DIE REGIERUNG SPIONIERT

Dem Hersteller zufolge installiert die Firma selbst Software und Hardware. Das Programm kann demnach nur dort benutzt werden, wohin es direkt verkauft wurde. Verschiedene Regierungsbehörden Mexikos haben Millionenverträge mit der Firma unterzeichnet. Zudem sollen sie das Programm jedoch von Wiederverkäufer*innen erstanden haben. Dem Nachrichtenportal televisa.com zufolge, hat die Firma Grupo Tech Bull SA de CV, die „Pegasus“ für über 32,5 Millionen Dollar an die PGR wiederverkauft haben sollte, jegliche Spuren ihrer Existenz verwischt. Die Adresse der Firma, welche im Vertrag erscheint, befindet sich an einem Ort, wo nur verborgene Büros existieren, die manchmal sogar für wenige Stunden vermietet werden. Die Homepage der Firma wurde abgeschaltet und Anrufe werden nicht beantwortet.

Das ausgeklügelte Programm „Pegasus“ wird als Verfolgungssystem auf Mobiltelefone geladen. Es ist programmiert, um Anrufe, E-Mails, Textnachrichten, Kontaktlisten, Kalendereinträge, Chatnachrichten und sogar den Aufenthaltsort der Person zu überwachen. Es kann Mobiltelefone in Aufnahmegeräte verwandeln und erfassen, was sich vor der Handykamera abspielt.

Die Angriffe waren gezielt und personalisiert. Sie begannen als Textnachrichten mit konkreten Inhalten, die die jeweiligen Personen in Angst versetzten. Teil der Nachrichten war ein Link, auf den die betroffenen Personen in Panik klickten. Dadurch wurde „Pegasus“ auf den Geräten installiert. Es erscheint verdächtig, dass die Betroffenen die Nachrichten gerade dann erhielten, als ihre Berichterstattung oder Untersuchung von Fällen, die die Regierung betrafen, sich kritischen Momenten näherten.

Citizen Lab, ein Institut an der Universität Toronto, welches an der Schnittstelle zwischen Kommunikations- und Informationstechnologien, Menschenrechte und Sicherheit forscht, hat bis jetzt die Nutzung von „Pegasus“ in den Mobiltelefonen von mindestens 19 Personen festgestellt.

“Pegasus” kann Mobiltelefone in Aufnahmegeräte verwandeln.

Unter den Betroffenen ist Carmen Aristegui, eine der kritischsten und bekanntesten Journalist*innen Mexikos. Zusammen mit ihrem Team deckte sie 2014 einen politischen Skandal auf, der für viel Empörung sorgte und das Bild von Präsident Peña Nieto sowohl innerhalb als auch außerhalb Mexikos negativ beeinflusst hat (siehe LN 490). Der Fall wurde bekannt als Casa Blanca („Weißes Haus”). Es handelt sich dabei um ein Haus im Besitz der First Lady, Angélica Rivera, dessen Wert auf etwa 7 Millionen Dollar geschätzt wird und das über Finanzanlagen von einem Auftragnehmer der Regierung und Freund des Präsidenten gekauft wurde. Nach der Veröffentlichung der Untersuchung wurde Aristegui vom Sender MSV Nachrichten verabschiedet, wo sie eine morgendliche Sendung moderierte. Dies wurde als Akt der Zensur und Repression gewertet. Auch das Mobiltelefon ihres noch minderjährigen Sohnes wird nun abgehört.

Ein weiteres Opfer der Überwachung ist der Generaldirektor des Instituts für Wettbewerbsfähigkeit Juan Pardinas. Sein Mobiltelefon und das seiner Frau wurden Ziele der Überwachung. Pardinas hatte das Antikorruptionsgesetz Ley 3de3 vorangetrieben.

Auch das Mobiltelefon von Mario Patrón wurde abgehört. Patrón ist Direktor des Menschenrechtszentrums Miguel Agustín Pro Juárez (Centro Prodh), einer regierungskritischen Gruppe, die die Menschenrechte verteidigt und in Mexiko einen sehr guten Ruf genießt. Unter den von Prodh rechtlich vertretenen Fällen sind die Frauen von Atenco, elf Universitätsstudentinnen, Aktivistinnen und Verkäuferinnen auf dem Markt von San Salvador Atenco. Sie wurden vor zehn Jahren auf einer Demonstration festgenommen und während der Verlegung ins Gefängnis Opfer brutalen sexuellen Missbrauchs von Seiten der Polizei. Dies ist umso brisanter, da derselbe Präsident Peña Nieto, damals Gouverneur im Bundesstaat Mexiko D.F., Repressionen gegen die Demonstrierenden angeordnet hatte. Der Fall wurde vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission gebracht. Sieben Jahre später ließ die Kommission erkennen, dass die Regierung den Fall verharmlosen und sogar den begangenen Missbrauch vertuschen wollte. Die Kommission hat beantragt, den Hergang bis in die Spitzen der Hierarchie gründlich zu untersuchen, was sogar Untersuchungen gegen den Präsidenten zur Folge haben könnte.

Einer der wichtigsten durch das Centro Prodh vertretenen Fälle ist der der Eltern der 43 Studenten aus Ayotzinapa, die nach einem Zusammenstoß mit der Polizei in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 verschwanden. Ihr Verbleib ist immer noch nicht aufgeklärt und ihre Familien fordern Gerechtigkeit (LN 486, 504, 507/508). 2015 kam eine von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte in Koordination mit dem mexikanischen Staat und Vertreter*innen der Opfer berufene Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen (GIEI) nach Mexiko, um zu ermitteln. Monatelang widmete sich das Team der Untersuchung, doch da die Regierung den Aufenthalt nicht verlängerte, verließ die Kommission das Land im April 2016, ohne ihre Aufgabe beendet zu haben. Sie gaben an, in ihren Ermittlungen behindert worden zu sein. Die Mitglieder der GIEI zeigten vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission an, dass es forensische Beweise gebe, dass auch ihre Mobiltelefone ausspioniert wurden.

Auch führende Mitglieder der Oppositionsparteien wurden nicht ausgespart. Roberto Gil Zuarth, führender Politiker der Partei der Nationalen Aktion (PAN) und Fernando Rodríguez, Kommunikationsminister und ebenfalls Mitglied der PAN, berichteten, ebenfalls Opfer von „Pegasus“ zu sein. Daraufhin haben Abgeordnete der Parteien PAN, PRD, PT und MORENA eine Expert*innenkommission der UN gefordert, um die Ermittlungen zu beaufsichtigen.

Gerade in den Tagen des Höhepunkts des Skandals, hat das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten einen Besuch akzeptiert, den die Sonderberichterstatter*innen der UN und Interamerikanischen Menschenrechtskommission für Meinungsfreiheit seit März erfolglos gefordert hatten. Der offizielle Besuch soll die Situation des Journalismus im Land angesichts der zunehmenden Gewalt gegen Journalist*innen analysieren.

Die Regierung hat jegliche Verwicklung in den Fall abgestritten und zudem alle Versuche, die Privatsphäre von Personen zu verletzen, verurteilt. Bis jetzt gibt es keine Beweise, welche den Staat oder seine Institutionen direkt mit der Spionage verbinden. Die Herstellerfirma NSO Group gibt an, dass es nicht möglich sei, die Auslösenden einzelner Angriffe zu bestimmen. Da sie nach eigenen Angaben die Software nur an Regierungen und Behörden verkauft, wird allerdings wenig Zweifel daran gelassen, dass die mexikanische Regierung oder einzelne ihrer Mitglieder für die Angriffe verantwortlich sind.

Die PGR hat ein Ermittlungsverfahren eröffnet, um herauszufinden, ob ein unberechtigter Zugriff auf die Kommunikation von Privatpersonen begangen wurde und durch wen. Die Untersuchungen werden von der Sonderstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Meinungsfreiheit (FEADLE) durchgeführt und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, unter anderem dem FBI, wurde gefordert.
Doch die Betroffenen zeigen sich pessimistisch: „Wenn die Staatsanwaltschaft Pegasus benutzt, wird sie kaum einen Untersuchungsprozess in die Wege leiten und sich selbst zur Rechenschaft ziehen“, so Mario Patrón, „daher fordern wir eine Aufklärung durch eine unabhängige Expertenkommission.“

 

„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.

RISKANTE FLUCHT NACH VORN

Er hielt Wort. Im Vorfeld des 1. Mai hatte Nicolás Maduro für den Tag der Arbeit „historische Ankündigungen“ versprochen. Daran gemessen, wie oft der venezolanische Präsident in seiner nunmehr vierjährigen Amtszeit unspektakuläre Ankündigungen gemacht hat, war abgesehen von einer erneuten Anhebung des Mindestlohns nicht unbedingt viel zu erwarten gewesen. Doch hatte er dieses Mal tatsächlich noch mehr im Gepäck. „Ich berufe eine Verfassunggebende Versammlung der Bürger ein“, rief Maduro seinen Anhänger*innen auf der chavistischen Maikundgebung im Zentrum von Caracas zu. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren, wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Eine ausschließlich mit chavistischen Politiker*innen und Jurist*innen besetzte Präsidialkommission wird die nötigen Vorbereitungen treffen, bevor der Nationale Wahlrat (CNE) über das genaue Prozedere entscheidet.

Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger*innen die Verfassung immer wieder als „beste der Welt“ bezeichnet. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie „perfektioniert“ und „Chávez’ Traum vollendet“ werden. Im Jahr 2007 scheiterte dessen Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen.

Am 3. Mai reichte Maduro das Dekret, mit dem die Verfassunggebende Versammlung (VV) einberufen wird, beim CNE ein. Darin schlägt er neun Bereiche vor, die überarbeitet werden sollen. Unter anderem sollen die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte Maduro und stichelte in Richtung Opposition. „Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.“ Seinen Gegner*innen versicherte er, dass sie sich an der VV beteiligen können, sofern sie Kandidat*innen aufstellen. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der CNE.

Während Vertreter*innen der Regierung den Vorstoß als Lösungsansatz der politischen Krise Venezuelas feierten, übte die rechte Opposition vernichtende Kritik an dem Vorhaben. „Wir Venezolaner werden nicht akzeptieren, dass der maduristische Selbstputsch weiter geht“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, unmittelbar nach Maduros Ankündigung auf Twitter. Zudem bezeichnete er die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung als „Betrug vom Diktator“ und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu widersetzen. Parlamentspräsident Julio Borges sprach vom „schlimmsten Putsch in der venezolanischen Geschichte.“ Das Ziel Maduros sei es, freie Wahlen zu verhindern und die Demokratie zu zerstören. In den vergangenen Jahren hatten viele Oppositionspolitiker*innen die Einberufung einer VV immer wieder selbst als Lösung der Krise ins Gespräch gebracht. Dabei hatten sie allerdings eine gänzlich andere Zusammensetzung im Sinn, als sie Maduro nun vorschwebt.

Auch Vertreter*innen der marginalisierten linken Opposition äußerten sich ablehnend. „Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?“, fragte Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bezeichnete die Verfassunggebende Versammlung als „klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung“ und warf der Regierung vor, den „Tod des chavistischen Projektes“ zu befördern.

Unter Verfassungsrechtler*innen fällt die Beurteilung je nach politischer Sympathie ebenfalls unterschiedlich aus. Während der oppositionsnahe Jurist Juan Manuel Rafalli als Hauptziel den Wunsch der Regierung ausmacht, „jede Art von Wahl zu verhindern“, sieht der Chavist Jesús Silva in der VV den einzigen verfassungskonformen Weg, um zeitnah alle staatlichen Instanzen neu wählen zu lassen, wie es die Opposition fordere.

Rein formal ist Maduro nichts vorzuwerfen. Laut Artikel 348 der Verfassung verfügt unter anderem der Präsident über die Kompetenz, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Gegen den Inhalt einer daraus erwachsenen Magna Charta können weder er noch andere staatliche Gewalten ein Veto einlegen. Über die Mechanismen zur Wahl der VV macht die derzeitige Verfassung jedoch keine konkreten Angaben, ein spezifisches Gesetz existiert nicht. Auch sind weder zur Einberufung der VV noch zur Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden vorgesehen. Verfassungsergänzungen und -reformen bedürfen hingegen ausdrücklich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Im Gegenteil, inmitten der größten Protestwelle seit 2014, könnte Maduros vermeintlicher Befreiungsschlag nach hinten losgehen.

„Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre Verletzung?“

Seit Anfang April tragen linke Regierung und rechte Opposition ihren Machtkampf teilweise gewalttätig auf der Straße aus. Die bisherige Bilanz: Mindestens 37 Todesopfer, hunderte Verletzte und mehr als 1.300 festgenommene Personen. Für die immer wieder aufflammende Gewalt machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Tatsächlich sind sowohl staatliche Sicherheitskräfte, als auch oppositionelle Gruppen für Tote und Verletzte verantwortlich. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie eine Bäckerei in El Valle, im Südwesten von Caracas, plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Aus den Reihen der Opposition gibt es immer wieder Vorwürfe, motorisierte chavistische Basisorganisationen aus den barrios, so genannte colectivos, würden gezielt oppositionelle Demonstrationen beschießen. Von den bisher aufgeklärten Todesfällen geht allerdings keiner auf die colectivos zurück.

Als Auslöser der derzeitigen Protestwelle gilt die vorübergehende Übertragung der legislativen Kompetenzen auf das Oberste Gericht (TSJ) Ende März, die dieses erst nach massiver Kritik wieder zurücknahm. Die von den USA und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas unterstützte Opposition bezichtigt Maduro, eine Diktatur errichten zu wollen und fordert zeitnahe Neuwahlen, die Neubesetzung des Obersten Gerichts, die Freilassung aller von ihr als politische Gefangene bezeichnete Personen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Die venezolanische Regierung warnt 15 Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez hingegen vor neuen Umsturzplänen und einer angeblich geplanten US-Intervention. Als Reaktion kündigte Maduro eine weitere Militarisierung und Bewaffnung der regierungsnahen Milizen an, die das Land im Ernstfall mit verteidigen sollen. Die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich zu den Nutznießer*innen der Regierung zählt, steht weiterhin demonstrativ hinter der Regierung – den wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker*innen zum Trotz, sich auf die Seite der Regierungsgegner*innen zu stellen.

Beflügelt werden die Proteste nicht zuletzt durch die tief greifende Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der Machtkampf kontinuierlich hoch. Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner*innen als Verteidiger*innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben. Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme blockiert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das TSJ blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende CNE kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die, laut Verfassung, für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet.

In diesem Kontext entschied das TSJ Ende März, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen und hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf. Als Anlass galt ein Urteil zu der Frage, wie der venezolanische Staat staatlich-private Mischunternehmen im Bergbaubereich gründen könne, wenn dafür doch eigentlich die Zustimmung der Nationalversammlung erforderlich ist. Nachdem die chavistische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte, laut venezolanischer Verfassung, ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen, für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachlung von Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.

Der eskalierende Konflikt zwischen Regierung und Opposition hat auch international bereits Konsequenzen. Im April kündigte Venezuela an, als erstes Land in der Geschichte freiwillig aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) austreten zu wollen. Die Regierung wirft der US-dominierten Regionalorganisation und ihrem Generalsekretär, dem Uruguayer Luis Almagro, Einmischung in innere Angelegenheiten vor.

Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Oppositionelle Beobachter*innen werten dies als „Riss“ innerhalb des chavistischen Machtapparates. Ortega verurteilte nicht nur den „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“, sondern fand Ende April auch klare Worte für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eindringlich lehnte sie die Aktionen gewalttätiger Gruppen ab, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. „Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten“, betonte sie. Sie sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. „Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen“, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern. „Es ist die Verfassung von Chávez.“ Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten würden.

„DER DRUCK MUSS VON DER STRAßE KOMMEN“

Immer wieder gibt es Berichte über Diffamierungskampangen und Repression der nicaraguanischen Opposition durch die Regierung. Die Methoden scheinen aber eher subtil zu sein, als offen gewalttätig – gerade im Vergleich zu den nördlichen Nachbarländern. Wie ist die aktuelle Situation der Opposition?

In Nicaragua gibt es eine Art von Repression, die sich eher auf ökonomischer Ebene abspielt. Ich habe schon vor Jahren meine Arbeit an der Universität verloren, weil ich in der Opposition aktiv bin. Vielen anderen ist dasselbe passiert. Wenn man im öffentlichen Dienst arbeitet und sich kritisch zu Ortega äußert, kann das die Kündigung zur Folge haben. Aber auch in der Privatwirtschaft können Vorgesetzte Probleme bekommen, wenn sie Oppositionelle beschäftigen. Und wenn du selbständig bist und dich kritisch äußerst, besucht dich die Polizei, die Finanzbehörde, um dich in Schwierigkeiten zu bringen. Aktuell gab es ein Verfahren gegen Ernesto Cardenal, infolgedessen wurde er zu hohen Strafzahlungen verurteilt. Das Ganze ist offensichtlich politisch motiviert, weil er in der sandinistischen Opposition aktiv ist.
Aber es gibt auch offene Repression. In abgelegenen ländlichen Gebieten im Norden des Landes werden regelmäßig Menschen ermordet.
Ein weiteres Problem ist die grassierende Gewalt gegen Frauen. Morde an Frauen und Mädchen bleiben straflos, viele sterben, da der therapeutische Schwangerschaftsabbruch verboten ist.. Das ist eine stille Gewalt, die in den nicaraguanischen Medien nicht thematisiert wird, geschweige denn internationale Aufmerksamkeit erfährt. Für uns ist aber klar, dass uns die Repression und Gewalt nicht zum Schweigen bringen werden.

Gibt es in der Frauenbewegung Erfolge, die erzielt wurden, trotz der derzeit schwierigen Bedingungen?

Die Frauenbewegung hat keine Angst vor den Mächtigen. Die Erfolge der letzten 50 Jahre für uns Frauen hat uns keine der Regierungen geschenkt, wir mussten uns alles erstreiten. Im Moment ist die Situation für Frauen tatsächlich schwierig. Ortega hat mit der Katholischen Kirche paktiert und ein totales Abtreibungsverbot durchgesetzt, er hat seine Stieftochter vergewaltigt. Und die derzeitige Vizepräsidentin Rosario Murillo, ihre Mutter, hat sich schützend vor ihren Mann gestellt – und nicht vor ihre vergewaltigte Tochter. Von ihnen ist also nichts Positives zu erwarten. Im Moment ist die häufigste Todesursache für Mädchen und Frauen zwischen 15 und 40 Jahren, dass sie von einer ihr nahestehenden Person ermordet werden. Von ihrem Mann, Ex-Freund, Vater. Und der Staat schützt uns Frauen nicht.
Die Forderungen der Frauenbewegung waren und sind zentral und werden es auch sein, wenn es darum geht, die Demokratie in Nicaragua wieder herzustellen. Nicht nur für Frauen, sondern für alle Nicaraguaner*innen.

Ein sehr kontrovers diskutiertes Thema ist der geplante Bau des Interozeanischen Kanals. Nach einem medienwirksamen Spatenstich ist nicht mehr viel passiert. Was ist der Stand der Dinge, haben die Bauarbeiten inzwischen tatsächlich begonnen?

Nein. Und das ist der bäuerlichen Bewegung gegen den Kanalbau zu verdanken, die wichtige Siege errungen hat. Diese Mobilisierung ist übrigens die größte seit der Revolution. Durch ihren Protest konnte etwa die Konfiszierung des Landes gestoppt werden. Und inzwischen gibt es in den Medien kritische Debatten. Das war auch ein Grund, warum sich so wenige potenzielle Investoren gefunden haben, die in ein Phantom-Projekt investieren wollten. Es fehlen noch Studien zur finanziellen Machbarkeit und die Frage stellt sich, wie sinnvoll ein Kanalbau ist, wenn gerade der Panamakanal ausgebaut wurde. Das Kanalgesetz hat allerdings noch immer Gültigkeit. Und das ist sehr gefährlich. In diesem Gesetz steht nämlich, dass unabhängig vom Kanalbau Land enteignet werden kann, um andere Projekte zu realisieren. Das können Bergbau-, Tourismus-, Hafenprojekte sein, der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Die einzige Möglichkeit, das Gesetz abzuschaffen, ist, Daniel Ortega von der Macht zu vertreiben. Und dafür brauchen wir eine breite Mobilisierung der Gesellschaft. Das ist die große Herausforderung derzeit in Nicaragua.

Im November 2016 fanden Präsidentschaftswahlen in Nicaragua statt. Wie zu erwarten gewann Daniel Ortega zum dritten Mal, mit mehr als 70 Prozent der Stimmen. Überschattet wurden die Wahlen durch Betrugsvorwürfe. Was ist dort passiert?

Es war nicht der erste Wahlbetrug, den Ortega begangen hat. Bereits seit 2006 kam es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten. Im Vorfeld der Wahlen von 2016 verbot Ortega allen Oppositionsparteien teilzunehmen und untersagte auch die Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter*innen. Nur Parteien, die mit ihm paktieren, waren zugelassen. Deswegen war es nicht nur Wahlbetrug, sondern auch eine Wahlfarce, denn es gab nichts zu wählen. Die Situation ist aber nicht neu. Meine Partei, die MRS etwa, kann schon seit 2008 nicht mehr antretem, weil ihr der Parteistatus entzogen wurde. Wir konnten bis 2016 nur noch in gemeinsamen Bündnissen antreten. Das ist nun auch vorbei.

Ortega hat die Demokratie demontiert und baut seine Macht immer weiter aus. Trotzdem scheint er noch immer eine große Unterstützung im Volk zu genießen. Wie gelingt ihm das?

Ortega hat keine wirkliche Unterstützung im Volk, diese Basis gibt es nicht. Weder die große Mehrheit der Nicaraguaner*innen, noch viele Parteiangehörige der FSLN waren mit dem offensichtlichen Wahlbetrug einverstanden. Sie sind nicht damit einverstanden, dass sie keine Wahl haben, sie wollen nicht unter einem autoritären Regime leben. Ortega hat die Situation der armen Bevölkerung nicht verbessert, noch immer gehört Nicaragua zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Die Investitionen in Bildung und Gesundheit sind so niedrig wie zu Zeiten der früheren Regierungen. Zu Beginn seiner Amtszeit konnten Dank des Geldes aus Venezuela einige Sozialprogramme finanziert werden, aber sie kamen vor allem seinen Gefolgsleuten zugute.
Deshalb hat er auch keine wirkliche Basis im Volk, sonst hätte es auch keine Notwendigkeit für den Wahlbetrug gegeben. Hätte er tatsächlich die Zustimmung, die er für sich reklamiert, hätte er ohne Probleme freie Wahlen abhalten können. Er weiß aber, dass er die Basis nicht hat, deshalb musste er die Wahl manipulieren. Ortega repräsentiert nicht die Interessen der Armen, er repräsentiert die Interessen der Unternehmen.

Die Nähe zu den Unternehmen passt zwar nicht zu seiner revolutionären Rhetorik, deckt sich aber mit seiner wirtschaftspolitischen Ausrichtung Nicaraguas.
Die wirtschaftliche Ausrichtung des Landes hat sich seit der Machtübernahme von Ortega im Vergleich zu den neoliberalen Vorgängerregierungen nicht geändert. Darin war er so erfolgreich, dass der IWF Nicaragua sogar offen gelobt hat für die vorbildliche Wirtschaftspolitik.
Die Chance, strukturelle und tiefgreifende Verbesserungen für die Armen zu erreichen, wurde verpasst. Es gibt in Nicaragua noch immer Gegenden, wo Menschen hungern. Im Land existiert weder ein politisches Programm, das die Armut strukturell bekämpft, noch eine nachhaltige Umweltpolitik.

Ist die Straße im Moment der einzige Ort, wo sich die Opposition noch Gehör verschaffen kann?

Die parteipolitische Opposition innerhalb des Nationalkongresses ist im Moment nicht möglich. Der Druck muss von der Straße kommen, wir müssen uns mobilisieren und echte und freie Wahlen fordern. Da sind nicht nur die oppositionellen Parteien gefordert, sondern auch die sozialen Bewegungen und einzelne Menschen, die sich keiner Bewegung zugehörig fühlen.

Für viele war Nicaragua seit er Revolution 1979 nicht nur Projektionsfläche für eine bessere Welt, sondern auch der reale Ort für den Kampf um eine gerechtere Gesellschaft. Ist trotzdem noch etwas übriggeblieben von der Revolution?

Die Politik Daniel Ortegas hat heute nichts mehr mit der Revolution zu tun. Seine revolutionäre Rhetorik sind nur leere Worthülsen. Aber alle Nicaraguaner*innen wurden durch die Revolution geprägt. Das Land hat sich durch die Revolution grundlegend verändert. Viele haben Lesen und Schreiben gelernt und zu Zeiten der Revolution gab es die modernsten Frauengesetze. Das vielleicht Wichtigste, was wir gelernt haben, ist, dass wir Rechte haben und dass wir ein Recht darauf haben, in einem Land zu leben, das unsere Rechte garantiert. Dieses Recht müssen wir uns jetzt wieder erkämpfen. Während der Revolution haben wir auch gelernt, dass wir in der Lage dazu sind, einen Diktator zu verjagen. Wir haben es bereits einmal bewiesen. Doch diesmal wollen wir keine Waffen nutzen, wir brauchen eine breite Mobilisierung und demokratische Formen. Und das wird auf der Straße beginnen.

 

KRISENMODUS IM DAUERBETRIEB

Anfang Februar erreicht die Krise plötzlich das venezolanische Staatsfernsehen. Die wöchentlich ausgestrahlte Sendung „Sonntags mit Maduro“ findet dieses Mal in Guarenas statt, einem Vorort der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Präsident Nicolás Maduro erteilt der 16-jährigen Schülerin Dulbi Tabarquino das Wort. Vor der Kamera wirkt sie nervös, begrüßt ihn am Nachmittag mit „Guten Morgen“, um dann über ihre Schule zu sprechen. „Präsident, [die Schule] Bénito Canónico benötigt jede Menge Hilfe“, setzt sie an und berichtet zunächst von Problemen mit Infrastruktur und Sicherheit. „Wo ist diese Schule?“, hakt Maduro ein. „Hier unten, gleich nebenan“, antwortet die Schülerin. Maduro wirkt perplex, sagt, man müsse sich sofort darum kümmern. Doch Tabarquino ist noch nicht fertig. Vor zwei Jahren sei ihnen die Mensa geschlossen worden, die 450 Schüler*innen bekämen weder Frühstück noch Mittagessen und auf die Anfragen hätten die Behörden nicht regiert. Maduro versucht, die Situation durch Parolen zu retten. Sie sollten sich organisieren, auf die Straße gehen, ihr Recht erkämpfen. Doch die Schülerin legt nach, betont nochmals, dass sie die Mensa brauchen würden. „Es sind schon viele Schüler in der Schule ohnmächtig geworden.“ Am Ende bleiben ein paar denkwürdige Worte zurück. „Ich bedauere, dass Du erst hierher kommen musstest, damit ich diese Wahrheit erfahre“, sagt der Präsident und fordert, bis zum Ende der Sendung solle ein Bericht über die Mängel in der Schule vorliegen, damit die Missstände umgehend beseitigt werden könnten.

Maduro wirkt planlos und schlecht informiert über die Zustände im Land.

Die Episode zeigt, wie wenig Gespür die Regierung, die für sich in Anspruch nimmt, das Erbe von Hugo Chávez zu vertreten, offenbar für die Probleme im Land hat. Chávez selbst nahmen die Menschen immer ab, dass nicht er persönlich für auftretende Missstände verantwortlich ist. Maduro hingegen wirkt planlos und schlecht informiert.

Das vergangene Jahr endete mit einer geschätzten Inflation von mehreren hundert Prozent und der chaotischen Einführung neuer Geldscheine mit deutlich höherem Nennwert. Anstatt die strukturellen Probleme der venezolanischen Ökonomie anzugehen, setzt die Regierung allenfalls kosmetische Änderungen um. Für die Krise macht sie alleine den niedrigen Erdölpreis und einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Privatwirtschaft verantwortlich. Gravierende Versorgungsmängel und ein spürbarer Kaufkraftverlust treffen derweil vor allem die ärmere Bevölkerungsmehrheit, die ohne staatliche Subventionen kaum überleben könnte. Wer an den als misiones bekannten Sozialprogrammen teilhaben will, muss sich zukünftig für eine elektronische Karte registrieren. Kritiker*innen sehen darin soziale Kontrolle. Die Regierung spricht davon, die Effizienz zu erhöhen und Missbrauch vorzubeugen.

Maduro gibt sich trotz aller Probleme optimistisch und rief 2017 zum „Jahr der wirtschaftlichen Erholung“ aus. Doch kaum etwas spricht dafür, dass sich die Lage im krisengeschüttelten Venezuela nennenswert verbessern wird. Von der Neu- und Umbesetzung zahlreicher Minister*innenposten Anfang des Jahres sind jedenfalls kaum neue Impulse zu erwarten.

Kaum etwas spricht dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage nennenswert verbessern wird.

Der prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft, die der bisherige Gouverneur des Bundesstaates Aragua und frühere Innenminister unter Hugo Chávez, Tarek El Aissami, übernimmt. Der 42-jährige Jurist und Kriminologe gilt als ideologischer Hardliner und wird bereits als möglicher chavistischer Kandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018 gehandelt, sollte Maduro aufgrund seiner Unbeliebtheit nicht noch einmal antreten. Vielen Oppositionellen ist El Aissami noch verhasster als Maduro. Die US-Regierung hält den Nachfahren syrischer und libanesischer Migrant*innen gar für einen Drogenhändler und verhängte im Februar Sanktionen gegen ihn. El Aissami selbst wies die Vorwürfe entschieden zurück und ließ dafür sogar eine ganzseitige Anzeige in der New York Times schalten. Auch werfen die USA dem neuen Vizepräsidenten vor, enge Verbindungen zur schiitischen, vom Iran unterstützen Hisbollah im Libanon zu pflegen.

Anfang Februar hatte CNN en Español zudem berichtet, dass Venezuela im Mittleren Osten seit Jahren Pässe verkaufe, die Terroristen die visafreie Einreise in mehr als 100 Staaten ermöglichen könnten. Daraufhin schalteten die venezolanischen Behörden den US-Sender unter dem Vorwurf der „Kriegspropaganda“ ab. Und schließlich forderte der neue US-Präsident Donald Trump auch noch die sofortige Freilassung „politischer Gefangener“ wie Leopoldo López. Der Oppositionspolitiker ist seit drei Jahren wegen der Anstachlung gewalttätiger Unruhen inhaftiert. Trump posierte mit dessen Ehefrau Lilian Tintori demonstrativ in Washington. Maduro warnte seinen US-amerikanischen Amtskollegen daraufhin davor, in Venezuela „die gescheiterte Politik des regime change“ seiner Vorgänger George W. Bush und Barack Obama fortzuführen.

Durch die Personalie El Aissami dürften aber nicht nur die Spannungen mit den USA weiter zunehmen. Auch das im vergangenen Jahr von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Maduro ist nun wohl endgültig vom Tisch. Im vergangenen Oktober hatte der Nationale Wahlrat (CNE) das Referendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung blockiert. Da am 10. Januar die letzten beiden Amtsjahre Maduros angebrochen sind, gäbe es bei einem erfolgreichen Referendum keine Neuwahlen mehr. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident die Amtszeit zu Ende bringen.

Nachdem der im November begonnene Dialog mit der Regierung ebenfalls gescheitert ist, bleibt die juristische Blockade der mehrheitlich oppositionell besetzten Nationalversammlung zunächst bestehen. Der offizielle Grund ist, dass diese unter Missachtung eines Urteils des Obersten Gerichts (TSJ) Ende Juli drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas vereidigt hat, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird. Die Folgen sind skurril: Die Wahl von Julio Borges von der Partei Primero Justicia zum neuen Parlamentspräsidenten am 5. Januar wies das TSJ als ungültig zurück. Am 9. Januar versuchte die oppositionelle Parlamentsmehrheit Maduro abzusetzen, um Neuwahlen zu erzwingen, obwohl die venezolanische Verfassung kein parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren kennt. Und seinen alljährlichen Rechenschaftsbericht legte Maduro anders als von der Verfassung vorgesehen Mitte Januar nicht vor dem Parlament, sondern dem Obersten Gericht ab.

Dass die rechte Opposition aus der schwachen Regierungspolitik bisher keinen politischen Nutzen ziehen konnte, sorgt indes in den eigenen Reihen zunehmend für Frust. Der bisherige Generalsekretär des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), Jesús „Chúo“ Torrealba, mahnte Mitte Januar eindringlich, dem Land endlich ein kohärentes politisches Projekt zu präsentieren. Zu lange habe man über Mechanismen debattiert, um Neuwahlen zu erzwingen, „aber niemand hat gesagt, was darauf folgt“. Im Zuge einer internen Neustrukturierung des MUD wurde Torrealba, dem viele eine zu lasche Haltung gegenüber der Regierung vorwerfen, mittlerweile abgesägt. Das Amt des Generalsekretärs schaffte das Bündnis Mitte Februar ab. Die interne Arbeit des MUD soll nun José Luis Cartaya als Koordinator betreuen, während sich die neun größten Parteien des Bündnisses die politische Führung im Rotationsverfahren teilen.

Tatsächlich zeigt sich die Opposition weniger als zwei Jahre vor den Präsidentschaftswahlen intern alles andere als geeint. Um die politische Führung konkurrieren derzeit mindestens vier Politiker. Neben dem inhaftierten Leopoldo López, dessen Partei Voluntad Popular jegliche Gespräche mit der Regierung vehement ablehnt, ist Henrique Capriles Radonski von der Partei Primero Justicia das populärste Gesicht der Regierungsgegner*innen. Der zweimalige Präsidentschaftskandidat gehörte im vergangenen Jahr zu den stärksten Verfechtern eines Abberufungsreferendums. Auch Henry Ramus Allup von der ehemaligen Regierungspartei Acción Democrática werden Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur nachgesagt. Von vielen als Politsaurier verschrien, konnte er sich 2016 als unnachgiebiger Parlamentspräsident profilieren. Laut Meinungsumfragen ist schließlich auch Henri Falcón, der amtierende Gouverneur des Staates Lara, auf dem aufsteigenden Ast. Der ehemalige Chavist und Chef der Mitte- Links-Partei Avanzada Progresista könnte vor allem den moderaten Teil der Opposition und möglicherweise auch enttäuschte Chávez-Wähler* innen hinter sich vereinen. Doch die spannende Frage ist weniger, wer in etwaigen internen Vorwahlen der Opposition triumphieren könnte. Vielmehr ist derzeit völlig offen, wann in Venezuela überhaupt wieder eine Wahl stattfindet. Eigentlich hätte der CNE Ende letzten Jahres Regionalwahlen organisieren müssen. Im Oktober verschob der Wahlrat diese jedoch ohne nachvollziehbare Gründe in das erste Halbjahr 2017. Kurz darauf erließ das Oberste Gericht ein Urteil, wonach sich die Parteien neu registrieren müssen, um zu zeigen, dass sie noch politisch aktiv sind. Die Umsetzung dieses Urteils obliegt dem CNE, der im Februar die Neuregistrierung anordnete, die sowohl im oppositionellen als auch im chavistischen Lager für scharfe Kritik sorgt. Alle Parteien, die an den vorangegangenen zwei Wahlen nicht selbst teilgenommen oder weniger als ein Prozent der Stimmen erreicht haben, müssen sich neu registrieren lassen. Da sich die meisten oppositionellen wie chavistischen Parteien mittels eines Wahlbündnisses beteiligt hatten, betrifft dies insgesamt 59 Parteien. Von der Neuregistrierung ausgenommen sind neben drei kleineren, neu gegründeten Parteien lediglich die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und das Oppositionsbündnis MUD. Dessen einzelne Mitgliedsparteien müssen sich jedoch registrieren, um auch unabhängig von dem Parteienbündnis antreten zu können. Die CNERektorin Tania D’Amelio betonte, dass solange die Neuregistrierung nicht abgeschlossen sei, keinerlei Wahlen geplant würden. Damit ist klar, dass die Regionalwahlen frühestens im zweiten Halbjahr 2017 stattfinden können. Die 59 betroffenen Parteien müssen nun in insgesamt zwölf Staaten die Unterschriften von jeweils 0,5 Prozent der Wahlberechtigten einholen, andernfalls droht ihnen die Löschung aus dem Register. Laut den Bestimmungen des CNE steht dafür jeder Partei zwischen dem 4. März und 21. Juni ein bestimmtes Wochenende zu. Die Anzahl der erforderlichen Unterschriften reicht von etwa 500 in den kleinsten Staaten bis zu um die 10.000 in den größeren. Die Wähler*innen müssen sich dazu an einen der insgesamt 360 Registrierungsstellen einfinden, an denen Mitarbeiter*innen des CNE jeweils die Daten und Fingerabdrücke abnehmen. Diese sollen jedoch nur sieben Stunden pro Tag geöffnet sein, weswegen jeder Partei insgesamt 14 Stunden bleiben, um die Mindestanzahl der Unterschriften zu erreichen.

Der MUD wirft dem Wahlrat vor, „unüberwindbare Hürden“ aufzustellen und warnt vor einer Entwicklung wie in Kuba und Nicaragua, wo die Bürger*innen nur für zuvor ausgewählte Kandidat*innen stimmen könnten. Zumindest die größeren Parteien des MUD kündigten jedoch an, sich trotz der grundsätzlichen Kritik registrieren zu lassen.

Im chavistischen Lager äußerte sich am deutlichsten die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV), die bei den vorangegangenen Wahlen so wie alle chavistischen Parteien auf dem Ticket der PSUV angetreten ist. Sie legte nicht nur Beschwerde beim Obersten Gericht ein, sondern will die Neuregistrierung boykottieren. Damit droht der ältesten Partei Venezuelas, die im Laufe ihrer fast 90-jährigen Geschichte mehrfach vorübergehend verboten war, der Verlust des Parteienstatus’. Die Kommunist*innen stören sich vor allem daran, die Namen ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen vor dem CNE offenlegen zu müssen, da diesen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen seitens „privater wie staatlicher Chefs“ die Entlassung drohe. „Wir werden den Kapitalisten nicht den Gefallen tun, ihnen eine Liste mit biometrischem Fingerabdruck zu machen“, stellte Generalsekretär Oscar Figuera klar. Zudem kritisiert die Partei, dass die gesetzliche Grundlage für die Neuregistrierung aus dem Jahr 1965 stammt, also lange vor der Verfassung von 1999 verabschiedet wurde. In dieser Zeit wurden die Kommunist*innen offen verfolgt. Sollte die PCV die Zulassung verlieren, werde man sich zukünftig als Teil eines Bündnisses an Wahlen beteiligen, sagte der politische Sekretär Carlos Aquino. Der CNE habe „die Konsequenzen“ zu tragen, „wenn er Parteien beseitigt“.

Die Regierung hat sich öffentlich bisher nicht zu der Kritik geäußert. Doch auch die PSUV steht vor einer Neustrukturierung. Die bisherige Wahlmaschinerie sei „sehr gut“ gewesen, habe sich aber erschöpft und müsse neu justiert werden, erklärte Präsident Maduro Mitte Februar. Wann auch immer der CNE die nächsten Wahlen ausrufe, müsse der PSUV bis dahin „der Sieg sicher“ sein. Sollte sich der mehrheitlich regierungsnah besetzte Wahlrat dieser Ansicht anschließen, dürfte es so bald keine Wahlen geben. Der Regierungspartei traut derzeit wohl kaum jemand einen Wahlsieg zu.

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