutralität bezüg­lich internationaler Militärpakte, die Kooperation im internationalen Kampf ge­gen den Drogenhandel sowie die Beilegung der Grenzprobleme mit Honduras. El Salvador sollte nach Willen der FMLN in die Gruppe der mit Kuba politisch und ökonomisch zusammenarbeitenden Staaten eintreten.

Keine Absage an den Sozialismus

Die FMLN präsentiert ihre strategischen Grundlinien zu einem Zeitpunkt, an dem in El Salvador eine nationale Debatte über die Zukunft des Landes in einem bisher nicht bekannten Maße geführt wird. Parteien, Kirche, Gewerkschaften und das “Komitee für die nationale Verteidigung” (CPDN), in dem seit 1988 über achtzig gesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen sind, diskutieren die zentralen Themen, die Gegenstand der Verhandlungen sind: Beendigung des Militarismus, Wahlgesetzreform, Verfassungsreform. Die Ergebnisse der Diskus­sion werden regelmäßig in die Verhandlungen getragen. Die Dynamik der poli­tischen Mobilisierung übt auf die Regierung Cristiani erheblichen Druck aus. Insofern soll die Proklamation der FMLN ein Beitrag zum Prozeß des “nationalen Konsenses” sein.
Rebeca Palacio, Comandante der FMLN, zum Charakter der Proklamation: “Sie ist ein Instrument für die Gegenwart, insofern, als sie den Proze der nationalen Konzertation verstärkt, und ein Instrument für die Zukunft, weil sie ein Wegwei­ser in Richtung einer neuen Regierung sein kann.”
Im elfseitigen Text ist die Rede von Demokratisierung und Pluralismus. Hat die FMLN dem Sozialismus abgesagt?
Rebeca Palacio: “Wir haben unsere ideologischen Grundlagen nicht verändert. Aber wir sind fähig, ein Projekt zu konzipieren, das die Türen für eine gesell­schaftliche Entwicklung öffnet, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt und der heutigen Realität entspricht…Es ist kein sozialistisches Projekt, aber sicher ein revolutionäres.”
Und Maria Marta Valladores, ebenfalls Comandante der FMLN: “Wir glauben, daß die Lösung für die Probleme des Landes nicht durch die Ideologie derer de­finiert ist, die das Land voranbringen, sondern durch die Fähigkeit, ein lebensfä­higes Projekt vorzuschlagen.”
So verstanden ist die Proklamation der FMLN ein strategisches Papier, das Spiel­räume öffnen soll. Es ist nicht Ausdruck von Verlust an ideologischen Grundsätzen, sondern zeigt Realismus und Pragmatismus.
“In diesem Augenblick ist unsere erste Sorge nicht die, mittels einer Revolution nach kubanischem Muster an die Macht zu kommen. Diese war zur damaligen Zeit richtig. Wir kämpfen dafür, die Demokratie zu errichten und nehmen an den Kämpfen in diesem Sinne Teil”, so FMLN-Comandante Emilio Maria Sandoval.
Zudem ist das FMLN-Programm Teil einer umfassenden Strategie der Befrei­ungsbewegung, zu der die Verhandlungen sowie die internationale Diplomatie gehören und die ohne den bewaffneten Kampf nicht zu denken sind.

Und Cristiani…?

Weniger umfangreich als die Proklamation der FMLN ist dagegen der Vorschlag, den Präsident Cristiani am 1.Oktober vor der Generalversammlung der Verein­ten Nationen der internationalen Öffentlichkeit kundtat. “Wir sind zu einem Waf­fenstillstand bereit”, verkündete er stolz, “vorausgesetzt, die FMLN ist es ebenso.”
So ernsthaft, wie von Cristiani vorgebracht, so einhellig wurde er von den eben­falls nach New York gereisten Parteien El Salvadors abgelehnt. Wen wundert’s.

Polizei und Menschenrechte – Traurige Realität Mexikos

Die Anklage konkretisiert sich: “Beamten aller Einheiten der Sicherheitskräfte werden der Folter und willkürlicher Verhaftungen angeklagt. Insbesondere die Bundes-Justizpolizei (Policia Judicial) ist Gegenstand schwerster Anklagen. Deren Agenten genießen eine enorme Autonomie und Straffreiheit, trotz der Ungesetzlichkeit ihrer Aktionen.”(Proceso, 20.8.90) Dies ist die Erkenntnis eines US-Menschenrechtskomitees von Rechtsanwälten im Juli dieses Jahres.
In Mexiko herrscht ein Klima der “öffentlichen Unsicherheit”. Tagtäglich berich­ten die Zeitungen über Zwischenfälle, über politisch motivierte Morde, Klagen gegen Folter oder Übergriffe von PolizistInnen auf PassantInnen und Autofahre­rInnen. JedeR weiß, daß die größte Gefahr, überfallen zu werden, von PolizistInnen ausgeht, die bis in die untersten Ränge so korrupt sind, daß sie nach Belieben Leute auf der Straße ausrauben können, ohne mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen zu müssen.
Das Menschenrechtszentrum “Fray Francisco de Victoria” O.P vom Dominika­nerorden hat eine chronologische Dokumentation aller angezeigten Menschen­rechtsverletzungen der letzten zwei Jahre erstellt, deren Veröffentlichung im Time-Magazin der Organisation unangenehme offizielle Proteste einbrachte. 1.200 Fälle werden dort aufgezählt, und die Dunkelziffer ist kaum abzuschätzen.
Die Anlässe der Übergriffe reichen von simplen Verbrechen über gewalttätige Verbrechensbekämpfung, meist in Zusammenhang mit Rauschgifthandel, bis zu politischer Repression im Zuge von Wahlauseinandersetzungen oder Landbesetz­ungen. Hauptangeklagte sind die Bundespolizei, Staatspolizei und die regionale Polizei. Danach kommen, nach Einschätzung eines Berichtes von “Americas Watch”, die Kaziken (inoffizielle regionale Machthaber), Solda­ten, bezahlte Killer und paramilitärische Gruppen. Besonders pro­blematisch ist die Lage auf dem Land, wo Bäuerinnen und Bauern sowie Indigenas schutzlos jeder Art von Aggression ausgesetzt sind. Sogar das staatliche “Instituto Nacional Indigenista (INI) schätzt die Zahl der unrechtmäßig verhafteten BäuerInnen auf über 5000.

Menschenrechtskommission oder Imageaufbesserung ?

Auf Weisung von Salinas de Gortari wurde am 6.Juni dieses Jahres eine Men­schenrechtskommission ins Leben gerufen. Ihre RepräsentantInnen haben einen guten Ruf, neben dem Ex-Rektor der UNAM, Jorge Carpizo und dem Sozialwis­senschaftler Rodolfo Stavenhagen verpflichtete sich auch der Schriftsteller Carlos Fuentes. Dennoch ist die Skepsis groß. Hierarchisch ist die Nationale Menschen­rechtskommission (CNDH) dem Innenministerium untergeordnet, wodurch trotz gegenteiliger Versicherungen deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Außerdem stehen ihr kaum wirksame Instrumente zur Verfügung, um zu inter­venieren – lediglich Gesetze und moralische Autorität. Schon bei den ersten Aus­einandersetzungen mit der Staatsanwaltschaft zeigte sich, daß die Appelle der CNDH bezüglich der Behandlung von Festgenommenen kaum ernstgenommen werden.
Andererseits bewirkt die Kommission, daß die Diskussion um die Menschen­rechtsfrage intensiver geführt wird, und sogar die Generalstaatsanwaltschaft sah sich gezwungen, Weisungen gegen Folter als Vernehmungsmethode auszugeben, womit sie solche Praktiken innerhalb der Justiz indirekt bestätigt. Da die Kom­mission bisher kaum Erfolge zu verzeichnen hat, wenden sich die Betroffenen weiterhin an andere Organisationen, die seit langem versuchen, in Sachen Men­schenrechte Druck auszuüben. Immer häufiger werden die Anklagen im Ausland erhoben, da dort eine breitere Öffentlichkeit erreicht wird und sich der interna­tionale Druck langsam erhöht. Vor kurzem reiste Rosario Ibarra de Piedra vom Komitee zur Verteidigung der Verfolgten und Verschwundenen (Eureka) nach Kalifornien und Kuba und berichtete , daß die Fälle von 556 Verschwundenen immer noch ungeklärt sind. Zwölf dieser Fälle ereigneten sich in den ersten zwei Regierungsjahren von Salinas. Auch die Tatsache, daß die CNDH wenige Tage vor dem Besuch von Salinas in den USA gegründet wurde, verleitet zur Annahme, daß die Sorge um das internationale Ansehen Mexikos die Regierung zu dieser Initiative bewog. In der Praxis macht die PRI (Institutionalisierte ‘Revolutions’partei) keinerlei Anstalten, neue Gesetze zu erlassen oder effektiv gegen die Korruption in Justiz und Polizei vorzugehen.

Justizpolizei und Staatsanwaltschaft

Die Verbindungen von Polizei und Staatsanwaltschaft veranschaulichen, daß Gewalttätigkeiten der Exekutive weder kontrolliert noch legal verhindert werden können. Die Justizpolizei, die der Staatsanwaltschaft als Untersuchungsinstru­ment dient, steht theoretisch unter deren Kontrolle. In der Praxis jedoch agieren deren BeamtInnen ohne jegliche Einschränkung. Mit oder ohne das Wissen ihrer Vorgesetzten begehen sie jede Art von Verbrechen. In einer Dokumentation berichtet die US-Menschenrechtskommission von RechtsanwältInnen über wei­tere Details dieses Unrechtsapparates. Als wichtigste Instanz der Staatsanwalt­schaft ist die Justizpolizei auch mit der Aufklärung der von ihr begangenen Ver­brechen betraut. Kein Wunder, daß diese Untersuchungen langsam vorangehen und nie zu einer Aufklärung führen. Besonders berüchtigt sind die zivilen Be­amtInnen der Justizpolizei, deren Namen nirgends auftauchen und die unter dem Schutz ihrer Behörde bzw. in deren Auftrag Verbrechen begehen. Sie sind allgemein als “madrinas” bekannt. Ihre einzige Untersuchungsmethode ist die Folter. Auch dienen sie als InformantInnen und SpionInnen. Als rechte Hand der Justizpolizei sind sie schwer bewaffnet, bekommen Autos und Hotelzimmer zur Verfügung gestellt und viele vermeintliche Delikte werden von ihnen definitiv “geklärt”, bevor andere Instanzen überhaupt davon erfahren. Vielen von ihnen wird außerdem nachgesagt, im Drogengeschäft mitzumischen.
Andere Klagen richten sich gegen die mexikanische Armee und gegen die Anti-Drogenpolizei. Im Namen des Kampfes gegen die Drogen verhaften, foltern und morden AgentInnen beider Institutionen, vor allem auf dem Land, wo BäuerIn­nen des illegalen Anbaus bezichtigt werden. Illegale Festnahmen und Folter werden in Mexiko inzwischen als reguläre Untersuchungsmethoden bezeichnet. Viele RichterInnen berichten, daß die Angeklagten in den Prozessen offensichtli­che Folterspuren aufweisen. Das Schlimme ist, daß jegliche Aussage, egal unter welchen Umständen zustande gekommen, vor Gericht als definitiv gilt. So ent­scheiden die ersten Stunden nach der Festnahme über das Schicksal des/der Betroffenen und diese Zeit verbringt sie/er in den Händen eines korrupten und gewalttätigen Polizeiapparates.

Kasten:

Anlaß dieses Artikels ist die Beschreibung der Bedrohung und politischen Verfolgung einer Familie in Mexiko, die den LN mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt wurde. Die Betroffenen bitten darum, Telegramme an die mexikanische Regierung zu schicken, in denen die Freiheit und ein Lebensbeweis für die folgenden Personen verlangt werden: Ana Vera Smith, Luis Escala Rabadan, Victoria Osona Tapia de Rocha, Esther Dolores Tapia Garcia de Osona, Esther Osona Tapia.

Amazonien

Die COICA ist ein Organ, das am 26. März 1984 in Lima von den nationalen indianischen Organisationen selbst gegründet wurde. Zur Zeit gehören ihr fünf nationale Organisationen (aus Peru, Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Brasilien) mit jeweils diversen Unterorganisationen an, die zusammen Bevölkerung von über 1 Millionen Menschen vertreten. Als ihre Funktionen gibt die COICA an:
-die Mitgliedsorganisationen vor verschiedenen zwischenstaatlichen Instanzen und Nicht-Regierungs-Organisationen auf nationaler Ebene zu vertreten;
-die territorialen Forderungen, die Selbstbestimmung und die Respektierung der Menschenrechte der indianischen Völker durchzusetzen;
-die Einheit und gegenseitige Zusammenarbeit zwischen allen indianischen Völkern zu stärken;
-die Erneuerung der kulturellen Werte und die integrale Entwicklung all ihrer Repräsentanten in jedem Land, zweisprachige interkulturelle Erziehungsprogramme und Gesundheitsarbeit in jedem Mitgliedsland bei gleichzeitiger Achtung seiner Autonomie und unter Wahrung seiner Sitten und Besonderheiten zu gewährleisten.
die COICA durch Einbeziehung oder den Anschluß weiterer indianischer Organisationen zu erweitern.

Indianisches Leben und Territorium als Strategie zur Verteidigung Amazoniens

1. Wir sind hier -indianische Völker und Umweltorganisationen -da wir ein Interesse gemein haben: den Respekt für die Welt, in der wir leben, und den Schutz dieser Welt, sodaß die gesamte Menschheit ein besseres Leben haben kann. Ein wesentlicher Punkt dieses Anliegens ist die Erhaltung des amazonischen Regenwalds. Wir indianischen Völker und unsere Territorien in Amazonien gehören uns gegenseitig, wir sind eins. Die Zerstörung eines Teiles von Amazonien betrifft alle anderen Teile.

2. Seit langer Zeit haben wir in dem Wald gelebt und ihn genutzt, ohne ihn zu zerstören. Wir haben ihn in einer ganzheitlichen und integralen Weise bewirtschaftet-und wir waren jahrhundertelang seine Verteidiger. Unsere Völker wurden geschwächt und als Resultat dessen ist auch der Schutz Amazoniens verringert worden. Heute sind wir erneut die wichtigsten Protagonisten der Verteidigung und des Schutzes Amazoniens.

3. Wir sind an einem Scheideweg angelangt. Werden wir verschwinden oder werden unsere Völker und der Wald überleben? Da der Wald für uns keine Ressource ist, ist er das Leben selbst. Er ist für uns der einzige Ort zum Leben. Die Abwanderung bedeutet, als Volk zu sterben, da der Amazonas das einzige Erbe ist, das wir unseren Kindern hinterlassen können. Diese Tatsache steht hinter unserer Energie und Entschiedenheit ohne Zaudern oder Umkehr.

4. Der Wald wurde von jenen ausgebeutet, die auf unmittelbaren Gewinn aus waren, der zur Überausbeutung der Ressourcen führt und uns die Möglichkeit einer Zukunft vernichtet. Im Gegensatz dazu denken wir indianischen Völker sowohl an uns wie an den Wald als eine Einheit.

5. In dem Maße wie die Zerstörung alarmierend wird, hat sich die Sorge um Amazonien ausschließlich auf die Natur konzentriert, ohne die Zerstörung der indianischen Völker in Betracht zu ziehen. Millionen Dollars wurden in Parks und in den Naturschutz investiert, wobei die Hauptgaranten die durch kurzfristige Interessen motivierten Regierungen waren.

6. In einigen Fällen haben leider Parks und andere Schutzmaßnahmen dazu gedient, uns Indianern weitere Grenzen aufzuerlegen. Sie engen uns ein und wir verlieren die Kontrolle über unsere Gebiete. Oftmals haben sich Parks nur als Reserven für eine zukünftige Ausbeutung von 01, Gold und Holz erwiesen. Parks sind keine Realität in dem Sinne wie Völker es sind. Parks sind nur ein Dekret, etwas, das sich jederzeit ändern kann, das abhängig ist und vergewaltigt werden kann.

7. Technische Kriterien für Parks und wissenschaftliche Interessen an ihnen stellen eine Schranke dar, die viel weniger effektiv ist als die Verteidigung, die ein Volk mit einer Projektion in die Zukunft ausübt. Aber gemeinsame Aktionen beider könnten effektive Resultate erzielen.

8. Daher ist es unser Anliegen, daß indianisches Territorium anerkannt und zurückgewonnen wird, durch welche legalen Mittel auch immer. Konzept und Richtlinie für die Bewirtschaftung der Territorien sollte die Kultur der indianischen Völker, die dort leben, sein. Wie es dem Recht aller Völker entspricht, sollten die Indianer die breitest mögliche Kontrolle haben über alle Ressourcen, die auf ihren Gebieten zu finden sind.

9. Das indianische Territorium als ein physischer Raum, eder in einer diversifizierten und integralesn Weise bewirtschaftet wird, ist Naturschutz im besten Sinne des Wortes. Es ist kein Schutz wie in einem Museum, dessen Resultate so enttäuschend waren.

10. Wir haben kein Lehrbuch, sondern vielmehr eine uralte Kultur.

14. Das Recht auf Territorien bedeutet für uns, eine direkte Vertretung als Volk -nicht nur als Bevölkerung -ausüben zu können, in welcher Diskussion auch immer, sei sie national oder international, politisch oder wissenschaftlich.

15. Wenn diese Kriterien in logischer und gerechter Weise angewandt werden, dann ist es klar, daß unsere Präsenz in Amazonien viel größer ist als die offizielle Politik zugibt, die uns spaltet und als Minderheiten, die im Aussterben begriffen sind, darstellt. Unsere Präsenz in Amazonien und unsere Fähigkeit, seine Zukunft zu bestimmen, wird anerkannt werden, wenn wir die notwendige ideologische Unterstützung erhalten.

16. Aufgrund aller oben genannter Gründe schlagen wir vor, daß die Umweltschützer der Welt sich mit den indianischen Völkern verbünden, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.

Wir laden Euch ein, diesen Schritt hier und heute zu tun.

Iquitos, 9. Mai 1990

Die Abschlußdeklaration, die den Forderungen der COICA voll entspricht, wurde von 26 teilnehmenden und 14 beobachtenden Organisationen aus Amerika und Europa unterschrieben. Ein Folgetreffen im September 1990 in Washington D.C.wurde vereinbart.

Die gesellschaftliche Struktur der Straffreiheit

“Niemals in der Geschichte von El Salvador hatte sich irgendein Militärangehöri­ger vor Gericht zu verantworten […] hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik ge­bunden.” Der Satz stammt von einem gewissen Aguiles Baires, mutmaßlicher Kommandant der Todesschwadron “Maximiliano Hernández Martínez”, der Al­lianz der Antikommunistischen Aktion. Der Satz spiegelt eine tiefe Überzeugung breiter Schichten der salvadorianischen Armee wieder.
“Hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik gebunden”; dies muß auch Oberst Benavides in jener Nacht des 15. November vergangenen Jahres gedacht haben, als er die Sitzung des Generalstabs verließ und die Kommando-Einheit des Ba­taillons Atlacatl einberief, um die Leutnants Espinoza Guerra und Mendoza Vallecillos mit der “Mission” zu beauftragen, die Jesuiten zu ermorden, weil “das Vaterland in Gefahr” sei. Der Widerstand gewisser Sektoren innerhalb des Mili­tärs gegen die gerichtliche Verfolgung von Benavides läßt sich angemessen nur durch diese allgemeine Wahrnehmung der Offiziere erklären. Sie glauben sich, wie Nietzsches Übermensch, an einem Ort, jenseits von Gut und Böse, dort, wo sie kein Gesetz der Republik erreichen kann. Ironischerweise maßen sie sich je­doch gleichzeitig an, Legalität für sich in Anspruch zu nehmen.
Als am 6. Januar der Präsident Cristiani öffentlich verkündete, was Tutela Legal (Menschenrechtsorganisation der kath. Erzdiozöse; d. Übers.) schon sechs Wo­chen vorher behauptet hatte, nämlich, daß die Armee an dem Massaker an den Je­suiten beteiligt war, schien die bisher ungebrochene Straffreiheit der Militärs für Menschenrechtsverletzungen Risse zu bekommen. Einige glaubten sogar, El Sal­vador würde zu einer richtigen Demokratie werden. Diese Hoffnung verstärkte sich noch, als der Präsident eine Woche später die Namen der Offiziere enthüllte, die an dem Massaker beteiligt waren. Das hatte es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben, daß ein Oberst in einer solchen Angelegenheit vor Gericht ge­stellt wurde. Aber die Ressourcen der Straffreiheit sind unerschöpflich; die Nach­richt, daß Benavides ein Privatappartement habe, häufig Besuch erhalte und be­sonderes Essen serviert bekomme, erschien zuerst in der Washington Post am 22. Februar, blieb aber zunächst völlig unbeachtet. Die Zeitung fügte hinzu, daß Cri­stiani ärgerlich sei über die konfortable Luxusbehandlung Benavides`; die Situa­tion sei jedoch – so Cristiani – tolerierbar, solange Benavides an seinem Zwangs­aufenthalt verbleibe.
Die Situation ist ernst, nicht so sehr wegen der materiellen Bequemlichkeiten, die Benavides genießt, sondern vielmehr wegen der gesellschaftlichen Struktur der Straffreiheit, die dies ermöglicht. Das übergeordnete Problem des Respekts der Menschenrechte in El Salvador wurzelt in eben dieser Struktur der Straffreiheit für die Streitkräfte, die die Menschenrechte konsequent und immer wieder mit Füßen treten. Die Bemühungen der USA, die Idee der Achtung der Men­schenrechte innerhalb der Armee zu verankern, sind kläglich gescheitert. Die USA haben während des zehnjährigen Krieges nicht ein einziges Mal wirksame Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß Soldaten straffrei davonkom­men. Man konnte nach dem Massaker an den Jesuiten glauben, daß sich die Si­tuation zu verbessern begänne, aber die Tatsache, daß die Armee als Institution an der “Strafverfolgung” maßgebend beteiligt ist und Benavides ein solch luxu­riöses Leben bereitet, könnte den größten Optimisten demoralisieren. Die Struk­tur der Straffreiheit der Streitkräfte nach Menschenrechtsverletzungen ist so tief verwurzelt, daß auch die USA nichts dagegen unternehmen konnten. Wenn dies in einem Fall wie dem der Jesuiten passiert, in dem Protest und Abscheu welt­weit zu vernehmen waren und in dem die USA soviel Druck ausgeübt haben, was ist dann bei Gewalttaten zu erwarten, die Soldaten in irgendeinem abgelege­nen Dorf verüben?
Dieses Problem der Straffreiheit hat auch wichtige Konsequenzen für die Durch­führbarkeit des sogenannten demokratischen Prozesses in El Salvador. Streng genommen handelt es sich um ein strukturelles Problem eines jeden politischen Systems, das eine demokratische Struktur über einem hypertrophierten Militär­apparat installieren möchte. Es ist kaum zu erwarten, daß “wer bewaffnet ist, be­reitwillig dem gehorcht, der unbewaffnet ist”, formulierte Machiavelli im Jahre 1513. Die Menschen unter Waffen sind von daher immer versucht, die politische Kontrolle von Demokratien zu übernehmen, deren Bestehen sie eigentlich garan­tieren sollten. Die Geschichte Lateinamerikas bietet dafür überreiches Anschau­ungsmaterial. El Salvador ist dabei keine Ausnahme gewesen. Aber es gibt ver­schiedene Niveaus von Straffreiheit, und hier kann sehr wohl davon gesprochen werden, daß unser Land zu den Ausnahmefällen gehört.
Einigen Militärdiktaturen schlug bereits – wenngleich noch schüchtern – mit dem Beginn der Demokratie ihre Stunde von Nürnberg. Die südamerikanischen Mili­tärs haben begonnen zu begreifen, daß sie nicht straffrei ihre Gewehre auf die zi­vile Gesellschaft richten können. In El Salvador hingegen existiert noch keine Rechtsstruktur, die in der Lage wäre, einen uniformierten Kriminellen zur Ver­antwortung zu ziehen. Dies ist nicht nur ein Mangel der Vergangenheit. Wir ha­ben hier im letzten Vierteljahr die Massaker an der UCA, von Cuscatancingo und von Guancorita erleben müssen. Dies wird – ohne Ermittlungsverfahren und An­klageerhebung – so weitergehen, während die salvadorianischen Militärs sich auch zukünftig als eine gesellschaftliche Kaste wähnen, die über “den Gesetzen der Republik” steht.

Der Demokratisierungsprozeß versandet

Gewerkschaftliche Tradition

In den 40er Jahren war der Gewerkschaftsdachverband von staatlicher Seite gegründet worden, also im Laufe eines florierenden Importsubstitutionsmodells und einer wachsenden nationalen Industrieproduktion. In dieser Zeit konnte der Staat grundlegende soziale Rechte zugestehen und das Lohnniveau erreichte beachtliche Höhen. In dieser Zeit bildete sich eine traditionelle Gewerkschafts­politik heraus, die als vertikalistisch und staatsfixiert bezeichnet werden muß. Gewerkschaftsführer sind in Argentinien in den wenigsten Fällen demokratisch legitimiert. Die Aufstellung von Einheitslisten, sofern Gewerkschaftswahlen überhaupt stattfinden, sichert der bestehenden Führung ihre Posten. Die Tatsa­che, daß im Rahmen der Importsubstitutionsphase der 40er und 50er Jahre die nationalen Industrieunternehmen durch Protektionismus von der Weltmarkt­konkurrenz abgeschirmt waren, ließ eine freie Preispolitik zu, dh. die nationalen Unternehmen konnten höhere Löhne nahezu beliebig über höhere Preise für ihre Produkte abwälzen. Während sich auf der einen Seite eine Interessenkoalition zwischen nationalem Unternehmertum und Gewerkschaften herausbildete, richteten sich die Forderungen der Gewerkschaften immer an den Staat, anstatt sich auf den Klassengegner zu konzentrieren. In den Jahren zwischen 1955, dem Jahr des Putsches gegen Perón, und 1976, dem bisher letzten Militärputsch, konnte das hegemoniale Machtpatt zwischen dieser Interessenkoalition und der liberalen Agrarbourgeoisie nicht überwunden werden. In dieser Situation versuchten die Militärs in wechselnden Allianzen mit den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ein hegemoniales Bündnis zu bilden. Die zahlreichen Militärputsche und die Tatsache, daß kein gewählter Präsident mehr sein Mandat beenden konnte, sprechen für die extreme politische Instabilität in diese Jahren. Die Militärjunta von 1976 hatte sich zum Ziel gesetzt, auf zweifache Weise diese Tradition zu durchbrechen. Durch ihre Wirtschaftspolitik führte sie eine extreme Deindu­striealisierung herbei und schwächte damit die Position der nationalen Indu­striebourgeoisie. Die brutale politische Verfolgung konzentrierte sich zudem auf kämpferische Gewerkschafter. In zweifacher Weise ging also die Gewerkschafts­bewegung geschwächt aus der Militärdiktatur hervor: ihre Mitgliederbasis hatte sich verschmälert (von 5 Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter 1975 auf 4 Millionen noch nach drei Jahren Demokratie) und die Repression hatte ge­rade die mittleren Gewerkschaftsfunktionäre getroffen, die zu Beginn der 70er Jahre in Opposition zu zahlreichen Gewerkschaftsführungen standen. Letz­tere hatten in den Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonis­mus nach Perons Tod 1974 gewerkschaftliche Oppositionelle sogar mit Todes­schwadronen bekämpfen lassen und während der letzten Diktatur mit der Junta kollaboriert. Auch nach 1983 nahmen sie wieder führende Positionen in der Gewerkschaftsbürokratie ein.

Kontinuität statt Erneuerung

Die Regierung Alfonsin sah sich bei Amtsantritt einer zersplitterten Gewerk­schaftsbewegung gegenüber, deren Führung jedoch nahezu ohne Ausnahme nicht demokratisch legitimiert war. Wir wollen hier die wichtigsten Gruppierun­gen kurz erwähnen:
– Die im Rahmen des “Neoperonismus” (des “Peronismus ohne Perón”) als sich der Führer der Bewegung im Exil befand, entstandenen 62 Organisationen, die nach wie vor durch die Metallergewerkschaft dominiert werden und auf das traditionelle peronistische Modell setzen.
– Die Gruppe der 15, die durch ihre kompromißhafte Haltung gegenüber der neoliberalistischen Politik der Militärs gekennzeichnet sind.
– Die Kommission der 25, die dem Erneuererflügel der Peronisten, den soge­nannten Renovadores nahestehen und für eine Demokratisierung gewerk­schaftlicher Strukturen eintreten. Sie haben jedoch nur auf wenige Gewerk­schaften wie die der Staatsangestellten, der Eisenbahner und Fernfahrer Einfluß.
– Eine unter dem neuen Führer des Gewerkschaftsdachverbandes Saul Ubaldini entstanden Strömung, die die Autonomie der CGT gegenüber der peronisti­schen Partei einklagte.
Wenige Tage nach ihrem Amtsantritt brachte die UCR-Regierung ein Gesetzesprojekt zur “gewerkschaftlichen Demokratisierung” ins Parlament ein. Es sah vor, Interventoren des Arbeitsministeriums einzusetzen, um zu freien Wah­len in den Gewerkschaften aufzurufen und Wahlverfahren einzuführen, die auch Minderheiten berücksichtigten. Dem Projekt war jedoch kein Erfolg beschieden, da die Vorgehensweise der Regierung die verschiedenen Gewerkschaftsblöcke vereinigte, die sich gemeinsam gegen die staatliche Intervention ihrer Organisa­tionen zur Wehr setzten. Das Scheitern der Gesetzesvorlage im Senat trug der Regierung schließlich ihre erste schwere Niederlage ein und führte zum Rück­tritt des Arbeitsministers. Die UCR mußte akzeptieren, daß die Gewerkschafts­bewegung, wenn auch geschwächt und uneinheitlich, peronistisch dominiert blieb und für die Durchsetzung korporatistischer Interessen zusammenstand. Während so die innere Erneuerung durch demokratische Wahlen in den Gewerkschaften nicht eingeleitet werden und sich in der Folgezeit bis auf wenige Ausnahmen die alte Gewerkschaftbürokratie durchsetzten konnte, ver­änderte die UCR-Regierung nun ihre Strategie. Sie stellte eine Allianz mit dem pragmatischsten Flügel der Gewerkschaftsbewegung her, der 15er-Gruppe. Der Chef der Energieunternehmensgewerkschaft, Alderete, wurde 1987 sogar zum Arbeitsminister ernannt. Während so die Verhandlungen über die Wiederher­stellung gewerkschaftlicher Grundrechte, wie auf Abschluß von Arbeitsverträ­gen, das Berufsverbändegesetz oder die Kontrolle über die ehemals gewerk­schaftseigenen Sozialeinrichtungen, die ihnen die Diktatur genommen und die Alfonsinregierung zunächst weiter vorenthalten hatte, um die eigene Verhand­lungsposition zu stärken, in Gang kamen, setzte die CGT-Führung auf frontale Opposition gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Sie organisierte allein zwischen 1984 und 1989 4000 Streiks, davon 15 Generalstreiks. In traditioneller Weise konzentrierten sich die Kämpfe der Gewerkschaften darauf, Lohnverbes­serungen bei der Regierung einzuklagen, als sich gegen den eigentlichen Klas­sengegner zu richten. Im Gegenteil, 1986 unterstützte die CGT sogar den Wider­stand der liberalen “Sociedad Rural”, der einflußreichen Organsation der Vieh­züchter und Agrarproduzenten, gegen die Regierung. Daß trotz der zahllosen Streiks keine wesentlichen materiellen Verbesserungen für die ArbeiterInnen erreicht werden konnten, verdeutlicht die Schwäche der Gewerkschaften.
Daß sich an traditioneller Politik der Gewerkschaftsbürokratie nichts geändert zu haben scheint, dafür war der Verlauf des sogenannten “Normalisierungskongreßes” im November 1986 beredtes Beispiel. Nach 1945 trafen sich zum ersten Mal wieder die Repräsentanten der argentinischen Gewerkschaften, insgesamt 1400 Funktionäre. Innerhalb von 45 Minuten wurde, anstatt eine Diskussion über die veränderte gesellschaftliche Lage und mögliche Reaktionen darauf zu führen, die neue CGT-Führung per Einheitsliste und Akklamation “gewählt”. Gewerkschaftliche Minderheiten waren schon zuvor aus­geschlossen worden, da nur die Mehrheitsvertreter zum Kongreß fuhren.
Seit 1989 sah für die Gewerkschaften die Lage anders aus. Sie hatten im Wahl­kampf den Peronisten Menem unterstützt. Nach dessen Regierungsübernahme schien es für einen Großteil der Gewerkschaftsbürokratie selbstverständlich, Ministerposten zu übernehmen und, wie sie meinten, die Politik der Regierung von innen heraus im Interesse der Arbeiter mitzubestimmen. Der Gewerk­schaftsdachverband CGT könne nicht gegen eine peronistische Regierung Kon­frontationspolitik betreiben. Während entsprechend dieser Logik Jorge Triaca, von der Gewerkschaft der Plastikarbeiter, und Hugo Barrionuevo, von der Gewerkschaft der Nahrungsmittelindustrie, das Arbeitsministerium und die Kontrolle über die gewerkschaftseigenen Sozialeinrichtungen übernahmen, setzte die CGT-Führung mit Unterstützung der 62 Organisationen auf Lohn­kampf. Zwar versuchte auch diese neue Fraktion lange durch die Vermittlung der Regierung den Bruch der Gewerkschaftsbewegung zu vermeiden. Je deutli­cher jedoch die Menem-Administration ihren liberalen Wirtschaftskurs in Inter­essenübereinstimmung mit dem Großkapital oder zu Beginn sogar unter direkter Leitung von Bunge und Born, dem einzigen argentinischen Multi, verfocht, um so unvermeidbarer wurde die Spaltung der CGT. (Siehe LN 187) Seit dem Gewerkschaftskongreß im Oktober 1989 bestehen zwei CGT-Führungen. Um die internen Demokratisierungsansätze von Seiten der 25er-Kommission dagegen ist es still geworden. Die aktuelle peronistische Regierung setzt zur Zeit knallhart gewerkschaftsfeindliche Gesetze durch. So die neuen Bestimmungen, die das Streikrecht der ArbeiterInnen drastisch einschränken.

Auf dem Weg ins Zweiparteiensystem?

Die parteipolitische Landschaft wurde seit den 40er Jahren durch zwei große Parteien bestimmt: Die bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründete “Radikale Bürgerunion” (UCR), die sich zu Beginn des Jahrhunderts in die wesentliche Interessenvertreterin der wachsenden argentinischen Mittel­klassen verwandelte und bis heute grundlegende demokratische Rechte insbe­sondere bereits 1912 das allgemeine Wahlrecht (allerdings zunächst nur für Männer) durchsetzte, und die in den 40er Jahren entstandene “Gerechtigkeitspartei” (JP) als politischer Arm der peronistischen Bewegung, deren Wirbelsäule (columna vertebral) allerdings immer die Gewerkschaftsbe­wegung blieb. Sie wurde zur Massenpartei der argentinischen Arbeiterklasse und unter der Leitung ihres legendären Führers Perón setzte sie materielle Verbesse­rungen und soziale Rechte für ArbeiterInnen und Marginalisierte durch.
Trotz der Dominanz zweier großer Parteien etablierte sich jedoch nicht – wie z.B. in Kolumbien – ein stabiles Zweiparteiensystem. Die politische Entwicklung nach 1955, dem Sturz Perons durch einen Militärputsch, war vielmehr durch den systematischen Ausschluß des Peronismus von Wahlen, sofern überhaupt welche stattfanden, gekennzeichnet. Achse allen politischen Handelns blieb über Jahr­zehnte hinweg der Antiperonismus. Die Bedeutung dieses Konfliktes scheint nach 1983, nachdem zum ersten Mal bei freien Wahlen die UCR und nicht die Peronisten siegreich war, geringer geworden zu sein, auch wenn sich die Kon­kurrenz der beiden dominierenden Parteien erhalten hat. Unter der Regierung Alfonsin erwies sich vielmehr, daß in kritischen Momenten auch über Partei­grenzen hinweg Führer beider Parteien, so während der Militärrevolte an Ostern 1987, gemeinsam für den Erhalt der demokratischen Institutionen eintraten.
Einzige bemerkenswerte Erscheinung im Parteienspektrum ist die erstmalige Etablierung einer rechtskonservativ-liberalen Partei, der UCéDé unter Führung des neoliberalen Wirtschaftstechnokraten Alsogaray, die als direkte Interessen­vertretung der herrschenden Klasse angesehen werden kann. Trotz ihres doch geringen Stimmanteils sah sich Menem veranlaßt, den bisher nur im Dienste von Militärregierungen stehenden Rechtsaußen zum Wirtschaftsberater zu machen. Der reale Einfluß der UCéDé auf die argentinische Politk ist somit wesentlich größer als ihr Stimmenpotential. Die Linkspateien dagegen spielen in Argenti­nien nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Mehrere Splitterparteien hatten sich in das Wahlbündnis Menems 1989 integrieren lassen. Die einzige Partei mit stär­kerem Zulauf in den letzten Monaten ist das trotzkistische “Movimiento al Socia­lismo” (MAS), die Ende letzten Jahres auf einem Parteikongreß beschloß, sich in eine Massenpartei umwandeln zu wollen. Zum 1.Mai konnte sie sogar 70 000 Menschen für einen Protest gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung mobilisieren. Fühlen sich nach dem Zusammen­bruch der sozialistischen Regime in Osteuropa die Trotzkisten in ihrer Politik bestätigt, so muß abgewartet werden, inwieweit es bei den übrigen Linkspar­teien, insbesondere der kommunistischen PC, zu einem Reorganisationsprozeß kommt.
Zurück zu den beiden großen Parteien: Die Regierungspartei UCR wurde intern völlig dominiert durch die Parteifraktion des Präsidenten “Erneuerung und Wandel” (Renovación y Cambio), die dieser 1968 mitbegründet hatte. Die parteiinterne Linke fügte sich nahezu bedingungslos allen Entscheidungen der Führungsspitze. Bis 1985 erfolgte die Regierungspolitik entsprechend den Grundsätzen des Parteipro­gramms. Zahlreiche Regierungsposten wurden von Alfonsin mit Parteifreunden besetzt und die Regierungspartei suchte die politische Auseinandersetzung im Parlament. Der politische Druck, der nach dem Scheitern der nachfrageorien­tierten Wirtschaftsstrategie unter Grinspun und verstärkt nach Fehlschlagen des Plan Austral 1987 (LN 140), sowie den Militärrevolten von Ostern 1987 und Januar 1988 auf der Regierung lastete, veranlaßte sie jedoch, verstärkt per Dekret zu regieren und verschiedene Posten, zumal den des Wirtschafts- und Verteidi­gungsministers neu zu besetzen. Je mehr die Wirtschaftspolitik Thema in der Öffentlichkeit wurde, umso mehr verlor die Regierung ihren Vertrauensvorschuß bei der Bevölkerung.
In der peronistischen Partei kam es nach der deutlichen Wahlniederlage 1983 zur Gründung einer neuen parteiinternen Strömung, den “Erneuerern” (Renovadores). Ihnen ging es zunächst um neue Organisationsformen und erst in zweiter Linie um programmatische Veränderungen. Die Gruppe von Dissiden­ten, an deren Spitze der ehemalige Wirtschaftsminister der Regierung Isabel Perón von 1975, Antonio Cafiero, stand, stellten sich nun der internen Ausein­andersetzung mit den sogenannten “Orthodoxen”, die noch die Kandidaturen für die Präsidentschaftswahlen 1983 dominiert hatten. Zwar kann keine detaillierte programmatische Abgrenzung zwischen “Renovadores” und “Orthodoxen” vor­genommen werden. Die “Orthodoxen” stehen jedoch in der korporativen Tradi­tion und hatten während der letzten Diktatur mit den Militärs kollaboriert. Die “Renovadores” hingegen versuchten, der Partei innerhalb der Bewegung mehr Gewicht zu geben und damit den Folgen des Deindustrialisierungsprozesses und der Schwächung der Gewerkschaften Rechnung zu tragen. Außerdem beabsich­tigten sie, die Partei zu demokratisieren. Nach der schweren Wahlniederlage bei den Parlamentsnachwahlen von 1985, in denen die UCR in fast allen Provinzen orthodoxe Peronisten aus dem Feld geschlagen hatte, begann der Aufstieg der Renovadores. Bei den zweiten Parlamentsnachwahlen im September 1987 wurde ihr Erfolg deutlich. Das Problem der Renovadores bestand jedoch in der Tatsa­che, daß sie in Annäherung an die UCR-Rethorik – um sich in den Demokratisie­rungsprozeß miteinzubringen – kein eigenes Profil gewinnen konnten. Zur Wirt­schaftspolitik der Regierungspartei schienen sie zudem keine Alternative zu haben. Daß es auch innerhalb der Renovadores unterschiedliche Zielvorstellun­gen gab, zeigte nicht zuletzt die parteininterne Auseinandersetzung zwischen zwei Begründern dieser parteiinternen Strömung um die Präsidentschaftskandi­datur, zwischen Antonio Cafiero und Carlos Saúl Menem.
Nachdem Menem die erstmals stattfindenden parteiinternen Wahlen für sich entscheiden konnte, kehrte er den demokratischen Ansätzen der Erneuerer den Rücken und profilierte sich alsbald als peronistischer Caudillo traditionellen Zuschnitts. Um die Erneuerer-Fraktion ist es seitdem sehr still geworden.

Schwere Niederlagen für die Menschenrechtsbewegung

Die Position der argentinischen Militärs, die ohnehin schon durch das Malvinen-Debakel 1982 und die danach sich häufenden Korruptionsskandale angeschlagen war, wurde durch die Empörung über die Menschenrechtsverletzungen weiter geschwächt. Die Übergangsregierung von Bignone mußte die Niederlage ihrer Politik eingestehen und bereitete den Weg in Richtung freier Wahlen. Der Druck der Menschenrechtsorganisationen, die zum Großteil ihre Arbeit schon zu Beginn der Militärdiktatur 1976 aufgenommen hatten, stürtzte zwar nicht die Diktatur, trug allerdings wesentlich zur Beschleunigung des Redemokratisie­rungsprozesses bei. Das Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung war eindeutig: Die Bestrafung der verantwortlichen Militärs und die Demokratisierung der Gesellschaft waren nun das Wichtigste. Entsprechend wurde Alfonsín mit dem Versprechen, eine vollständige Bestrafung der Militärs einzuleiten, von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt.
Die Menschenrechtspolitik des neugewählten Präsidenten war jedoch alles andere als die versprochene Abrechnung mit der Vergangenheit. Zwar setzte Alfonsín die “Sábato-Kommission” (CONADEP) zur Untersuchung der Men­schenrechtsverletzungen während der Diktatur ein, gab ihr allerdings nicht den Rang einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Dem Abschlußbericht “Nunca Más” von 1984 folgten jedoch aufgrund des mangelnden politischen Willens zunächst keine konkreten Maßnahmen. Vielmehr hatte Alfonsín den Oberbefehlshabern der Streitkräfte schon vor Beginn der Prozesse versprochen, alsbald einen Schlußstrich ziehen zu wollen. Gleichzeitig forderte er von der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen auf wenige Personen, vor allem auf die Juntas, zu beschränken. Konsequenterweise folgte im Dezember 1986 das Schlußpunktgesetz (“ley de punto final”), das vorsah, daß innerhalb einer Frist von zwei Monaten weitere Anklagen gegen Menschenrechtsverletzungen einge­reicht werden könnten. Nach Ablauf dieser Frist sollte die Angelegenheit ein für alle Mal abgeschlossen sein…
Das Ergebnis waren jedoch immer noch 400 Anklagen bis zum Februar 1987.Damit bahnte sich der offene Konflikt zwischen Militärs und ziviler Regie­rung an. Nicht nur, daß die angeklagten Militärs den Vorladungen vor Gericht oftmals nicht Folge leisteten und, wenn überhaupt, erst nach polizeilicher Fest­nahme vor Gericht erschienen. In der Osterwoche 1987 rebellierten einige Trup­peneinheiten unter der Führung von Oberstleutnant Aldo Rico offen gegen die Regierung. Während Alfonsín die von ihm initiierten Massendemonstrationen als “Sieg der Demokratie” feierte, beugten sich die Aufständischen erst nachdem sie wesentliche Zugeständisse von der Regierung erhalten hatten: die Entlassung unbeliebter, regierungsloyaler Generäle, die Einstellung eines Großteils der Pro­zesse und schließlich das im Mai 1987 erlassene “Gesetz des geschuldeten Befehlsgehorsams” (obediencia debida), welches die Menschenrechtsverletzun­gen auf einen “Befehlsnotstand” während der Diktatur abwälzte.
Während die Streitkräfte aus diesem Konflikt gestärkt hervorgingen, erlebte die Menschenrechtsbewegung eine harte Niederlage und starke Demobilisierung. Diese Tendenz wurde in den nachfolgenden beiden Militärrebellionen unter Oberst Seineldín (September 1987, Jahreswende 87/88) noch deutlicher. Gingen bei der ersten Militärrevolte noch die Massen auf die Straße, um die Demokratie zu verteidigen, so befolgten sie nun den Rat des Prä­sidenten: “Geht nach Hause und küßt Eure Kinder”. Das zu Beginn der Demo­kratisierung als wesentlich ausgewiesene Ziel der Strafverfolgung der Militärs endete somit für die zivile Gesellschaft in einer fatalen Niederlage.
Auch innerhalb des folgenden Wahlkampfes zu den Provinz- und Gouverneurs­wahlen spielte die Menschenrechtsfrage keine Rolle mehr. Die demokratische Regierung Alfonsín hatte es versäumt, mit Unterstützung breiter Kreise der Bevölkerung den Militärapparat einer grundlegenden Neustrukturierung und Unterordnung unter eine zivile Kontrolle zu unterwerfen. Die von Alfonsíns Nachfolger Menem Ende 1989 erlassene Amnestie für die wenigen tatsächlich verurteilten Militärs – unter ihnen nun auch die meisten Teilnehmer der Militär­rebellionen – bildete hierbei nur die konsequente Weiterführung der Nicht-Kon­frontationspolitik unter Alfonsín.
Der Angriff von einem Teil der Mitglieder der “Bewegung alle für das Vaterland” (MTP) auf die Kaserne von La Tablada im Januar 1989 stellte eine weitere Zäsur des Demokratisierungsprozesses in Argentinien dar. Nach eigenen Angaben wollten die Leute des MTP einen bevorstehenden Putsch am 23.01.89, der von dieser Kaserne ausgehen sollte, verhindern, indem sie die Kaserene besetzten und so bei der Bevölkerung Aufmerksamkeit erregten. (LN 179, 180, 181) Statt einer solchen harmlosen Besetzung entwickelt sich diese Aktion zu einer zweitägigen Schlacht zwischen Militär und AngreiferInnen, bei der das Militär die mit zum Tei uralten Schrotflinten bewaffneten AngreiferInnen mit schwerem Artilleriegeschütz und Phosphorbomben niederwalzte. Auch heute noch sind die tatsächlichen Motive dieses Angriffes und seine Hintergründe nicht geklärt. Viele Spekulationen deuten darauf hin, daß die Bewegung einer Falschmeldung durch die Geheimdienste aufgesessen und bewußt in diese Katastrophe hineingelenkt worden ist. Dieser Angriff macht allerdings deutlich, welche ohnmächtige Situa­tion innerhalb eines Teils der Linken nach der mißlungenen Menschenrechtspo­litik vorherrschte. Auf der anderen Seite schwächte die MTP durch diese Aktion die sozialen Bewegungen im allgemeinen, die sich in der Folge dieses Angriffes wachsender Repression ausgesetzt sahen. Die Verabschiedung eines Gesetzes , welches den Militärs erneut die Bekämpfung des “internen Feindes der Subver­sion” erlaubt, ist eine weitere direkte Folge diese Angriffes. Gleichzeitig brachte diese Aktion einen wachsenden Vertrauensverlust für linke Bewegungen innerhalb der Bevölkerung mit sich. Die in jahrelanger, mühseliger Kleinarbeit aufgebauten Strukturen der Selbstorganisation in den armen Provinzen und Stadträndern, die auch von einem anderen Flügel des MTP mitgetragen wurden, scheinen heute dahin.
Der Prozess gegen die AngreiferInnen von La Tablada spiegelt auf der rechtli­chen Ebene die nicht erfolgte Demokratisierung allzu deutlich wider. Der Prozeß verlief wie zu Zeiten der Diktatur unter der Regie der Militärs. Hierbei wur­den elementare Freiheitsrechte verletzt und demokratische Spielregeln in überhaupt nicht eingehalten. Letztlich wurden die Militärs durch die Aktion von La Tablada in ihrer Position weiter gestärkt und die Demokratie erlitt eine weitere entscheidende Niederlage.

Ungewisse Zukunft

Der Demokratisierungsprozeß in Argentinien ist nach allen anfänglichen Hoff­nungen ins Stocken geraten. Die ökonomischen Rahmenbedingungen, damit mußte gerechnet werden, haben sich nicht verbessert. Ganz im Gegenteil: Die unerbittliche Haltung des IWF wurde von der Regierung falsch eingeschätzt und hat das Ausmaß der ökonomischen Krise verschlimmert. Zudem jedoch vermied die Regierung Alfonsin die Konfrontation mit den ökonomischen Machtgruppen, die durch Spekulation, geringe Investitionsneigung und Kapitalflucht die entscheidende Entwicklungsblockade für das Land darstellen. Die unkontrollier­bare Inflation hat zusätzlich zur Delegitimierung der Regierung beigetragen. Nachdem die Wirtschaftspolitik im Wahlkampf 1983 kaum eine Rolle gespielt hatte und die Regierung trotz wirtschaftspolitischer Rückschläge noch 1985 einen Vertrauensvorschuß in der Bevölkerung genoß, schob sich langfristig die Wirt­schaftskrise in der öffentlichen Diskussion in den Vordergrund. Die ursprünglich wesentlichen Themen, wie die Menschenrechte und die Demokratisierung, spie­len heute in der politischen Diskussion keine Rolle mehr. Der UCR fehlte der politische Wille zu strukturellen, gesellschaftlichen Veränderungen. Aber auch die übrigen politischen Akteure neigten dazu, gesamtgesellschaftliche Interessen den kurzfristig korporatistischen unterzuordnen. Der größte Hoffnungsträger für den Demokratisierungsprozeß, die Menschenrechtsbewegung, verlor nicht nur durch den Machtzuwachs der Militärs und die ökonomische Krise, sondern auch durch ihre starren politischen Positionen an Bedeutung. Eine demokratische Alternative scheint für Argentinien in nächster Zeit nicht erreichbar. Nicht nur die derzeitige Regierung greift auf orthodoxe, undemokratische Strickmuster zurück. Auch in der Bevölkerung wächst die Neigung, autoritäre Lösungen zu bevorzugen.

Verhandlungen, wie geht´s weiter?

“Als Organisationen, die für die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich sind, müssen wir feststellen, daß Sie Ihre Wahlversprechen nicht erfüllt haben, daß Ihre politischen Maßnahmen fehlgeschlagen sind und daß der Mehrheit unseres Volkes viel Leid zugefügt wurde. Wir erlauben uns deshalb, auf einer dringend notwendigen Korrektur dieser Politik zu bestehen.”
So beginnt ein offener Brief an den Präsidenten Cristiani anläßlich der Vollendung seines ersten Amtsjahres am 31. Mai dieses Jahres. So wichtig wie sein Inhalt ist die bemerkenswerte Liste der unterzeichnenden Organisationen.

Sowohl die UNTS, der Gewerkschaftsdachverband, als auch die UNOC, ein ehemals von den Christdemokraten (PDC) gegründeter, gelber Gewerkschaftsverband, unterstützen den Brief, genauso wie die maßgebenden Oppositionsparteien, einschließlich der PDC. Auch Bauern- und Kooperativenverbände und das Permanente Komitee der Nationalen Debatte, das wiederum breiteste Kreise, einschließlich der Berufsverbände von kleinen und mittleren Unternehmern sowie verschiedene Kirchen umfaßt, gehören zu den Unterzeichnenden.

Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die spätestens mit dem ARENA-Wahlsieg 1989 ihren Anfang nahm: Die Zusammenfassung fast aller gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kräfte und Organisationen zu einer breiten Oppositionsfront gegen ARENA, um dem gemeinsamen Ziel einer politischen Verhandlungslösung des Bürgerkriegs Kraft und Ausdruck zu geben. Auf der Gegenseite steht die Regierungspartei – und der von der Kaffeeoligarchie dominierte Unternehmerverband ANEP – isolierter da als je zuvor. In allerdings abgeschwächter Form werden in dem Brief die gleichen Forderungen erhoben, die die FMLN in den aktuellen Verhandlungen mit der Regierung auf die Tagesordnung setzte: Entmilitarisierung der Gesellschaft, Reform des Justizwesens und des Wahlsystems, Ende der Straflosigkeit, Demokratisierung und Vertiefung der Agrarreform.

Es ist ohne Zweifel notwendig, daß sich organisierte Kräfte in die Bemühungen um eine Verhandlungslösung einmischen; die Militär- und Wirtschaftshilfe der USA für das Jahr 1990 ist trotz vielfältiger Bemühungen der demokratischen Abgeordneten und der Solidaritätsbewegung in den Vereinigten Staaten noch einmal bewilligt worden. Die Debatte um die Hilfe für das Haushaltsjahr 1991, das im Oktober beginnt, hat bereits eingesetzt. Der Militärapparat in El Salvador wurde offensichtlich von dieser Entscheidung ermutigt und lancierte am 21. Mai diesen Jahres ein Kommuniqué, noch während die Delegationen der Regierung und der FMLN in Mexiko zur zweiten Verhandlungsrunde an einem Tisch saßen. Darin sprechen die Streitkräfte der Regierungsdelegation die Kompetenz und das Recht ab, überhaupt Entscheidungen für das Land zu treffen.

Punkt eins – Das Militär (ZT)

Oaxtepec heißt der mexikanische Ort, an dem sich die Delegationen zur Junirunde trafen. Erster und sensibelster Punkt des Verhandlungsprozesses war die Säuberung und Reduzierung der Armee sowie die Bestrafung der Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen. Aus unerfindlichen Gründen vermeldete die spanische Tageszeitung EL PAIS unter Berufung auf Regierungsquellen einen großen Fortschritt in den Verhandlungen. Davon kann keine Rede sein; die Regierungsdelegation entspricht zynischerweise der Beschreibung der Militärs: inkompetent und unfähig, Entscheidungen zu treffen. Shafik Handal von der FMLN wertete es dennoch als Erfolg, daß die Regierung sich schließlich bereitfand, über das Thema zu diskutieren. In der Sache gab es jedoch keinerlei Annäherung. Die nächste Runde wird am 20 Juli in Costa Rica stattfinden. Thema zwei: Die Menschenrechtsfrage. Alvaro de Soto, der UNO-Vermittler erklärte zum Verhandlungsverlauf: “Die Möglichkeiten für konkrete Fortschritte zum Thema eins haben sich in dieser Phase erschöpft.”

Erwartungsgemäß fordert die Regierung immer wieder, daß es zunächst zu einem Waffenstillstand kommen müsse, um dann über weitere Reformen zu verhandeln. Die ARENA steht jetzt – neun Monate vor den Wahlen – unter einem gewissen Druck, sich als Friedensstifterin profilieren zu müssen. Doch der von beiden Delegationen anvisierte Termin für eine Waffenpause, der 15. September, ist unter den beschriebenen Bedingungen unrealistisch geworden. Die FMLN hat jedoch angekündigt die Waffen sofort ruhen zu lassen, wenn die USA sich entscheiden die Militär- und Wirtschaftshilfe an die salvadorianische Regierung zu stoppen. Für den Fall allerdings, daß sich die Regierung im weiteren Verlauf der Verhandlungen so unnachgiebig verhalte wie bisher und die Menschenrechte trotz aller Proteste auch in Zukunft mit Füßen getreten werden, hält die FMLN eine Warnung bereit: Eine militärische Offensive nach dem Vorbild vom vergangenen November.

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