// DOSSIER: HONDURAS NACH DEM PUTSCH

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Foto: Hugo Bautista

Als am 28. Juni 2009 der Präsident von Honduras im Schlafanzug von Militärs aus seinem Haus gezerrt, in ein Flugzeug gesteckt und nach Costa Rica entführt wurde, stand das zentralamerikanische Land plötzlich im Licht der Weltöffentlichkeit. Was hatte diesen Putsch ausgelöst, und womit Manuel Zelaya den Zorn der Oligarchie des Landes auf sich gezogen?

Der Tag des zivil-militärischen Putsches markierte eine Zäsur in den Auseinandersetzungen um die Zukunft Honduras´. Gleichzeitig bedeutet er auch die partielle Wiederherstellung der Logik der Gewalt, die das Land im vergangenen Jahrhundert schon 20 Jahre lang in Form einer Militärdiktatur beherrscht hatte. Die Wahlen, die das Regime am 29. November 2009 abhielt, hatten daher in erster Linie den Zweck, diese autoritäre Optik zu korrigieren. Einen Überblick über die Ereignisse rund um den Putsch, seine Vorgeschichte und die Illegitimität der Wahlen bietet Marius Zynga in einer Sammlung von häufig gestellten Fragen zum Putsch in Honduras. Einen Überblick über die Geschichte von Honduras allgemein bietet die Zeitleiste im Anhang.

Die katastrophalen Auswirkungen der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der 1990er Jahre haben auch in Honduras soziale Bewegungen entstehen lassen, die mit Zelaya in vielen Fragen einen Bündnispartner fanden. Sie sind es, die sich nach dem Putsch in eine vielfältige Massenbewegung verwandelten, die die Idee eines sozial gerechten und lebenswerten Honduras unmissverständlich einfordert. Der Putsch gab dieser Bewegung, der Tragik der harten Repression zum Trotz, eine neue Dynamik. Einem Porträt des Widerstands gegen das Putschregime und seinen Perspektiven widmet sich Magdalena Heuwieser.

Die Bewegung sieht sich seit dem Putsch mit einem neoliberalen backlash konfrontiert. Die aktuelle Regierung von Porfirio Lobo Sosa betreibt radikalen Kahlschlag überall dort, wo in den letzten Jahren unter Zelaya zögerliche Fortschritte erreicht wurden. Angriffe auf Sozialstandards, Privatisierungen und der Ausverkauf natürlicher Ressourcen sind Programm. Ein vorläufiger Höhepunkt der Wirtschaftspolitik von Lobo ist aber die geplante Einrichtung sogenannter „Modellstädte“ im Norden, in denen Land an ausländische InvestorInnen konzessioniert wird. Unter Aussetzung geltenden Arbeitsrechts und in Autonomie vom Staat Honduras und seinen Gesetzen wird dort ein regelrechtes „Investorenparadies“ eingerichtet. Zu dem Thema befindet sich in der Broschüre ein Interview mit Jesús Garza. Begleitet wird die Agenda Lobos von massiver Repression gegen AktivistInnen der sozialen Bewegungen und einer Attitüde der Straflosigkeit gegenüber politischen Morden und Entführungen. Nichts desto trotz wählt die Europäische Union Lobo zum engen Partner in der Region. Mit den Entwicklungen unter Porfirio Lobo Sosa und ihren Konsequenzen setzt sich Fabian Unterberger auseinander.

Die Angriffe der Regierung auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen haben auch den Widerstand breit und vielfältig wachsen lassen. Jenseits der Debatten über „alte“ und „neue Linke“ hat sich in Honduras eine Bewegung formiert, die sowohl den Kampf für einen strukturellen und systemischen Wandel, als auch feministische, indigene und ökologische Kämpfe vereint. Kathrin Pelzer beleuchtet die Rolle von Frauen im Widerstand, während Donny Reyes im Interview mit Eva Bahl von den Realitäten des lesbisch-schwul-bi-transsexuellen Widerstandes berichtet. Johannes Schwäbl widmet sich den Kämpfen der Indigenenorganisation COPINH. Sie sehen sich unter Lobo besonderer Repression ausgesetzt. Ihr Kampf um das Recht auf Land und den Erhalt der natürlichen Ressourcen ist gleichzeitig ein Kampf um Nahrungsmittelsouveränität und bezeichnet eine zentrale Dimension der strukturellen sozialen Probleme Honduras. Nora Bluhme bringt eine Reportage aus Bajo Aguán, dem Zentrum des honduranischen Landkonflikts.

Inzwischen sieht es so aus, als versuche die Regierung unter Porfirio Lobo Sosa die Proteste auszusitzen. Sie versucht mit einer Mischung aus der Bekundung guten Willens und Repression den Kopf über Wasser zu halten. Eine dieser vorgeblichen Maßnahmen zur „Versöhnung“ ist die Einrichtung einer offiziellen Wahrheitskommission, die die Ereignisse rund um den Putsch untersuchen soll. Da an dieser Kommission aber dieselben Persönlichkeiten und Institutionen beteiligt sind, die den Putsch getragen haben, wurde von Menschenrechtsgruppen eine „alternative Wahrheitskommission“ ins Leben gerufen. Kathrin Zeiske beschreibt die Kontroverse rund um die beiden Kommissionen.

Schließlich widmen wir uns der für uns zentralen Frage der Anerkennungspolitik der EU und Deutschlands, die in der besorgniserregenden Menschenrechtsbilanz der Regierung Lobos offensichtlich kein Hindernis für eine Partnerschaft sehen. Die EU unterstützt den honduranischen Sicherheitssektor im Rahmen des sogenannten PASS-Programms und hat im Mai 2010 ein Assoziierungsabkommen mit Lobo unterzeichnet. Harald Neuber erklärt, wie die EU sich zur Komplizin des aktuellen Regimes macht. Das tatkräftige Unterstützung des Putsches durch die in Honduras tätige FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat Kirstin Büttner unter die Lupe genommen.

Widerstand und Repression in Honduras dauern an. Seit Februar streiken die Lehrergewerkschaften in Honduras gegen die anstehende Privatisierung der Bildung durch eine Gesetzesreform. Am 30. März kam es im gesamten Land zu schweren Auseinandersetzungen, als Polizei und Militär gegen den von der Widerstandsbewegung ausgerufenen Generalstreik vorgingen. In der Region Bajo Aguán forderten die Kugeln des Repressionsapparates mindestens einen Toten, im gesamten Land gab es unzählige Verletzte und Festgenommene. Die sich auf den Strassen abspielenden Szenen erinnerten laut Augenzeugen an die Tage nach dem Putsch.

Rückwärts Marsch – Drei Schritte nach Rechts

Porfirio Lobo Sosa präsentiert sich gerne als Präsident der nationalen Versöhnung. Sein Kabinett taufte er pathetisch „Regierung der nationalen Einheit“. Doch schon in der Interpretation der Wahlen vom November 2009 gibt es zwei völlig verschiedene Perspektiven im Land. Während Lobo sich durch eine stabile Mehrheit gestützt sieht, spricht die Opposition von Wahlbetrug. Die Wahlbeteiligung erreichte laut Regierung einen historischen Höchststand von 80 Prozent, während die Opposition, die zum Wahlboykott aufrief, höchstens von 40 Prozent ausgeht. Obwohl keine unabhängige Wahlbeobachtung stattfand, wurde in nationalen Medien von zahlreichen Unregelmäßigkeiten berichtet. Ganz zu schweigen von den militarisierten Verhältnissen, unter denen die Wahl stattfand.
Den zweifelhaften Umständen der Wahl zum Trotz sind mittlerweile jedoch drei Dinge manifest: Lobo ist seit über einem Jahr Präsident von Honduras, regiert ein Land, das zutiefst gespalten ist und schafft es doch, international an Boden zu gewinnen. Die Polarisierung in Honduras rührt nicht ausschließlich vom Putsch her, sondern gründet sich auch auf der neoliberalen Offensive, welche die Regierung Lobo in ihrem einjährigen Bestehen ausgezeichnet hat. In ihr findet eben die Politik, die unter den Vorgängern Zelayas die massiven sozialen Proteste der 1990er auf den Plan brachte, ihre Fortsetzung. Zelaya brach in weiten Teilen mit der neoliberalen Agenda seiner Vorgänger und kooperierte mit den sozialen Bewegungen. Demgegenüber scheint Lobo von der Nationalpartei Honduras (PNH), der konservativsten Kraft des Landes, darum bemüht, diese lästige Erinnerung so schnell als möglich auszulöschen.
Eine erste Offensive der Regierung richtete sich gegen die LehrerInnengewerkschaft „Föderation der Lehrerorganisationen Honduras“ (FOMH). Der von ihr 1997 erkämpfte Mindestlohn wurde gestrichen, seit Lobos Amtsantritt sind 6.000 Grund- und MittelschullehrerInnen gänzlich ohne Bezahlung geblieben.
Der Abbau von Sozialstandards in einem Land, in dem ohnehin schon über die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt, macht auch vor der Maquila-Industrie nicht halt. Ein neues Stundenarbeitsgesetz zeichnet dafür verantwortlich, dass regulär Beschäftigte massenhaft ihre Anstellung verlieren und durch StundenarbeiterInnen ersetzt werden, die weder Anspruch auf Versicherung noch auf Urlaub haben.
Die von Zelaya gestoppten Privatisierungsvorhaben im Energie-, Telekommunikations- und Infrastrukturbereich hat Lobo wieder aufgenommen. Das Wasserkraftwerk „José Cecilio del Valle“, das 120.000 Menschen in über 90 Gemeinden im Süden Honduras versorgt, wurde an ein italienisches Konsortium verkauft. Die vollständige Privatisierung von Hondutel, dem staatlichen Telekommunikationsunternehmen, ist nach einer strategischen Allianz mit dem amerikanischen Anbieter Latincom im Januar 2011 nur noch eine Frage der Zeit. Ganz oben auf der Privatisierungsliste steht auch der staatliche Energiekonzern ENEE.
Doch nicht nur Staatsbetriebe bringt Lobo unter den Hammer. Auch natürliche Ressourcen werden unter seiner Regierung zum Verkaufsschlager. Ein neues Wassergesetz, beschlossen schon im August 2009 unter dem Putschpräsidenten Roberto Micheletti, ermöglicht heute die Konzessionierung von Flüssen an ausländische Unternehmen. Bis April 2010 genehmigte die Regierung 47 derartige Projekte, 250 weitere befinden sich in Planung. Teilweise mit hohen finanziellen Hilfen von USAID, welches die von den Konsortien getragenen Projekte mitfinanziert, werden an den Flussläufen Wasserkraftwerke errichtet. Da Honduras jetzt schon mehr Energie produziert als es selbst konsumiert, erläutert Berta Cáceres, Koordinatorin der Indigenenorganisation COPINH, solle mit dem erzeugten Strom vor allem der krisengebeutelte US-Markt beliefert werden. Profite um die 40 Milliarden US-Dollar werden in den nächsten 30 Jahren aus der Energiegewinnung erwartet. Der Fluss Río Negro, an dessen Lauf drei Dörfer liegen, und der die Lebensgrundlage deren BewohnerInnen darstellt, wird so zum profitträchtigen Schnäppchen.
„Das Resultat des Putsches ist ein noch nie da gewesener Ausverkauf der natürlichen Ressourcen von Honduras“, resümiert Berta Cáceres. Dieser macht auch vor den honduranischen Wäldern nicht halt. Ganze Waldstriche werden auf ihre Kapazität vermessen, Kohlendioxid zu absorbieren. Anschließend werden sie parzelliert und an ausländische Konzerne verleast, die dadurch an neue Kohlendioxid-Emissionszertifikate gelangen. Die lokale Bevölkerung hingegen wird durch die Konzessionierung der Wälder an private Unternehmen von deren Nutzung ausgeschlossen.
Den Gipfel des Ausverkaufs des Landes stellt aber das im Januar 2011 beschlossene Projekt der so genannten Charter-City („Ciudad Modelo“) im Norden von Honduras dar. Nach den hierfür erforderlichen Verfassungsänderungen werden in „Speziellen Entwicklungszonen“ die honduranischen Gesetze weitgehend außer Kraft gesetzt. In diesen autonomen Städten mit eigener Legislatur sollen ausländische InvestorInnen direkt am Gesetzgebungsprozess beteiligt werden. Die „investorenfreundlichen“, den chinesischen „Sonderproduktionszonen“ nicht unähnlichen Autonomiegebiete sollen auch Freihandelsabkommen mit anderen Staaten abschließen können.
Unterdessen eskaliert die Regierung den Landkonflikt im Tal von Bajo Aguán im Nordosten Honduras. Seit dem Inkrafttreten des „Modernisierungsgesetzes für den Agrarsektor“, das den Verkauf von staatlichem und Genossenschaftsland erlaubte, ist dort ein rasanter Landkonzentrationsprozess im Gang. Mittlerweile verfügt in Honduras ein Prozent der Bevölkerung über 33 Prozent des fruchtbaren Bodens. BäuerInnenorganisationen fordern heute die Grundstücke zurück, die in ihren Augen illegal und unter Verletzung des Landgesetzes von 1972 verkauft wurden. Dem begegnen die GroßgrundbesitzerInnen wie Miguél Facussé wiederum mit dem Einsatz von paramilitärischen Milizen, die für zahlreiche Massaker in der Region verantwortlich gemacht werden. Lobo entsendete zusätzlich Militär und verhängte den Ausnahmezustand über Gebiete, in denen gerade protestiert wurde. Die Grenzen zwischen Miliz und Soldat sind dabei häufig fließend. Gleichzeitig kommt die Regierung schon unterzeichneten Abkommen zur Titulierung von Land, für das die Kooperativen Besitzansprüche geltend machen konnten, nicht nach. Auch das 2008 noch unter Zelaya verabschiedete Dekret 18-2008 ließ Lobo außer Kraft setzen. Es garantierte den Bauern und Bäuerinnen die Ausstellung von Besitzurkunden, sofern sie nachweisen konnten, das Land seit mindestens zehn Jahren bestellt zu haben.
Während heute 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung in Armut leben, setzt Lobo Sosa auf den Anbau von Palmöl für den Export. „Was in Honduras forciert wird, ist das alte neoliberale Konzept der Produktion für den Export bei gleichzeitigem Import von Nahrungsmitteln aus dem Ausland.“, resümiert Gilberto Ríos von der Nichtregierungsorganisation FIAN, die sich für das Menschenrecht auf Nahrung einsetzt.
Es sind diese sozialen Verhältnisse, die Honduras seit dem formellen Ende der Militärdiktatur 1982 gespalten haben. Laut einer aktuellen Studie des unabhängigen Forschungsinstituts CESPAD haben 71 Prozent der HonduranerInnen kein Vertrauen in die Demokratie in ihrem Land. Ein Drittel der Befragten unterstützt direkt die Widerstandsbewegung FNRP. Angesichts der Unerträglichkeit der Verhältnisse befürworten 55 Prozent der Bevölkerung das von der FNRP verfochtene Anliegen einer Verfassunggebenden Versammlung und einer „Neugründung“ Honduras‘.
Die Regierung von Pepe Lobo erkennt die FNRP aber nicht als politischen Akteur an. Seit Amtsantritt Lobos hat die Repression massiv zugenommen. Allein im ersten Halbjahr von Januar bis August 2010 registrierte die renommierte honduranische Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen in Honduras) über 100 politische Morde. Dazu kamen mehr als 1.000 politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen. Die Koordinatorin der Organisation, Bertha Oliva, ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, den Versöhnungsdiskurs von Porfirio Lobo als das zu erkennen, was er sei: eine Lüge. „Ich bin es leid zu sehen, wie hier verfolgt, gemordet, unterdrückt und gleichzeitig gelogen wird“, beklagt Oliva.
Im April 2010 erklärten die „Reporter ohne Grenzen“ Honduras zum gefährlichsten Land für JournalistInnen weltweit. Nicht ohne Grund: Als Anfang 2011 der Zeitungsjournalist Henry Suazo von Unbekannten erschossen wurde, erhöhte sich die Zahl der 2010 ermordeten JournalistInnen auf elf. In einem solchen Klima fallen Morddrohungen, wie sie etwa Esdras Amado López, Direktor vom Fernsehsender Canal 36 im Januar 2011 von einem Militär erhielt, auf fruchtbaren Boden. Hinzu kommt, dass von den registrierten Mordfällen bisher nur ein einziger aufgeklärt wurde. Dieses Klima der Straflosigkeit und der Angst hat mit Demokratie nichts zu tun. Oscar Mendoza, Sekretär der Basisorganisation PRO, ist alarmiert: „Was wir hier erleben, ist die ‚Kolumbianisierung‘ des Konflikts in Honduras.“
Honduras, das seit dem Putsch aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ausgeschlossen ist, konnte anfangs nur auf die Unterstützung Kolumbiens, Perus und Panamas zählen. Mittlerweile aber haben die meisten westlichen Regierungen ihre Beziehungen zur Putschregierung normalisiert. In der EU brechen vor allem Spanien und Deutschland die Lanze für Lobo. Der Aufsichtsratvorsitzende der deutschen Entwicklungshilfeagentur GIZ, Hans-Jürgen Beerfeltz, meint: „Die Regierung von Präsident Lobo bedeutet für uns einen positiven Wandel im Land“. Gloria Oqueli, Ex-Päsidentin des zentralamerikanischen Parlaments, stellt demgegenüber fest: „Die EU macht sich zur Komplizin der Barbarei in Honduras.“

Frische Fische vom Silberfluss

Es war eine wahre Flut von Veröffentlichungen argentinischer Literatur, die sich im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Frankfurter Buchmessenauftritt des südamerikanischen Landes auf den hiesigen Buchmarkt ergoss. Die letzte Publikationswelle spülte ein interessantes Werk ans deutsche Ufer, das sich explizit der jungen Literatur widmet: Neues vom Fluss nennt sich die Anthologie, die im Oktober im Berliner Lettrétage-Verlag erschienen ist. Der Titel ist dabei Programm, vereinigt der Erzählband doch insgesamt 27 Geschichten, die der Kenner argentinischer Literatur Timo Berger auf einer Reise entlang des mächtigen Río de la Plata gesammelt hat. Dabei sah er sich nicht nur flussabwärts beim viel beachteten Buchmessengast um, sondern warf auch an den anderen Ufern des Stroms und seinen Zuflüssen in Uruguay und Paraguay die Netze aus. Herausgekommen ist ein bunter Fang von Geschichten, die den LeserInnen auf eine thematisch wie stilistisch facettenreiche Flussfahrt mitnehmen.
Zu bestaunen gibt es Texte, die wilden Strudeln gleichen, wie etwa Juan Terranovas skurrile Erzählung „Männer springen in Raubtierkäfige“, die den Sound der in den 1990ern aufgewachsenen Postdiktatur-Generation wiedergibt. Für dessen gassenphilosophischen Protagonisten ist die Gesellschaft „ein nicht enden wollendes, paranoides Gesellschaftsspiel, ein Versuchslabor, in dem Mutter Natur ihre Qualitätsstandards über den Haufen wirft, um zu sehen, was passiert“. Die Suche nach dem Kick einer „Schaumgummidroge“ treibt dagegen junge Frauen in Cecilia Pavóns „I want to be fat“ um: Jeden Freitag verwandelt sich eine Gruppe junger Argentinierinnen mit Hilfe von Schaumstoffstücken in dicke Frauen, um die schicken Clubs von Buenos Aires zu ihrer subversiven Bühne zu machen. Für sie „gibt es keine wirkungsvollere Droge als den Blick des Nächsten, wenn dich dieser in die avantgardistische Position eines Freaks erhebt“. Den umgekehrten, aber nicht minder radikalen Weg wählt Ana María Strahms Protagonistin in „Calle Palma“. Diese marschiert gleich ganz ohne Kleidung über den Boulevard von Paraguays Hauptstadt Asunción – um durch ihren Auftritt, der durch alle Medien des Landes geht, eigentlich nur einen einzigen Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Schrill, rasant und vor allem unerhört originell sind die Begebenheiten, um die viele Texte kreisen. Neben viel Sex, Drugs und Rock’n Roll führt die literarische Flussfahrt aber auch durch stille Gewässer, wie etwa in der Erzählung „Das Gewicht des Hasses“ von Seghers-Preisträger Félix Bruzzone, in der die immer noch langen Schatten der argentinischen Militärdiktatur auftauchen.
Anthologien und Rezensionen von Anthologien teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie sind notwendig selektiv und verkürzend, aber im besten Fall sind sie wie ein schönes Flussufer, das Lust macht, von Bord zu gehen und das Hinterland zu entdecken. Timo Berger ist das mit seinem imposanten Fang der frischen literarischen Fische vom Silberfluss auf vorzügliche Weise geglückt.

Timo Berger // Neues vom Fluss: Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay // Verlag Lettrétage // Berlin 2010 // 200 Seiten // 12,90 Euro // http://www.lettretage.de

Risse in der Fassade

Im Wettbewerb der diesjährigen 61. Internationalen Filmfestspiele, die vom 10. bis 20. Februar in Berlin stattfinden, sind als einzige Beiträge aus Lateinamerika gleich zwei argentinische vertreten: Zunächst die mexikanisch-argentinisch-französische Co-Produktion El premio („Der Preis“) von der in Mexiko lebenden, argentinischen Regisseurin Paula Markovitch. Ihr Erstlingswerk handelt davon, wie Kinder ihren Alltag während der letzten Militärdiktatur in Argentinien erlebten. Die siebenjährige Protagonistin muss als Tochter von politischen AktivistInnen stets aufpassen, ihren MitschülerInnen nichts von ihrem Zuhause zu erzählen. Als sie an einem Schreibwettbewerb über die Streitkräfte teilnimmt, und sich in ihrem Beitrag niederschlägt, was sie ihre Mutter zu Hause sagen hört, bringt sie ihre Familie in große Gefahr. El Premio ist bei der Berlinale auch für den besten Erstlingsfilm nominiert.
Außerdem im Wettbewerb läuft Un Mundo Misterioso („Rätselhafte Welt“) von Rodrigo Moreno, eine argentinisch-uruguayisch-deutsche Co-Produktion, in der Ana ihren Freund Boris um eine Auszeit von ihrer Beziehung bittet. Um diese zu überbrücken, kauft sich Boris ein altes rumänisches Auto, fährt kreuz und quer durch die Stadt, trifft alte Freunde, reist nach Uruguay und versucht, Ana zurück zu gewinnen.
Im Panorama feiert neben den in dieser Ausgabe besprochenen Filmen die argentinische Produktion Medianeras („Brandschutzwände“) seine Weltpremiere. Der erste Langfilm von Gustavo Taretto ist eine Reflexion über Einsamkeit, Neurosen, Stress, Reizüberflutung, eben das Leben in einer Millionenstadt wie Buenos Aires. Martín und Mariana wohnen im selben Block, in gegenüberliegenden Häusern, sie laufen fast täglich aneinander vorbei, treffen sich aber nie. Martín hat die letzten zehn Jahre seines Lebens vor dem Computer verbracht und bewegt sich lieber durch die Welt des Internets, als sich hinaus in die Gefahren der Megalopolis zu wagen. Mariana ist nach einer vierjährigen Beziehung gerade wieder in ihre kleine Wohnung von früher zurück gezogen. Beide kämpfen mit ihren Phobien und sehnen sich nach etwas Vertrautheit. Erst als sie sich ein illegal gebautes Fenster in die medianeras, die fensterlosen Außenwände ihrer Wohnhäuser, an die kein weiteres Gebäude angrenzt, einsetzen lassen, erglimmt ein Hoffnungsschimmer auf der gegenüberliegenden Seite. Taretto gelingt, im Stil von Woody Allens New Yorck-Porträts, ein witziger Blick auf die Hauptstadt der Neurosen. Besonders diejenigen, die Buenos Aires kennen, werden schmunzelnd einige treffende Charakterisierungen sowohl der Hauptstadt als auch ihrer BewohnerInnen wieder erkennen.
Das 41. Forum versammelt dieses Jahr unter dem Motto „Risse in der Fassade“ Filme, die um Themen wie Familie, Beziehungen und Identität kreisen, dabei aber gleichzeitig auch gesellschaftlichen Wandel und politische Umbrüche filmisch verarbeiten. Der brasilianische Film Os residentes („Die Bewohner“) von Tiago Mata Machado beispielsweise handelt von den BewohnerInnen eines Abrisshauses, die dort eine temporäre autonome Zone einrichten. Ein sehr gut fotografierter Film, in denen die SchauspielerInnen theaterhaft in Szene gesetzt werden. In lose aneinandergereihten Kapiteln wird über Subversion, politische (bewaffnete) Aktion, freie Liebe oder die Freiheit zu entscheiden reflektiert.
Um eine 36-jährige Frau, die nochmal neu anfangen will, geht es im kolumbianischen Beitrag Karen llora en un bus („Karen weint in einem Bus“) von Gabriel Rojas Vera. Die Protagonistin beschließt, sich von ihrem Mann zu trennen und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Doch das neue hält einige Hürden bereit: Nachdem sie keine Arbeit findet, beginnt sie im Bus um Geld zu betteln. Tag für Tag fällt ihr diese neue „Aufgabe“ leichter. Schlussendlich schafft sie es, unabhängig zu werden. Der chilenische Forums-Beitrag El mocito („Der kleine Kellner“) setzt sich mit der jüngeren Vergangenheit des Landes auseinander: Lino Vergara, der mit 16 Jahren in einem Folterzentrum des Pinochet-Regimes diente, plagt das schlechte Gewissen. Um es zu erleichtern, stellt er sich der Justiz als Kronzeuge zur Verfügung.
Auch im Forum sind darüber hinaus noch zwei argentinische Filme zu sehen: Ocio von Alejandro Lingenti und Juan Villegas handelt von Andrés, der nach dem Tod seiner Mutter nur noch depressiv und anteilslos in den Tag lebt. Sowohl sein Vater als auch sein Bruder sind ihm fremd. Mit einem Kumpel plant er einen riskanten Coup, um wenigstens seine finanzielle Situation zu verändern.
Marco Berger lotet in seinem ersten Spielfilm Ausente („Abwesend“) die Grenzen von Verfolgung und Bewunderung aus. Der 16-jährige Martín beobachtet obsessiv seinen Schwimmlehrer und erfindet eine Augenverletzung, um von ihm ins Krankenhaus gefahren zu werden. Martín spinnt sein Lügennetz immer weiter und schafft es schließlich, dass sein Lehrer ihn mit zu sich nach Hause nimmt. Mit bedrohlicher Musik untermalt und in homo-erotischen Bildern, lässt Berger seinen Protagonisten die Schlinge immer enger ziehen. Doch die Geschichte von Ausente ist zu konstruiert und überspitzt, die Entwicklungen zu minimal, so dass der Film eher langweilt, anstatt wirklich zu überzeugen.
Für die WeinliebhaberInnen gibt es zu guter Letzt noch eine Reise durch die Anbaugebiete Argentiniens zu entdecken: El camino del vino („Der Weg des Weins“) von Nicolás Carreras, der im Kulinarischen Kino zu sehen sein wird, führt in die Weinregion Mendoza. Der berühmte Sommelier Charlie Artuarola verliert darin, was für ihn am wichtigsten ist: seinen Geschmackssinn.

Colom auf dem Kriegspfad

Schwerbewaffnete SoldatInnen an Straßensperren und Militäroperationen in Indigenendörfern – das weckt keine guten Erinnerungen in einem Land wie Guatemala, in dem der Staat über 35 Jahre die eigene Bevölkerung bekämpfte. Am 19. Dezember 2010 verhängte Präsident Álvaro Colom einen zunächst einmonatigen Ausnahmezustand über die zentral gelegene Region Alta Verapáz. Dass es ausgerechnet Colom ist, der als erster Präsident seit den Friedensverträgen von 1996 ein solches Dekret unterzeichnet, ist einerseits überraschend. Hatte er doch die Wahlen 2008 gegen den Hardliner Otto Pérez Molina nicht zuletzt mit der Aussage gewonnen, dass die Friedensverträge ihm als Leitbild einer auf sozialen Ausgleich und Wandel zielenden Politik dienten. Andererseits hatte Colom bereits vor Amtsantritt bemängelt, dass sich der Staat – und damit meinte er auch das Militär – zu weit aus zu vielen Provinzen zurückgezogen hätte. Nun, ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit, entschließt sich der Präsident zum Handeln gegen die Drogenkartelle, die den Staat und die Gesellschaft zu zerreißen drohen.
Die Kartelle schmuggeln Drogen aus der Andenregion, vor allem aus Kolumbien, in die USA, wo die meisten KonsumentInnen leben. Die Routen verlaufen über die Karibik, den Pazifik oder Zentralamerika. Guatemala bietet für den Drogentransport wichtige logistische Vorteile. Da ist zum einen die lange, kaum zu kontrollierende Grenze zu Mexiko, dessen Kartelle mittlerweile fast ein Monopol auf die Versorgung der USA mit Drogen aller Art besitzen. Hinzu kommen die ebenfalls kaum zu überwachenden Küstenlinien des „Triangulo del Norte“, des von Guatemala, Honduras und El Salvador gebildeten Dreiecks im nördlichen Zentralamerika. Die innenpolitischen Verhältnisse eben dieser Länder ermöglichen einen weitgehend unbehelligten Transport. All dies garantiert den Kartellen eine fast ungehinderte Lieferung des Kokains an die Küsten der Region, den Weitertransport vor allem durch Honduras und Guatemala und schließlich den ‚Export‘ über die mexikanische Grenze.
Zwei mexikanische Kartelle haben in den letzten Jahren ihre Macht in Guatelama stetig verstärkt: Das Sinaloa-Kartell ist schon seit Jahren vor allem in den Provinzen San Marcos und Huehuetenango präsent und kontrolliert hier die alten Verkehrswege über das Hochland und entlang der Pazifikküste in Richtung Mexiko. Das Sinaloa-Kartell arbeitet in der Region mit lokalen Familien und Kartellen zusammen. Das Wohlwollen der Bevölkerung wird durch eine Fülle von Sozialeistungen erkauft: von Jobangeboten über Existenzgründungskredite bis zum Aufkauf kleinbäuerlicher Kaffeeproduktion über dem Marktpreis, von Sportanlagen über das Sponsoring lokaler Festivals bis zu nächtlichen Patrouillen gegen Kleinkriminelle.
Auf der anderen Seite die Zetas. Erst seit ein paar Jahren versuchen sie, Guatemala in ihr Machtgebiet zu integrieren, dies aber sehr schnell, brachial und erfolgreich. Im Gegensatz zum Sinaloa-Kartell fallen die Zetas in eine Region ein, zwingen die lokalen Gruppen zur Mitarbeit oder massakrieren sie. Es gibt außer dieser diktatorischen Herrschaft kaum Beziehungen zur lokalen Bevölkerung. Mittlerweile beherrschen die Zetas die Route von Honduras über die guatemaltekischen Inlandsprovinzen Peten sowie Baja und Alta Verapaz in Richtug der Halbinsel Yucatán und Chiapas. Sie verläuft also östlich der Routen des Sinaloa Kartells.
Dass Präsident Colom den Ausnahmezustand nun für die Region Alta Verapaz ausgerufen hat und nicht für den Peten oder die Hochlandprovinzen, in denen es schon länger erheblich mehr Opfer gibt, erklären SicherheitsexpertInnen in erster Linie mit strategischen Überlegungen: Gelänge eine Vertreibung der Zetas aus Cobán, der Hauptstadt von Alta Verapaz, hätte man einen Keil in das von Narcos dominierte Terrain geschlagen, von dem man aus später ins Hochland, an die mexikanische Grenze in der Region Ixcán und in Richtung Peten, vorrücken könnte. Cobán gilt zudem als wichtiger Ausgangspunkt für Wirtschaftsprojekte wie Öl- und Gasförderung, die Palmölindustrie, Wasserkraft und Infrastrukturprojekte mit Mexiko. Diese Region könne Guatemalas mächtige Unternehmerkaste nicht aufgeben, so die ExpertInnen. Die Zetas haben zudem nicht den Rückhalt in der Bevölkerung, auf den das Sinaloa-Kartell in San Marcos und Huehuetenango zählen kann. Ebenso wie das verfeindete Kartell haben sie zwar, wie auch die lokalen DrogenbaronInnen, alle bedeutenden politischen Gruppierungen auf Ihrer Lohn- und Wahlkampfspendenliste. Doch noch verfügen sie laut Meinung der ExpertInnen nicht über die nötige Hausmacht in Politik, Polizei und Wirtschaft.
Es wird gemunkelt, dass Colom die von den Zetas kontrollierte Provinz Alta Verapaz auch deswegen für den Ausnahmezustand ausgewählt hat, weil seine Partei Unidad Nacional de la Esperanza (Nationale Union der Hoffnung, UNE) vom Sinaloa-Kartell unterstützt wurde. Allerdings warfen die Zetas Colom in ihrem Antwortschreiben auf den Ausnahmezustand vor, auch von ihnen reichlich Gelder angenommen zu haben. Der Militäreinsatz werde folglich als Verrat gewertet. Eine Racheaktion ist allerdings bislang ausgeblieben.
Nachdem es Kämpfe und Massaker in der Stadt gegeben hatte, seien die Menschen sehr erleichtert über die Militärpräsenz, erzählt Carlos Euler Coy, Mitglied der letzten Stadtregierung von Coban. Bislang beschränken sich die Soldaten laut Coy auf das Durchsuchen von Autos und einiger Häuser, so dass die Zivilbevölkerung, abgesehen von Verkehrskontrollen, nicht sonderlich behelligt werde. In der Stadt sei es ruhig, vor allem gebe es seit dem Einrücken der Armee keine Schießereien mehr. Vom Land, insbesondere aus den Gemeinden der Keqchi‘-Indigenen, würden ebenfalls keine negativen Reaktionen berichtet. Die Keqchi‘ hatten sich anfänglich sehr besorgt über den Ausnahmezustand geäußert. Militäreinsätze dieser Art wecken natürlich Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur Anfang der 1980er Jahre.
Die Stimmung unter den Keqchi‘ bewertet Enrique Corral, Präsident der renommierten Stiftung Fundación Guillermo Toriello (FGT) in Guatemala-Stadt, allerdings etwas kritischer: Bislang gebe es zwar keine Hinweise, dass sich die Militäroperation gegen die indigene Bevölkerung und gegen soziale Bewegungen richte, aber die Militärpräsenz sorge in den Keqchi‘ Gemeinden durchaus für Unruhe. Der Grund nach Corrals Einschätzung: Die Operation wird auch dafür genutzt, um zu sehen, wo man am strategisch besten eine neue Militärbasis aufbauen könne, um die Narco-Aktivitäten zu kontrollieren. Im Gespräch ist auch eine neue Kaserne in der Gegend von Parque de Panzos. Hier gab es 1980 ein schweres Massaker an der Bevölkerung durch die Armee. Deswegen stoßen nach Meinung Corrals solche Pläne auf erheblichen Widerstand.
Um das Image des Staates durch den Ausnahmezustand nicht weiter zu beschädigen, gab es wahrscheinlich Anweisungen, auf die Zivilbevölkerung möglichst Rücksicht zu nehmen. Das ist die positive Seite. Die negative ist, so Lokalpolitiker Carlos Euler, dass es bislang kaum Ergebnisse gibt. Präsident Álvaro Colom und Innenminister Carlos Menocal erklären zwar, dass die Anzahl von Delikten im Zeitraum des Ausnahmezustandes um ein Drittel zurückgegangen sei. Bahnbrechende Erfolge sehen jedoch anders aus. Colom verlängerte den Ausnahmezustand um einen Monat, um die Narcos aus den entlegenen Gegenden der Region zu vertreiben. Die Zustimmung der Bevölkerung hat er jedenfalls, 85 Prozent sind laut einer landesweiten Umfrage für die Maßnahmen.
Bleibt die Frage, was mit dem Ausnahmezustand in Alta Verapaz erreicht werden kann. Wahrscheinlich haben die Drogenkartelle Leute in allen relevanten Institutionen des Staates. Diese Verstrickungen gelangten im letzten Jahr ans Licht der Öffentlichkeit: Anfang März 2010 wurden mit dem Chef der Nationalen Polizeibehörde (PNC), Baltazar Gómez und der Chefin der Antidrogenpolizei (DAIA), Nelly Bonilla, die Spitzen der zivilen Sicherheitskräfte festgenommen. Ihnen werden unter anderem Zusammenarbeit mit den Zetas, illegale Verhaftungen und Beteiligung an PolizistInnenmorden vorgeworfen.
Unter diesen Umständen fürchtet Sandino Asturias, Sicherheitsexperte und Chef des Guatemaltekischen Studienzentrums (CEG), dass die Kriegserklärung der Regierung Colom die gleichen Folgen haben dürfte, wie der Krieg gegen die Drogenkartelle in Mexiko. Wie in dem nördlichen Nachbarland sind laut Asturias auch in Guatemala staatliche Aufgaben im Zuge neoliberaler Reformen sträflich vernachlässigt worden. Vor allem die entlegensten und die ärmsten Provinzen des Landes sind nach Asturias‘ Meinung seit fast zwei Jahrzehnten komplett vernachlässigt worden. Unter diesen Bedingungen einseitig, wie in Mexiko, und kurzfristig, wie im Falle Cobáns, auf die militärische Karte zu setzen, hält Asturias für fatal. Er rechnet mit einer drastischen Zunahme der Todesraten, die in Guatemala im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ohnehin schon höher sind als in Mexiko. Stattdessen müsse der Staat einen integralen Ansatz suchen, der zumindest die wirksame Bekämpfung der Korruption, eine umfassende Justizreform, die Möglichkeit der Beschlagnahmung von Drogengewinnen- und vermögen, eine strenge Kontrolle von Schusswaffen und starke Beschränkung privater Sicherheitsfirmen beinhalte.
Für Enrique Corral liegt der Schlüssel zur Bekämpfung von Gewalt und Drogenkartellen nach wie vor in der Umsetzung der Friedensabkommen. Der Staat müsse endlich auf sozialer, kultureller und partizipativer Ebene Präsenz zeigen. Dass er so Terrain zurückgewinnen kann, das zeigen Beispiele auf kommunaler Ebene. Gemeinden, die progressiv und partizipativ regiert würden, seien deutlich stabiler gegenüber dem Einfall der Narcos: „Weil hier offen diskutiert wird, weil etwa Kleinbauern, Indigene und Frauen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Weil Kommunikationsstrukturen bestehen, um die Bevölkerung aufzuklären und zu warnen und Vertrauen zur Stadtregierung besteht, so dass verdächtige Vorkommnisse gemeldet werden. Weil die Lage der Bevölkerung nicht so hoffnungslos ist, dass sie unbedingt mit den Narcos zusammenarbeiten muss. Und weil eine gewisse Kontrolle der Institutionen durch die Bevölkerung besteht, so dass Amtsträger nicht so einfach für die Narcos arbeiten können.“
Ein Ausnahmezustand wie in Alta Verapaz mag populär sein, ist aber nicht die Lösung, um den Dogenkartellen und dem Verfall des Staates Einhalt zu gebieten.

Das Lied in mir

Maria ist Schwimmerin. Sie ist es gewohnt, mit kräftigen, kontrollierten Zügen schnell vorwärts zu kommen. Auch ihr bisheriges Leben war wohl so. Aber dann gerät auf einmal alles außer Kontrolle.Auf dem Weg zu einem Schwimmwettkampf in Chile wartet Maria in Buenos Aires auf ihren Anschlussflug. Ein paar Plätze weiter versucht eine junge Mutter, ihr Kind in den Schlaf zu singen. Wie durch eine Wattewolke dringen die Worte zu der übermüdeten Maria durch. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie mitsingt, den Text des spanischen Kinderliedes auswendig weiß. Maria fängt an zu zittern, sie bricht in Schweiß aus und rennt auf die Toilette, um sich zu übergeben; völlig verstört verpasst sie ihren Flug. Gleichzeitig ist es aber auch, als ob eine unsichtbare Macht sie in Argentinien halten würde.
Maria bleibt in Buenos Aires und versucht heraus zu finden, warum sie den Text eines spanischen Kinderliedes mitsingen kann. Sie hinterlässt eine Nachricht bei ihrem Vater in Deutschland, der ihr sofort hinterher geflogen kommt. So findet Maria heraus, dass sie nicht das Kind ihrer Eltern ist, dass sie adoptiert wurde und dass es ein dunkles Geheimnis um ihre Herkunft gibt.
Die deutsche Produktion Das Lied in mir, die die Geschichte von Maria erzählt, ist der Erstling des Nachwuchsregisseurs Florian Cossen. Während seiner Ausbildung verbrachte er ein Semester an der Filmschule in Buenos Aires, wo er dem Stoff seines Films begegnete: Die letzte Militärdiktatur in Argentinien mit ihren tausenden Verschwundenen und das traurige Schicksal von den Kindern, die mit ihren Eltern verschleppt und von militär- oder regimetreuen Familien „adoptiert“ wurden.
Der Einstieg in Cossens Film holpert etwas. Es kommt nicht richtig rüber, warum die von Jessica Schwarz gespielte Maria so heftig reagiert, alles wirkt etwas zu glatt und konstruiert, die plötzlichen feindseligen Fragen an ihren Vater ein bisschen steif. Doch mit dem Voranschreiten von Marias Nachforschungen, bei denen sie den deutsch sprechenden Polizisten Alejandro (Rafael Ferro) kennenlernt, der ihr fortan hilft, und der zunehmend gebrochenen Beziehung zu ihrem Vater Anton (Michael Gwisdek), kommt der Film langsam aber sicher in Schwung. Vor allem das Zusammentreffen mit ihrer argentinischen Familie stellt einen unumkehrbaren Wendepunkt nicht nur für den Film, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der Figur der Maria dar. Schlussendlich überzeugen sowohl Cossen als auch Schwarz, den inneren Konflikt von Maria zwischen ihrer neuen Identität und ihrem Vater nahe zu bringen. Nach und nach beginnt Maria die Tragweite der Tat ihres Vaters zu verstehen – und dass sie dennoch ein ganzes Leben, in dem er sie begleitet hat, nicht einfach ausradieren kann.
Das Lied in mir ist ein sehr deutscher Blick auf die argentinische Vergangenheit, ein Blick von außen, der sich auf das persönliche Schicksal von Maria konzentriert. Und dadurch die jüngste Geschichte Argentiniens manchmal etwas holzschnittartig für das deutsche Publikum aufbereitet. Seltsam mutet vor allem an, dass die omnipräsenten Menschenrechtsorganisationen der Mütter und Großmütter überhaupt nicht in dem Film auftauchen. Auch wenn im Rahmen der letzten Frankfurter Buchmesse bereits einige Bücher zum Thema der „geraubten“ Kinder in Argentinien auf deutsch erschienen sind, ist es aber zu begrüßen, dass das Thema hierzulande auch filmisch aufgegriffen wird. Denn in Argentinien selbst verarbeitet die Generation der „hijos“, der Kinder der Verschwundenen, ihre Erinnerung vor allem mit audiovisuellen Mitteln. Florian Cossen findet einen sensiblen und insgesamt überzeugenden Weg mit diesem Erbe der argentinischen Vergangenheit umzugehen.

Vom Dorfpfarrer zum Kämpfer für die Menschenrechte

Helmut Frenz ging 1965 als Pfarrer in eine deutsche evangelischen Gemeinde in Chile. Die linke Allende-Regierung (1970-1973) verfolgte er mit einiger Sympathie. Seine Kirche organisierte Sozialprojekte für LateinamerikanerInnen, die aus ihren diktatorisch regierten Ländern nach Chile geflohen waren. Der Putsch am 11. September 1973 traf Frenz, obwohl viele ihn erwarteten, unvorbereitet. Bald kamen Verfolgte zu ihm. Da die Militärs eine Ausgangssperre verhängt hatten, hatte er Zeit, mit ihnen zu diskutieren. Er, ein politischer Neuling, lernte von Menschen, die mit allen Wassern gewaschen waren. Andere Gemeindemitglieder berichteten per Telefon, wie glücklich sie über den Putsch waren. Es war der Anfang eines Spagats, den er für den Rest seines Lebens immer wieder gekonnt aufführte und den er „Doppelexistenz“ nennt.
Am 11.9. war der Putsch, am 18. feiert Chile Unabhängigkeit. An diesem Tag findet traditionell in der Kathedrale von Santiago ein Gottesdienst statt, an dem die Regierung teilnimmt. Die Kirchen brauchten nach dem Putsch einen Draht zu den neuen Machthabern, und die Geistlichen sprachen sich ab, wer wen anspricht. Aus Sicherheitsgründen findet der Gottesdienst diesmal in einer anderen Kirche statt. Über ihr fliegen Hubschrauber, in der Umgebung sind Scharfschützen postiert, die Gottesdienstbesucher werden durchsucht, an jeder Säule der Kirche steht ein Soldat in Uniform mit Maschinenpistole. Applaus für die Junta, wenn auch spärlich. Beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst verabreden sich die Geistlichen mit „ihren“ Ministern. Frenz ist hinterher in Schweiß gebadet. Das ist die eine Seite der Doppelexistenz.
Die andere Seite, seine Arbeit für die Verfolgten, polarisierte seine mehrheitlich pinochettreue Kirche. Die Konflikte führten schließlich zur Spaltung. Die Kirche hatte ihm erlaubt, den Titel „Bischof“ zu führen, da es für seine Amtsbezeichnung „Propst“ kein spanisches Wort gibt. Nach der Spaltung nannten seine Gegner ihn den „falschen Bischof“.
Es wurden immer mehr, die sich vor den Massenverhaftungen der Militärdiktatur zu ihm flüchteten. Er tarnte die Flüchtlingsgruppe als „Bibelseminar“, mit Schaubildern und Lesezeichen in der Bibel, bis die Sache aufflog, das Gebäude umstellt wurde und alle „Seminaristen“ verhaftet wurden. Sie wurden in einen Militärbus gezwungen. Frenz mischte sich unter sie. Durch rasche und gezielte Intervention von Freunden kamen fast alle frei. Frenz berichtet von weiteren Rettungsaktionen, die er selbst ausrichtete: Abgelenkte Wachen, eine gefolterte Frau, die als seine Sekretärin posieren musste, und mit der er in die rettende Botschaft fuhr. Er hätte noch weit mehr solcher Aktionen berichten können.
Frenz schildert, wie er es durch Intervention bei Bundeskanzler und Bundespräsident schaffte, dass der zögerliche deutsche Botschafter in Santiago, Kurt Luedde-Neurath („Das sind doch alles Tupamaros!“), nach Druck von oben Flüchtlinge in seiner Residenz aufnimmt und dem „lieben Bischof“ ganz stolz „seine Tupas (Tupamaros)“ zeigt. Hilfe für eine Vielzahl von Menschen erfordert Organisation, Geld, die richtige Reaktion in unvorhersehbaren Situationen, gute Nerven, wo andere vor Angst vergehen würden, einen Blick für Lücken im System, Verstellkunst, Drähte zur Macht, Auslandsreisen mit Blitzlichtgewittern und Audienzen. Frenz gründete ein Flüchtlingskomitee für die LateinamerikanerInnen, die nach Chile geflohen waren und dort nach dem Putsch in der Falle saßen. Sie gründeten ein ökumenisches Friedenskomitee, „eine Gemeinschaft von Frauen und Männern, die gar nicht anders konnten, als für andere, in Not geratene Menschen Hilfe zu leisten. Sie wurden von einer Kraft bewegt, die sie selbst gar nicht ins Werk gesetzt hatten. Sie waren von einem Geist besessen und beseelt, den sie nicht gerufen hatten“, so Frenz. Sie halfen Tausenden, retteten Hunderten das Leben.
Kraft? Geist? Besessen und beseelt? Welche Motive treiben jemanden an, der so ein Leben lebt, welche Theorien hat er im Kopf? Hätte Frenz nach einer schlüssigen Theorie handeln wollen, hätte er nicht handeln können. Sein Leben ist bis heute ein Lernprozess. Er hat, noch unter dem Eindruck der Polarisierungen während der Allende-Zeit – und wegen der Ausgangssperre beim Putsch abgeschnitten von Informationen – Verständnis für den Staatsstreich geäußert. Ehrlich bis auf die Knochen druckt er in seinem Buch auch dieses Dokument ab. Es dauerte nicht lange, und er erfuhr von den systematischen Folterungen und Morden der chilenischen Militärs. Wegen diesen Menschenrechtsverletzungen war die Diktatur angreifbar. Vor allem das „Friedenskomitee“ wurde wenige Monate nach dem Putsch zu Pinochets erstem ernstzunehmenden innenpolitischen Gegner. Menschen wie Frenz und die Angehörigen der politischen Gefangenen waren der Anfang einer chilenischen Zivilgesellschaft – mitten im Militärstaat.
Das Motiv, das Frenz antrieb, benennt er in seinem Buch sehr lapidar: Das Evangelium. Dieser feste Boden erlaubte ihm einen Dauerspagat zwischen Politik und Kirche, improvisierten Rettungsaktionen und bischöflichem Habitus, der ihn bis in die Höhle des Löwen trieb. Er berichtet von einer Audienz bei Pinochet, auf die er und ein katholischer Bischof sich mit gründlichen Dokumentationen und sorgfältigen Sprachregelungen vorbereiteten. Die beiden Bischöfe sagten etwas von „physischem Druck“, bis Pinochet sie unterbrach: „Sie meinen Folter?“, die sei nötig, damit die Kommunisten singen. Nach Pinochets Verhaftung in London 1998 schilderte Frenz diese Episode vor einem spanischen Gericht.
1975 wurde Frenz aus Chile ausgewiesen. Hier endet sein Buch, aber nicht sein Kampf für die Menschenrechte. 1976 wurde er Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Er wurde Emissär der realen Welt, in der Folter und Mord herrschen, gegenüber den Behörden. Er drang wegen Verhafteter in Argentinien in das Auswärtige Amt (AA) ein. Die Niederschrift des AA vom ersten Gespräch mit ihm klingt wie das Protokoll einer gestörten Paarbeziehung. Der „sogenannte” Bischof Frenz sei „aggressiv” gewesen und so weiter. Die universelle Geltung der Menschenrechte war damals in der bundesdeutschen Außenpolitik nicht verankert. Der Anstoß musste von außen kommen.
Frenz wurde Flüchtlingsbeauftragter in Schleswig-Holstein, ging 2004 nach Chile und wurde Ehrenbürger und engagierte sich für Opferentschädigung. Er ist Uni-Professor und lehrt über Menschenrechte. All diese Ämter waren oder sind mit großem Arbeitsaufwand verbunden. Wie das alles zusammenpasst? Der Buchtitel „…und ich weiche nicht zurück“ ist ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja. Mitten in Frenz` flüssig geschriebenem Text stehen theologische Reflexionen zum „Gottesknecht“ bei Jesaja. Es ist eine Staumauer im Erzählfluss, und man möchte die Passage überblättern. Das sollte man nicht tun. Diese Seiten sind die Begründung für seine Arbeit.

Auch Stahl bekommt Risse

Für den Stahlkonzern sind Fakten Spielmaterial: Die Vorwürfe werden bestritten, alles sei doch harmlos und man gehe nicht von einer Verurteilung aus. Thyssen spielt wohl wieder mal auf Zeit: 1988 beging eine Tochterfirma Thyssens in Rio die gleiche Straftat – Umweltverbrechen durch massive Gewässerverschmutzung. Im Dezember 2010, 22 Jahre danach, wurde das inzwischen verkaufte Unternehmen in erster Instanz schuldig gesprochen. Prozessverschleppung mit allen Winkelzügen: Das dürfte erneut die Strategie des deutschen Konzerns sein.

Was einmal geklappt hat, muss nicht wieder klappen. Die brasilianische Justiz ist noch immer kein Ausbund an Schnelligkeit. Auch ihre Unparteilichkeit steht zuweilen in Frage. Gleichwohl ist das Brasilien des Jahres 2010 ein anderes als das von 1988, als gerade die Brasilianische Verfassung nach dem Ende der Militärdiktatur neu verabschiedet worden war. Vor allem die unabhängig operierende Staatsanwaltschaft, das so genannte „Ministério Público“, bringt Schwung in die juristische Szenerie. Das Rechtsunikat ist dem Schutz von BürgerIn und Natur verpflichtet. Der Missachtung ihrer Rechte durch Behörden, Institutionen und Firmen soll ein Riegel vorgeschoben werden. Es ist diese Institution, die sich mit Politik und Konzernen einen teils heftigen Schlagabtausch liefert. Eilverordnete Baustopps gegen den Monsterstaudamm Belo Monte in Amazonien versus hektische, teils auch illegale Gegenschachzüge der Lula-Regierung geben hiervon beredtes Zeugnis.

Wurde Brasilien immer als „das Land der Zukunft“ gehandelt, mit einer Zukunft, die immer im Futur verbleibt, so läuft nun ThyssenKrupp wahrlich Gefahr, eine neue Zukunft für sich zu entdecken. Protestierende FischerInnen und lokale AnwohnerInnen, die der Konzern so nicht auf der Rechnung hatte. Neue AkteurInnen, die einerseits aufs „Ministério Público“ hoffen, aber eben auch selbst auf ihre Rechte pochen und sich zur Wehr setzen, wenn sie merken, dass ihre Rechte verletzt werden. Die in den sieben Zivilklagen gegen ThyssenKrupp zusammengeschlossenen 5.763 FischerInnen fordern insgesamt umgerechnet bis zu 756 Millionen Euro. Selbst für ThyssenKrupp kein Pappenstiel.

Wenn es für ThyssenKrupp ganz dumm läuft, droht bei einer Verurteilung gar die vollständige Schließung des Stahlwerks. Die Gesetzeslage ließe das zu. Dazu wird es – auch aus Staatsraison – bei einem knapp sechs Milliarden Euro teuren Investitionsprojekt kaum kommen. Brasilien will sicher die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland nicht über Gebühr belasten. Eine Beruhigungspille für die Essener Konzernbosse, mehr nicht. Denn die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt so, wie es ist. Und Brasilien, daran sei an dieser Stelle erinnert, ist nach wie vor eines der wenigen Länder, das kein einziges bilaterales Investitionsschutzabkommen ratifiziert hat. Solange ThyssenKrupp gegen Gesetze verstößt, agiert der Konzern auf einer brüchigen Grundlage. Und wer wüsste besser als die Stahlbauer, dass auch der beste rostfreie Stahl durch den Zahn der Zeit ermüdet und Risse bekommt. Stahlwerke zu Angelhaken – für die FischerInnen wäre das eine lohnenswerte Perspektive.

Das Ende einer Ära

Sämtliche Geschäfte waren geschlossen, die Straßen von Buenos Aires am Morgen wie leergefegt. Wer am vergangenen 27. Oktober dennoch unterwegs war, gehörte ziemlich sicher zum Personal, das die an diesem Tag stattfindene Volkszählung in Argentinien durchführte. So erreichte die Nachricht die meisten Menschen per Telefon: „Hast Du schon gehört? Kirchner ist gestorben!“ Da sie das Haus möglichst erst nach der statistischen Erfassung verlassen sollten, harrten viele vor dem Fernseher aus. Der plötzliche Tod des argentinischen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner, der im Alter von 60 Jahren einem Herzinfarkt erlegen war, beherrschte auf fast allen Kanälen das Programm.
Ab dem Nachmittag versammelten sich zehntausende Menschen spontan im Zentrum der Hauptstadt, um zu trauern und der amtierenden Präsidentin und Ehefrau Kirchners, Cristina Fernández de Kirchner, ihren Beistand auszusprechen. „Danke Néstor“ und „Sei stark Cristina“ waren die dominierenden Statements. Immer wieder skandierte die Menge Slogans zur Unterstützung des politischen Reformprojekts, das die Kirchners seit 2003 repräsentieren. Viele blieben über Nacht auf der Plaza de Mayo, direkt vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada, um auf die Ankunft des Leichnams zu warten. Zur öffentlichen Totenwache am folgenden Tag reisten fast alle südamerikanischen Präsidenten an. Zahlreiche AnhängerInnen Kirchners nahmen den weiten Weg auch aus abgelegenen Provinzen auf sich, um den Ex-Präsidenten zu verabschieden. Am 30. Oktober wurde der Leichnam dann unter großer Anteilnahme in Río Gallegos beigesetzt, der Heimatstadt Kirchners im Süden Patagoniens.
Dass Kirchners Tod einmal eine derart überwältigende Resonanz in Argentinien und der gesamten Region auslösen würde, hatte bei seinem Amtsantritt 2003 wohl niemand erwartet. Mit gerade einmal 22 Prozent der Stimmen übernahm er damals in einer fundamentalen Legitimationskrise der Politik das Präsidentenamt. Ende 2001 war der damalige Präsident Fernando de la Rúa vor wütenden Massenprotesten mit dem Hubschrauber geflohen. „Alle sollen abhauen“, war die zentrale Forderung jener Tage, der Zorn richtete sich gegen die Politik an sich. Die Diskreditierung der politischen Eliten öffnete Räume für soziale Mobilisierung von unten: Formen solidarischer Ökonomie wie etwa Tauschringe, kollektiv betriebene Fabriken, Stadtteilversammlungen, Straßenblockaden der organisierten Arbeitslosen.
Mit Unterstützung des Interimspräsidenten Eduardo Duhalde gelang dem weitgehend unbekannten Gouverneur der südlichen Provinz Santa Cruz, Néstor Carlos Kirchner, schließlich der Sprung ins Präsidentenamt. Carlos Menem, der neoliberale Ex-Präsident der 1990er Jahre, hatte den ersten Wahlgang mit gut 24 Prozent der Stimmen zwar knapp für sich entschieden, war aus Angst vor einer Niederlage zur Stichwahl jedoch nicht mehr angetreten. Kirchner profitierte von den sozialen Protesten, hatte selbst jedoch nicht daran teilgenommen. Im Gegenteil war er ein Berufspolitiker wie er im Buche steht, also Vertreter jener diskreditierten Schicht, die eigentlich „abhauen“ sollte.
Trotz der anfangs schwachen Legitimation als Präsident gelang es Kirchner in den folgenden Jahren den Protest und die Unzufriedenheit der Bevölkerung politisch zu kanalisieren und seine Macht zu festigen. Der Linksperonist erkannte die Gunst der Stunde und wendete sich scharf gegen den in den 1990er Jahren dominierenden Neoliberalismus, der Argentinien und andere lateinamerikanische Länder in tiefe wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen gestürzt hatte. Kirchner legte sich mit Teilen des Establishments an und verstand es zu polarisieren sowie politische Bündnisse zu seinen Gunsten zu schmieden.
Innerhalb des weitläufigen peronistischen Spektrums machte er den als mafiös strukturiert geltenden Gewerkschaftsdachverband CGT, der in den 1990er Jahren die neoliberale Politik unter Menem mitgetragen hatte, zu einem zentralen Pfeiler seiner politischen Basis. Und auch die sozialen Bewegungen band er geschickt in seine Regierungspolitik ein. So unterstützten viele Menschenrechtsgruppen wie die Madres de Plaza de Mayo sowie Teile der Arbeitslosen-Organisationen Piqueteros die Regierung und erhielten im Gegenzug politische Ämter oder finanzielle Zuwendungen. Wer sich dem Freund-Feind-Schema zu entziehen versuchte oder eine linke Alternative zu Kirchner anstrebte, wurde hingegen mit Marginalisierung gestraft.
Basislinken Gruppen fällt es bis heute schwer, sich in der polarisierten Situation zwischen der Regierung und einer größtenteils neoliberalen Opposition zu positionieren. Einerseits hat Kirchner aus linker Sicht den taumelnden Kapitalismus wieder stabilisiert, indem er ihn um soziale Komponenten erweiterte und den internen Markt stärkte. Andererseits kann der Ex-Präsident einige gewichtige politische Verdienste vorweisen, wobei er immer wieder langjährige Forderungen linker Gruppen aufgegriffen hat.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen setzte er eine Reform des Menem-hörigen Obersten Gerichtshofes durch, was ihm breiten gesellschaftlichen Rückhalt einbrachte. Nach dem Staatsbankrott 2001 gelang es der Regierung Kirchner, die Ökonomie des Landes mit „chinesischen Wachstumsraten“ wiederzubeleben. Neue Arbeitsplätze entstanden, Sozialleistungen wurden ausgeweitet, der interne Konsum gestärkt. Die Schuldenkrise wurde durch entschlossenes Vorgehen Kirchners entschärft, sämtliche Schulden beim verhassten Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden vorzeitig zurückgezahlt. Kirchner wies der ökonomischen Entwicklung des Landes stets höchste Priorität zu: Sowohl als Präsident als auch danach, während der aktuellen Amtszeit seiner Ehefrau Cristina, informierte er sich mit einem täglichen Anruf beim Wirtschaftsminister über die maßgeblichen wirtschaftlichen Indikatoren des Landes.
Auch auf internationaler Ebene stellte sich Kirchner dem Neoliberalismus entgegen. Er verschrieb sich der lateinamerikanischen Integration und ging in fundamentale Opposition zu den USA sowie internationalen Finanzorganisationen. Gemeinsam mit anderen Schlüsselakteuren wie seinen Amtskollegen Hugo Chávez aus Venezuela und Lúiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien gelang es ihm auf dem 4. Gipfel der Amerikas 2005 im argentinischen Mar del Plata, die von den USA forcierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA zu verhindern. Seit Mai dieses Jahres war Kirchner zudem der erste Generalsekretär der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR).
Neben der Stärkung des internen Marktes setzte er jedoch weiterhin auf die hemmungslose Plünderung von Bodenschätzen und den großflächigen Anbau genveränderten Sojas in Monokultur. Auch war seine Wirtschaftspolitik nicht frei von Skandalen wie etwa der Manipulierung der Inflationsrate beim Nationalen Statistikamt INDEC. Nicht zuletzt bleibt die Vermehrung des eigenen Vermögens während Kirchners Amtszeit als Makel, er selbst erklärte dies mit dem Verkauf von in der Vergangenheit billig erworbenen Gütern wie Immobilien. Rechte KritikerInnen warfen ihm indes einen populistischen und autoritären Regierungsstil vor, der sich durch eine ausgeprägte Nutzung präsidentieller Dekrete kennzeichnete.
Dennoch wird langfristig in breiten Teilen der Bevölkerung ein positives Bild des Ex-Präsidenten haften bleiben. Das liegt vor allem auch an Kirchners entschlossenem Eintreten für die Menschenrechte. Als erster Präsident gestand er offiziell die Verantwortung des Staates an den Verbrechen der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) ein. In einem symbolischen Akt ließ er die Porträts der ehemaligen Juntachefs Jorge Videla und Reynaldo Bignone abhängen, die 2004 immer noch die Eingangshalle der Mechanikerschule der Marine (ESMA) schmückten. Kirchner zwang das Militär, das Gelände der ESMA zu räumen, die während der Diktatur eines der größten geheimen Folterzentren war. Heute beherbergt das Areal ein Museum der Erinnerung sowie verschiedene von Menschenrechtsorganisationen geleitete Kulturzentren. Während seiner Präsidentschaft wurden zudem die Amnestiegesetze annulliert, was den Weg für eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen frei machte. Seitdem wird im ganzen Land den militärischen und zivilen Verantwortlichen in zahlreichen Verfahren der Prozess gemacht.
So wuchs Kirchners Popularität stetig an und sein Kurs wurde 2005 an den Wahlurnen abgesegnet. Nach dem dünnen Antrittsergebnis von 2003, erlangte sein Wahlbündnis Front für den Sieg (FpV) bei den Teilkongresswahlen eine sichere Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Obwohl er fortan mit einer stabilen Mehrheit regierte, ließ er sich 2007 überraschend nicht als Präsidentschaftskandidat für die peronistische Partei (PJ) aufstellen, sondern schickte seine Frau Cristina Fernández ins Rennen. Diese gewann die Wahl deutlich. Néstor Kirchner selbst blieb als enger Berater der Präsidentin und ihrer Regierung jedoch stets an der Macht beteiligt. Der Ex-Präsident war zudem als Vorsitzender der PJ und Abgeordneter im Parlament nach wie vor eine der zentralen politischen Figuren Argentiniens.
Was Kirchners Tod für die Politik des Landes bedeutet, ist noch nicht absehbar. 2011 finden in Argentinien Präsidentschaftswahlen statt. Bisher war noch nicht klar, wer von den beiden Kirchners für das peronistische Regierungsbündis FpV antreten würde. Vieles deutete jedoch auf Néstor Kirchner hin. Nach seinem Tod und den spontanen Mobilisierungen zur Unterstützung seiner Frau, bei denen besonders die massive Präsenz junger Menschen ins Auge fiel, ist eine andere Kandidatin als Cristina Fernández kaum denkbar. In der Woche nach Kirchners Ableben sprachen sich alle wichtigen Verbündeten des Kirchnerismus für ihre Kandidatur 2011 aus. Auch der größte Konkurrent der Kirchners innerhalb des Regierungslagers, der Gouverneur der Provinz Buenos Aires Daniel Scioli, stellte sich deutlich hinter die Präsidentin. Die zahlreichen gemeinsamen Auftritte der beiden nach Kirchners Tod, könnten darauf hindeuten, dass Scioli eine Kandidatur als Vizepräsidentschaftskandidat anstrebt.
Dabei schien vor einem guten Jahr bereits das politische Ende der Kirchners absehbar zu sein. Nachdem die Regierung in einem heftigen Streit mit der mächtigen Agrarlobby um höhere Exportzölle den Kürzeren gezogen hatte, büßte sie bei den Teilkongresswahlen im Juni 2009 in beiden Kammern ihre Mehrheit ein.
Dank der zerstrittenen Opposition blieb die Regierungsfähigkeit jedoch weitgehend gewahrt. Nach den Wahlen gelang es der Regierung sogar, durch einige progressive und polarisierende Entscheidungen die politische Initiative zurück zu gewinnen. Mit wechselnden, teilweise überparteilichen Mehrheiten konnte sie ein umfassendes Kindergeld, ein Mediengesetz, das die Übermacht des Medienkonzerns Clarín beschneidet, und ein Gesetz zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe durchsetzen.
Doch sowohl die parteiinterne als auch die nicht-peronistische Opposition scharren bereits mit den Füßen, um nach dem Tod des populärsten argentinischen Politikers der letzten Jahrzehnte Terrain gut zu machen. Nur wenige Tage nach Kirchners Beerdigung versammelte sich die Spitze des sogenannten Peronismo Federal, die Anti-Kirchner-Riege der PJ, um ihre Differenzen mit der Regierung zu bekräftigen. Präsidentschaftskandidat der peronistischen DissidentInnen könnte Eduardo Duhalde werden, der Kirchner einst zur Präsidentschaft verhalf. Der nicht peronistischen Opposition mangelt es bisher noch an Geschlossenheit und einem aussichtsreichen Kandidaten. Intern wurde zwar längst mit der Suche begonnen, entscheidend wird jedoch sein, ob sich die zahlreichen Parteien im kommenden Jahr auf eine gemeinsame Kandidatur einigen können. Innerhalb der Traditionspartei Radikale Bürgerunion (UCR) bewerben sich Ricardo Alfonsín, der Sohn des ersten Präsidenten nach der Militärdiktatur, Raúl Alfonsin, sowie Julio Cobos, der derzeit amtierende Vizepräsident. Cobos kam ursprünglich aus der UCR und kehrte im Zuge des Agrarkonfliktes 2008 in deren Reihen zurück. Zwischenzeitlich war er wegen seiner Kandidatur als Vizepräsident von seiner Partei ausgeschlossen worden. Da er auf dem Wahlzettel gemeinsam mit Cristina Fernández gewählt wurde, kann die Präsidentin ihn nicht entlassen. Der rechte Unternehmer und Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, ist mit seiner Wahlallianz Republikanischer Vorschlag (PRO) nach einer Reihe politischer Skandale derzeit geschwächt. Das kleine linke Bündnis Proyecto Sur, das im Parlament in der Regel gemeinsam mit der rechten Opposition gegen das Kirchner-Lager stimmt, wird den Filmemacher Fernando „Pino“ Solanas ins Rennen schicken.
Cristina Fernández hat derweil ihren politischen Arbeitsalltag wieder aufgenommen. In ihrer ersten Fernsehansprache fünf Tage nach dem Tod ihres Mannes sagte sie, dies sei der „schmerzvollste, nicht aber der schwierigste Moment“ ihrer Präsidentschaft. Sie versprach, die Politik wie gehabt fortzuführen und „das Erbe ihres Mannes“ zu verteidigen. Zu der anstehenden Wahl und einer möglichen Kandidatur hat sie sich noch nicht offiziell geäußert. Sollte ihre Popularität bis zur Wahl anhalten, muss die Opposition innerhalb wie außerhalb des Peronismus bis 2015 warten, um eine ernsthafte Chance zu haben. Denn zumindest eines ist nach dem Tod Néstor Kirchners sicher: Die Möglichkeit, dass das Ehepaar Kirchner über Jahrzehnte abwechselnd regiert, existiert nicht mehr.

Das Theater brasilianisieren

Euer Stück „FatzerBraz“ basiert auf Bertolt Brechts „Fatzer“-Fragment über eine kleine Gruppe von Deserteuren im Ersten Weltkrieg. Inwiefern wird damit auf die lateinamerikanischen 200 Jahr-Feiern zur Unabhängigkeit Bezug genommen?
Karschnia: Es war die Herausforderung, mit der Geschichte Brasiliens umzugehen und dort mit dem Fatzer-Material zu arbeiten. Wir wussten, dass es eine starke Brecht-Rezeption gibt. Aber wir wollten Brecht stärker brasilianisieren und nicht einfach über den Ersten Weltkrieg erzählen. So haben wir nach einem anderen Anknüpfungspunkt gesucht. Das war zunächst nicht einfach. Es gibt ein Selbstbild, dass man ein ziemlich entspanntes Land sei, mit einer relativ undramatischen Geschichte, es wäre nie zu großen Aufständen gekommen, es hätte keinen großen Krieg gegeben, aber deswegen hätte sich auch sozial wenig entwickelt, weil die Menschen lieber an den Strand gehen – das ist das, was einem zunächst erzählt wird. Wenn man sich länger unterhält, kommt jedoch heraus, dass dieses Bild nicht stimmt. Es hat einen sehr blutigen Krieg gegeben, es gab eine ganze Reihe Aufstände, separatistische Bewegungen und nicht zuletzt die Erfindung der Stadtguerilla als bewaffneten Widerstand gegen die Militärdiktatur. Aber an der Oberfläche ist das alles nicht präsent.

Wie sah das in den Proben aus, wie wurde an dieser Oberfläche gekratzt?
Karschnia: Wir arbeiten viel mit Foto-Masken von historischen Gesichtern und hatten zu Beginn eine Auswahl mitgebracht. Viele dieser Gesichter waren unbrauchbar, weil sie keinen Wiedererkennungswert haben, zum Beispiel das Gesicht von Carlos Marighella (Anm. d. Red.: brasilianischer Theoretiker der Stadtguerilla). Wir hatten viele Gespräche darüber, dass das historische Gedächtnis in Brasilien sehr kurz sei. Ein Problem, das die brasilianischen PerformerInnen in den eigenen Arbeiten oft thematisieren. Damit haben wir dann gearbeitet.

Wie lief die Zusammenarbeit?
Nord: Wir haben nach unserem &Co.-Prinzip gearbeitet, das heißt, dass wir Leute aus verschiedenen Gruppen gefragt haben, ob sie mit uns arbeiten wollen. So haben wir eine neue Gruppe zusammengestellt. Die brasilianischen PerformerInnen haben unglaublich viel zu dem Stück beigetragen. Wir haben uns bis zum Schluss ausgetauscht und uns immer weiter gedreht, bis „FatzerBraz“ so war wie es jetzt ist.

Und ähneln sich eure Arbeitsweisen?
Nord: Die BrasilianerInnen kommen aus Kollektiven, deren Arbeitsweise der unseren sehr nahe steht. Eine der Gruppen ist gerade sehr erfolgreich damit, site-specific zu arbeiten. Das ist noch ganz neu in São Paulo. Sie machen auch Touren durch so genannte „schwierige Viertel“.
Sulimma: Es gibt gerade in São Paulo unheimlich viele große, teils sehr junge Theatergruppen von bis zu 20 Leuten. Es gibt kein Staatstheater mit festem Ensemble, sondern in erster Linie freie Gruppen, die Probleme haben, zu überleben. Dadurch ist die ganze Szene auch politisiert.

Die klassische Arbeitsteilung am Theater gibt es nicht?
Karschnia: Es gibt oft eine Person, die sich andere Leute sucht. Aber mittlerweile ist es in São Paulo so, dass man gar keine Förderung erhält, wenn man keine Gruppe ist. Selbst der ambitionierte Einzelregisseur tarnt sich daher als Gruppe! Wenn es so etwas gibt wie einen positiven Begriff der Brasilianisierung, dann wäre eine solche Brasilianisierung des deutschen Theaters etwas, was wir durchaus begrüßen würden: die Förderung der Gruppen und deren Politisierung. Es gibt gerade eine zweite Welle der Organisation, wo sie sich wieder neu vernetzen, weil man immer wieder darauf achten muss, dass das geltende Fördergesetz nicht beeinträchtigt wird.
Sulimma: Die Gruppen haben überhaupt erst durchgesetzt, dass es diese Förderung gibt.
Karschnia: Es gibt mittlerweile eine rechte Stadtregierung. Es sind schon mehrere Kultusminister darüber gestolpert, dass sie versucht haben, sich mit den freien Gruppen anzulegen. Wenn es einen Eingriff gibt in dieses Gesetzwerk, sind die sofort zur Stelle. Dadurch haben sie ein anderes Selbstbewusstsein. Sie versuchen mittlerweile auch, sich als Bewegung zu konstituieren, die auch künstlerisch zusammenarbeitet. Sie treffen sich einmal in der Woche, und probieren ein Modell aus, das sie „Gruppe aus Gruppen“ nennen. Gruppen besuchen sich gegenseitig und tauschen sich aus.
Wo spielen die freien Gruppen?
Sulimma: Es gibt Kulturzentren, die SESC. Alle Unternehmen müssen ein Prozent ihres Einkommens in Kultur investieren. Damit werden die SESC finanziert. Für die Besucher ist alles subventioniert, das ist eine sozialpolitische Maßnahme: Da ist ein Kino drin, ein Schwimmbad, eine Bibliothek, Spielplätze, und ein Theater mit einer künstlerischen Leitung, die Theaterstücke einkauft.
Karschnia: Die meisten Gruppen haben ihre eigenen Örtlichkeiten. Aber wenn man in einem SE- SC spielt oder auf ein Festival eingeladen wird, ist das toll, man hat dann mehr Publikum. Deswegen gibt es jetzt den Versuch, dass die Gruppen sich gegenseitig besuchen und dort auch spielen. Eine der Gruppen macht unter anderem Straßentheater, teilweise regelrechte Straßenfeste, für die Nachbarschaft direkt um ihr Theater herum – auch um die Leute ins Theater zu bekommen. Sie beneiden uns, weil sie denken, dass bei uns alle ständig ins Theater rennen. Und wir beneiden deren Vernetzung und deren Aktivismus. Außerdem gibt es in Brasilien auch starke soziale Bewegungen wie die Landlosenbewegung MST, mit denen viele Theatermacher zusammen arbeiten.

Schreiben sie auch selbst Aufführungstexte?
Karschnia: Das machen sie zum Teil auch. Die Theaterbewegung hat einen starken Fokus auf „research“: Sie laden Intellektuelle ein, die Vorträge halten, bei Proben beraten, Anregungen geben. Die Theaterbewegung ist „brasilianisch“ in dem positiven Sinne, den der Soziologe Giuseppe Cocco (Anm. d. Red.: der Titel „FatzerBraz“ spielt auch auf Coccos Buch „MundoBraz“ an) diesem Begriff zu geben versucht hat: als etwas, das jenseits des Staates funktioniert. Dass man also in Brasilien, weil das dort eigentlich nie so gut mit dem Staat funktioniert, nicht auf ihn setzt und glaubt, der wird sich kümmern. Sondern dass es da schon Modelle der nichtstaatlichen Selbstorganisation gibt, die vielleicht zukunftsweisend sind. Das fanden wir gerade im Theaterbereich spannend. Theater als soziale Bewegung – das gibt es in Deutschland so noch nicht. Aber wenn das mit den sozialen Verwerfungen so weitergeht, wäre es vielleicht irgendwann ein Modell. Mir sind die Verbandsstrukturen hier oft zu vereinsmeierisch. Da könnte sich schon ein bisschen was brasilianisieren.

KASTEN:
andcompany&Co.

Im Kern besteht andcompany&Co. aus dem Autor und Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, der Performerin und Sängerin Nicola Nord sowie dem Musiker und DJ Sascha Sulimma,. Seit zwei Jahren sind sie artists-in-residence am Theater Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin. Das Kollektiv arbeitet stets mit wechselnden internationalen KünstlerInnen, den &Cos, Ko-AutorInnen. Das ästhetische Prinzip lautet Remix: Souverän und mit viel Humor zitieren, verfremden, reanimieren andcompany&Co. auf der Bühne Theorie, Pop, Kunst, Trash und Utopien vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts. Mehr Info: www.andco.de

Das Schweigen brechen

„Mapuche-Territorium“ steht in weißen Lettern auf dem Metalltor des Studentenwohnheims „Hogar“ in der Provinzhauptstadt Temuco im Süden Chiles. Jugendliche Mapuche aus den umliegenden Gemeinden hatten das Gebäude aus Protest gegen den Mangel an Schlafplätzen bereits vor Jahren besetzt. Gleich nebenan in einem Lagerraum waren nun auch drei hungerstreikende Mapuche untergebracht, die auf Kaution aus der Haft entlassen worden waren – aus Mangel an Beweisen. „Trotzdem laufen das Verfahren und die Beweisaufnahme gegen uns weiter“, sagt einer von ihnen, der ungenannt bleiben möchte.
In den letzten Wochen wurde das Wohnheim zu einem emsigen Treffpunkt, wo Transparente gemalt wurden und Angehörige oder UnterstützerInnen der Hungerstreikenden übernachteten. So auch Jorge Charlet Huaiquinao, der sich während der letzten beiden Wochen solidarisch dem Hungerstreik angeschlossen hatte.
Auf einer Wäscheleine im Hof hängt noch ein Plakat mit der Aufschrift „Wir wollen und brauchen kein Anti-Terror-Gesetz“. Mit dieser Forderung hatte auch der Hungerstreik der 34 Gefangenen begonnen (siehe LN 435/436). Sie sehen in der Abschaffung des zur Zeit der Militärdiktatur erlassenen Anti-Terror-Gesetzes eine Grundvoraussetzung für einen fairen Prozess. Denn wer in Chile während der polizeilichen Ermittlungen anhand schwammiger Kriterien als TerroristIn bezeichnet wird, kann bis zu zwei Jahre in Untersuchungshaft festgehalten werden. AnwältInnen haben im ersten halben Jahr nach der Verhaftung keine Akteneinsicht und als Indizien sind auch Aussagen anonymer ZeugInnen zugelassen, deren kaum überprüfbare Anschuldigungen im Extremfall zu Haftstrafen von über hundert Jahren führen können. An einem Runden Tisch sollten staatliche VertreterInnen sich deshalb dafür verbürgen, diese legalen Richtlinien abzuschaffen. Und tatsächlich erzielten SprecherInnen der Hungerstreikenden und Regierungsvertreter unter Vermittlung des Erzbischofs von Concepción, Ricardo Ezzati, am 1. Oktober eine Übereinkunft, welche die Terroranklagen gegen die Mapuche aufhebt.
Doch ist damit auch das Anti-Terror-Gesetz vom Tisch? Keineswegs, denn diskutiert und beschlossen wurden Ende September im Parlament lediglich einige Modifikationen des umstrittenen Gesetzes mit der Nummer 18.314. „Das Gesetz besteht also trotz der heutigen Änderungen weiter und wird weiterhin Prozesse und Verteidigungen von Angeklagten beeinflussen“, resümiert der Abgeordnete Manuel Monsalve von der Sozialistischen Partei (PS). Der Vorschlag seiner Partei, im Parlament einen Übergangsartikel zu beschließen, an dessen Ende die Abschaffung des Gesetzes gestanden hätte, fand keine Mehrheit. Hugo Gutiérrez von der Kommunistischen Partei (PC) kritisiert außerdem, dass die Regierung die Gesetzesänderung formulierte, ohne den Dialog mit der parlamentarischen Opposition und den RepräsentantInnen der Mapuche zu suchen. Justizminister Felipe Bulnes hingegen sprach von einem „Fortschritt“, ohne weiter kommentieren zu wollen.
Hernán Montealegre, Anwalt und Menschenrechtsaktivist bestreitet, dass ein Fortschritt erzielt wurde. Er resümiert, dass „Modifikationen verabschiedet wurden, ohne die Typifizierung von Terrorismus als Straftat als solche zu verändern.“ Dabei kritisiert er besonders, dass Brandstiftung weiterhin als Terrorakt ausgelegt werden kann und der chilenische Staat damit klar dem Rechtsverständnis der Diktatur verbunden bleibe. Dieser Aspekt ist deshalb so bedeutsam, da viele der inhaftierten Mapuche von anonymen ZeugInnen beschuldigt werden, bei Protestaktionen Verwaltungsgebäude von Latifundien und der Forstwirtschaft in Araukanien angezündet zu haben. „Auch wenn die Gefangenen nun nicht davon betroffen sind, gibt es keine Garantie dafür, dass künftige soziale Proteste nicht erneut als Terrorismus kriminalisiert werden“, meint Jorge Charlet Huaiquinao. „Auch das Strafmaß wird nicht wesentlich verändert. Es kann nicht sein, dass die wenigen verurteilten Folterer und Mörder der Militärdiktatur Haftstrafen von durchschnittlich 15 Jahren erhalten haben und jemand, der eine Scheune anzündet, dafür doppelt so lange ins Gefängnis soll.“
Subsistenzwirtschaft auf ein bis zwei Hektar Land, Aushilfsjobs in Temuco oder eine Abwanderung nach Santiago: Zwischen diesen Optionen liegen die präkeren Zukunftsaussichten vieler Mapuche in der Region. Der Hungerstreik hat die meisten Angehörigen auch in finanzieller Hinsicht hart getroffen und daran wird sich so schnell nichts ändern, erzählt Zoila Blanco, Mutter von Claudio Sánchez Blanco, der seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt. „Mein Sohn hat seinen Job verloren, als er ins Gefängnis musste, und unsere Familie damit ein wichtiges Einkommen. Fast wäre er von der Universität geflogen. Nur mit viel Mühe haben wir durchsetzen können, dass er in der Haftanstalt seinen Abschluss machen konnte.“ Der Sohn von Lonko Juana Calfunao (siehe Interview ab Seite 15), der im dritten Jahr Jura studierte, hatte weniger Glück. Er wurde von seiner Universität für das weitere Studium gesperrt.
„Gerechtigkeit, nicht mehr und nicht weniger erwarten wir als Grundlage aller folgenden Verhandlungen“ sagt Monica Quesada, die sich inzwischen mit zu Jorge an den Tisch gesetzt hat. Monica kam vor zwei Jahren nach der Ermordung ihres Sohnes Matias Catrileo nach Temuco. Er wurde während einer Mapuche-Demonstration von einem Polizisten in den Rücken geschossen. Der Polizist verbüßt heute eine Bewährungsstrafe. Doch schon lange ist es Monica müde, immer wieder dieses Urteil zu kommentieren. „Heute geht es darum, das Schweigen in der chilenischen Gesellschaft zu brechen. Viele Chilenen setzen sich nicht wirklich mit den Argumenten der Mapuche auseinander“, sagt sie. „Auch wenn auf den letzten Demonstrationen in Santiago Tausende Menschen waren, wird dieser Erfolg schnell verpuffen, wenn wir nicht weiter Druck auf die Regierung ausüben. Und das fängt bei fortwährenden Protesten gegen das Anti-Terrorgestz an.“
Der Anwalt der Familien Quesada und Catrileo, Jaime Madariaga, wies bereits vor der Abstimmung darauf hin, dass der einzig wesentliche Unterschied der gesetzlichen Neufassung in einem „Ausschluss Minderjähriger vom Anti-Terrorgesetz“ bestehe. Dass künftig auch anonyme ZeugInnen ins Kreuzverhör genommen werden dürfen, hält er dagegen für einen schlechten Witz. „Das ändert fast nichts, denn die Fragen dürfen niemals darauf abzielen, den Zeugen identifizieren zu können.“
Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen, dass die Glaubwürdigkeit dieser ZeugInnen kaum überprüft werden kann. Juana Calfunao und ihre Familie kritisieren seit Jahren die Praktiken des chilenischen Staates, mit denen belastende Aussagen „produziert werden.“ Neben den bekannten Aussagen Minderjähriger, die von ZivilpolizistInnen geschlagen und bedroht wurden, damit sie gegen Angeklagte als anonyme ZeugInnen aussagen, hat Juana auch Geständnisse von Mapuche gefilmt, die mit Geld angeworben wurden, um für längere Zeit nach Bedarf Aussagen zu liefern. Der chilenische Innenminister Rodrigo Hinzpeter gibt sich da optimistischer. Er spricht bezüglich des Verhältnisses zwischen Mapuche und Regierung von einer „neuen Etappe des Vertrauens.“ Dass er es noch bis vor Tagen ablehnte, sich mit den Mapuche an einen Tisch zu setzten, ihren Protest als Gewaltakt bezeichnete und ihnen dann ein Ultimatum stellte, endlich das Angebot der Regierung anzunehmen – all das war gestern. Heute gilt die Devise „Vorwärtsschauen“ auf dem Weg zu einer „multikulturellen Inklusion“, wie Präsident Sebastián Piñera das im September so blumig bei der UNO formulierte. Doch wenn Piñera seinen Appell sich „endlich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren“ ernst meinte, dann müsste der chilenische Rechtsstaat künftig auch juristisch ausschließen, dass Indigene oder an sozialen Protesten beteiligte Menschen als TerroristInnen angeklagt werden können. Genau das empfehlen neben zahlreichen Menschenrechtsorganisationen auch die Vereinten Nationen bereits seit Jahren. Doch dazu müsste die chilenische Verfassung, noch bevor Fragen wie ein Autonomiestatus oder Selbstbestimmung diskutiert werden, zunächst einmal die Mapuche und weitere indigene Gruppen als Ethnien anerkennen.
Eine viel verbindlichere Grundlage hat der Hungerstreik bereits jetzt geschaffen. Die 34 Mapuche-Indigenas haben erreicht, was das Mitte-Links-Bündnis der Concertación während seiner 20-jährigen Regierungszeit (1990-2010) in Chile nie zu fordern wagte: eine Reform des Militärgesetzes. Denn neben der Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes forderten die Hungerstreikenden auch, dass ZivilistInnen künftig nicht mehr für den gleichen Strafbestand zusätzlich von Militärrichtern belangt werden können. Abgeordnetenhaus und Senat sprachen sich ohne Gegenstimme für diese Reform des Gesetzes aus. Damit werden neben den angeklagten Mapuche 4.500 offene Fälle angeklagter ZivilistInnen der Militärgerichtsbarkeit entzogen. Die Angeklagten können so – zumindest was den Punkt der doppelten Gerichtsbarkeit angeht – einen fairen Prozess bekommen. Die chilenische Internetzeitung Citizen Almeida kommentiert bereits vor der Abstimmung im Senat treffend: „Paradoxerweise sind es die Mapuche, die so oft von der Republik missbraucht wurden, die in diesen Tagen, ihr Leben aufs Spiel setzend, die Prinzipien des Rechtsstaats verteidigen.“

„Die richtigen Fragen stellen”

Das zentrale Thema des argentinischen Gastland-Auftrittes auf der Frankfurter Buchmesse ist der Umgang mit der Militärdiktatur. Die Regierungen Kirchner/Fernández haben dieses Thema zu einem Teil ihrer Politik gemacht. Wie bewerten Sie die argentinische Form der Geschichtspolitik?
Zunächst einmal muss man klarstellen, dass Erfolge bei Wiedergutmachungsprozessen, beim Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit, niemals Verdienste von Regierungen sind. Niemals wird eine Regierung hier vorangehen, ohne von unten dazu gezwungen worden zu sein, und der Druck in Argentinien war nach den Enttäuschungen der achtziger Jahre und den lähmenden neunziger Jahren sehr groß. Das unbestreitbare Verdienst der Kirchner-Regierungen ist, dass sie begriffen haben: Jetzt ist der Moment, um die Gesetze in Frage zu stellen, die bisher die Folterer geschützt haben. Sie haben sich dafür interessiert, was der Bevölkerung wichtig war. Aber der Druck kam von unten. In diesem Sinne sind Regierungen eigentlich immer konservativ – außer wenn sie dazu gezwungen werden, es nicht zu sein.

Wie haben Sie persönlich diesen Druck erlebt?
Als ich aus dem Gefängnis kam, sprach man gerade über die „Theorie der zwei Dämonen“. Ernesto Sábato hat sie 1984 im Vorwort zum Menschenrechtsbericht Nunca más verbreitet. Dabei ging man davon aus, dass es eine kleine Gruppe von Bösen auf der Rechten und eine andere kleine Gruppe von Bösen auf der Linken gegeben habe, und der Rest habe dem Geschehen in der Diktatur unbeteiligt zugeschaut. Das entlastete tausende und abertausende von Menschen, die sehr aktiv an der Diktatur beteiligt waren. Alle, die seither gegen den Strom geschwommen sind mit ihrer Auffassung, haben heute im Grunde gewonnen. Die Menschen trauen sich zu sprechen, ihre Vergangenheit zu benennen.

Aber die Regierungspolitik hat doch den Nebeneffekt, dass die Geschichte wieder durch die Macht uminterpretiert wird – im Sinne von deren eigenem Machterhalt.
Dem würde ich nur teilweise zustimmen. Wenn man ein Konzentrationslager wie die ESMA in ein Museum der Erinnerung umwandelt, wo die Fotos nicht nur der Verschwundenen, sondern auch der Folterer gezeigt werden, damit man weiß, wer diese waren und damit auch die Kinder und Enkel das gezeigt bekommen können – dann kann das die Politik nur geringfügig vereinnahmen. Sicher, jede Regierung wird versuchen, die Geschichte für sich zu instrumentalisieren. Aber die Verankerung dieser Zusammenhänge in der Erinnerung scheint mir viel wichtiger zu sein. Auch mit den Müttern und den Großmüttern der Plaza de Mayo ist das ja so geschehen – aber es ist wichtig, dass diese immer noch da sind und rufen: „Bewahrt die Erinnerung!“

Sprechen wir von Literatur. Viele argentinische Autorinnen und Autoren suchen derzeit nach einer Neubewertung der linken Geschichte, sie räumen Irrtümer und Schuld auch auf der Linken ein. Ist das Ihrer Meinung nach ein guter Weg?
Anzunehmen, jemand sei gut, nur weil er eine bestimmte politische Position einnimmt, ist schwachsinnig. Wir haben auf der Linken fürchterliche Fehler gemacht. Wir haben geglaubt, wir könnten die ganze Welt verändern. Wir meinten, eindeutig zu wissen, wer der Feind war, und mit dem gab es nichts zu diskutieren, den konnte man nur bekämpfen. Heute müssen wir uns darüber klar werden, was wir damals wollten, was wir getan haben und warum wir gescheitert sind. Das brauchen wir, um überhaupt mit der Welt zurechtzukommen. Wichtiger als auf diese Fragen gute Antworten zu finden, scheint mir erst einmal die Fähigkeit zu sein, überhaupt diese Fragen zu stellen.

Ihr neues Buch Und der Engel spielt dein Lied ist Rodolfo Walsh gewidmet. Was verdanken Sie Walsh?
Ich verdanke ihm viel als einem Menschen, der seinem Gewissen verpflichtet gewesen ist – und der zugleich schrieb wie ein Gott. Walsh schreibt sozusagen immer besser: Bei jeder neuen Lektüre von Operación Masacre fällt mir das von Neuem auf. Es gibt hier einen Rhythmus, eine Erzählweise, die zutiefst berührt. Er ist einer der ganz großen argentinischen Schriftsteller, aber er wird wohl nie als solcher vom Parnass der Intellektuellen anerkannt werden, weil er politisch aktiv war, und das stört. Aber er hatte die Fähigkeit, bei den LeserInnen Leidenschaft zu wecken. Das ist das Entscheidende.
Als 1956 das Massaker passierte, von dem Walsh schrieb, war ich neun Jahre alt, ich ging in die Grundschule. Er erzählt, dass bei der Rebellion die Kaserne der Aufständischen mit Flugzeugen angegriffen wurde, das war in La Plata, in der Provinz Buenos Aires. Ich bin aus La Plata. In der Nacht vorher wurden wir wach, weil wir die Einschläge der Geschosse hörten, und am nächsten Morgen kam ich mit ein paar anderen Jungen auf einer Dachterrasse zusammen, wo wir den Flugzeugen zuschauten, die die Kaserne angriffen. Insofern bin ich ein wenig ein Teilnehmer an diesem Geschehen, und das Buch von Walsh hat mich dann sehr angesprochen.

Sie selbst haben die Diktatur miterlebt, die ja in Ihren Büchern auftaucht. Sind Ihre Texte ein Kommentar über Ihre eigene Geschichte?
Völlig. Da ich das Glück hatte, eine so belastende Phase wie die Diktatur zu überleben, erschaffe ich Personen, die damit zu tun haben. Sie sind geprägt von meinen Vorstellungen, meinen Wünschen und Ängsten, und ich lasse das zu. Dabei kommen Dinge zutage, die ich überhaupt nicht vorhergesehen habe, die nichts mit der Rolle zu tun haben, die ich den Personen eigentlich zugedacht hatte. Für mich sind die entscheidenden Fragen: Wer sind wir? Wie weit können wir wir selbst bleiben, ohne zu zerbrechen? Wir wissen, dass man uns in ein Konzentrationslager stecken und uns dort zu Hunden machen kann.

Dann ist für Sie das Schreiben ein Akt der Befreiung?
Mir erlaubt das Schreiben nachzudenken. Mir die richtigen Fragen zu stellen. Und ich weiß, dass alle Antworten, zu denen ich gelange, vorläufig sein werden. Das macht mich nicht zu einem besseren Menschen, aber es hilft.

Ein ambivalentes Verhältnis

Chile im Jahr 1974: Kardinal Silva Henríquez, Erzbischof von Santiago, verweigert der Militärregierung einen Dankgottesdienst zum „Jahrestag der Regierungsübernahme“ – also des Putsches vom 11. September 1973. Der Diktator ist brüskiert, da seine an „christlichen Werten“ orientierte Regierung nicht auf die verdiente Rückendeckung der katholischen Kirche zählen kann. Er erhält aber religiöse Unterstützung von einigen Pfingstkirchen: Am 14. Dezember 1974 wird das erste protestantische „Te Deum“ abgehalten – ein Dankgottesdienst zu Ehren der Militärjunta und Pinochets. Die Unterstützung durch die zahlenmäßig damals noch unbedeutende Pfingstkirche kann einen Legitimitätsverlust durch die Kritik der katholischen Kirche zwar nicht ausgleichen. Dennoch dient sie als „Beleg“ für die christlichen Werte der Militärregierung.
Argentinien im Jahr 1976: Der in Menschenrechtsfragen engagierte Bischof Enrique Angelelli kommt bei einem fingierten Verkehrsunfall ums Leben. Zwar deutet alles auf ein Attentat hin, doch die Urheber bleiben im Dunkeln. Zuvor hatte sich in Angelellis Bistum eine sehr volksnahe Kirche entwickelt, die zum Ziel militärischer Repression geworden war: Hunderte von Laien wurden verfolgt, Ordensfrauen inhaftiert. Kurz nachdem Angelelli den Mord an zwei seiner Priester angezeigt und öffentlich gemacht hatte, ereignet sich der „Unfall“. Selbst nach diesem Vorfall distanziert sich die katholische Kirchenführung Argentiniens nicht vom Regime, das sich 1976 an die Macht geputscht hatte. Die Mehrheit der Bischöfe Argentiniens schwieg während der gesamten Zeit der Militärdiktatur zu deren massiven Menschenrechtsverletzungen; einige unterstützten das Regime ausdrücklich.
El Salvador im Jahr 1977: Am 12. März wird Pater Rutilio Grande SJ, Pfarrer von Aguilares, heimtückisch erschossen. Der befreiungstheologisch inspirierte Jesuit hatte sich für die Verbesserung der Lebenssituation von LandarbeiterInnen sowie Kleinbauern und -bäuerinnen stark gemacht. Oscar Romero, damals Erzbischof der Hauptstadt San Salvador und dem Ermordeten freundschaftlich verbunden, fordert die Aufklärung des Attentats. In einem Brief an Staatspräsident Arturo Armando Molina teilt er mit, dass er solange an keinen offiziellen Feierlichkeiten teilnehmen werde, bis der Fall aufgeklärt sei. Im Sommer 1977 nimmt Erzbischof Romero dann scharfe Kritik in Kauf, als er der Amtseinführung von Molinas Nachfolger, General Carlos Humberto Romero, aus Protest fern bleibt, da dieser durch massiven Wahlbetrug an die Macht gekommen war.
Die genannten Beispiele zeigen die Ambivalenz, die der katholischen Kirche im Hinblick auf politische Macht und deren Legitimation zukommen. In Lateinamerika ist die Bedeutung von Religion besonders ausgeprägt: Die Zahl der Konfessionslosen ist sehr gering. Bei Umfragen ist die Kirche stets die Institution, der die höchsten Vertrauenswerte zufallen – nur die Feuerwehr schneidet in einzelnen Ländern besser ab. Auch im weltweiten Vergleich bestätigt sich diese Beobachtung. Der „Religionsmonitor“, eine breit angelegte Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zur gesellschaftlichen Bedeutung von Religion, berücksichtigte in seiner jüngsten Erhebung aus dem Jahr 2008 Guatemala und Brasilien. Nach Nigeria haben diese beiden Länder den höchsten Anteil an sogenannten (Hoch-)Religiösen weltweit. Als „Hochreligiöse“ bezeichnet die Studie jene, bei denen „religiöse Inhalte eine zentrale Rolle in der Persönlichkeit“ spielen; bei „Religiösen“ kommen religiöse Inhalte und Praktiken vor, spielen jedoch eine untergeordnete Rolle. Gemäß diesen Definitionen gelten in Brasilien 72 Prozent der Bevölkerung als „hochreligiös“ und 24 Prozent als „religiös“, in Guatemala sind es 76 beziehungsweise 20 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland gelten 18 Prozent der Bevölkerung als „hochreligiös“ und 52 Prozent als „religiös“.
Um die große Bedeutung von Religion und die besondere Rolle der katholischen Kirche in Lateinamerika besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte: Von Anfang an gingen Conquista und Missionierung Hand in Hand. Die Mission – oft als „geistige Conquista“ bezeichnet – diente nicht nur der Unterwerfung der Indígenas und der Herrschaftssicherung, sie hatte auch eine legitimierende und „sinnstiftende“ Funktion: Es ging um die „Rettung der Seelen“.
Die spanische Krone hatte sich von Papst Alexander VI. die Besitzrechte an den entdeckten Territorien sichern lassen und sich damit zugleich verpflichtet, die Indigenen zum Christentum zu bekehren. Die Königshäuser Spaniens und Portugals erhielten das sogenannte Patronatsrecht – eine Art Schutzherrschaft über die Kirchen in der Neuen Welt: Dies beinhaltete unter anderem das Recht auf Errichtung von Bistümern, Ernennung von Bischöfen sowie Auswahl und Aussendung des Missionspersonals. So entstand eine äußerst enge Verbindung von Krone und Kirche beziehungsweise von Politik und Religion. Dabei waren die Träger der Mission zum einen Orden wie die Dominikaner, Franziskaner oder Jesuiten und zum anderen die SiedlerInnen selbst, die im Rahmen des encomienda-Wesens zur Mission verpflichtet waren. Die auf ihren Besitzungen lebenden Indígenas wurden den Siedlern „anvertraut“ (encomendar bedeutet „anvertrauen“). Während die Indígenas zu Arbeitsdiensten und Abgaben verpflichtet waren, oblag den Grundherren die Christianisierung der Untergebenen. Religion diente dazu, Ausbeutung und Abhängigkeitsverhältnisse zu legitimieren.
Doch bereits damals gab es eine religiös begründete Herrschaftskritik: Eine herausragende Figur war hier Bartolomé de las Casas (1484 bis 1566), der selbst encomendero gewesen war. Später gab er seine Besitzungen auf und versuchte von der spanischen Krone Schutzgesetze sowie Reservate für Indigene zu erwirken, zu denen außer den Missionaren keine Weißen Zutritt haben sollten.Das Wirken dieser herrschaftskritischen Missionare zeigte gewisse Erfolge: 1537 schrieb Papst Paul III. die Menschenwürde und Menschenrechte der Indigenen fest und erklärte die friedliche Evangelisierung zur einzig angemessenen Art der christlichen Mission. 1542 schaffte König Karl V. das encomienda-Wesen in den meisten Regionen Lateinamerikas ab und untersagte die Versklavung der Indigenen. Auch wenn auf Druck der Kolonialgesellschaft wichtige Bestimmungen später wieder zurückgenommen wurden, galt fortan eine Strategie der Trennung: Zumindest jene Regionen, in die die Conquistadores noch nicht vorgedrungen waren, sollten nicht mehr militärisch erobert, sondern durch das Wirken der Missionare zum Christentum geführt und dem spanischen Weltreich angegliedert werden. Zwar ist aus heutiger Sicht die Indienstnahme der Religion für kolonialpolitische Ziele sehr kritisch zu sehen, dennoch bedeutete dieser Schritt damals eine deutliche Verbesserung der Situation der Indigenen – auch wenn durch die Missionierung ihre ursprünglichen Religionen zurückgedrängt wurden.
Einen fundamentalen Einschnitt in der Beziehung von Kirche und Staat stellte die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Provinzen von Spanien dar. Der Kirche, vormals integraler Bestandteil des Kolonialsystems, fehlte der Ansprechpartner. Die neuen Staaten reklamierten jenen weltlichen Einfluss nun für sich, den zuvor das Patronatsrecht der Krone zugebilligt hatte. Das führte besonders in Ländern mit einem starken liberalen Flügel zu erheblichen Spannungen. Liberalismus war in Lateinamerika gleichbedeutend mit Antiklerikalismus. Aus Sicht der Liberalen symbolisierte die Kirche die Rückständigkeit der Gesellschaft.
So kam es, dass sich das Verhältnis von Kirche und Staat in den einzelnen Ländern unterschiedlich entwickelte. In Uruguay beispielsweise, das heute am wenigsten katholische Land Südamerikas, waren im 19. und 20. Jahrhundert die liberalen Kräfte besonders stark. Die Religion wurde in den Bereich des Privaten verlagert. Die so in die Enge getriebene Kirche zog sich in eine katholische Eigenwelt zurück. Sie konnte kaum mehr als politische oder gesellschaftliche Kraft auftreten. So kommt es, dass man in Uruguay christliche Feiertage wie Weihnachten, Heilige drei Könige oder Ostern vergebens in den offiziellen Kalendern sucht. Stattdessen finden sich dort Bezeichnungen wie „Familientag“ für den 24. Dezember, „Tag der Kinder“ für den 6. Januar und die Karwoche vor Ostern heißt „Semana de Turismo”.
Als anlässlich des Todes von Papst Johannes Paul II. in der Botschaft Uruguays beim Heiligen Stuhl ein Gottesdienst gefeiert wurde, an dem auch die Präsidentengattin teilnahm, wurde dies in Uruguay öffentlich sehr kontrovers diskutiert. Was in anderen Ländern Lateinamerikas selbstverständlich wäre, provoziert in Uruguay Protest und zeigt einmal mehr, wie sehr der laizistische Charakter zum Selbstkonzept der uruguayischen Gesellschaft gehört.
Ganz anders sieht es im Nachbarland Argentinien aus. In der nación católica spielt die Kirche eine zentrale politische und gesellschaftliche Rolle. Der Katholizismus ist eine Quelle der nationalen und kulturellen Identität. Noch bis zur Verfassungsreform von 1994 musste der Staatspräsident katholisch sein. Über Jahre hinweg hat die katholische Kirche durch ihre Kanäle öffentliche und politische Debatten, wie beispielsweise um Empfängnisverhütung, maßgeblich mitgeprägt.
Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich das Staat-Kirche-Verhältnis in den lateinamerikanischen Nationen, das wesentlich durch die Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt wurde. In allen Fällen aber führte die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten zu einer engeren Anbindung der Kirche an den Vatikan. Man versprach sich in diesen unsicheren, bewegten und zum Teil feindlichen Zeiten Orientierung und Unterstützung vom Papst. Gleichzeitig versuchte die Kirche angesichts der Herausforderungen des Liberalismus aber auch, die Gläubigen stärker an sich zu binden. In dieser Zeit entstanden so zahlreiche kirchliche Vereine und Gruppierungen der „Katholischen Aktion“, die zur „Verchristlichung“ der jeweiligen Lebenswelten beitragen sollten.
Nach den Herausforderungen, die durch die Unabhängigkeit von Spanien für die Kirche entstanden, markieren die politischen Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre den nächsten entscheidenden Einschnitt für die Positionierung der katholischen Kirche Lateinamerikas gegenüber der politischen Macht. In dieser Zeit putschten sich in zahlreichen Ländern des Subkontinents Militärjuntas an die Macht. Vielerorts wurden Andersdenkende verfolgt, darunter viele engagierte Christinnen und Christen. Die Kirche musste ihr Verhältnis zu den Staaten neu bestimmen. Dabei hing die Haltung der kirchlichen Hierarchie vor allem von prägenden Einzelpersönlichkeiten und von der traditionellen Rolle der Kirche in den jeweiligen Ländern ab.
In Chile hatte 1925 eine Trennung von Kirche und Staat stattgefunden. Die Kirche jedoch hatte als unabhängige Instanz die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Land weiter beobachtet und begleitet. Diese Konstellation ermöglichte ihr eine kritische Haltung gegenüber dem Pinochet-Regime. Die Bischöfe Chiles kritisierten das Militärregime öffentlich. Das von Raúl Silva Henríquez, Erzbischof von Santiago, eingerichtete Solidaritätsvikariat unterstützte Menschen, die von der Militärregierung verfolgt wurden: Tausende Verfolgte wurden außer Landes geschleust, Inhaftierten und ihren Angehörigen Rechtsbeistand geleistet, Menschenrechtsverletzungen untersucht und dokumentiert. In den 1980er Jahren konnte sich so im Schutz der Kirche die verfolgte parteipolitische Opposition neu formieren – nach zähen Verhandlungen mit den Militärs gelang 1989 die Rückkehr zur Demokratie.
In Argentinien hingegen war die Position der Kirche gegenüber dem zivil-militärischen Regime eine komplett andere: Hier war die Kirche sehr eng mit der politischen Macht verwoben und distanzierte sich nicht von der Militärjunta. Abgesehen von den Äußerungen einzelner Bischöfe, schwieg die Mehrheit des Episkopats zu den massiven Menschenrechtsverletzungen. Der Apostolische Nuntius Pio Langhi war gut mit Admiral Massera, einem Mitglied der Junta, befreundet, spielte mit ihm Tennis, traute seine Kinder und taufte seine Enkel. In den Gefängnissen und Haftzentren waren sogar Priester bei Folterungen anwesend und beruhigten das Gewissen der Soldaten.
Nach dem Ende der Diktaturen war die Kirche in vielen Ländern in der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen engagiert: Bischöfe waren Mitglieder staatlicher Wahrheitskommissionen und kirchliche Menschenrechtsbüros leisteten wichtige Beiträge bei der Begleitung der Opfer oder der Aufarbeitung der Verbrechen.
Heutzutage ist die katholische Kirche weiterhin der größte und bestorganisierte zivilgesellschaftliche Akteur in Lateinamerika und der Karibik: Im Jahr 2000 zählte sie hier rund 440 Millionen Mitglieder, über 1.100 Bischöfe, 63.000 Priester und 130.000 Ordensleute. Dazu kommen knapp 30.000 Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft wie Krankenhäuser, Gesundheitszentren oder Kindergärten, zahllose Schulen und Universitäten, Pfarreien, Vereine und Verbände, Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen. Besonders in strukturschwachen Regionen vieler Länder übernimmt die Kirche heute Aufgaben, denen der Staat aus verschiedenen Gründen nicht nachkommt.
Ihre institutionelle Stärke nutzt die Kirche, um auf Politik und Gesellschaft einzuwirken. Auch wenn sich in Lateinamerika (formal) demokratische Systeme durchgesetzt haben und sich der Subkontinent makroökonomisch gut entwickelt, bestehen massive politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme wie Armut und Exklusion, Gewalt und mangelhafte Rechtsstaatlichkeit, Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte, fort. Vielerorts melden sich beispielsweise Bischöfe, die weithin als moralische Autoritäten angesehen werden, gegen Korruption und polizeiliche Gewalt zu Wort.
Und auch der Umweltschutz ist ein wichtiges Themenfeld der Kirche geworden: Im Norden Perus dauern die Konflikte um die Erschließung neuer Kupferminen durch ein internationales Bergbauunternehmen an. Die Kirche stellte sich hier auf die Seite der betroffenen Bevölkerung, die von Minengesellschaft und Regierung massiv eingeschüchtert wurde. Bischof Daniel Turley erhielt bereits mehrere Todesdrohungen. Ähnlich in Brasilien: Im Jahr 2005 wurde in Amazonien die Ordensfrau Dorothy Stang ermordet, die sich dort gegen den illegalen Holzeinschlag eingesetzt hatte, der von HolzfabrikantInnen und GroßgrundbesitzerInnen systematisch betrieben wird.
In den vergangenen Jahren ist jedoch auch ein Erstarken konservativer Strömungen innerhalb des Katholizismus in Lateinamerika festzustellen. Neben konservativen Bischöfen zählen vor allem Gruppierungen wie das Opus Dei, das Sodalitium Christianae Vitae oder die Legionäre Christi. Diese konservativen Strömungen verfügen oftmals über besonders gute Einflussmöglichkeiten und Kontakte zu den politischen EntscheidungsträgerInnen: So gelang es der Kirche beispielsweise in Chile bis zum Jahr 2004 eine rechtliche Regelung der Ehescheidung zu verhindern. Ebenso blockierte die Kirche in verschiedenen Ländern die Einführung von Sexualkunde-Unterricht in Schulen. In Nicaragua wurde auf Druck der Kirche kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2006 ein totales Abtreibungsverbot durchgesetzt (siehe hierzu auch den Artikel von Andrés Pérez Baltodano in diesem Dossier). Diese konservativen Strömungen unterstreichen in besonderer Weise die Bedeutung des päpstlichen Primats und dessen Lehrautorität sowie der einheitlichen Ausrichtung der Weltkirche an Rom. Hinsichtlich der Moral und Ethik betonen sie individualethische Aspekte und die Notwendigkeit zur persönlichen Umkehr. Sozialpastorales Engagement wird so zur Hilfe aus Barmherzigkeit und ist nicht auf die Notwendigkeit gerechterer Strukturen und das empowerment der armen Bevölkerungsschichten ausgerichtet. Besonders in Ländern mit starker befreiungskirchlicher Tradition, wie Brasilien, Peru, El Salvador oder Mexiko, treten deshalb innerkirchliche Spannungen besonders zu Tage.
Doch diese stellen nicht die einzige Herausforderung für die katholische Kirche Lateinamerikas dar: Den grundlegendsten Wandel der religiösen Situation Lateinamerikas seit der Missionierung stellt der Aufstieg der Pfingstbewegung dar. Erstmals befindet sich die katholische Kirche in einer Konkurrenzsituation. Schon heute kann man davon ausgehen, dass auf dem „katholischen Kontinent“ an einem durchschnittlichen Sonntag mehr Mitglieder von Pfingstkirchen als KatholikInnen in den Gotteshäusern sitzen.
Die Pfingstkirchen stellen in sich eine heterogene Bewegung dar: Das Spektrum reicht von jenen, die sich der sozialen Problematik stellen und befreiungstheologische Impulse kreativ aufnehmen und fortschreiben, über biblizistisch-fundamentalistische Kirchen bis hin zu erfolgs- und profitorientierten Mega-Churches (siehe auch den Artikel von Adrián Tovar und Jens Köhrsen in diesem Dossier).
Diese religiöse Pluralisierung birgt Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche und wirft auch die Frage nach einem angemessenen Umgang mit christlich-fundamentalistischen Strömungen auf: Wie geht eine Gesellschaft mit religiösen Gruppen um, die ihr eigenes religiöses Werte- und Regelsystem absolut setzen und durch (kirchen-) politische Einflussnahme versuchen, diesen Ansichten eine möglichst allgemeine Verbindlichkeit zu verschaffen? Wie reagieren Kirchen auf polarisierende Gruppen in ihrem Inneren? Was bieten die neuen religiösen, zum Teil fundamentalistischen Bewegungen innerhalb wie außerhalb des Katholizismus, was die Gläubigen bei der katholischen Kirche nicht finden?
Egal wie die Antworten lauten mögen, die katholische Kirche wird in Lateinamerika einer der zentralen religiösen und zivilgesellschaftlichen Akteure bleiben. Dafür sprechen zumindest ihre historische Rolle sowie ihre strukturelle Stärke. Zudem haben die Veränderungen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat in den vergangenen Jahrzehnten der katholischen Kirche in vielen Ländern zu mehr Unabhängigkeit verholfen. Regierungen legitimieren sich nicht mehr religiös, sondern durch demokratische Verfahren und Politikerfolge. Diese Unabhängigkeit, die oft mit einer Abnahme direkter Einflussmöglichkeiten einhergeht, bietet durchaus Chancen für die Kirche. Sie kann als kritische Beobachterin der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung auftreten. Statt über institutionalisierte Kanäle Einfluss zu nehmen oder mit der Autorität eines religiösen Hegemons aufzutreten, muss sie heute durch Argumente überzeugen.

Die Ewiggestrigen

Im Juli dieses Jahres bot sich den PassantInnen im Stadtzentrum von Ribeirão Preto, im Bundesstaat São Paulo, ein Spektakel der besonderen Art. Eine kleine Gruppe geschniegelter junger Männer, die über ihren Anzügen rote Capes trugen, stand da in Formation und strammer Haltung. Einige trugen rote Standarten mit einem goldenen Löwen darauf. Gelegentlich riefen sie in martialischem Tonfall: „Lang lebe Maria, Mutter Gottes!“ und „Plínio Corrêa de Oliveira!“. Dann gingen sie umher, verteilten Informationsmaterial und sammelten Unterschriften.
Die jungen Männer sind Mitglieder der Organisation Tradition, Familie, Privateigentum (TFP) und mit ihrem öffentlichen Auftritt wollten sie aufmerksam machen auf die „religiöse Verfolgung“ in Brasilien. Glaubt man der TFP, so beinhaltet der im Dezember vergangenen Jahres von der brasilianischen Regierung verabschiedete Dritte Nationale Menschenrechtsplan (PNH-3) (siehe LN 429) staatliche Repression von strenggläubigen KatholikInnen. In einem Pamphlet der TFP wird sogar ein Vergleich zwischen dem Menschenrechtsplan und der Christenverfolgung unter den römischen Kaisern Nero und Diokletian gezogen – komplettiert mit einem Bildchen von ChristInnen im Kolosseum von Rom, die gerade Löwen zum Fraß vorgeworfen werden.
Die Mitglieder von TFP sehen sich in ihren religiösen Rechten eingeschränkt. Besonders kritisieren sie die Legalisierung von Abtreibung und Sexarbeit sowie die rechtliche Gleichstellung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Strenge ChristInnen würden nun per Gesetz gezwungen, so die Schriften von TFP, „sexuell Abartige“ in ihren Betrieben, ja, in ihren Wohnungen zu akzeptieren. Die Legalisierung von Abtreibungen und von Prostitution würde gegen die menschliche Würde verstoßen.
Die neuen Regelungen des PNH-3 bezüglich der Landreform bezeichnet die rechts-katholische Organisation als ersten Schritt in Richtung Kommunismus. Der Menschenrechtsplan sieht vor, dass LandbesetzerInnen erst öffentlich angehört werden müssen, bevor es zu Räumungen kommt. Landlosenorganisationen wie die MST begrüßen diese Neuregelung, die von Seiten der Agrarindustrie vehement kritisiert wird. Zudem missfallen der TFP neue Bestimmungen, die es indigenen Gemeinschaften erleichtern sollen, ihr Land zu demarkieren und ihre bisherige Lebensweise fortzuführen.
Liest man die 24-seitige „Analyse des PNH-3“ der TFP jedoch aufmerksam, so wird schnell deutlich, dass hier wenig mehr getan wird, als die Doktrin dieser Organisation zu wiederholen und auf den Dritten Nationalen Menschenrechtsplan zu beziehen. Verfasst wurde diese Doktrin vom TFP-Gründer Plínio Corrêa de Oliveira, der bis heute von den Mitgliedern der Organisation als Vordenker und -kämpfer verehrt wird. Auch ihr aktuelles Pamphlet kommt nicht ohne längere Zitate aus dem Werk ihres Idols aus.
Seine wichtigsten Ideen entwickelte Plínio Corrêa de Oliveira bereits vor der offiziellen Gründung der TFP in seinem Buch Revolution und Gegenrevolution, das 1959 publiziert wurde. Darin heißt es: „Wenn die Revolution die Unordnung ist, dann ist die Konterrevolution die Wiederherstellung der Ordnung. Und unter Ordnung verstehen wir den Frieden Christi im Reich Christi. Anders gesagt, die christliche Zivilisation, streng und hierarchisch, fundamentalistisch, sakral, anti-egalitär und anti-liberal.“ Oliveira romantisiert das Mittelalter als einzige gottgefällige Ordnung und stellt damit alle historischen Ereignisse, die von dieser Ordnung wegführten, als negativ dar. Als Schlussfolgerung sieht Plínio Corrêa de Oliveira die Revolution in den verschiedensten historischen Phänomenen verkörpert: in der kulturellen Entwicklung der Renaissance, in der Reformation, der französischen Revolution und schließlich den kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Diese vereinfachte Sichtweise lässt alle Unterschiede verschwinden. Protestantismus und Kommunismus erscheinen als Aspekte einer Bewegung, die die göttliche Ordnung bedroht. Und so wird der Antikommunismus folglich zu einem der Hauptanliegen der TFP, die Corrêa de Oliveira offiziell 1960 in São Paulo gründete.
Seitdem wuchs die Organisation beständig und hat heute zwar noch immer eine recht kleine, dafür aber überzeugte und wohlhabende Anhängerschaft. Insbesondere während der brasilianischen Militärdiktatur hatte die TFP bedeutenden Einfluss auf die Politik und galt als eine der Stützen des Regimes.
Den Putsch von 1964 begrüßte Plínio Corrêa de Oliveira von Grund auf. Sein Buch Revolution und Gegenrevolution kann sogar als eine diskursive Vorbereitung des Staatsstreiches gesehen werden, denn immerhin beschreibt er darin, warum für die Ordnung des Staates ein autoritärer Putsch notwendig sei, wenn die aktuelle Regierung sich der Revolution verschrieben habe. Unzweifelhaft war dies auch ein verbaler Angriff auf die Versuche der damaligen Regierungen, eine Agrarreform durchzuführen. Der Militärputsch machte diesen Reformversuchen schließlich den Garaus.
Die Verhinderung einer Agrarreform in Brasilien ist seit jeher eines der Hauptanliegen der TFP. Diese verstoße, so die Mitglieder der Organisation, gegen das göttliche Recht des Eigentums. Der Versuch gegen Eliten und den Großgrundbesitz zu rebellieren, kommt nach TFP-Sichtweise einer Rebellion gegen Gott gleich. Dass ungleiche Landverteilung zu ungleichen Machtverhältnissen führt, begrüßt die TFP explizit und verteidigt eine hierarchische und aristokratische Gesellschaft. Eliten, so die Argumentation, wären am besten in der Lage, das größte Wohl aller durchsetzen. In den GroßgrundbesitzerInnen Brasiliens sah Corrêa de Oliveira eine solche Aristokratie.
Eben dieses aristokratische Auftreten sowie die mittelalterlich anmutenden Rituale der TFP machen für viele Mitglieder offenbar den Reiz der Organisation aus. Wer hier mitmacht, darf sich als Elite fühlen. Und so überrascht es nicht, dass einer idealen Gesellschaftsordnung in den Augen der TFP ein König oder Kaiser vorsteht. Die TFP gehört zu den wenigen monarchistischen Organisationen Brasiliens, die eine Rückkehr zur Herrschaft der 1888 gestürzten Königsfamilie Bragança verlangt. Das aktuelle Oberhaupt der Braganças, Luís Gastão von Orleans und Bragança, ist ein aktives und zahlungskräftiges Mitglied der TFP.
Bei der hohen katholischen Hierarchie wird die TFP nicht gern gesehen. Sicher gibt es etliche erzkonservative Priester, die mit ihnen sympathisieren, doch offiziell distanzieren sich auch diese von der TFP. Aber das Verhältnis ist durchaus ambivalent. Die TFP unterscheidet sich nur wenig von rechten katholischen Organisationen, so wie Opus Dei oder die Legionäre Christi; lediglich ihre Radikalität hebt sie hervor. Verschämt duldet die katholische Kirche die TFP, versucht aber auch möglichst wenig Aufhebens um sie zu machen.
Viele Priester und Bischöfe dagegen, die der Theologie der Befreiung nahe stehen, sind der TFP explizit feindlich gesinnt. Besonders das Hauptthema der TFP, eine Verhinderung der Landreform, führt zu großen Differenzen. Hier geriet die TFP sogar in einen offenen Konflikt mit der Nationalen Brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB), die sich an der Theologie der Befreiung orientierte und sich bereits in den 1950er Jahren politisch für die Durchführung einer Agrarreform einsetzte.
Die TFP sah in der politischen Haltung der CNBB den Beweis dafür, dass die katholische Kirche von kommunistischen Elementen unterwandert sei und einer Reinigung bedürfe. Deshalb „engagierten“ sich TFP-Mitglieder bei linken katholischen Vereinigungen und verrieten deren Mitglieder dann an die Militärs. Zahlreiche AktivistInnen der Befreiungstheologie wurden auf Grund solcher Denunzierungen gefoltert und verbrachten Jahre im Gefängnis.
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 begann der Einfluss der TFP zu schwinden. Öffentlich tritt sie in Brasilien nur gelegentlich auf und protestiert gegen Agrarreform, Schwulenrechte und Filme, die sie als anti-katholisch einstuft. Dabei wirkt sie skurril und harmlos, ist es aber nicht. Auch wenn ihre Anhängerschaft zahlenmäßig nicht besonders bedeutend erscheint, so ist doch ihre internationale Vernetzung ausgezeichnet. Im Laufe der letzten Jahrzehnte formierten sich Ableger der TFP überall auf der Welt. Inzwischen sammeln sich anti-kommunistische und rechtsradikale KatholikInnen unter anderem aus Kolumbien, Paraguay, Peru und den USA unter den roten Bannern der TFP. Auch in Deutschland und Österreich gibt es Vertretungen.
Die weltweite TFP hält sich dabei geradezu sklavisch an die Lehren von Plínio Corrêa de Oliveira. Viele Mitglieder wirken an Universitäten und versuchen so, ihre Ideen in die Gesellschaft zu tragen. Auch aus diesem Grund ist in den letzten Jahren ein Wachstum der Gruppe zu beobachten. Zudem verfügt die TFP über weitreichende finanzielle Mittel. Nicht nur der brasilianische Hochadel gehört zu ihren Förderern. Chef der deutschen TFP ist Paul Herzog von Oldenburg und hinter ihm sammeln sich auch hierzulande etliche Adlige, die sich in der heutigen Gesellschaft um die Rolle betrogen fühlen, die sie sich selbst gerne zukommen lassen würden. Diese zumeist sehr wohlhabenden Leute sichern die Existenz der TFP und ihren Kampf für die Erneuerung einer mittelalterlichen Ordnung.

Plebiszit zwischen liberal und sozial

Noch nie war die Opposition in Brasilien so ratlos wie heute. Unaufhaltsam steigen die Umfragewerte der Regierungskandidatin für das Präsidentenamt, Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. José Serra von der rechten Sozialdemokratischen Partei PSDB, der im März noch zehn Prozent Vorsprung hatte, fiel Anfang September auf unter 30 Prozent. Übereinstimmend sehen die Meinungsforschungsinstitute Rousseff bei über 50 Prozent. Seit Ende August wird ihr der Sieg bereits im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 3. Oktober vorausgesagt.
Es scheint, als ginge die Rechnung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in allen Punkten auf. Er selbst darf nach acht Regierungsjahren laut Verfassung nicht erneut kandidieren. Zuerst kürte er seine Vertraute und Kanzleramtsministerin Roussef gegen parteiinternen Widerstand zur Kandidatin. Dann erteilte er allen anderen Kandidaturwünschen innerhalb des parteienübergreifenden Bündnisses seiner Regierung eine definitive Absage und setzte sich damit durch, ohne Rücksicht auf die Missstimmung unter altgedienten WeggefährtInnen zu nehmen. Lulas Strategie besteht darin, die Wahl als ein Plebiszit über zwei konträre Modelle zu stilisieren: Einerseits dem von ihm selbst verkörperten, andererseits dem der PSDB, für das sein Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso stehe. Sozial und gerecht gegen neoliberal und elitär, so die einfache wie trügerische Formel des scheidenden Präsidenten. Auch das politische Programm der Kandidatin Dilma Rousseff stand von vornherein fest und ist einfach auf den Punkt zu bringen: „Fortsetzung der Erfolgsstory Lula“. Vergebens sucht mensch nach neuen Akzenten, originellen Vorschlägen oder einem eigenen Profil. Dies ist allerdings auch das Hauptproblem der Opposition: Neben José Serra, der schon 2002 dem ehemaligen Gewerkschafter Lula unterlag, gelingt es weder der Kandidatin der Grünen Partei (PV), der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva, noch dem Kandidaten der linken PSOL, Plínio de Arruda Sampaio, dem populären Lula Paroli zu bieten.
Vergebens verweist die PSDB darauf, dass es Cardoso war, der die Inflation in den Griff bekam und dass Lula an dessen neoliberaler Wirtschafts- und Entwicklungspolitik kaum etwas änderte (siehe Artikel von Thomas Fatheuer in dieser Ausgabe). Vor allem die große Mehrheit der armen Bevölkerung steht hinter Lula und damit auch hinter seiner Kandidatin. Dabei kommen die 2002 versprochene Agrarreform oder eine ausgewogene Stadtentwicklung nicht einmal mehr im Diskurs der Arbeiterpartei vor.
Im Parteienbündnis der Rechten werden Serras WahlstrategInnen dafür kritisiert, dass sie ihren Kandidaten in Wahlspots neben dem amtierenden Präsidenten zeigen, statt eigene Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Wahrlich keine leichte Aufgabe, wenn Lula in seinen Reden zwar stets die „traditionelle Elite“ anprangert, ihr aber in der Praxis viele Wünsche erfüllt. Unterschiede im Programm werden am ehesten in der Außenpolitik deutlich: Rousseff setzt wie Lula auf regionale Integration mit linken Regierungen Lateinamerikas und zweifelhaften Partnern wie dem Iran, während Serra den Schulterschluss mit Europa und den USA sucht.
Die Einfallslosigkeit der Rechten mündet darin, dass sie lieber Schwächen der Vorzeigeprojekte der Lula-Regierung aufzeigt, statt eigene Schwerpunkte zu setzen. Beispielsweise im Gesundheitsbereich, in dem Serra – unter Cardoso zuständig für dieses Ministerium – die Mängel der öffentlichen Versorgung und Korruption anprangert.
Die Regierung Lula steht in den Augen Vieler für die Hoffnung auf ein gerechteres und weltpolitisch bedeutenderes Brasilien. Die machtpolitische Stärke der PT beruht nicht nur auf der optimistischen Stimmung, die Lula im ganzen Land verankern konnte. Entscheidend ist die Parteienkoalition der Regierung, die auch hinter der Kandidatin Dilma Rousseff steht.
Die Koalition besteht aus einer Vielzahl kleiner Mitte-Linksparteien und evangelikal ausgerichteten PolitikerInnen. Vor allem steht aber die traditionelle Partei PMDB hinter der Regierung, die die größte Fraktion im Parlament und die Präsidenten beider Kammern stellt. Programmatisch hat die PMDB keine klare Linies, sie dient der Interessenvertretung lokaler Eliten. Ein Bündins mit der PMDB garantiert der Regierung viele Stimmen in den Kammern, aber auch Unruhe beim Streit um Posten und Gefälligkeiten.
Dilma Rousseff gilt im Gegensatz zu Lula als wenig dialogbereit. Im Machtpoker nach der Wahl ist dies vielleicht positiv für die PT. Zugleich betrachten viele Linke diese Eigenschaften mit Argwohn. Der Einfluss der sozialen Basis, der den Wahlsieg Lulas 2002 mit begründete, dürfte kleiner werden. Die politischen Forderungen der sozialen Bewegungen könnten von einer Regierung Roussef endgültig mit dem Argument der Sachzwänge abgeschmettert werden.
Die Rechte dagegen wirft der früheren Aktivistin Roussef vor, die während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) in Haft gefoltert wurde, sie wolle in Brasilien den Stalinismus oder zumindest den Politikstil des venezolanischen Präsidenten Chávez einführen. Solche Verleumdungskampagnen und die steten Verschwörungsvorwürfe in den bürgerlichen Medien stoßen nur bei Teilen der Mittel- und Oberschicht auf Interesse – man ist sich einig, dass nur ein handfester Skandal eine weitere PT-Präsidentschaft verhindern könnte.
Andere chancenreiche KandidatInnen sind nirgends auszumachen. Die Präsidentschaftskandidatin der Grünen (PV). Marina Silva, stagniert in den Umfragen bei neun Prozent. Sie genießt den Ruf einer konsequenten, integren Umweltpolitikerin. Als Ministerin war sie zuletzt die direkte Gegenspielerin von Rousseff, die als Koordinatorin des „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“ (PAC) Pluspunkte für ihre Kandidatur sammeln sollte und Großprojekte im Amazonas durchsetzte. Silva warf das Handtuch, verließ die Regierung ihres langjährigen Weggefährten Lula und nach über 30 Jahren Mitgliedschaft auch die PT. Ihr Eintritt in die PV war für die Grünen ein Gewinn, da sie in den vergangenen Jahren zum Sammelbecken auch fragwürdiger PolitikerInnen geworden war. Mit der Senatorin, so die Hoffnung der Parteistrategen, gewinnt die PV endlich das Profil einer ernstzunehmenden Umweltpartei. Die Kandidatur Silvas ist zwar eine neue Wahloption. Sie ist allerdings Mitglied der evangelikalen Pfingstkirche Assembleia de Deus und vertritt bezüglich Homosexualität und Abtreibung Positionen, die weder mit dem Profil der PV noch der Einstellung vieler ihrer UnterstützerInnen zu vereinbaren sind.
Von den weiteren sieben Präsidentschaftskandidaten macht lediglich Plínio de Arruda Sampaio von der linken PSOL von sich reden. Der 80-jährige ist langjähriger Aktivist in sozialen Bewegungen wie im Parteienspektrum. In Umfragen kommt er gerade mal auf ein Prozent der Stimmen. Das ist vor allem dem desolaten Zustand der Partei, die sich von der PT losgesagt hat, zuzuschreiben. In Fernsehdebatten zwischen den Kandidaten ist er sogar laut rechtslastiger Presse der einzige, der inhaltlich punktet und frischen Wind in das ausgesprochen dröge Wahlkampfgeschehen bringt.
Gewählt wird am 3. Oktober aber nicht nur das neue Staatsoberhaupt Brasiliens. In den allgemeinen Wahlen werden auch zwei Drittel der SenatorInnen, jeweils für acht Jahre, sowie alle 513 Bundesabgeordnete für vier Jahre bestimmt. In den 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília werden alle GouverneureInnen samt der jeweiligen Parlamente neu bestimmt.
Die PMDB wird, sofern sich die Vorhersagen bewahrheiten, ihren Einfluss in Parlament und Senat ausbauen, während die Partei der Demokraten (DEM) als wichtigster Koaltionspartner der PSDB wegen jüngster Korruptionsskandale Einbußen erleiden wird. Auf Bundesstaatsebene liegt die Regierungskoalition vorne: In 14 der 27 Staaten liegen ihre KandidatInnen in Führung, darunter Rio de Janeiro und die meisten der Staaten im verarmten Nordosten. Die Opposition liegt in sieben Staaten in Führung, darunter in São Paulo, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Bundesstaat, der seit 2007 von José Serra regiert wird. Dort kandidiert Geraldo Alckmin für die PSDB auf Serras Nachfolge.
Spannend wird es in Minas Gerais, wo der PSDB-Kandidat Antonio Anastasia zum PMDB-Mann Helio Costa aufholt. Hier hatte Lula persönlich interveniert, um eine Kandidatur eines PT-Politikers zu verhindern und den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Der Unmut in den eigenen Reihen ist jetzt so groß, dass diese Rechnung im zweitwichtigsten Bundesstaat nicht aufgehen könnte.
Auch in Rio de Janeiro schickt die Regierungskoalition einen PMDB-Politiker, Amtsinhaber und Favorit Sérgio Cabral, ins Rennen um den Gouverneursposten. Die PT murrte und gab klein bei. Cabral werden inzwischen Verbindungen zu den Milizen in Rio angelastet (siehe Kurznachrichten). Kurios ist aber, dass als Kandidat der rechten Oppositionskoalition der ehemalige Guerillero und renommierte Grünenpolitiker Fernando Gabeira antritt. Er muss das Kunststück fertig bringen, in der zweitwichtigsten Metropole sowohl der Präsidentschaftskandidatin seiner Partei, Marina Silva, als auch dem Kandidaten seines Bündnisses, José Serra, die Hand zu reichen. Kritik von links und rechts vereint gegen die Arbeiterpartei PT, die die beliebteste Regierung Brasiliens seit Jahrzehnten stellt? Spätestens hier wird deutlich, dass die Schubladen links und rechts nur zum besseren Verständnis oder der Einordnung in traditionelle Denkmuster dienen, aber zur Beschreibung der politischen Sachlage nicht mehr viel taugen.
„Es gibt nichts ähnlicheres als die PT und PSDB. Und sie ergänzen sich,“ sagte der Filmemacher Cacá Diegues kürzlich in einem Interview der Zeitschrift O Globo. Er meint, dass nicht die Wahl zwischen den zwei Strömungen, sondern deren Vereinigung das Gebot der Stunde sei: „Wir haben seit der Redemokratisierung die seltene Chance vertan, den Liberalismus der Sozialdemokratie mit dem sozialen Interesse einer Arbeiterpartei wie der PT zu verbinden.“ Eine Position, die den Wahlkampf ad absurdum führt.

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