Konservativer Rollback

„Schwanger? Du kannst entscheiden, das Recht ist auf deiner Seite“, verkünden Schilder in der Metro von Mexiko-Stadt, auf denen eine gestresste Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm bei der Hausarbeit oder ein Mädchen bei ihrer quinceañera, dem traditionellen Fest zum 15. Geburtstag, zu sehen sind.
Seit das Parlament Mexiko-Stadts – hier lebt immerhin gut ein Fünftel der mexikanischen Bevölkerung – im Frühjahr 2007 das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche durchsetzte, zählt die regionale Gesetzgebung hinsichtlich der Rechte auf reproduktive Gesundheit von Frauen zu einer der liberalsten in Lateinamerika. Da der Eingriff in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos durchgeführt werden kann, ist der Zugang zu einer medizinisch sicheren Abtreibung unproblematischer als in den USA oder großen Teilen Europas. So ist etwa in Deutschland die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches tatsächlich noch illegal. Nur unter Einhaltung diskriminierender Bedingungen gehen Frauen, die abgetrieben haben, straffrei aus.
Von der progressiven Rechtssprechung in der mexikanischen Hauptstadt erhofften sich Frauen- und Gesundheitsorganisationen positive Impulse für die problematische Situation in weiteren Teilen des Landes. Im übrigen Mexiko ist die Gesetzeslage zum Schwangerschaftsabbruch je nach Bundesstaat unterschiedlich geregelt.
Allerdings werden die progressiven Bestimmungen von Mexiko-Stadt im innermexikanischen Vergleich eine Ausnahme bleiben. Schon bei ihrer Verabschiedung hatten diese für heftige Kontroversen gesorgt und erzkonservative Gruppen, angeführt von VertreterInnen der katholischen Kirche sowie Abgeordneten der Parteien PAN (Partei der Nationalen Aktion) und PRI (Revolutionäre Instiutionelle Partei), auf den Plan gerufen. Verfolgt die PAN seit jeher einen ultra-rechtskonservativen Diskurs, hatte sich die PRI bis in die 1980er Jahre noch für eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes eingesetzt. Ihr Sinnerswandel erklärt sich vor allem damit, dass sich die PRI von einer Allianz mit der katholischen Kirche Wählerstimmen für die Wahlen 2012 erhofft. Allerdings ist dieses Thema in der PRI nicht unumstrittenen, einige weibliche Abgeordenete haben sich gegen eine Verschärfung ausgesprochen.
Um eine Entkriminalisierung sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene zu verhindern, sind auf Initiative reaktionärer Kräfte die zuvor wenig beachteten Gesetzesgebungen zum Schwangerschaftsabbruch in den einzelnen Bundesstaaten zunehmend untersucht und schließlich modifiziert worden. So wurden in den letzten Jahren in 18 von 32 Bundesstaaten Gesetze erlassen, die das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über den eigenen Körper massiv bedrohen.
Zuletzt hatte am 18. Dezember des vergangenen Jahres der Kongress des südmexikanischen Bundesstaats Chiapas einstimmig den Artikel 4 der landeseigenen Verfassung geändert. Die Gesetzgebung wurde dahingehend modifiziert, dass die betroffene Person künftig zwar nicht mehr mit einer Gefängnisstrafe belangt wird. Dafür muss sie sich aber einer psychologischen Behandlung unterziehen, in der ihr „die menschlichen Werte der Mutterschaft“ näher gebracht werden sollen. Frauenorganiosationen kritisieren, dass Frauen, die sich für die Abtreibung entschlossen haben, damit in die Nähe psychisch Kranker gerückt werden. Gefängnisstrafen drohen aber weiterhin ÄrztInnen, medizinischem Personal oder Personen, welche die Eingriffe durchführen oder die schwangere Person zu einem solchen überzeugen.
AktivistInnen für sexuelle und reproduktive Rechte bezeichneten die Reform als getarntes Antiabtreibungsgesetz, welches Embryonen mehr Rechte einräume als Frauen. Denn in Artikel 4 wird nun das ungeborene Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod zum eigenständigen Rechtssubjekt deklariert. Demgemäß gilt jeglicher Fall von Abtreibung künftig als Mord. Nur bei Vergewaltigungen, schweren Missbildungen des Kindes oder ernsthafter Lebensgefahr für die Mutter sollen die betroffenen Personen straffrei ausgehen. Durch die Kriminalisierung des medizinischen Fachpersonals sowie der UnterstützerInnen eines Schwangerschaftsabbruches wird der ohnehin prekäre Zugang zu einer medizinisch sicheren Versorgung unmöglich gemacht. Die Umsetzung der nach den Maximen der katholischen Kirche lancierten Gesetzesinitiative werde zu einem Anstieg von Müttersterblichkeit und geschlechtsspezifischer Gewalt führen, so die AktivistInnen weiter.
Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung ist in dem zu den ärmsten zählenden Bundesstaat Mexikos als äußerst prekär einzuschätzen. Insbesondere indigene und ökonomisch marginalisierte Frauen sind von den Folgen des maroden Gesundheitssystems betroffen. So weist Chiapas im landesweiten Vergleich eine der höchsten Raten an Müttersterblichkeit auf. Laut Statistik sterben 117 Frauen bei 100.000 Geburten, wobei mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden muss. Neben dem mangelnden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung liegen die Gründe hierfür in Mangelernährung, häuslicher Gewalt, ungewollten Schwangerschaften und unprofessionell durchgeführten Abtreibungen.
Hierzu zählt der traurige Fall der 30-jährigen Chol-Indigenen María Arcos Jiménez aus San José Mariscal Subicuski aus dem Gemeindebezirk Tila, der sich am 4. Februar 2008 ereignete. Wie das in San Cristobal de las Casas ansässige Centro de Derechos de la Mujer (Frauenrechtszentrum) berichtete, suchte die schwangere Mutter von fünf Kindern in Begleitung ihrer Eltern in den Abendstunden das nächstliegende Krankenhaus auf, weil sie in den Wehen lag. Da es sich um einen komplizierten Fall handelte, den die Einrichtung nicht behandeln konnte, wurde sie als Notfall in das Krankenhaus des eine Stunde entfernt liegenden Bezirk Yajalón geschickt. Doch auch hier konnte Arcos keine Hilfe finden. Da sie nicht über den Versicherungsschutz des Seguro Popular und das Krankenhaus über kein kompetentes chirurgisches Personal verfügte, wurde sie in ein zwei Stunden entferntes Krankenhaus nach Ocosingo verlegt. Auch hier wurde Arcos nicht behandelt und weiter in das drei Stunden entfernte Krankenhaus nach Palenque gebracht. Wegen des mangelnden Versicherungsschutzes wurde sie in Palenque nur unter der Bedingung empfangen, als letzte Person behandelt zu werden. Die viel zu lange Wartezeit führte schließlich zum Tod der Frau und ihres ungeborenen Kindes.
Wie das Frauenrechtszentrum auf seiner Homepage deutlich macht, stellt die hier beschriebene Begebenheit in Chiapas keinen Einzelfall dar: „Der Fall von María Arcos Jiménez ist ein Beispiel der Diskriminierung beim Zugang zu gesundheitlicher Betreuung aufgrund ihrer ökonomischen Situation.”
An der unterschiedlichen juristischen Situation im Land werden zudem die klientelistische Orientierung, beziehungsweise die patriarchalen Tendenzen innerhalb des gesamten mexikanischen Parteiensystems deutlich, welche die Einhaltung der Frauenrechte entscheidend behindern.
Hatten die Abgeordneten der im landesweiten Vergleich als eher linksliberal geltenden Partei der demokratischen Revolution (PRD) sich vor zwei Jahren noch für die Stärkung reproduktiver Rechte von Frauen in Mexiko-Stadt eingesetzt, forcierten Mitglieder derselben Partei vor zwei Monaten in Chiapas die frauenfeindliche Initiative. Als Hintergrund für die Abweichungen der PRD von der landesweiten Linie sind unter anderem die Vetternwirtschaft und blanke Machtorientierung im chiapanekischen Parteiensystem zu sehen. So war der amtierende Gouverneur Juan Sabines Guerrero noch bis 2006 führender Funktionär der PRI. Aufgrund geringer Chancen seiner Kandidatur wechselte er allerdings kurz vor den Wahlen im gleichen Jahr zur PRD.
Die nationale Führung der PRD verurteilte die Modifizierungen der chiapanekischen Verfassung als eine trügerische Simulation, die allein dazu diene, sich mit der katholischen Kirche gut zu stellen. Hortensia Aragón Castillo, Generalsekretärin der PRD, bezeichnete die Reform als Rückschritt, und schloss sich der Kritik an, dass dadurch Frauen, die sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entscheiden, als psychisch krank stigmatisiert werden.
Bezüglich der Abtreibungsgesetzgebung gelten in den Bundesstaaten Baja California, Campeche, Chihuahua, Colima, Durango, Guanajuato, Jalisco, Morelos, Nayarit, Oaxaca, Puebla, Quintana Roo, Querétaro, San Luis Potosí, Sonora, Veracruz und Yucatán ähnliche Bestimmungen wie in Chiapas.
Bis dato steht der Hauptstadtdistrikt mit seiner progressiven Gesetzgebung, die das Recht auf Selbstbestimmung für den eigenen Körper sichert, alleine auf weiter Flur. Da sich nur wenige Frauen die Reise- und Unterbringungskosten für einen Eingriff in Mexiko-Stadt leisten können, kommt das Gesetz vor allem ökonomisch und sozial gut situierten Frauen zugute.
In einem Kontext wie Chiapas sind die Folgen der Kriminalisierung von Abtreibung aufgrund des katastrophalen Zugangs zu medizinischen Leistungen als besonders heftig einzuschätzen.
FrauenrechtlerInnen und VertreterInnen von sozialen Organisationen mobilisieren für die Einhaltung und Gewährleistung sexueller und reproduktiver Rechte. Am 5. Februar organisierten AktivistInnen im ganzen Land einen Aktionstag. In zahlreichen Aktionen und Protestmärschen forderten sie die Kommission für Gleichheit und Geschlecht der Abgeordnetenkammer auf, sich des Themas anzunehmen. Sie stellten klar, dass die Bestimmungen in den 18 Bundesstaaten eine klare Verletzung des Menschenrechts auf Zugang zu Gesundheit, des Rechts auf Nicht-Diskriminierung, auf die Freiheit des Bewusstseins, sowie auf reproduktive und sexuelle Autonomie von Frauen bedeuten.

Hand in Hand gegen rebellische Dörfer

Die BewohnerInnen der Gemeinde La Morena in der Sierra Petatlán im südostmexikanischen Bundesstaat Guerrero arbeiteten gerade auf dem Felde, als sich am 16. Februar der Überfall ereignete. Eine Militäreinheit des 19. Bataillons der mexikanischen Armee fiel über die BewohnerInnen her und eröffnete das Feuer. Angeführt wurden die Soldaten von Personen in Zivil, welche die Dorfbevölkerung als Paramilitärs identifizierte, die im Dienst des Lokalfürsten Rogaciano Alba Álvarez stehen. In einem dramatischen Anruf informierte der Ökobauer Javier Torres Cruz die nächst gelegenen Menschenrechtsorganisationen: „Mein Onkel Isaias Torres Quiróz wurde durch einen Durchschuss am Oberkörper schwer verletzt“, er sei dringend auf medizinische Hilfe angewiesen. Die DorfbewohnerInnen hatten auch das mexikanische Rote Kreuz um Hilfe angefragt, doch dieses verweigerte die Entsendung einer Ambulanz, da die Sicherheit in dieser Region nicht gewährleistet sei. Zudem hätten sich die Militärs in zwei nahe gelegenen Gemeinden stationiert, woher ebenfalls sporadisch Schüsse zu hören seien.
Weder Ort noch Zeitpunkt des Überfalls waren zufällig gewählt. Vielmehr handelte es sich um einen Racheakt. Denn eine Woche zuvor war Rogaciano Alba Álvarez, „El Roga“ genannt, in Guadalajara von der Bundespolizei verhaftet worden. Alba gilt seit längerem als einer der größeren Fische im Sumpf von Politik, Drogenhandel und anderen Geschäften. Seine kriminelle Karriere begann er mit Marihuana-Großhandel in den 70er Jahren. Als jahrelanger Bürgermeister von Petatlán im Dienste der Revolutionären Institutionellen Partei PRI nutzte er sein Amt in den 1990er Jahren für die massive Abholzung der Sierra im Auftrag einer US-Firma. Dies brachte die lokale Bevölkerung auf den Plan, sich gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage zu organisieren. So waren die als „Ecologistas de la Sierra de Petatlán“ bekannten Gemeinden denn auch die erklärten Feinde von „El Roga“. Über 30 Morde an widerständigen Bauern und Bäuerinnen sollen auf sein Konto gehen.
Als seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón die Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Drogenmafias eskalierten, musste er im Mai 2008 untertauchen: Eine gegnerische Mörderbande hatte eine Sitzung der Viehzüchtervereinigung, deren Präsident Alba war, unter Beschuss genommen und tags darauf dessen Familie überfallen. Resultat: 17 Tote.
Seinen Einfluss in der Region bewahrte er als Statthalter des mächtigen Kartells von Sinaloa dennoch. Im Volksmund war bekannt, dass Rogaciano Alba weiter mit der lokalen Militärführung gute Geschäfte machte. Die Militärs überfallen die Gemeinden regelmäßig mit Hurra-Rufen auf „El Roga“ und in Begleitung von Mördern der Drogenmafia.
Ein zweiter Grund für den kürzlichen Überfall auf La Morena findet sich darin, dass sich die mutigen Dorfbewohner Javier Torres Cruz und dessen Onkel Isaias Torres Quiróz zu einer Aussage gegen Alba entschlossen hatten. Dieser soll demnach der Auftraggeber des Mordes an Digna Ochoa sein.
Digna, eine bekannte Menschenrechtsanwältin, wurde 2001 in ihrem Büro in Mexiko Stadt durch zwei Schüsse ermordet. Kurz zuvor hatte sie die Ökobauern und -bäuerinnen von Petatlán besucht und sich für deren Verteidigung engagiert. Der Fall wurde damals von den Behörden mit dem skandalösen Untersuchungsresultat ad acta gelegt, sie habe Selbstmord begangen (siehe LN 353). Erst die neuen Zeugenaussagen aus La Morena führten zu einer zögerlichen Wiederaufnahme der Untersuchungen.
Javier Torres Cruz war nach seiner Aussage gegen Alba bereits im Dezember 2008 von Militärs verhaftet und den Paramilitärs übergeben worden. Zehn Tage lang wurde er gefoltert und verhört, schaffte es aber schließlich auf abenteuerliche Weise, seinen Häschern zu entfliehen. Das Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit CCTI hatte die Entführung damals sofort öffentlich gemacht und die Folter dokumentiert. Seither fanden in La Morena mehrere Kurse statt, um die Bevölkerung im Umgang mit Repression und Folter möglichst gut zu wappnen. Die vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Schutzmaßnahmen für Javier Torres Cruz wurden jedoch bis heute von den Behörden nicht umgesetzt.
In den frühen Morgenstunden nach dem Überfall im Februar hatte sich eine ad hoc gebildete Beobachtungsmission aus den Menschenrechtsorganisationen CCTI, Tadeco und der Coddehum auf den mehrstündigen Weg in die abgelegene Region der Sierra gemacht. Dort musste sie feststellen, dass die Militärs offenbar gezielt Jagd auf Javier Torres Cruz und dessen Angehörige gemacht hatten. Javier selbst konnte fliehen, doch Javiers Großvater Anselmo sowie Huber Vega Coria waren von den Militärs verhaftet und per Helikopter ausgeflogen worden. Aufenthaltsort und Gesundheitszustand der beiden sind weiterhin unbekannt.
Außerdem ist seit dem Überfall Alfonso Torres Cruz, ein weiterer Onkel von Javier, verschwunden. Laut Aussagen der DorfbewohnerInnen wurde dieser ebenfalls durch die Kugeln getroffen, konnte aber zunächst in die Berge entfliehen. Doch bereits am Tag darauf wurde Alfonso tot aufgefunden; die genauen Umstände seines Todes sind ungeklärt.
Um den Aufenthaltsort des untergetauchten Javier Torres Cruz zu erfahren, habe laut CCTI ein Soldat mit einem Funkgerät der Gemeinde mit Javier kommuniziert, „ihn bedroht und angeschrieen, dass sie hinter ihm her seien und seine Familie in ihrer Gewalt hätten“.
Die Menschenrechtsorganisationen fordern nun vom mexikanischen Staat, dass der Überfall auf La Morena strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müsse. Zudem müssten „die vom Interamerikanischen Menschenrechtshof angeordneten Schutzmaßnahmen für die Familie Torres endlich umgesetzt werden.“
Notwendig wäre aber vor allem ein Ende der Kollaboration von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit der organisierten Kriminalität. Sogar die mexikanischen Untersuchungsbehörden geben auf ihrer Homepage zu: „Die Stärke des organisierten Verbrechens wurzelt in der Erstellung von Allianzen und Verbindungen auf allen Ebenen, inklusive der politischen und der militärischen. Mit Hilfe von Korruption erreichen die Verbrecher ihre Straflosigkeit.“ Doch dagegen handeln mag die mexikanische Regierung kaum.
Einzelne, spektakulär inszenierte Verhaftungsaktionen wie diejenige von Rogaciano Alba dienen vielmehr der Simulierung von Handlungsentschlossenheit und sollen die Öffentlichkeit über die weit reichenden politisch-militärischen Verstrickungen mit dem Drogenhandel hinwegtäuschen. So ist es wenig verwunderlich, dass Rogaciano Alba erst mal „wegen fehlender Beweise“ nur in Untersuchungshaft sitzt. Von Untersuchungen bezüglich der Ermordung von Digna Ochoa und den Morden in Guerrero ist bisher gar nicht die Rede.
Der kürzliche Überfall auf La Morena zeigt vielmehr, dass die Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen mit dem organisieren Verbrechen weiter an der Tagesordnung ist.

Kasten:

Präventivkrieg in Guerrero
Die zugespitzte Situation in Guerrero erklärt sich auch vor dem Hintergrund der verstärkten Aktivitäten der Guerilla Revolutionäre Armee des Aufständigen Volkes ERPI insbesondere in der bergigen Region der Sierra. Die Guerilla bedeutet für die lokalen Machtinteressen ein Hindernis. Die ERPI denunzierte explizit die Zusammenarbeit von Drogenbanden mit dem Militär in Sachen Aufstandsbekämpfung.
Ende Oktober 2009 kamen Jacobo Silva Nogales und Gloria Arenas, zwei Gründungsmitglieder der ERPI, nach über zehn Jahren Haft frei. Sie verstehen sich inzwischen als Teil der „Anderen Kampagne“ der Zapatistas und arbeiten seit ihrer Freilassung auf zivilem Weg für die anderen politischen Gefangenen. Kaum ein Zufall, dass wenige Tage nach ihrer Freilassung der regionale Anführer der ERPI, Omar Guerrero Solís alias Comandante Ramiro, von einem „Narcoparamilitär“, so die Guerilla, ermordet wurde. Die Militarisierung des Bundesstaates Guerrero hat ihren historischen Höchststand erreicht, wie auch der erfahrene soziale Aktivist Bertoldo Martínez Cruz im Gespräch bestätigt: „Die Militärs sind präsenter als in den Zeiten des schmutzigen Krieges in den 1970er Jahren. Das Hauptproblem für das Militär ist jedoch nicht der Drogenhandel, sondern die soziale Bewegung.“

Kasten:

Ein Jahr nach den Morden an Raúl und Manuel
Diesen Februar jährte sich das Verschwindenlassen mit anschließender Folter und Errmordung der beiden indigenen Aktivisten Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas von der Organisation für die Zukunft des Volks der Mixtecos (OPFM) in Ayutla. An einer Pressekonferenz am Jahrestag des Doppelmords bedauerten die Mixtecos, dass keinerlei Fortschritte in der Aufklärung des international viel beachteten Doppelmordes vorliegen. Instanzen wie die EU und die UNO waren vor Ort, hunderte Menschenrechtsorganisationen protestierten, doch die lokalen Behörden der PRI stellen sich taub – und werden vom PRD-Gouverneur und von der PAN-Regierung gedeckt.
In den letzten zwölf Jahren seien in dieser Region Nahe der Grenze zu Oaxaca rund 20 indigene Anführer der Mixtecos ums Leben gekommen, so ihr Sprecher Arturo Campos. Die selektiven Morde durch Paramilitärs begannen nach dem Massaker von El Charco vom Juni 1998, als dem Militär erstmals Dokumente über die Guerilla ERPI in die Hände fielen.
Die Mixtecos leben seit der Ermordung des Präsidenten und des Sekretärs ihrer indigenen Organisation vor einem Jahr in Angst, kündigten aber nun doch die Gründung einer neuen sozialen Organisation namens Völker für die Regionale Entwicklung (Poder) an, welche den Faden der Organisierung wieder aufnehmen und den Gemeinden aus ihrer Marginalisierung helfen soll.

Dampfkochtopf Oaxaca

Das Gute vorweg: Trotz der nicht verheilten Wunden, die der Konflikt 2006/2007 mit ungefähr 500 Festgenommenen, 380 Folterfällen, 26 Ermordeten und sieben „Verschwundenen“ hinterlassen hat, besteht die soziale Bewegung in Oaxaca immer noch. So ist auch ihr 2006 gegründetes organisatorisches Dach, die Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO), weiterhin existent. Allerdings ist die APPO tief gespalten durch einige ihrer Gruppen, die sich mit Hingabe internen Kämpfen widmen. Auch die Regierung des Bundesstaats hat ihren Teil dazu beigetragen. Einerseits ist es ihr gelungen, Zwietracht unter den Gruppen zu säen, andererseits hat sie durch die massive Repression, die Folterfälle und selektiven Verhaftungen Angst bei den AktivistInnen geschürt. Doch trotz aller Probleme ist die soziale Bewegung in Oaxaca nicht am Ende, im Gegenteil: Sie ist lebendiger als zuvor. Doch hat sie ihre Lektion von 2006, dem Jahr ihrer gewaltsamen Niederschlagung, gelernt und agiert nicht mehr so sichtbar. Stattdessen arbeitet jeder Sektor auf seinem Gebiet weiter. Um es mit den Worten des Intellektuellen Gustavo Esteva zu sagen: „Mit der Repression von 2006 haben die Bundes- und die Bundesstaatsregierung nur einen Deckel auf den Dampfkochtopf gepresst, der weiterhin kocht und kurz vor der Explosion steht.“
In der Tat konzentrieren sich in Oaxaca soziale Elemente von höchster Explosivität, die detonieren könnten, falls sich der derzeitige Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) entscheiden sollte, bei den Gouverneurswahlen 2010 Jorge Franco Vargas als Kandidaten aufzustellen. Vargas, in Anspielung auf die Hollywood-Mörderpuppe „El Chucky“ genannt, war als damaliger Innenminister der direkt Verantwortliche für die gewaltsame Räumung des Protestcamps der LehrerInnen im Juni 2006, die die soziale Revolte auslöste.
Inzwischen hat sogar der Oberste Gerichtshof Mexikos SCJN die Schuld von Ruiz Ortiz an der Repression festgestellt. In seinem Gutachten vom 14. Oktober heißt es, der Gouverneur habe die Menschenrechte schwer verletzt. Allerdings hat das Gutachten nur einen Empfehlungscharakter für andere Institutionen, was de facto bedeutet, dass es keinerlei Konsequenzen hat. Es ist es nur ein weiterer Fall, der die Straflosigkeit beweist.
So wird Ruiz Ortiz nicht nur auf seinem Gouverneursposten bleiben, sondern auch künftig keinerlei strafrechtliche oder politische Verantwortung übernehmen müssen. Zu verdanken hat er dies den bestehenden gesetzlichen Leerstellen, aber vor allem der Komplizenschaft, die immer noch zwischen der Exekutive, Legislative und Judikative besteht.
Um das Ausmaß der Ungerechtigkeit in der Strafverfolgung zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass in Mexiko und speziell in Oaxaca verschiedene Indígenas ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie aus Hunger Leguane gejagt oder Schildkröteneier gegessen hatten.
Die Gouverneure hingegen können sich totaler Straffreiheit erfreuen. Ulises Ruiz ist da kein Einzelfall. Nehmen wir nur den Gouverneur von Puebla, Mario Marín, der erwiesenermaßen Kinderschänder schützt und die in diesen Fällen recherchierende Journalistin Lydia Cacho festnehmen ließ (siehe LN 380). Oder Enrique Peña Nieto, der als Gouverneur des Estado de México für die Repression im Fall Atenco verantwortlich ist (siehe LN 384). Schlimmer noch, diesen Politikern scheint eine große Karriere bevorzustehen. Peña Nieto gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012, unterstützt vom Mediengiganten Televisa und der alten Garde seiner Partei PRI. Ulises Ruiz hingegen strebt den Parteivorsitz der PRI an, sobald sein Mandat 2010 endet.
Nein, die Bedingungen unter denen die MexikanerInnen momentan leben müssen, sind alles andere als vorteilhaft. Ihr Leben ist geprägt von der Gewalt, der politischen, der sozialen und der, die von der organisierten Kriminalität ausgeht und das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Im Fall von Oaxaca gilt zudem die Fortführung eines politischen Systems, das der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einst auf den Punkt brachte: „Mexiko, das ist die perfekte Diktatur“. Damit gemeint ist die Fähigkeit des politischen Systems unter der PRI, sich selbst immer wieder neu zu erfinden und sich so seit fast 80 Jahren an der Macht zu halten. So passt auf Oaxaca auch nach wie vor der Titel der Kurzgeschichte des Schriftstellers Augusto Monterroso: „Und als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da.“
Und der Dinosaurier namens PRI will immer noch weiter machen. Die Bundesstaatswahlen in Oaxaca rücken näher und Ulises Ruiz und die Parteiführung konzentrieren all ihre Kräfte und die öffentlichen Mittel darauf, an der Macht zu bleiben, um so bei den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder ganz das Land zu übernehmen.
Dabei wird Ulises Ruiz allerdings den Überdruss der Bevölkerung Oaxacas umschiffen müssen, angesichts eines politischen Systems, das die Armut verwaltet, statt sie zu bekämpfen. In Oaxaca konzentrieren sich 49 der 100 ärmsten Gemeinden Mexikos. Laut einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen sind die Bedingungen in einigen dieser Gemeinden mit denen im subsaharischen Afrika vergleichbar. Verschärft wird die Armutssituation durch einen deutlichen Rückgang der remesas, den überlebenswichtigen Geldtransfers der in die USA emigrierten Oaxaqueños. Deren Summe sank im ersten Halbjahr 2009 um ca. 78,5 Millionen US-Dollar, im Vergleich mit dem Vorjahr bedeutet das einen Rückgang um 6,2 Prozent.
Ein weitere Hürde für die PRI könnte sein, dass fast alle oppositionellen politischen Kräfte in Oaxaca ihre Bereitschaft erklärt haben, sich zu einer großen Allianz zusammenzuschließen, um das fast 80 Jahre währende autoritäre Regime der PRI zu beenden, das den Bundesstaat in einer beleidigenden Armut belassen hat.
Die Explosivität dieser Gemengenlage erhöht sich zudem durch einen weiteren Akteur, die Guerilla Revolutionäres Volksheer EPR. Im Mai 2007 „verschwanden“ in Oaxaca-Stadt zwei ihrer Mitglieder, Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz Sánchez. Nach Angaben der EPR sind sie verhaftet worden (siehe LN 401). Seitdem forderte die EPR in mehreren Kommuniqués einen Beweis von Ulises Ruiz dafür, dass sie noch am Leben sind. Im Falle einer Verweigerung kündigte sie weitere militärische Aktionen an. Ihre Schlagkraft hat die EPR mit ihren Bombenanschlägen auf Erdgas- und Erdölleitungen in mehreren Bundesstaaten bereits bewiesen.
Währenddessen setzen viele AktivistInnen auf den historischen Zyklus, der sich Jahr 2010 im schließen soll. Nach der mexikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1810 und dem Beginn der Revolution 1910 erwarten sie Großes für das nächste Jahr: „Wir sehen uns 2010“ ist an vielen Wänden zu lesen. Angesichts all dieser Umstände nimmt auch die Unruhe bei der Bundes- und der Bundesstaatsregierung zu. Sie reagieren mit der Intensivierung ihrer Strategien der Aufstandsbekämpfung und der Repression: Selektive Festnahmen, Strafmaßnahmen gegen die sozialen KämpferInnen und Einschüchterung der VerteidigerInnen der Menschenrechte. Oaxaca steht ein heißes Jahr bevor.

Übersetzung: Manuel Burkhardt

Staat, Gewerkschaften und Energie

Das Tor zum Vier zu Eins gegen El Salvador fiel in der 89. Minute. Spätestens mit dem Schlusspfiff brach das ganze Land in Jubel aus: Mexiko hatte die Qualifikation für die Fussballweltmeisterschaft 2010 geschafft. Doch nicht nur FussballfanatikerInnen zogen in den späten Abendstunden des 10. Oktober durch die Straßen der mexikanischen Städte. Knapp drei Stunden nach Spielende, während mit grün-weiß-roten Fahnen bestückte Menschenmassen noch frenetisch feierten, stürmten schwarz gekleidete Sondereinheiten der mexikanischen Bundespolizei sämtliche Einrichtungen der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Luz y Fuerza del Centro (LFC). Allein in Mexiko-Stadt waren nicht weniger als 1.500 PolizistInnen im Einsatz, um die 35 Gebäude der LFC in der Hauptstadt zu besetzen und abzuriegeln. Gleichzeitig gingen ihre KollegInnen gegen die Installationen der LFC in den Bundestaaten Puebla, Morelos, Hidalgo und dem Estado de México vor. Wenige Minuten vor Mitternacht dann erklärte der mexikanische Präsident Felipe Calderón die Elektrizitätsgesellschaft per Dekret für aufgelöst. Um die Stromversorgung in der Hauptstadt und den zentral gelegenen Bundesstaaten kümmert sich fortan die ebenfalls staatliche Bundeskommission für Elektrizität (CFE), deren Wirkungsbereich sich mit diesem Schritt auf die gesamte Republik erstreckt.
Zwar rief die Härte des staatlichen Vorgehens eine beinahe allgemeine Empörung hervor, doch an Anzeichen für einen solchen Schlag gegen den Staatsbetrieb und seine Gewerkschaft hatte es in den Tagen vor dem 10. Oktober nicht gemangelt. Seit April dieses Jahres befand sich die mächtige Gewerkschaft der ArbeiterInnen von Luz y Fuerza del Centro, die Mexikanische ElektrikerInnengewerkschaft (SME), in einer schweren internen Krise. Der amtierende Generalsekretär Martín Esparza hatte den Sieg der umstrittenen internen Wahlen für sich beansprucht und auf eine zweite Amtszeit plädiert, derweil seine Widersacher ihm Wahlbetrug und Korruption vorwarfen. Anfang Oktober dann folgte der Minister für Arbeit der Regierung Calderón, Javier Lozano, der Argumentation der Gegner Esparzas und weigerte sich, die Wiederwahl des Generalsekretärs anzuerkennen. Die SME blieb damit ohne legale Repräsentation gegenüber dem Staat.
Die großen Medienanstalten Mexikos hatten in das Tauziehen um den Posten des Generalsekretärs der ElektrikerInnengewerkschaft auf ihre Weise eingegriffen. Die TV-Sender und regierungsnahen Printmedien berichteten ausgiebig über die antidemokratischen Methoden Esparzas sowie diverse Korruptionsfälle, in die der Gewerkschaftsboss verwickelt sein soll. Die Anschuldigungen sind nicht von der Hand zu weisen: Esparza hat es in den vier Jahren seiner ersten Amtszeit zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht – er ist sogar stolzer Besitzer einer eigenen Farm für Rassepferde. In Mexikos korporativistischem Gewerkschaftssystem allerdings stellt Esparza leider eher die Regel als eine Ausnahme dar. Doch in Fällen wie der staatlichen LehrerInnengewerkschaft, die seit zwei Dekaden von Elba Esther Gordillo diktatorisch beherrscht wird, oder der Gewerkschaft der ArbeiterInnen der staatlichen Erdölgesellschaft, deren Generalsekretär eine Luxusyacht steuert, stören sich nur wenige an den Auswüchsen der parastaatlichen Gewerkschaften. Esparza und die ElektrikerInnengewerkschaft hingegen sind im Gegensatz dazu keine Allianz mit der amtierenden Regierung von Felipe Calderón eingegangen. Stattdessen gilt die SME als der linksliberalen Partei der demokratischen Revolution (PRD) nahe stehende Gewerkschaft, die zudem gute Kontakte zur Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) pflegt. Während Elba Esther Gordillo die Schulen des Landes auf Calderóns Kurs trimmt und die Gewerkschaft der Erdölgesellschaft Pemex die Teilprivatisierung des Unternehmens widerstandslos abnickte, widersetzte sich die SME dem Druck der Regierung hartnäckig. Deswegen war die ElektrikerInnengewerkschaft der regierenden Partei der Nationalen Aktion (PAN) schon seit langem ein Dorn im Auge.
Die Auflösung der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft des Zentrums scheint somit vor allem ein Angriff auf ihre Gewerkschaft zu sein. Die Regierung hat den mehr als 44.000 Mitgliedern Abfindungen in Höhe von zweieinhalb Jahresgehältern in Aussicht gestellt, sowie eine Bonuszahlung und eine bevorzugte Behandlung im Fall von Wiedereinstellungen für diejenigen, die ihre Entlassung bis Mitte November akzeptieren. Gleichzeitig schossen die Regierung und die großen Medienanstalten sich in den Tagen und Wochen nach der polizeilichen Besetzung der Gebäude der LFC auf die angebliche Untragbarkeit des Unternehmens ein, an dessen desolater finanzieller Situation die Gewerkschaft und die ArbeiterInnen die alleinige Schuld trügen. Letzteren wird unentwegt vorgeworfen, ineffizient zu arbeiten und sich auf ihren „Privilegien“ auszuruhen. Auf diese Weise hoffen Felipe Calderón und seine Gefolgsleute, die mexikanischen ArbeiterInnen und Gewerkschaften gegeneinander auszuspielen. Tatsächlich verfügten die ArbeiterInnen von LFC bis zum 10. Oktober über einen Kollektivvertrag, der ihnen im nationalen Vergleich einige Sicherheiten und Vergünstigungen und einen einigermaßen anständigen Lohn bescherte, von denen die mexikanischen DurchschnittarbeiterInnen in Zeiten des Neoliberalismus nur träumen können. Doch die Rechte der ArbeiterInnen, welche die SME in den 95 Jahren ihrer Existenz in harten Kämpfen hat erstreiten können, stellen für Calderón und seine Gefolgsleute nichts als Hindernisse auf dem Weg zu einer effizienten Energiewirtschaft dar.
In einer Fernsehansprache am Tag nach dem Überfall auf die LFC erklärte der Präsident, dass das Unternehmen vom Staat jährlich mit dem Zweifachen der vom Unternehmen selbst erzielten Einnahmen bezuschusst werden müsse. „Unglücklicherweise wurde der Großteil dieser Ressourcen nicht für die Verbesserung der Dienstleistungen eingesetzt, sondern um die Privilegien der Arbeiter zu bezahlen“, führte Felipe Calderón aus. „Dem Kollektivvertrag ist es geschuldet, dass das Unternehmen keine Entscheidung treffen konnte, ohne nicht zuvor die Erlaubnis der Gewerkschaft eingeholt zu haben. Deswegen wurden die Entscheidungen nicht im Interesse der Bürger, sondern im Interesse der Gewerkschaft getroffen.“
Zwar steht außer Frage, dass im korrupten Gewerkschaftssystem der SME Unmengen Pesos in dunklen Kanälen versickerten, und zudem die Führungsriege der LFC beschämend hohe Monatsgehälter einstrich. Doch die eigentlichen Gründe für die Finanznöte des Unternehmens sind andere. So gewährte das Management der LFC einer langen Liste von Großunternehmen über Jahre hinweg Sondertarife; andere Unternehmen bezahlten ihre Stromrechnungen einfach gar nicht. Das gleiche gilt für bundesstaatliche Institutionen und unzählige Munizipien, die bei der LFC mit Millionensummen in der Kreide stehen. Der gravierendste Kostenfaktor des Unternehmens allerdings ist ein Vermächtnis aus der vorherigen Regierung von Vicente Fox: Seit den siebziger Jahren ist es der LFC nicht gestattet, weitere eigene Kraftwerke zu errichten, weswegen riesige Energiemengen von der Bundeskommission für Elektrizität (CFE) zugekauft werden müssen. Vicente Fox etablierte kurz nach seiner Machtübernahme im Jahr 2000 einen Finanzrahmen, der die LFC dazu zwingt, den Strom zu einem hohen Preis bei der CFE zu kaufen, um ihn dann zu einem niedrigeren Preis an die Endverbraucher zu verkaufen. Es ist wohl vor allem diesem System geschuldet, dass das Staatsunternehmen nach und nach finanziell herunter gewirtschaftet wurde.
An einem Interesse an der Zerstörung der LFC und deren Gewerkschaft mangelte es weder der ersten Regierung der PAN noch der derzeit amtierenden. Mittlerweile stammt ein guter Teil der von der Bundeskommission für Elektrizität CFE vertriebenen Energiemenge aus Kraftwerken von transnationalen Unternehmen. Waren es Anfang der neunziger Jahre noch 22 Prozent der geförderten Energiemenge, die von internationalen Energieriesen kontrolliert wurden, so zielt die derzeitige Regierung darauf ab, bis zum Ende ihrer Amtsperiode im Jahr 2012 nicht weniger als 58% der Energieproduktion privatisiert zu haben. Die CFE selbst, obwohl eigentlich ein staatliches Unternehmen, finanziert sich und ihre Projekte mittlerweile zu 60% aus privaten Geldern. So ist es nicht erstaunlich, dass die CFE im Gegensatz zur abgewickelten LFC keine Bedenken gegenüber den Privatisierungsplänen der Regierung geäußert hat. Durch die Zerschlagung letzterer hat sich die Regierung nicht nur einer unliebsamen Gewerkschaft entledigt, welche die letzte Bastion gegen die neoliberale Umstrukturierung des Energiemarktes in Mexiko darstellte – sie hat zudem auch den wichtigsten Industriestandort des Landes für die privaten Energieunternehmen geöffnet.
Doch noch ein anderer Markt steht auf dem Spiel. Die LFC kontrollierte bislang neben den traditionellen Installationen auch das Glasfaserkabelnetz im Zentrum Mexikos. Ebenfalls seit dem Amtsantritt von Vicente Fox wird um die Nutzungslizenzen für das Netz gerangelt, über das sich Telefon, Internet und Fernsehdaten mit hoher Geschwindigkeit übertragen lassen. Im Jahr 2000 unterschrieb die Regierung einen Vertrag mit dem spanischen Unternehmen WL Comunicaciones, dessen Hauptaktionäre zwei spätere Energieminister der Regierung Fox sind. Doch die geplanten Installationen und Erweiterungsarbeiten des Glasfaserkabelnetzes, mit denen WL Comunicaciones nach langen Querelen schließlich im Jahr 2008 beginnen wollte, konnten aufgrund des Widerstandes der Mexikanischen ElektrikerInnengewerkschaft nicht aufgenommen werden. Die SME argumentierte, dass der Vertrag mit dem spanischen Unternehmen jeder Grundlage entbehre, da die LFC selbst über ausreichend Kapazitäten verfüge, um das Netz zu betreiben. Mit dem Einstieg in den profitträchtigen Telekommunikationssektor hätte das Staatsunternehmen dem in Mexiko herrschenden Duopol Konkurrenz gemacht. Stattdessen werden sich nun wohl die ehemaligen Energieminister der Regierung Fox auf dem Markt behaupten müssen.
Die Mehrheit im mexikanischen Parlament hat sich derweil hinter die Entscheidung des Präsidenten gestellt, die LFC aufzulösen. Allein die Partei der Arbeit (PT) sowie der dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador nahestehende Flügel der Partei der demokratischen Revolution (PRD) stimmten für die von der PT eingebrachte Verfassungsbeschwerde gegen das Dekret des Präsidenten. Die Mexikanische ElektrikerInnengewerkschaft versucht deshalb, außerparlamentarisch Druck auf die Regierung auszuüben. Wenige Tage nach der Auflösung der LFC organisierte die Gewerkschaft eine Demonstration, an der etwa 250.000 Menschen teilnahmen – neben der SME hatten auch etliche andere Gewerkschaften und Kollektive zur Teilnahme aufgerufen.
Zwar willigte die mexikanische Regierung daraufhin ein, Verhandlungen mit den GewerkschafterInnen aufzunehmen, erklärte jedoch gleichzeitig, in ihrer grundsätzlichen Entscheidung „keinen Schritt zurück“ zu weichen. „Zuerst unterschreibt ihr eure Entlassungen, dann sehen wir weiter“, fasste ein Beobachter die Position der Regierung zusammen. Der von vornherein zum Scheitern verurteilte Dialog wurde Ende Oktober für beendet erklärt. Anfang November erreichte die SME eine einstweilige Verfügung gegen das Dekret vom Präsidenten. Die Auflösung der LFC wird damit erst dann rechtskräftig, wenn ein Gericht ein Urteil über die Tausenden von Verfassungsbeschwerden gegen den Schritt der Regierung gefällt hat. Doch allein auf die mexikanische Gerichtsbarkeit wollen die GewerkschafterInnen wohlwissend nicht vertrauen: für den 11.November, einen Monat nach der Besetzung der Gebäude der Elektrizitätsgesellschaft, haben sie zu einem nationalen Streik und einer friedlichen Rückeroberung ihrer Arbeitszentren aufgerufen. Die Zeit freilich arbeitet gegen sie: laut Regierungsangaben haben schon mehr als die Hälfte der einstigen ArbeiterInnen der LFC ihre Entlassungen unterschrieben. „Gott sei Dank gibt es nicht noch eine Gewerkschaft wie die SME, sonst ginge es dem Land noch viel schlechter“, hatte der Innenminister am Tag nach der Besetzung der LFC kund getan. Vielleicht gibt es bald gar keine Gewerkschaft wie die SME mehr – dass es Mexiko dadurch besser gehen wird, ist allerdings mehr als fraglich.

Ansichten eines Anarchisten

Augustin Souchy (1892 bis 1984) gehört sicherlich zu den umtriebigsten Anarchisten des 20. Jahrhunderts. Eines seiner bevorzugten Betätigungsfelder war Mexiko, das ihm 1942 nach seiner Flucht aus Europa Exil gewährt hatte und schon bald zur zweiten Heimat wurde. Ausgestattet mit der mexikanischen Staatsbürgerschaft lebte er dort – mit einigen Reiseunterbrechungen – bis Anfang der 1960er Jahre. Auch nach seiner Rückkehr nach Europa blieb Souchy Mexiko verbunden und kehrte bis in die 1970er Jahre immer wieder dorthin zurück.
In diese Zeitspanne fallen auch seine Mitteilungen“ in denen er sich mit den verschiedensten Themen zu Mexikos Geschichte und Gegenwart auseinandersetzte. Diese Texte, die der Oppo-Verlag unter dem Titel Mexiko – Land der Revolutionen nun erstmals als Sammelband veröffentlicht hat, zeugen von jenen menschlichen Qualitäten, deren politische und journalistische Umsetzung Souchy zu einem der markantesten und sympathischsten Zeitzeugen libertärer Entwicklungen im 20. Jahrhundert werden ließen: Lebenslange Neugierde, Lernfähigkeit, Mut zur persönlichen Intervention und die unbedingte Bereitschaft, sich jederzeit existentiell auf das Ringen um soziale Befreiung einzulassen. Hinzu wird die seltene Gabe offenbar, die Solidarität mit den Unterdrückten als authentische Begegnung auf gleicher Augenhöhe konkret werden zu lassen. Auch in Mexiko findet der in Schlesien geborene Anarchosyndikalist, anti-militaristische Agitator und Weltreisende in Sachen Revolution den Weg in die Herzen der Menschen.
Getragen von einem Urvertrauen in das anarchistische Gesellschaftsideal verdichtet sich die Lebensnähe der eigenen Erfahrungswelt in Souchys Texten zu stilistischer Kraft und inhaltlicher Originalität. Selbst da, wo Souchy in einer Mischung aus revolutionärem Überschwang und Dankbarkeit des geretteten Flüchtlings verschiedentlich zu einer allzu positiven Einschätzung neigt, bewahrt ihn der eigene, stets offene Blick auf die soziale Realität vor ideologischer Verabsolutierung. Breiten Raum räumt er Vorgeschichte, Verlauf und gesellschaftlich-kulturellen Nachwirkungen der gegen den Militärdiktator Porfirio Díaz gerichteten Revolutionsbewegung ein, die ab 1910 so gut wie alle Bevölkerungsgruppen Mexikos in ihren Bann zog. Zu Recht weist Souchy auf die hierzulande kaum bekannte Nachhaltigkeit hin, mit der anarchosyndikalistische Tendenzen Einfluss auf die im Laufe der sozialen Umwälzungen in Mexiko erst entstehende Gewerkschaftsbewegung nehmen konnten. Bei aller Euphorie über die postrevolutionär etablierten Institutionen und Formen politischer Konfliktaustragung verschließt er aber nicht die Augen vor der Ausbreitung von Pfründenwesen, Vetternwirtschaft und Korruption im Herrschaftsapparat der allein regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). In deutlichen Worten beklagt er die mangelnde Initiative und fehlende Selbstverantwortung von Arbeiter- und Bauernschaft, geißelt den ideologischen Einfluss des reaktionären Klerus, kritisiert schonungslos die Ungerechtigkeiten des nach wie vor kapitalistisch verfassten Wirtschaftssystems und die fortbestehende Diskriminierung der indigenen Bevölkerung.
Herausgeber und Verlag ist eine ansprechende Zusammenstellung dieser zeithistorisch bedeutenden Schriften und Zeugnisse gelungen. Das Vorwort sowie der sorgfältig gestaltete Anhang mit ausführlichem Glossar, Zeittafel und Quellenverzeichnis machen diese nun wieder veröffentlichten Texte auch LeserInnen ohne spezielle Vorkenntnisse gut zugänglich.

Augustin Souchy // Mexiko – Land der Revolutionen. Mitteilungen von 1942 bis 1976 // Herausgegeben von Jochen Knoblauch // Oppo-Verlag // Berlin 2008 // 111 Seiten // 16 Euro // www.oppo-verlag.de

„Juanito“ – Eishändler der Machtinteressen

Juanito sei nun „ein Stern mehr auf dem Kanal der Sternchen“, lästerte Andrés Manuel López Obrador (AMLO) in Anspielung auf die nicht enden wollende Berichterstattung des omnipotenten TV-Senders Televisa. Der in den Präsidentschaftswahlen von 2006 knapp unterlegene Kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD) wirft der Regierung Wahlbetrug vor und bezeichnet sich seitdem als „legitimer Präsident“.
Juanito wurde allerdings von niemand anderem als López Obrador selbst in den Medienhimmel katapultiert. Denn noch vor drei Monaten kannte kaum jemand den Betreiber einer Eisdiele, der mit bürgerlichem Namen Rafael Acosta heißt. Irgendwie hatte er es geschafft, zum – freilich aussichtslosen – Kandidaten der PT für das Amt des Regierungschefs des von Armut, Wassermangel und hohen Kriminalitätsraten gezeichneten Bezirks Iztapalapa aufzusteigen. Ins Rampenlicht rückte Acosta im Nachspiel eines folgenschweren Urteils des mexikanischen Wahlgerichts. Das Gericht hatte zum wiederholten Mal in die weiterhin erbittert geführten Kämpfe um die Führung der PRD eingegriffen, indem es Clara Brugada, der AMLO-nahen Kandidatin der PRD für das zwei Millionen EinwohnerInnen zählende Iztapalapa aus formalen Gründen den Sieg bei den parteiinternen Wahlen aberkannte. In dem ganz offensichtlich politisch motivierten Urteil zog das Wahlgericht den Schluss, dass der unterlegenen Silvia Oliva die Kandidatur für das Amt des Regierungschefs in der traditionellen PRD-Hochburg gebühre. Oliva zählt ihres Zeichens zu dem López Obrador feindlich gesonnenen Interessen- und Machtblock „Neue Linke“, der im vergangenen Jahr – ebenfalls mit Hilfe des Wahlgerichts – die Macht innerhalb der PRD übernahm.
Anstatt die Wahl zu boykottieren oder das politische Urteil des Wahlgerichts durch Märsche und Blockaden anzufechten, überraschte der „legitime Präsident“ López Obrador die Basis der PRD und der PT und sogar die geschasste Kandidatin selbst mit einer ganz anderen Strategie. Es schlug die Stunde Rafael Acostas: In einer öffentlichen Veranstaltung rang AMLO dem Kandidaten der kleinen PT das Versprechen ab, im Falle eines Wahlsieges sofort zurückzutreten und daraufhin Clara Brugada das Amt zu überlassen. Mit dem „Ticket“ der Partei der Arbeit wollte der ehemalige Präsidentschaftskandidat seine Getreuen aus der PRD in Iztapalapa positionieren. In den darauf folgenden Tagen und Wochen vor den Wahlen setzte er eine eindrucksvolle Mobilisierungskampagne in Gang, in der er bei den BürgerInnen Iztapalapas um Stimmen für die PT warb – und damit gegen seine eigene Partei, die PRD. Dabei schien für López Obrador der Name „seines“ Kandidaten eher Nebensache zu sein. Als ihm dieser auf einer Wahlveranstaltung entfiel, rief er nämlich dazu auf, man solle seine Stimme doch „Juanito“ geben – Rafael Acostas Pseudonym war geboren.
Dennoch ging zumindest der erste Teil von AMLOs Rechnung auf: Juanito wurde am 5. Juli mit 50.000 Stimmen Vorsprung vor der Rivalin Oliva zum Regierungschef gewählt. Für López Obrador war Iztapalapa damit zu einem „Laboratorium der Demokratie“ aufgestiegen, welches den dunklen Machenschaften der mexikanischen Institutionen ein Schnippchen geschlagen hatte. Und während kritische Stimmen fragten, was die hinter verschlossenen Türen getroffenen Absprachen, das Abkanzeln der PT in Iztapalapa und das autoritäre Gebaren AMLOs gegenüber Rafael Acosta eigentlich mit Demokratie zu tun hätten, feierte das Gros der lopezobradoristas ihren Juanito als Mann des einfachen Volkes, der sich im richtigen Moment den Interessen der großen Politik unterzuordnen weiß. Die Medienlandschaft hingegen fand in den Tagen und Wochen nach dem 5. Juli ihren eigenen Juanito: Den Straßenhändler, der nicht mehr nachzählen kann, wie vielen PolizistInnen er im Laufe seines Lebens die Schlagstöcke entrissen und sie damit verdroschen hat. Juanito, der Fidel Castro, Hugo Chávez und Rambo im selben Atemzug als seine Vorbilder bezeichnet, und Juanito, der kein anständiges Interview geben kann, ohne sein Notizbuch heraus zu kramen. Inmitten der elitären mexikanischen Politikerkaste war Juanito eine Ausgeburt der Unterklasse, des populacho. Die Medien behandelten ihn wie einen Freak, den die Widrigkeiten der großen Politik in eine Welt gespült haben, in der er nichts zu suchen hat.
Für Clara Brugada und López Obrador ging die Sache so lange gut wie Juanito das tat, was man gemeinhin von Menschen wie ihm erwartet: stillhalten und Befehle ausführen. Eben das tat er jedoch nur ein paar Tage lang, dann entwickelte Juanito, der doch eigentlich nur als Vehikel für die Ambitionen López Obradors hätte dienen sollen, ein Eigenleben. Anstatt seinen Platz still und heimlich für Brugada zu räumen, erklärte er knapp einen Monat nach den Wahlen, dass er – dem bis zu dem Deal mit López Obrador etwa drei Prozent der Stimmen in Iztapalapa vorausgesagt worden waren – über ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung verfüge, um das Amt selber anzutreten. Während die AnhängerInnen Carla Brugadas Sturm gegen den Wortbruch liefen, verhandelte Juanito unter steter Ägide der Medien mit PolitikerInnen der „Neuen Linken“, mit Abgeordneten der ultrarechten Regierungspartei PAN und mit VetreterInnen der PRI. Ihnen allen war gemein, dass sie Juanito vom Verbleib im Amt überzeugen wollten, um auf diese Weise die Machtsphäre López Obradors weiter einzudämmen.
Rafael Acosta sonnte sich nicht nur im Rampenlicht, sondern verlor sich zusehends in dem vom Medienzirkus kreierten Bild Juanitos. Mit jedem Tag wurde Acosta sich sicherer: „Juanito“ – von dem er selbst stets in der dritten Person spricht – hatte die Wahlen gewonnen, nicht Clara Brugada und auch nicht López Obrador. So verlangte Juanito zunächst, im Gegenzug für seinen Amtsverzicht die Hälfte der Verwaltungsstellen mit seinen Leuten zu besetzen. Als Brugada dies ablehnte, kündigte er seine Solidarität mit dem „legitimen Präsidenten“ auf und erklärte, sein Amt selbst antreten zu wollen.
Für die AnhängerInnen von Andrés Manuel López Obrador war Juanitos Verhalten ein Beweis dafür, dass er von einer „Mafia“ manipuliert worden sei. Die PT wandte sich gegen ihren ehemaligen Kandidaten, und die lopezobradoristas sahen in ihm nur noch einen funktionalen Analphabeten, der nicht versteht, was um ihn und mit ihm geschieht. Für den Lopezobradorismus verkam Juanito vom nützlichen Idioten zu einem manipulierten Nichtsnutz. Dabei tat Juanito die gesamte Zeit über nichts anderes als das, was Mexikos angesehene PolitikerInnen in Bluse oder Sakko tagtäglich tun: frei von ideologischen Bedenken um Macht und Geld schachern und versuchen, in der Demokratiesimulation mexikanischer Institutionalität einen angenehmen Posten zu erheischen. Juanito tat dies alles freilich auf seine Art, ein wenig zu naiv, zu offen und vor allem ohne Anzug und Krawatte. Am Ende hat er, der sich schon als Regierungschef der Hauptstadt und sogar als nächster Präsident Mexikos sah, scheinbar zu hoch gepokert. Nach einem halbstündigen Treffen mit Marcelo Ebrard, dem AMLO-treuen Regierungschef von Mexiko-Stadt, erklärte Juanito Ende September, seiner Vereidigung nun doch den sofortigen, wenn auch einstweilen vorläufigen, Rücktritt folgen zu lassen. Nachdem er seinen Schwur auf die Verfassung geleistet hatte riss er sich die rote Krawatte vom Hals, trat sie mit den Füßen und rief „Tod der PT – Verräter!“ in den tobenden Saal. Eine knappe Stunde später erklärte er seinen vorläufigen Verzicht auf das Amt, welches er der PRD-Politikerin Clara Brugada übertrug. Ein paar Posten in der neuen Administration hat Juanito für die Seinen zwar herausschlagen können, ansonsten aber wurde der populacho an seinen angestammten Ort fernab der Macht verwiesen. Der Glaubwürdigkeit von López Obrador und seinen Gefolgsleuten dürfte das Spektakel um Juanito geschadet haben wie kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahre. Mexikos ranziger politischer Elite als ganzer hat es derweil wahrscheinlich sogar genutzt: Wie gut – so das Credo der Medienberichterstattung – dass das Schicksal des Landes in den Händen derjenigen liegt, die auch in schwierigen Momenten weder den Schlips noch den guten Ton links liegen lassen.

„Ich glaube nicht an diese Art Demokratie”

Du trittst offen dafür ein, nicht zu wählen. Keine Gewissensbisse, dass durch die Stimmenthaltung die parlamentarische Rechte gestärkt wird?
Nein, auf diese Argumente lasse ich mich nicht ein. Ich werd‘ nicht wählen, nicht dieses Jahr oder irgendwann. Ich glaube nicht an diese Art der Demokratie.

Soll heißen? Politik soll man nicht den Berufspolitikern überlassen?
Ja, ich glaube es gibt inzwischen viele Menschen in Mexiko, die sich von den staatlichen Vertreterinnen und Vertretern und deren Politik abwenden, die uns keine Zeit lässt zu verstehen, was gerade in unserem Land passiert. Dem sollte man sich widersetzen und versuchen besser die Realität zu verstehen, in der wir leben.

Du sprichst von der Realität. Wie nehmen denn Kampagnen der Parteien Stellung zu den dringlichsten Problemen der mexikanischen Gesellschaft?
Die Kampagnen der Parteien sind heuchlerisch. Da wird Mexiko als durchweg demokratisches Land dargestellt und dabei weiß jeder, dass das gerade nicht der Realität entspricht. Nicht dass die Wahlversprechen nicht reizvoll wären: Dem Verbrechen den Kampf ansagen, Arbeitsplätze und würdigere Lebensbedingungen schaffen. Und die Leute, die verzweifelt sind in einem Leben voller Ausbeutung, Gewalt und Entwürdigungen sehen diese Verheißungen oft als einen Ausweg an. Doch letztlich sind die Regierenden selbst am Anstieg von Gewalt und Verbrechen beteiligt.

Was soll das heißen? Ein Mangel an sicherheitspolitischen Initiativen kann man der Regierung Calderón ja nun gerade nicht vorwerfen…
Ich würde das eher unter dem Wort Repression zusammenfassen. Ein Staat, in dem es keine Arbeit gibt, in dem sich multinationale Unternehmen breit machen, in dem nur einige Wenige Geld und Reichtümer besitzen und wo es immer gefährlicher wird, dagegen etwas zu sagen. Denn das einzige was die Regierenden wirklich tun, ist gegen soziale Bewegungen und die allgemein wachsende Unzufriedenheit einer zunehmend verzweifelten Bevölkerung vorzugehen. Das heißt, diskursiv machen sie mit dem Verbrechen und der Unsicherheit Schluss. Tatsächlich bauen sie jedoch den Polizeiapparat um, machen ihn für die Aufstandsbekämpfung fit. Es können noch so viele Menschenrechtsabkommen unterschrieben werden; die UNO kann sich noch so oft besorgt zeigen; dem gegenüber stehen politische Machtgruppen, die sehr gut innerhalb krimineller Netzwerke organisiert sind.

Du sagst, die Unzufriedenheit würde wachsen. Aber wächst nicht genauso schnell das Misstrauen und Denunziantentum in der Bevölkerung?
Klar, es gibt viel Misstrauen, begleitet jedoch – und das ist entscheidend – von einem brutalen Staatsterrorismus. Diese Art von Gewalt, die Kampagne [der Grünen Partei Mexikos, Anm. d. Red.], die Todesstrafe für Entführer und Mörder einzuführen, das alles schafft ein allgemeines Gefühl der Ohmacht. Die Leute sagen, „eigentlich kann ich nichts mehr tun, denn sonst droht mir auch so was“. Denn wenn wer den Mund aufmacht, wird als Krimeneller abstempelt. Und klar spürt man diese Paranoia, diese lähmende Angst – ein weiteres Element der Repression.

Du hast vor drei Jahren die Stürmung der Gemeinde Atenco von über 3000 Uniformierten miterlebt. Rückblickend sehen viele politische Chronistinnen und Chronisten Atenco als Auftakt einer neuen Qualität staatlicher Repression gegen soziale Bewegungen. Was war denn so grundsätzlich neu?
Der Polizeieinsatz entsprach der Strategie einer „Bevölkerungskontrolle“. Als die Einheiten in die Gemeinde Atencos eindrangen, ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie für diese Art Einsätze geschult wurden, eine gegen die Bevölkerung gerichtete Aufstandsbekämpfung. Dass ist der Beginn repressiver Maßnahmen die bis heute anhalten.

Warum fand gerade die Art Repression ihren Anfang in Atenco?
Das was in Atenco geschah, könnte man einerseits als staatliche Racheaktion bezeichnen. Denn der Stachel, wegen dieser rebellischen Gemeinde vier Jahre zuvor den Bau eines internationalen Flughafens aufgeben zu müssen – und wir reden hier vom größten Infrastrukturprojekt der damaligen Regierung unter Vicente Fox – saß tief. Andererseits ging es aber auch darum, die damals von der Zapatistischen Befreigungsarmee EZLN initierte „Andere Kampagne” aufzuhalten, innerhalb derer landesweit neue solidarische Netze geknüpft wurden. Das konnten wir später auch im Gefängnis spüren, mit jedem Unterstützerbrief der uns erreichte.

Die staatliche Repression fand damals ihren perfidesten Audruck in der sexualiserten Folter, welche die Polizisten in Atenco gegen festgenommene Frauen ausübte. Wie erklärst du dir rückblickend dieses Vorgehen, das später von der Regierung als spontane Entgleisungen einiger Polizisten abgetan wurde?
Ich denke, dass sich in dieser Praktik der gesellschaftliche Machismus auf zweifache Weise ausdrückte. Zum einen waren wir die Kriegsbeute, um den Aufständigen zu zeigen: „Schau her, wir haben gewonnen. Wir haben eure Frauen, euer Land und wir machen mit euch was wir wollen.“ Auf der anderen Seite war es aber auch ein Schlag gegen die wachsende Präsenz der Frauen in den sozialen Bewegungen, um ihnen zu sagen: „Pass auf, wenn du aus dem Haus gehst und deine traditionelle Rolle aufgibst, dann wird dir das gleiche geschehen wie ihnen.”

Du warst selbst fast zwei Jahre im Knast. Wie beurteilst Du, dass als Teil des aktuellen Sicherheitsdiskurses in Mexiko der Bau neuer Gefängnisse forciert wird?
Ich habe zwei Strafanstalten kennengelernt und beide waren hoffnungslos überbelegt. In jeder Zelle waren doppelt oder dreimal so viele Menschen wie vorgesehen. Die Bedingungen im Gefängnis sind menschenunwürdig. Die Nahrung ist minderwertig, es gibt keine Ärzte, die dir wirklich helfen können, die Korruption ist gigantisch. Die Regierung nennt diese Orte offiziell „Zentren der sozialen Wiedereingliederung”. Aber das Einzige, was du dort wirklich lernst, ist die Gesellschaft zu verabscheuen. Du kommst rein, als Bauer, Arbeiter oder Unwissender, was deine institutionellen Rechte angeht, und kommst völlig pervertiert wieder raus mit einem Hass gegen alle.

Wie schützt man sich dagegen?
Ich habe nach dem Gefängnis zwei Mal eine Therapie besucht. Und dort haben sie mir gesagt: Dir haben sie im Gefängnis deine Unschuld geraubt. Und klar, sie haben sie mir geraubt. Es ist nicht so, dass ich vorher mit geschlossenen Augen gelebt hätte. Aber im Gefängnis bin ich mir bewusst geworden, wie roh die Repression in Mexiko wirklich ist. Wie leicht wird jemandem ein Delikt untergeschoben, wird jemand dort körperlich, sexuell oder psychisch gefoltert.

Wie erklärst du dir, dass die mexikanische Regierung auf internationalem Parkett nie direkt mit solchen Vorwürfen konfrontiert wird? Aus Unwissenheit oder schauen andere Regierungen lieber weg?
Ich wurde im vergangenen Jahr von der Lateinamerikabeauftragten des norwegischen Parlaments zu einem Treffen eingeladen. Und sie brachte ihre Beunruhigung über die Menschenrechtssituation in Mexiko zum Ausdruck, insbesondere über die Praktiken sexualisierter Folter gegenüber Frauen. Als wir so redeten fragte ich sie, was denn die norwegische Regierung konkret tun könne, um die Menschenrechtslage in Mexiko zu verbessern. Und sie sagte, dass sie einen Brief schreiben und eine Einschätzung der norwegischen Botschaft in Mexiko anfordern könnte. Ich fragte sie daraufhin, warum Norwegen nicht den Handel mit Mexiko aussetze, wenn die Sorge der norwegischen Regierung über die Menschenrechtssituation dort so groß sei. Und sie sagte, dass sei leider nicht möglich. Ist ihre Sorge also gar nicht so groß? Am Ende ist es wohl eine Interessenfrage.

Hat man eine Wahl? Die Wahldiskussion in Mexiko
Am 5. Juli fanden in Mexiko Kommunal- und Zwischenwahlen im Senat statt (Die Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Die daraus resultierenden neuen oder alten Mehrheiten werden entscheidenden Einfluss auf die Politik der restlichen Amtszeit von Präsident Felipe Calderón von der ultrakonservativen Partei Nationale Aktion (PAN) haben. Es geht um weitere legale Schützenhilfe im staatlichen „Krieg gegen die Drogen”, um die Durchsetzung infrastruktureller Großprojekte und natürlich den weitern Machterhalt von inzwischen neun Jahren PAN in den Regierungsgeschäften. Doch die Opposition schläft nicht. Die Politdinosaurier der jahrzehntelang vorherrschenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) wollen verlorenes Land gut machen, stellen sich selbst als erfahrenere Strategen in Zeiten wirtschaftlicher Krisenstimmung dar. Die Führung der zerstrittenen links-zentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) dagegen verspricht einerseits großmütig, dass mit ihnen die Bevölkerung ganz sicher etwas zu gewinnen hat („así gana la gente”) und versucht gleichzeitig, den unermüdlichen Messias in den eigenen Reihen, den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Manuel López Obrador (AMLO), mundtot zu machen. Denn dieser wirbt unverfroren für die Arbeiterpartei (PT) und eine weitere linke Minipartei namens Convergencía. Sein Kalkül: je nötiger die PRD die beiden Unterstützerparteien braucht, die fest hinter AMLO stehen, um auf lokaler Ebene mehrheitsfähig zu werden, desto mehr wird er parteiintern auch wieder an Einfluss gewinnen.
Die mexikanischen Grünen gehen derweil mit der Forderung „Todesstrafe für Entführer und Mörder” recht erfolgreich auf Stimmfang. Über 10 Prozent der MexikanerInnen finden dieses Vorhaben laut aktuellen Umfragen unterstützenswert. Derweil haben die Kommentatoren der beiden großen mexikanischen Medienunternehmen Televisa und TV Azteca zur Stimmenthaltung aufgerufen, um den Parteien kollektiv das Misstrauen auszusprechen. In der Annahme, dass diesem Aufruf eher unentschlossene BürgerInnen als die StammwählerInnen von PRI und PAN folgen werden, kritisierten dies viele linke WahlbeobachterInnen als unverhohlene Unterstützung der mexikanischen Rechten. Die linksliberale Presse hat daher zum Sturm auf die Urnen getrommelt.

„Die Zahl der ermordeten Frauen ist weiterhin hoch“

Inwieweit hängen die Morde an Frauen in Ciudad Juárez mit der Drogenkriminalität zusammen?
Cordero: Der Drogenhandel ist nicht die Ursache für die Frauenmorde. Nicht, dass er damit nichts zu tun hätte. Er hat etwas damit zu tun. Aber es gibt feudale Strukturen in dieser Region, einige mächtige Personen und Familien, die das Territorium mit allem was Geld bringt ausbeuten: Menschenschmuggel, Drogenhandel, Waffen. In den 80er Jahren wurden hier in der Region die maquiladoras (Billiglohnfabriken) aufgebaut, die in diese feudale Struktur integriert sind. In dieser werden Frauen als ein Besitz angesehen, mit dem man alles machen kann; eben auch eliminieren, um so die Beweise des Verbrechens zu vertuschen. Dann nutzt man die Leichen als Nachricht für die verschiedenen Fraktionen, die in diese Machtstruktur verstrickt sind.

Wie steht der Staat zu dieser Struktur?
Cordero: Er versucht immer wieder, Schuldige auszumachen, und seine neueste Theorie basiert auf einer einfachen Antwort: Entweder sind die Frauen selbst Drogenhändlerinnen, oder sie wurden von Drogenhändlern getötet. Aber wir reden hier von einem Staat, der mit Teilen des Drogenhandels kooperiert. Es tobt nicht nur ein Kampf zwischen verschiedenen Drogenkartellen, sondern auch zwischen den staatlichen Akteuren, die Beziehungen zu Teilen des Drogenhandels haben.
Der Staat ist also ein weiterer Akteur in dem Konflikt?
Sánchez: Er ist die Verbindung zwischen Drogenhandel, organisierter Kriminalität und Frauenmorden in Ciudad Juárez. Das gilt auch bei der Kinderpornografie und den Entführungen. Die Journalistin Lydia Cachio hat gezeigt, dass hohe Politiker in Fälle von Kinderpornografie verstrickt sind. Sie wurden nie belangt. Und im Falle des entführten Unternehmersohnes Fernando Marti war die Spezialpolizei AFI mit am Werk. Viele Staatsangestellte beziehen gleichzeitig zu ihrem Gehalt Geld vom organisierten Verbrechen.

Wie kamt Ihr darauf, einen Dokumentarfilm über Ciudad Juárez und die Morde dort zu drehen?
Sánchez: Im Juni 2001 kam ich nach Chihuahua, damals noch als Filmstudentin. Da kam gerade die Aussage von Norma Andrade an die Öffentlichkeit. Sie hatte eine Woche nach ihrer Tochter gesucht und dann aus dem Fernsehen erfahren, dass sie ermordet wurde. Im Film erzählt sie ihre Geschichte. Es ist sehr interessant, wie sie sich in eine soziale Kämpferin verwandelt hat und auch anderen betroffenen Müttern zu einer Stimme verhilft. Wie sie aufsteht aus diesem tiefen Schmerz und zu kämpfen beginnt. Erst wollte sie gar keine Interviews geben, und es war ein großes Glück für uns, dass sie sich entschieden hat, ihr Schweigen zu brechen. Innerhalb eines Jahres wurde sie zu einer Führungsfigur für die Mütter, die ihre Töchter suchen und Gerechtigkeit verlangen. Aus diesem Material entstand ein 15-minütiger Kurzfilm, der sozusagen den Kern der längeren Dokumentation Bajo Juárez bildet, die 2007 herauskam. Wir sind an dem Thema dran geblieben.
Cordero: Eigentlich macht Norma Andrade den Film und Alejandra führt Regie.
Wie geht es Ihren Protagonistinnen heute?
Sánchez: Ihre Arbeit ist sehr erschöpfend, aber das Schlimmste ist die ständige Bedrohung. Sie werden permanent eingeschüchtert. Es hat sie zwar noch niemand umgebracht, aber sie leben in ständiger Angst, werden teilweise sogar verfolgt und beschossen. Ich habe Marilu, einer der Leiterinnen von Andrades Organisation, vorgeschlagen, für einige Zeit nach Mexiko Stadt zu gehen, aber sie wollte nicht.

Wie hat das mexikanische Publikum den Film aufgenommen?
Cordero: Die Bedingungen für einen solchen Streifen sind generell sehr schwierig, weil es ein mexikanischer Film ist, eine Dokumentation, und dann auch noch dieses Thema.
Da wir in Mexiko zunächst nicht weiter kamen, haben wir unsere Arbeit erst einmal auf ausländischen Filmfestivals gezeigt, zum Beispiel auf dem IDFA in Amsterdam. Im Oktober 2008 konnten wir ihn dann endlich auch in Mexiko zeigen. Unter den am meisten gesehen Filmen in Mexiko kam er dann auf Platz vier.
Sánchez: In der Woche, als Bajo Juárez in Mexiko anlief, war er einen Tag lang der meist gesuchte Link auf Yahoo Mexiko.

Hattet Ihr finanzielle Unterstützung?
Cordero: Ja, von verschiedenen Stellen, das hat uns ermöglicht, unseren Film unabhängig zu produzieren. Unsere Filmhochschulen haben uns unterstützt, und dann haben wir auch noch die Finanzierung durch einen jährlich ausgeschriebenen staatlichen Fond gewonnen.
Im letzten Jahr wurde eine Unterstützerin ihres Filmes, die kritische Journalistin Carmen Aristegui, aus ihrem Job beim Radio entlassen (siehe LN 405). Kann man in Mexiko überhaupt kritischen Journalismus machen?
Sánchez: Die Entlassung von Aristegui zeigt, in welche Richtung die Medienpolitik von Felipe Calderon geht. Als er Präsident wurde, war es eine seiner ersten Forderungen, sie mundtot zu machen, denn sie hatte immer kritisch über ihn und den Wahlbetrug, durch den er an die Macht kam, berichtet. Die Situation der Journalisten hat sich seit Beginn seiner Amtszeit sehr verschlechtert. Wir sind keine Journalisten, unsere Sprache ist eine andere. Und es ist schizophren: Eigentlich dachten wir, dass unser Film zensiert werden würde. Auf die eine oder andere Weise sprechen wir ja über die Personen, die hinter den Morden von Juarez stehen könnten und nennen dabei wichtige politische Personen bis hin zu Präsidenten oder Ex-Präsidenten. Aber es war nicht so.

Hat man sie als eine Art Feigenblatt benutzt, um zu demonstrieren, wie liberal Mexiko ist?
Cordero: Das ist in Mexiko sehr institutionalisiert. Es gibt ein Gesetz für die Verteidigung der Freien Meinungsäußerung, einen neuen bürokratischen Apparat, der eine absurde Bürokratisierung der freien Meinungsäußerung darstellt. Wir baten die zuständige staatliche Stelle, die Cepropie, um das Filmmaterial, auf dem Calderons Vorgänger Fox sich zu den Frauenmorden äußert und sie als Produkt der häuslichen Gewalt darstellt, und bekamen es sofort. Wir konnten alle Politiker und Beamten interviewen, mit denen wir sprechen wollten. Aber auf der anderen Seite wird Carmen Aristegui entlassen, weil es eine Beteiligung von einer Spanischen Rundfunkgesellschaft gibt und die auch ihre Interessen hat. Das ist nicht so nach dem alten PRI-Stil, sondern die Anstalt kündigt ihr ganz offen.

Wann waren sie das letzte Mal in Ciudad Juárez?
Sánchez: Nachdem wir den Film beendet hatten nicht mehr, aus Sicherheitsgründen. Ciudad Juárez ist ein Niemandsland. Ich komme aus Chihuahua, ich habe aber nicht viel Familie in der Stadt. Manchmal ist die Stadt einfach paralysiert, besetzt von vermummten, schwer bewaffneten Narcos.
Cordero: Journalisten haben Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Wir filmten dann die Immobilien, Firmengebäude und Häuser, die zwei von ihnen als Wirkungsorte möglicher Täter identifiziert hatten. Daraufhin verfolgte uns ein Lieferwagen mit einem Gewehr. Das war unser letzter Tag. Es war aber auch schon geplant, nach diesen letzten Aufnahmen direkt zum Flughafen zu fahren und nicht mehr wieder zu kommen.

Hat sich etwas verändert in Ciudad Juárez?
Cordero: Die Zahl der ermordeten Frauen ist weiterhin hoch. 22 waren es bis zum 7. Februar 2009. Die Mittel- und Oberschicht möchte nichts von dem Thema wissen, solange sie nicht direkt betroffen ist. In Internetforen und Blogs heißt es: Bitte redet nicht davon, das ist nicht wahr. Die offizielle Version ist die schlimmste Reaktion. Wir haben von den angeblichen Ermittlungen nichts mitbekommen, die Betroffenen wurden nicht befragt. Beweise sind verschwunden, Archive und Akten ebenso und die Sonderstaatsanwältin sagte, dass bei keinem dieser Verbrechen die organisierte Kriminalität involviert sei.

Das war unter Präsident Fox. Was hat der Kampf gegen den Drogenhandel gebracht, den Felipe Calderon seit Beginn seiner Amtszeit kämpft?
Cordero: Geköpfte Leichen.
Sánchez: Die Szenen werden immer perverser. Es hat Tage mit 32 Toten an einem einzigen Ort gegeben und fast nie war die Zahl der Toten auf Null. Ich glaube das Gefährliche ist es, sich daran zu gewöhnen mit diesem Horror zu leben. Wenn es wirklich einen Krieg gegen den Drogenhandel gäbe, so sagt ein befreundeter Journalist, dann müssten die Preise für die Drogen wie Marihuana oder Kokain ansteigen. Aber sie sind gleich geblieben. Diesen Krieg gegen die Drogen verstehen nur die Hardliner aus Calderons Kabinett.
Cordero: Die Erfolge, die die Regierung stolz präsentiert, die gefangenen oder erschossenen Drogenhändler, die beschlagnahmten Drogen und Waffen: Das waren schon immer die Quoten, die die Narcos bezahlten, die sie mit der Politik ausgehandelt hatten. Sie erkaufen sich damit das Recht, Drogen durch mexikanisches Territorium in die USA zu transportieren oder hier zu produzieren.
Sánchez: Ich glaube, vor diesem Krieg gab es ein wirklich gut organisiertes Verbrechen. Und dann kam Calderon und hat es deorganisiert. In Chihuahua ist es ein offenes Geheimnis, dass die Regierung nur ein Drogenkartell begünstigt, das Sinaloa-Kartell von Chapo Guzman, und die anderen Gruppen werden in dem Verteilungskampf an die Seite gedrängt. Deshalb gibt es so viel Blutvergießen.

Im März gab es eine UN-Konferenz zur Drogenfrage in Wien. Was wären die Folgen einer Legalisierung von Kokain und Marihuana in Mexiko?
Sánchez: Für eine verantwortliche und freie Gesellschaft wäre das die Lösung. Natürlich müsste so eine Maßnahme von einer guten Informationskampagne über die gesundheitlichen Folgen von Drogenkonsum begleitet sein. Aber ich sehe diese Möglichkeit weder mittel- noch langfristig. Das Geschäft ist groß und es sind die Interessen so mächtiger Länder wie die der USA darin verwickelt.
Cordero: In erster Linie ist es ein wirtschaftlicher Sachverhalt, und der Drogenhandel ist ein wichtiger Baustein in der Weltwirtschaft. Vielleicht ist der Vergleich etwas übertrieben, aber so wie sich beim Mauerfall die Wirtschaft sofort verändert hat, wäre auch das ein radikaler, sofortiger und sehr wirkungsvoller Bruch. Hoffentlich wird eine Diskussion darüber entstehen.
Sánchez: Die sozialdemokratische PAD nimmt das Thema Legalisierung als Slogan für die nächsten Wahlen. Ich glaube nicht an diese Partei, aber immerhin ist es eine Initiative.

Was sind ihre aktuellen Projekte?
Cordero: Ich arbeite gerade an einem Dokumentarfilm über Taubstumme, die sich in der mexikanischen Gebärdensprache unterhalten.
Sánchez: Ich mache zur Zeit einen Dokumentarfilm über Päderasten in der mexikanischen Kirche. Am 12. Dezember, dem Tag der Jungfrau der Guadalupe, habe ich damit begonnen. Ungefähr in zwei Jahren werden wir ihn fertig haben.

// Interview: Dinah Stratenwerth, Harry Thomaß

Würdige Wut und Widerstand

Der Schluss brachte die aktuelle Situation auf den Punkt: Comandante David hatte soeben im Namen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) das Festival offiziell für beendet erklärt, da bat eine junge Frau nochmal kurz um Aufmerksamkeit. In einem der zapatistischen Dörfer sei es gerade zu einem Zusammenstoß zwischen Zapatistas und Mitgliedern der indigenen Bauernorganisation ORCAO gekommen, bei dem es mehrere Verletzte gegeben habe. So zeigte sich einmal mehr, dass die EZLN zum einen immer noch in der Lage ist, mehrere tausend Menschen auf einem weiteren ihrer internationalen Treffen zusammenzubringen, während andererseits ihre Basis in den selbstverwalteten Gemeinden Anfeindungen und Angriffe nicht-zapatistischer Gruppen erdulden muss.
Das Erste Weltweite Festival der Würdigen Wut, das in der Tradition der Intergalaktischen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus von 1996 gesehen werden kann, begann am 26. Dezember in Mexiko-Stadt. Neben der mexikanischen Hauptstadt waren das caracol von Oventic, eines der fünf regionalen Verwaltungszentren der zapatistischen Autonomie, sowie San Cristóbal de Las Casas in Chiapas die Stationen des Festivals, wo es am 5. Januar dieses Jahres endete.
Das Programm war vielfältig: An den Podiumsdiskussionen beteiligten sich VertreterInnen von Basisorganisationen wie Via Campesina oder des Nationale Indigenen Kongresses (CNI) Mexikos, linke Intellektuelle wie John Holloway oder Michael Hardt, politische AktivistInnen wie die ehemalige Kommandantin der nicaraguanischen SandinistInnen, Mónica Baltodano, oder ehemalige Gefangene, die während der Zusammenstöße im zentralmexikanischen Atenco 2006 festgenommen worden waren. Thematisch drehten sich die Diskussionen um vier Aspekte des Kapitalismus: Ausbeutung, Enteignung, Repression und Abwertung. Diesen wurden Andere Wege gegenübergestellt: die Andere Stadt, Andere Soziale Bewegungen, die Andere Geschichte und die Andere Politik. Letztere wurde am ausführlichsten behandelt und nahm die komplette Zeit des Festivals in San Cristóbal ein.
In den Beiträgen spiegelte sich die Vielfältigkeit und Erfahrungen der verschiedenen lokalen Kämpfe wieder. So sprach Gustavo Esteva, Leiter der Universidad de la Tierra in Oaxaca-Stadt, von den Erfahrungen des Aufstands in Oaxaca 2006 und einer möglichen Radikalisierung des Widerstands. Er mahnte die Linke zur Selbstkritik und hob die Bedeutung einer anderen Form der Demokratie in einem antikapitalistischen System hervor: „In den letzten 20 Jahren haben wir Mexikaner die Grenzen der repräsentativen Demokratie kennengelernt“. Auch werde die Notwendigkeit einer neuen Verfassung deutlich. Oscar Olivera von der Koordination zur Verteidigung des Wassers und des Lebens aus Bolivien berichtete vom erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung des Wassers in Cochabamba, zeigte aber auch auf, dass die Regierung von Evo Morales sich mehr und mehr von ihrer Basis entferne. Zudem kamen Solidaritätsgruppen zu Wort, die von eigenen Problemen in ihren Ländern berichteten. Da erzählten VertreterInnen von Ya Basta aus Italien vom Widerstand gegen die Errichtung einer großen Müllhalde am Rande Neapels, gegen die sich die BewohnerInnen zur Wehr setzen oder der Opposition gegen einen US-amerikanischen Militärstützpunkt im norditalienischen Vicenza. Auch griechische AktivistInnen, die in den letzten Wochen mit ihrer Entrüstung über die politischen Verhältnisse in ihrem Land international Schlagzeilen gemacht hatten, waren mit einem Beitrag vertreten.
Im Vergleich zu anderen von den Zapatistas ausgerufenen Treffen ermöglichte das Festival eine neue, horizontalere Form des Austauschs. Im Vorfeld waren die mexikanischen und internationalen Gruppen und Organisationen, die sich der Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald der EZLN angeschlossen hatten, angeschrieben und eingeladen worden, am Festival mit einem Stand oder Redebeitrag teilzunehmen. Von ihnen folgten mehr als 250 aus Mexiko und 25 aus weiteren Ländern dieser Einladung und so gab es auf dem Festivalgelände in Mexiko-Stadt 136 Stände, an denen sich die BesucherInnen und TeilnehmerInnen über verschiedene lokale Kämpfe und Aktivitäten der AusstellerInnen informieren konnten. Dazu boten ein Kinozelt und zwei Bühnen kulturelle Abwechslung. Der Auftritt von Panteón Rococo am 29. Dezember stellte wohl den musikalischen Höhepunkt dieses Programms dar.
Zum Jahreswechsel zog das Festival dann nach Oventic, Verwaltungssitz der zivilen zapatistischen Struktur im Hochland von Chiapas. Dort wurde mit Musik und Theaterstücken der 15. Jahrestag des zapatistischen Aufstands vom 1. Januar 1994 begangen. Comandante David wies in der Hauptansprache des Abends auf die immer noch von Marginalisierung und Repression gekennzeichnete Situation der indigenen zapatistischen Gemeinden hin und rief dazu auf, die Solidarität zwischen den linken, antikapitalistischen Kräften im Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus in Mexiko und weltweit zu stärken.
Die Arbeit der Zapatisten ist momentan alles andere als leicht. Es vergeht kein Monat, in dem nicht einer der fünf Räte der Guten Regierung in einem Kommuniqué über Probleme mit den staatlichen Stellen oder anderen Organisationen berichtet. Die letzte Erklärung des Rates der Guten Regierung von Morelia ist dementsprechend auch beispielhaft für die Situation der indigenen Gemeinden: Zu Beginn des Jahres gab es einen Zusammenstoß zwischen Mitgliedern der Regionalen Organisation der Kaffeebauern von Ocosingo (ORCAO) und Zapatistas in einem Dorf nahe einer der Hauptverkehrsstraßen des Bundesstaates. Grund waren Streitigkeiten um die Nutzung von Land, das im Zuge des Aufstands von den Zapatistas besetzt worden war. Und auch der Öko-Tourismus, ein Hauptprojekt der aktuellen chiapanekischen Regierung, betrifft das Land, auf dem Zapatistas leben. Im gleichen Kommuniqué erklärt der Rat von Morelia, Anhänger der Revolutionären Institutionellen PRI aus Agua Clara hätten „unsere Compañeros mit Flaschen und Steinen angegriffen“.
Und dennoch: Die Aufständischen gehen weiter ihren Weg der Selbstverwaltung und machen dabei Fortschritte. Oberstleutnant Moises, Teil der militärischen Struktur der EZLN und zuständig für den internationalen Bereich der Anderen Kampagne, berichtete auf dem Festival der Würdigen Wut von den Entwicklungen in den autonomen Regionen. „Die Compañeros des caracols von La Realidad haben die Banpaz, die Zapatistische Volksbank, geschaffen“. Diese sei als Ergebnis einer Konsultation der zapatistischen Gemeinden ihrer Region entstanden und solle für kollektive Projekte genutzt werden. Ein weiteres Beispiel: Die Zapatistas des caracols von La Garrucha haben AgraringenieurInnen ausgebildet. „Früher wussten sie nicht, was das ist, aber jetzt wissen sie es, weil sie die Arbeit selbst praktizieren“. Der Kommandantin Hortensia blieb es vorbehalten, über die Beteiligung der Frauen innerhalb der zapatistischen Strukturen zu sprechen. Sie wies darauf hin, dass in den vergangenen 15 Jahren in diesem Bereich viel erreicht worden sei. Der Tatsache, dass die Frauen auf der militärischen und auf der zivilen Ebene Ämter innehätten, sei der Kampf um Gleichberechtigung innerhalb der Bewegung vorausgegangen. In einigen Regionen fehle es noch an Verständnis für die Wichtigkeit der Beteiligung der Frauen, so dass noch Arbeit vor ihnen liege. „Aber in den 25 Jahren des Bestehens der EZLN und den 15 Jahren des bewaffneten Aufstands haben wir wichtige Fortschritte erreicht“.
In San Cristóbal war Subcomandante Marcos, militärischer Chef und Sprecher der Zapatistas, nach einem Jahr medialer Abwesenheit wieder präsent. In seinen Wortbeiträgen kritisierte er erneut die politische Klasse Merxikos, sprach von der Verbindung des Präsidenten Calderón zu einem der Kartelle in dessen „Kampf gegen den Drogenhandel“ und von der „hysterischen“ Bewegung um den ehemaligen Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Andrés Manuel López Obrador. Die Intellektuellen um López Obrador kritisieren die EZLN wegen ihrer Distanzierung von allen Parteien und der Kritik des Subcomandante an López Obrador immer wieder scharf. Marcos, der in einem außerplanmäßigen Beitrag auch die Angriffe der israelischen Armee auf die Zivilbevölkerung in Gaza kritisierte, betonte zum Abschluss die Bedeutung der Vielschichtigkeit innerhalb der Anderen Kampagne in Mexiko und auf internationaler Ebene. „Deswegen wollen wir Euch bitten, dass wir aus unserer Stärke keine Schwäche machen sollten. So viele und so unterschiedlich zu sein, erlaubt uns, die Katastrophe zu überleben, die sich anbahnt, und etwas Neues zu schaffen. Wir möchten Euch bitten, dass dieses Neue auch anders sein möge.“
Die EZLN hat mit dem Festival der Würdigen Wut der Anderen Kampagne einen neuen Impuls geben können. Sie hat gezeigt, dass sie trotz der Zerstrittenheit der mexikanischen Linken weiterhin ein nationaler und internationaler Referenzpunkt ist. Sowohl auf dem Festival als auch aufgrund der aktuellen Situation in den indigenen zapatistischen Gemeinden ist deutlich geworden, dass der Weg der Autonomie mit meist äußeren Schwierigkeiten belastet ist, aber auch bedeutende Fortschritte gemacht hat.

KASTEN:

Entwicklung der EZLN
Die EZLN hat in anderthalb Jahrzehnten einen langen und schwierigen Weg zurückgelegt. Nach zwölf Tagen Krieg zu Beginn des Jahres 1994 folgten zwei Jahre verschiedener Bemühungen, einen Dialog mit der mexikanischen Regierung zu etablieren. Mit der Unterzeichnung der Abkommen von San Andrés über indigene Rechte und Kultur am 16. Februar 1996 brachten sie einen vermeintlich ersten Erfolg. Doch wurden diese von der Regierung nicht in Gesetze umgewandelt, die den indigenen Völkern Mexikos auch rechtlich eine Anerkennung ihrer Kultur, sozialen und politischen Organisationsformen zugesichert hätten. Der endgültige Bruch mit dem mexikanischen politischen System kam 2002, als eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof Mexikos scheiterte, die sich gegen eine verwässerte Verfassungsreform über indigene Rechte gerichtet hatte, welche mit den Abkommen von San Andrés fast nichts mehr gemein hatte.
Bereits ab 1996 hatten die Zapatistas indes mit dem Aufbau selbstverwalteter Strukturen begonnen, der die Situation der Dörfer langsam, aber stetig verbesserte, vor allem im Bereich der Bildung und Gesundheit. Nicht zu unterschätzen ist, dass all dies vor dem Hintergrund eines von der Regierung geführten Krieges niederer Intensität geschah und geschieht, dessen zentrales Element der Aufbau und die Unterstützung paramilitärischer Gruppen ist, die durch Feindseligkeiten und Angriffe die zivile Basis der EZLN zermürben sollen. Die Gründung der Räte der Guten Regierung, einer regionalen Instanz der Koordination und indigenen Rechtssprechung im August 2003 stellt den bisherigen Höhepunkt der zapatistischen Autonomie dar – auch wenn diese fünf Jahre nach ihrer Einführung immer noch mit verschiedenen Problemen zu kämpfen haben. Doch diese sind nicht unlösbar. Die Anwendung des Prinzips „Gehorchend regieren“, das die Rotation der Ämter und eine Absetzung bei Missbrauch derselben einschließt, hat allerdings diese Organe zu einer Schule der Selbstverwaltung der RebellInnen gemacht und sie davor bewahrt, dem Übel der übrigen mexikanischen Politik, der Korruption, zum Opfer zu fallen.
// Thomas Zapf

„Ich werde nie mehr einen Aufstand mit Sturmmütze machen!“

Nachdem die Fotositzung abgeschlossen war, stieg Marcos ab und fragte mich, wo ich das Interview machen wolle. Ich wollte einen privaten Rahmen. „Dann also los, vielleicht werde ich danach keine Interviews mehr geben“, sagte er zu meiner Verwirrung. Sollte das heißen, dass dies das letzte Interview seines Lebens sein würde? Er sagte etwas zu seinem Begleitschutz und ging auf den Holzschuppen zu, in dem Ricardo, Roberto, fünf Ausländer, die an einer Beobachterbrigade des CAPISE teilnahmen, und ich untergebracht waren. […] Ich schaltete die Glühbirne an, denn der Bau hatte keine Fenster und es war dunkel. Wir setzten uns auf eine der Holzbänke am Tisch, die wir nachts als Bett benutzten. Die beiden Eskorten hielten sich während der vier Stunden, die das Interview dauerte, vor dem Schuppen auf. […] Marcos legte seine großkalibrige Waffe ab und schob sie beiseite. Er postierte seine beiden unabkömmlichen Pfeifen auf den Holztisch. Ich holte meinen Notizblock hervor und schaltete mein Aufnahmegerät an. […].

[Laura Castellanos befragt den Sup über die neue Strategie der ZapatistInnen, weniger zu reden und mehr zuzuhören, und erinnert an den Medienrummel, der insbesondere beim Marsch nach Mexiko-Stadt im Jahre 2001 um die ZapatistInnen gemacht wurde]

„Weniger zu reden und mehr zuzuhören, heißt das auch eine geringere Aufmerksamkeit für Subcomandante Marcos? Warst du denn nicht auch irgendwann von der Aufmerksamkeit der Medien geblendet?“
„Wir sind nicht der Ansicht“, antwortete er ruhig.
„Einige meinen, dass du dich manchmal wie eine Diva aufgeführt hast“, fragte ich nach.
„Nein, wie eine Diva nicht, wie ein Rockstar“, erwiderte er ironisch.
[…]
„Ist dir das Ganze wirklich nie zu Kopf gestiegen?“, insistierte ich.
„Soweit ich weiß, nicht. Nie wurde jemandem willkürlich der Wunsch zu einem Gespräch verweigert.“
„Aber ich meine damit nicht nur die Medien, sondern dass man auf einmal den Eindruck gewann, dass du konfus geworden bist.“
„Ja, ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser Eindruck bei den Außenstehenden erweckt wurde, bei uns nicht, denn die Außenstehenden werden von den Sturmmützen angezogen.“
„Ungeachtet der Sturmmütze bist du ein Mann, ein Mensch, auf den die ganze Aufmerksamkeit gerichtet war; du warst ständig im Rampenlicht und hattest … eine Menge Fans.“
„Fans! Das ist doch lächerlich, was du dir da zusammenreimst“, erwiderte er scharf, während er sich auf dem Stuhl zurechtsetzte. Ich hatte den Eindruck, dass er allmählich ungehalten wurde.
„Beim Marsch der Farbe der Erde 2001 zählte niemand nach, wie viele Menschen auf dem Zócalo waren, das war damals nicht gefragt, aber der Platz war gerammelt voll. Vier Jahre später gab es eine Versammlung in Ciudad Sahagún, in Hidalgo, zu der vier Menschen gekommen waren: der Verkäufer einer linken Zeitung, ein Junge, der Marcos kennen lernen wollte, eine Frau, die zufällig vorbei gekommen war und der Veranstalter. Ich schoss mir weder eine Kugel durch den Kopf und ging auch nicht zum Psychiater“, warf er lachend ein und löste damit die Spannung, die einen Moment zuvor geherrscht hatte. „Wenn wir jemals überschätzt haben, was über die Medien erreicht werden kann, dann 1994, als die Bewegung tatsächlich weltweit in allen Medien war; in diesem Jahr gaben wir praktisch ein Interview nach dem anderen.“
„Und es hat dir geschmeichelt, dass sie dir Sexappeal zugeschrieben haben?“
„Nein! Ich bitte dich, wem gefällt es denn, sexuell belästigt zu werden! Wie kann eine Frau so etwas sagen!“, antwortete er verärgert und ich musste unwillkürlich lachen.
Marcos war aufgebracht. Er machte eine Pause, um seine Pfeife anzuzünden. Ich dachte, er würde das Interview wegen meiner Impertinenz abbrechen, aber er antwortete in einem nachdenklichen Tonfall:
„Nein, einfach deshalb, weil es nie so klar wie in diesen Momenten ist, dass die Anziehungskraft von einem Symbol und nicht von einem selbst ausgeht … Anziehend wirkt das Mysterium, die Maske, genau darauf zielten die Medien ja auch immer ab. Ich habe nicht einmal den Vorteil eines Brad Pitt, Al Pacino oder Robert Redford, die als Personen anziehend wirken. Das hier ist eine Maske und was du dahinter vermutest. Dass ich im Rampenlicht stand, hatte deshalb auch nicht die geringste Wirkung auf mich“, er rückte die Sturmmütze so zurecht, dass etwas von seinem Gesicht zum Vorschein kam: ein kleines Stück Bart.
„Und wie fühlt man sich so hinter einer Sturmmütze?“
„Es ist sehr heiß, wenn es heiß ist, und wenn es kalt ist, dann klebt sie an der Haut und wird hart, denn sie ist aus dünnem Material. Es ist das Schlimmste, was dir passieren kann. Ganz im Ernst, ich werde nie mehr einen Aufstand mit einer Sturmmütze machen!“
„Und wenn du Hunger hast? Mit der Mütze über dem Kopf kannst du doch nicht essen.“
„Ich muss allein essen. Wir hatten das Ganze auch gar nicht so geplant, es war eine Folge des Aufstands. Die Sturmmütze war so etwas wie ein Notbehelf für den Tag des Aufstands, danach wollten wir sehen, wie es weiterging. Außerdem wären wir nie auf den Gedanken gekommen, dass die Sturmmütze so ein starkes Interesse auslösen könnte. Es war mehr ein Problem unserer Compañeros, denn die mussten ja in ihre Gemeinschaften zurückkehren und liefen Gefahr, von irgendeinem PRI-Mitglied wiedererkannt zu werden, das sie im Fernsehen gesehen hatte. Uns selbst war es ziemlich egal, da wir davon ausgingen, dass die sowieso bald wissen, wer wir sind. Wir mussten sie allerdings anziehen, um mit gutem Beispiel voranzugehen.“
„Macht die Sturmmütze denn heute noch einen Sinn?“
„Ja, denn sie ist zu einem Symbol geworden. Ursprünglich war das rote Halstuch unser Symbol. Es sollte unser Erkennungszeichen werden. Heute ist die Sturmmütze unser Erkennungsmerkmal. Und dann gab es ja auch noch dieses ganze Hin und Her, dass wir sie ausziehen und unser wahres Gesicht zeigen sollten. Worauf wir sagten: ‚Gut, wir werden sie abnehmen, wenn auch ihr Politiker euer wahres Gesicht zeigt.’ Auf diese Weise wurde sie zu einem Symbol und deshalb haben wir sie immer noch auf. Und ich ziehe sie auch deshalb nicht ab, weil sonst mein Sexappeal flöten gehen würde, wie du dazu sagst“, versetzte er, worauf wir beide lachten.
Auszug aus:
Subcomandante Marcos Kassensturz
Mit freundlicher Genehmigung
des Nautilus Verlags

Weiterhin am Brodeln

Was ist eigentlich in Oaxaca los? 2006 noch hatten monatelange Proteste nationale und internationale Aufmerksamkeit erregen können (siehe LN 390). Sie richteten sich gegen die korrupte und repressive Regierung des Bundesstaates. Getragen wurden die Proteste von der Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO, die ein Zusammenschluss von mehr als 350 Gewerkschafts-, Indígena- und Studierendenorganisationen und anderen sozialen Bewegungen ist. Während es (inter)national inzwischen ruhiger um die APPO geworden ist, ist sie in Oaxaca selbst auch heute noch in aller Munde. Auf einer Großdemonstration im November des letzten Jahres sprach der neu gewählte Generalsekretär der APPO vom „Volk der Barrikaden“, das trotz der Repression seine Würde behalten habe. Chefs von Nichtregierungsorganisationen frotzelten beim Feierabendbier darüber, ob die APPO noch lebe oder nur noch ein Zombie sei. Regierungsangestellte rätselten über die nächste Mobilisierung der LehrerInnen der Gewerkschaftssektion 22, damals einer der Motoren der Bewegung, und schimpften sie einen korrupten Haufen. GeschäftsinhaberInnen und TaxifahrerInnen fluchten über die ökonomische Krise, an der natürlich die APPO Schuld hatte.
Die monatelange Mobilisierung von 2006 mit ihrer Aktionsvielfalt, mit Dialog und Barrikaden, mit den Besetzungen und der Beschlagnahmung von Staatseigentum, mit den gewonnenen Auseinandersetzungen mit der Polizei, mit den Bewegungsradios, dem Volksfernsehen und den Fiestas hat die Gesellschaft Oaxacas geprägt und polarisiert. Sie hat aber auch unglaublich viel Kraft gekostet und wurde teuer bezahlt. Dies zeigte sich vor allem nach der verlorenen Straßenschlacht vom 25. November 2006, als 143 Leute verhaftet, gefoltert und in ein Sicherheitsgefängnis im Norden des Landes deportiert wurden (siehe Kasten). Die sichtbaren Köpfe der APPO gingen ins Exil oder landeten im Gefängnis.
Während die APPO momentan mehr in den Köpfen und Herzen der Leute existiert denn als reale Aktionseinheit („Jedem seine APPO“, nannte dies der engagierte Soziologe Víctor Raúl Martínez), hat es die Sektion 22 der LehrerInnengewerkschaft geschafft, der korrupten Gewerkschaftszentrale die Erfüllung ihrer zentralen Forderung abzuringen: die Wahl einer neuen Gewerkschaftsführung. Dies wurde nötig, weil der Gewerkschaftssekretär Rueda Pacheco, der Ende Oktober 2006 einen gezinkten Streikabbruch erzwang, seit Anfang 2007 verschwunden ist. Im September 2008 wählten die Delegierten der 70.000 LehrerInnen Oaxacas erstmals ein von den etablierten Politgruppen unabhängiges Basismitglied zum Generalsekretär. Mit dem Landschullehrer Azael Santiago Chepi besetzt zudem erstmals ein Indigener dieses Amt .
Nach der Neubestückung aller Posten innerhalb der Administration der Gewerkschaft beginnt sich abzuzeichnen, wohin der Zug fährt: Die Sektion 22 brach die Verhandlungen mit der Regierung ab und stellte dem verhassten Gouverneur Ulises Ruiz ein Ultimatum bis Weihnachten 2008, um ihre Forderungen zu erfüllen: Freilassung der drei politischen Gefangenen der Bewegung, Löschung aller Haftbefehle und Übergabe der 80 Schulen (von insgesamt 14.000), welche sich in der Hand der Sektion 59 befinden. Letztere ist eine Art Streikbrechergewerkschaft und sollte die Sektion 22 schwächen. Sie wurde von der korrupten Führung der nationalen Lehrergewerkschaft 2006 aus LehrerInnen rekrutiert, die der in Oaxaca regierenden Revolutionären Institutionellen Partei PRI angehören. Sollte Ulises Ruiz den Forderungen der Sektion 22 nicht nachkommen, würden die LehrerInnen in einen unbefristeten Streik treten. Zwar hat der Gouverneur das Ultimatum verstreichen lassen, doch wurde Mitte Januar nach erfolgreichen Mobilisierungen zumindest erreicht, dass das Innenministerium der Bundesregierung schriftlich zusicherte, sich um die Umsetzung der Forderungen zu kümmern. Passiert ist bisher aber noch nichts. Bislang verzichten die LehrerInnen noch auf einen Streik. Statt dessen nutzen sie Protestaktionen, wie am 22. Januar, als sie die Einweihung einer Windkraftanlage durch Präsident Calderón stundenlang blockierten. Dabei setzt die Sektion 22 weiter auf die APPO und versteht sich als deren organisatorisches Rückgrat. Tatsächlich ist die Gewerkschaft bei aller Kritik die einzige politische Kraft mit der Legitimität, alle APPO-Sektionen zu mobilisieren. So ist es denn auch sie, die zum zweiten bundesstaatlichen Kongress der APPO aufruft, der vom 20. bis 22. Februar dieses Jahres stattfinden wird.
Auf diesen Kongress darf man gespannt sein. Denn dass die APPO lange Zeit kaum die Fähigkeit besaß, mit einer Stimme zu sprechen, ist nicht nur der Repression zu verdanken. Nach dem Scheitern der vereinenden Hauptforderung „Weg mit dem Mörder Ulises Ruiz!“ und dem darin aufblitzenden anti-systemischen Ansatz konzentrierten sich die traditionell zerstrittenen politischen Organisationen Oaxacas wieder auf ihre internen IntimfeindInnen und darauf, wie aus der Situation Profit zu schlagen ist. So ging inzwischen die Koordination der Frauen Oaxacas COMO, die im August 2006 den Fernsehsender Canal 9 besetzt hatte und auf Sendung gegangen war (die männlichen Anführer der APPO beklagten sich daraufhin, dass ihnen die Kontrolle über die Frauen entglitten sei!), in den Streitigkeiten zwischen den politischen Gruppierungen um die Hegemonie innerhalb der Organisation unter.
Die Männer ihrerseits stritten sich um den Führungsanspruch innerhalb der APPO, was sich insbesondere an der Frage der Beteiligung an der formalen Demokratie von Mexiko zeigt – und damit auch der Wahrnehmung ökonomischer Vorteile. Während sich Zenen Bravo von der stalinistischen Revolutionären Volksfront FPR gar ins Lokalparlament wählen liess, führen andere Alpha-Tiere der APPO wie der erst 2008 aus dem Knast entlassene Flavio Sosa einen Eiertanz zwischen Parteilogik und APPO auf. Fazit: Nach dem politischen Erdbeben von 2006 haben die meisten Organisationen die kostspielige Fundamentalopposition wieder aufgegeben und verhandeln mit den MachthaberInnen über ihre Quotenbeteiligung an ökonomischer und politischer Macht, über Ressourcen und Taxilizenzen. Zurück zur „alten Art, Politik zu machen“, in zapatistischen Worten.
Die umstrittenste Kraft innerhalb der APPO ist VOCAL, die Stimmen Oaxacas für den Aufbau von Autonomie und Freiheit. Dieses Kollektiv von Jugendlichen, das sich trotz eines unumstrittenen internen Anführers glühend antiautoritär gebärdet, schüttet oft das Kind mit dem Bade aus. So griffen sie auf den Demonstrationen der APPO nicht nur Institutionen von Staat und Kapital an. Sie provozierten auch interne Schlägereien mit anderen APPO-Organisationen. Insbesondere die FPR ist das Ziel dieser Angriffe. Selbst deren Genosse Germán Mendoza Nube, der im Rollstuhl sitzt, seit ihn das Militär wegen Guerillaaktivitäten niedergeschossen hat, wurde verprügelt. Ein buchstäblicher politischer Scherbenhaufen. Die Regierung von Oaxaca freut‘s.
Trotz dieser negativen Entwicklungen hält die Mobilisierungskraft der APPO an. Wöchentlich gibt es Demonstrationen zu diversen Anliegen. Die Großdemonstration vom 25. November 2008 in Gedenken an die Repression von 2006 vermochte über 100.000 Leute zu mobilisieren. Auffällig war die hohe Anzahl von Menschen, die offensichtlich keiner politischen Gruppe oder Gewerkschaft angehörten. 2006 bildeten gerade sie die Basis der Bewegung, indem sie von August bis November Nacht für Nacht auf den Barrikaden waren und die weitläufige Stadt kontrollierten. Mit anderen Worten: „El pueblo“ ist nach wie vor da, protestiert und würde für eine radikale Änderung der Verhältnisse wohl auch wieder Kopf und Kragen riskieren. Was fehlt, ist eine Plattform, um dieses Potenzial in politische Aktionen umzusetzen.
Der Höhepunkt der Gedenkdemonstration war die Rückkehr der Doctora Bertha, die 2006 den Sanitätsdienst für die Barrikaden aufbaute. Sie wurde als „Stimme des Widerstands“ im besetzten Radio Universidad bekannt und hatte zur militanten Verteidigung der besetzten Universität gegen die anrückende Bundespolizei aufgerufen. Aufgrund der massiven Drohungen musste sie das Land Hals über Kopf verlassen. Nun, zwei Jahre später, erklärt sie in einer ergreifenden Rede die Umstände ihrer Flucht: „Am 25. November 2006 drang die Angst unter den Türen hindurch in die Häuser, gelangte in unsere Kleidung, gelangte in die Luft, die wir atmeten, das Wasser, das wir tranken, in allem war die Angst“. Die mutige Doctora Bertha steht für viele, die sich aufgrund der Repression oder der internen Streitigkeiten zurückgezogen haben, aber langsam wieder auftauchen. So verließen viele Frauen die COMO und gründeten das Kollektiv Mujer Nueva, das Basisaktivitäten in den Außenbezirken organisiert. Diese Initiativen sind für die Medien zwar uninteressant, markieren aber Zeichen der Kontinuität. Ein weiteres Beispiel für die Nachwirkungen der APPO sind die autonomen Gemeinderadios, die gerade in den indigenen Regionen im letzten Jahr wie Pilze aus dem Boden schossen.
Während die APPO also zumindest partiell auf Erfolge verweisen kann, ist sie bezüglich ihres personifizierten Hauptgegners, des PRI-Gouverneus Ulises Ruiz, erfolglos geblieben. Allen Rücktrittsforderungen zum Trotz ist er weiterhin im Amt, und seine Partei gilt als Favorit für die bundesstaatlichen Parlamentswahlen in diesem Jahr. Die tiefe Verankerung der PRI, die in Oaxaca seit den 1920er Jahren an der Macht ist, in den Strukturen des Bundesstaates lässt sich offenbar nicht in wenigen Jahren aufbrechen. So wird wohl auch der nächste Gouverneur Oaxacas – gewählt wird dieser im Jahr 2010 – aus den Reihen der PRI kommen und Ruiz in repressiver Energie kaum nachstehen. Momentaner Favorit für diesen Posten ist der Hardliner Jorge Franco alias „El Chuky“. Franco ist ein früherer Schlägertruppführer an der Universität. Als Innenminister Oaxacas 2006 war er für die Organisation der Repression verantwortlich, und er treibt Geld bei den Unter- nehmerInnen der Stadt ein, um die paramilitärische „Brigada Blanca“ zu bezahlen, welche die Barrikaden der APPO angriff. Mit Ruiz, El Chuky und ihrer Art, Politik zu machen, wächst auch der Einfluss der Strukturen der organisierten Kriminalität innerhalb des Staatsapparats – sofern sie nicht schon immer Teil der Politik waren.
„En Oaxaca no pasa nada“, also alles ist ruhig, das betont immer wieder Gouverneur Ulises Ruiz, der damit den Protest unsichtbar machen möchte. Die Meldungen aus dem ganzen Bundesstaat sprechen eine andere Sprache: 60 Municipios, das sind 12 Prozent der Bezirke, leiden unter so starken internen Konflikten, dass eine Konfliktpartei formell die Absetzung des jeweiligen Gemeindepräsidenten beantragt hat. Die Antwort der Regierung Ruiz ist immer dieselbe: „No“. So schwelen politische Auseinandersetzungen und Landkonflikte weiter ohne Lösung vor sich hin. Waffen sind gerade in indigenen Regionen oft in grosser Zahl vorhanden, und es kommt immer wieder zu politischen Morden. Oaxaca bleibt angesichts des ungelösten politischen Konfliktes ein Pulverfass. Ob die APPO der sozialen Unrast wieder einen organisatorischen Ausdruck verleihen kann, wird sich bei ihrem Kongress im Februar zeigen müssen..

KASTEN:

Suche nach Gerechtigkeit
Ein wichtiger Strang der sozialen Bewegung in Oaxaca ist der Kampf gegen die Straflosigkeit. So haben 29 ehemalige politische Gefangene eine Sammelklage gegen die politischen Verantwortlichen der Repression und Folter vom 25. November eingereicht. Ein mutiger Schritt gegen die aktuellen Machthaber, der vom „Komitee 25. November“ juristisch und mit einer Kampagne begleitet wird, die Unterstützung aus 17 Ländern fand.
Seit dem 17. Oktober 2008 sitzt zudem Juan Manuel Martínez Moreno in Haft. Der APPO-Aktivist soll bei den Auseinandersetzungen am 26. Oktober 2006 den US-amerikanischen indymedia-Aktivisten Brad Will umgebracht haben. Es ist eine absurde, an den Haaren herbei gezogene Anklage. Sie stellt die mit Videos und Bildern von den Tätern gut dokumentierten wahren Geschehnisse (schießende PRI-Funktionäre) auf den Kopf. Dahinter steckt letztlich, dass die US-Regierung von Mexiko die „Lösung” des Falls Brad Will forderte, und dies innerhalb von 120 Tagen. Andernfalls würden Hunderte von Millionen Dollar für die Bekämpfung der mexikanischen Drogenmafia im Rahmen der „Initiative Mérida” (siehe LN 402) nicht ausbezahlt. Drei Tage nach dem Besuch der damaligen Außenministerin Condoleeza Rice in Mexiko und 48 Stunden vor Ablauf des US-Ultimatums verhaftete die Polizei Juan Manuel und schrieb neun weitere Aktivisten zur Verhaftung aus, die zur „Verdunkelung” des Verbrechens beigetragen hätten. All dies, nachdem zwei Jahre lang in Sachen Aufarbeitung des Verbrechens (und der weiteren über 20 Morde) nichts geschah. Im Dezember wurden dann die ersten 197 Millionen US-Dollar aus Washington bewilligt. Es scheint, dass diese absurde Anklage in den Augen der US-Behörden einer „rigorosen, glaubhaften und transparenten Untersuchung“ entspricht, wie dies der Anex H.R. 2642 der “Initiative Merida” fordert. Das „Komitee 25.November“ verteidigt Juan Manuel und ruft zu internationaler Unterstützung auf.
// Direkte Solidarität mit Chiapas

Krieg gegen Drogen mit neuer dimension

Endlich Zeit für große patriotische Gesten statt politischer Erklärungen. Unabhängigkeitstag in Mexiko – Präsident Calderón feierte sich am 15. September selbst. Doch seine politische Verschnaufpause währte nur kurze Zeit. Noch während des Galadiners anlässlich des höchsten Feiertags erreichte ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag während der öffentlichen Feierlichkeiten in Morelia, der Provinzhauptstadt des Bundesstaats Michoacán.
Bei dem mit zwei Handgranaten verübten Attentat in Morelia starben sieben Menschen, 140 Personen wurden verletzt. „Ohne Zweifel ein terroristischer Anschlag. Wir glauben, dass es sich um eine Aktion des Organisierten Verbrechens handelt“, analysierte Leonel Godoy, Gouverneur von Morelia am nächsten Tag. Während Godoy den laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (PGR) nicht vorgreifen will, werden die Editorials der Tagespresse deutlicher: Der „Krieg gegen die Drogen“ den Präsident Calderón noch Anfang des Jahres für fast gewonnen glaubte, hat in Morelia eine neue Dimension erreicht. Denn auch wenn seit Januar bei Vergeltungsschlägen, Hinrichtungen und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen, Polizei und Militärs über 3.000 Menschen getötet wurden. Die symbolträchtige Ermordung von ZivilistInnen ist eine offene Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols. „Die Intention war nicht, dass an diesem Tag viele Menschen sterben“, so die Meinung des früheren Unterinspektors der mexikanischen Bundespolizei, Jorge Carreras (Name von der Redaktion geändert). „Die Drogenkartelle wollten zeigen, wozu sie fähig sind. Die Granaten detonierten in wohl kalkuliertem Abstand zu Gouverneur Godoy – eine Bloßstellung öffentlicher Verletzbarkeit und eine Vorführung des staatlichen Geheim- und Sicherheitsdienstes.“
Völlig unvorbereitet traf den Staat der Angriff jedoch nicht. Wie die Tageszeitung La Jornada berichtete, sollen in mindestens sieben Bundesstaaten bereits Wochen vor den Unabhängigkeitsfeiern anonyme Drohungen eingegangen sein. Zwei Stadträte in Veracruz und Guerrero verzichteten lieber auf einen öffentlichen Auftritt. In Morelia waren ebenso Drohungen empfangen worden, allerdings habe man eher mit einer Sabotageaktion während der Militärparade gerechnet, versuchte sich Gouverneur Godoy von der Mitte-Links-Partei PRD (Partei der Demokratischen Revolution) zu erklären. Einen Bombenanschlag habe man ausgeschlossen.
Auch der Soziologe Luis Astorga von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) hielt noch vor einem Jahr Bombenanschläge seitens der Drogenkartelle in Mexiko für unvorstellbar. Dazu sei der Handel mit Rauschmitteln in Mexiko zu sehr Staatsangelegenheit. „Der illegale Drogenhandel hat sich seit den 1920er Jahren unter der Vormundschaft der politischen Machthaber konsolidiert“, sagt Astorga. Der Staat behielt jedoch das letzte Wort, ging falls nötig repressiv gegen die Drogenhändler vor. Als starker Arm diente ab 1947 die Behörde für Nationale Sicherheit (DFS), eigentlich bekannt für die brutale Verfolgung mexikanischer Guerillagruppen, aber auch die letzte Instanz für die Kontrolle krimineller Vereinigungen. In dieser symbiotisch-narkotisch-staatlichen Beziehung gewannen die entstehenden Drogenkartelle jedoch zunehmend an Autonomie und das bereits vor Jahrzehnten, wie Astorgas einräumt. Die boomende Nachfrage auf dem US-Drogenmarkt seit den 1960er Jahren, die Auflösung der DFS, Mexikos Aufstieg als Transitland für Kokain, der allmähliche Anstieg der Binnennachfrage nach Gras, Crack, Koks und chemischen Drogen – der Handel mit Rauschmitteln wurde zum Big Business und das einstmals klare Machtverhältnis kam ins Rutschen.
Das Ende des faktischen Einparteienstaats unter Führung der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI) im Jahr 2000, verbunden mit einer Vielzahl demokratischer Hoffnungen, ließ rückblickend nicht nur weniger partizipative Strukturen wachsen als erwartet, sondern verschaffte den narcotraficantes noch mehr Handlungsräume. „Vorher gab es einen gut geölten Mechanismus, bei dem die PRI in allen Bundesstaaten Befehle von ganz oben bis ganz unten erteilen konnte. Doch heute stellen drei Parteienbündnisse die verschiedenen bundesstaatlichen und lokalen Regierungen“, sagt Astorga und folgert: „Sicherheitspolitik als Staatspolitik gibt es heute nicht mehr. Die kriminellen Gruppen brauchen nicht zu fürchten, dass ihnen gegenüber landesweit die politischen Kräfte vereint werden.“
Als Mitte Februar unweit des Polizeipräsidiums ein Plastiksprengsatz detonierte, warnte der Soziologe, der bis dahin eine „Kolumbianisierung“ Mexikos stets ausgeschlossen hatte, erstmals davor, dass die Zivilbevölkerung die Konsequenzen tragen würde, wenn es weiterhin zu keiner überparteilichen Zusammenarbeit kommen werde. Doch was bringe eine „große Koalition gegen die Drogen“ im Senat oder Parlament, wenn die narcos doch längst die parteilichen Basen erobert haben, hält der Journalist Alfredo Méndez entgegen. „Wenn vor zehn Jahren nur drei Kartelle den Drogenstrom in Mexiko kontrollierten, so sind die Beziehungen heute vielfältiger und komplexer. Es wird nicht, wie oft behauptet, um Handelsrouten gekämpft, sondern um die territoriale Kontrolle ganzer Regionen, inklusive der dortigen Märkte und Regierungen“, meint der junge Reporter von La Jornada und setzt noch eins drauf: „Die meisten lokalen Institutionen haben sich verkauft und heute wird eben die Rechnung gestellt. Die Kartelle, die den Wahlkampf finanziert haben, fordern von den PolitikerInnen nun Aktionen gegen andere Kartelle, die um Kunden und Kontakte buhlen.“
Die sichtbaren Zeichen dieser Machtkämpfe sind seit Beginn des Jahres allgegenwärtig, denn die Narcos begleichen ihre Rechnungen inzwischen gern medienwirksam. Nicht nur die Regenbogenpresse springt täglich auf die oft szenischen Botschaften an. Das Dutzend aufgetürmter enthaupteter Leichen im karibischen Yucatán Ende August wurde ebenso zur Endlosschleife wie die zugehörigen Bilder der drei mutmaßlichen Täter, die in Unterwäsche und grün und blau geschlagen von der Föderalen Ermittlungsbehörde (AFI) der Staatsanwaltschaft durch den Flughafen in Cancún gezerrt wurden.
Öffentliche Stellungnahmen veröffentlichen die Drogenhändler immer häufiger auf so genannten narco mantas, was soviel heißt wie „Drogentranspis“. An Brücken oder Verkehrsübergängen beschuldigt sich das halbe Dutzend bekannter Kartelle gegenseitig oder richtet das Wort direkt an den Präsidenten: „Señor Felipe Calderón. Wenn du mit dem Verbrechen aufräumen willst, dann fang‘ mit deinem eigenen Kabinett an!“. Vor allem das Golf-Kartell behauptet immer wieder gern, der mexikanische Staat würde das Unternehmen des „Chapo Guzmán“ decken, der wegen seiner weitreichend Protektion auch gern als der „Verwöhnte“ bezeichnet wird. In Michoacán soll die „Familia“ beste Kontakte zu Gouverneur Godoy unterhalten.
Neben Michoacán und den traditionellen Anbauregionen im Norden Mexikos, wie Sinaloa, Sonora und Chihuahua, operieren knapp 40.000 Militärs und Bundespolizei im „Krieg gegen die Drogen“ inzwischen in immer mehr Bundesstaaten, ersetzen dort auch zeitweilig Ordnungshüter unter Korruptionsverdacht. In Tabasco beschuldigte Gouverneur Granier Melo im August dieses Jahres die lokalen Polizeieinheiten, in elf der 17 Bezirke des Bundesstaates vom organisierten Verbrechen unterwandert zu sein. Der frühere PFP-Agent Carreras findet jedoch, dass das mediale Eindreschen auf die Polizei eher ablenke, als das Problem zu erfassen. „Die strukturellen Probleme gehen weit über die Polizei hinaus. Die lokale Polizei arbeitet für die Interessen bestimmter Gruppen, doch niemand will da wirklich bis zur letzten Konsequenz ermitteln.“
Ähnlich stellt sich die Lage bei den als „Vorzeigepolizei“ gegründeten Einheiten der AFI und PFP dar, wo auf Druck hoher Beamter oft Personal eingestellt wird, das unter Verdacht steht, in früheren Einheiten für die Kartelle gearbeitet zu haben. Jetzt sollen beide rivalisierenden Institutionen zusammengelegt werden. Doch Carreras ist pessimistisch: „Die internen Machtgruppen auf beiden Seiten arbeiten gegeneinander. In der Führungsebene sitzen Leute, die eine politische Karriere anstreben, ganz unten arbeitet das Kanonenfutter, das sie auf die Straße schicken, Leute die mit Glück wissen, in welche Richtung sie ihre Pistole halten. Und dazwischen agiert eine kleine Schicht fähiger Leute, die versuchen etwas zu verändern, aber nach kurzer Zeit resigniert hinschmeißen.“ Er selbst, der im Dienst auf dem Flughafen von Mexiko Stadt einst eine halbe Tonne Kokain beschlagnahmte und zwei korrupte Kollegen überführte, arbeitet heute lieber als Sicherheitschef für eine Kaufhauskette. Das ist ungefährlicher für die Familie und auch ertragreicher.
Mit bis zu dreimal höheren Löhnen werden nun seit kurzem Soldaten gelockt, um ermordete, korrupte oder frustrierte Polizisten in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez zu ersetzen. Über 1.000 ehemalige Spezialeinheiten werden derzeit umgeschult, um neben Häuserkampf auch den Kontakt mit der Zivilbevölkerung zu meistern. Denn die bisherigen Erfahrungen mit den seit Ende März in Ciudad Juárez befristet stationierten 4.000 Militärs und PFP-Agenten sei weniger positiv, erzählt die 50-jährige Arminé Arjona: „Ich habe zahlreiche Beschwerden von Leuten gehört, bei denen Soldaten die Wohnungen gestürmt haben und zwar ohne Durchsuchungsbefehl. Die haben Sachen zerstört, die Leute beleidigt, geschlagen und geklaut.“ Die Gewalt in Ciudad Juárez, einem der wichtigsten Umschlagplätze und Transitrouten des Landes, steigt beständig. Von den militärischen Umschülern verspricht sich Arjona im besten Fall eines: „Vielleicht könnten sie helfen, dass eines der Kartelle wieder die Oberhand gewinnt, so wie früher.“
Ob es auf dem Reißbrett der Regierung ähnlich pragmatisch zugeht, ist ungewiss. „Öffentlich könnte der Präsident ja auch nie zugeben, einen Pakt mit einem Kartell auszuhandeln,“ meint Luis Astorga. Grundsätzlich hält der Experte die Entsendung der Militärs angesichts desorganisierter bis geschmierter Polizisten zwar noch immer für gerechtfertigt – bloß die Exit-Option habe man vergessen. Ähnlich beurteilt der frühere Bundespolizist Carreras die anhaltende Militarisierung des Landes: „Nach zwei Jahren Militärpräsenz hat sich nichts getan, um die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit wieder der Polizei übergeben zu können. Die Verfassungsänderungen und der Sicherheitspakt haben lediglich mehr juristische Mittel geschaffen, ungestraft Menschenrechte verletzen zu können,“ empört sich Carreras.
Dennoch will die Regierung Calderón im kommenden Jahr an ihrer robusten Strategie festhalten. Der ohnehin üppige Militäretat wird um 16 Prozent erhöht werden. Auch bei Marine und Staatsanwaltschaft wird drauf gepackt. Das Ministerium für öffentliche Sicherheit wird gar doppelt so viel Geld zur Verfügung haben wie in diesem Jahr. Gespart wird dagegen bei landwirtschaftlichen Projekten. Und auch die interne Rechnungsprüfung und Antikorruptionseinheit innerhalb der staatlichen Institutionen werden eher Leute entlassen müssen, als in ihrer Arbeit gestärkt zu werden.
Auch die als „Initiative Mérida“ oder „Plan México“ bekannt gewordene finanzielle Unterstützung der US-Regierung für die „Bekämpfung des mexikanischen Drogenhandels“ wird wohl überwiegend in die technische Ausrüstung und Bewaffnung der Polizei fließen, anstatt in investigative Polizeiarbeit oder geheimdienstliche Ermittlungen. Carrera vermutet, dass das „systematische Erlernen von Foltermethoden beim Verhör“ dagegen auf dem Programm stehen könnte. „Bereits in diesem Jahr sind Videos solcher Polizeischulungen in León, im Bundesstaat Guanajuato, bekannt geworden. Ich weiß nicht, inwiefern es das schon früher gab, aber in der mexikanischen Öffentlichkeit ist es kein Tabu mehr, solche Praktiken gut zu heißen.“
Prominentestes Beispiel ist der pensionierte General Miguel Ángel Godinez Bravo, dem die harte Hand nur so zu zucken scheint. Auf einer denkwürdigen Pressekonferenz im Mai dieses Jahres bot der frühere Leiter von Interpol Mexiko die Dienste der „alten Garde von Heer und Marine“ an und hielt es für unumgänglich, dabei auch auf „strukturelle Schemata der Vergangenheit zurückzugreifen“, um „quasi im Straßenkampf die Institutionen unseres Landes vor dem Organisierten Verbrechen zu retten.“ Kein Politiker hat diese unverhohlene Anspielung auf die Praktiken des „Schmutzigen Krieges“ gegen die Guerilla in den 1970er Jahren bisher öffentlich zurückgewiesen.
Glaubt man den Fernsehspots der Regierung und den inflationären Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft, dann sind solche Maßnahmen ja auch nicht nötig. Die vielen kleinen Fische, die den Behörden bei Einzelaktionen und Glückstreffern ins Netz gehen, genügen alle mal, jeden zweiten Tag einen entscheidenden Schlag gegen die Entführungsindustrie oder den Drogenhandel zu verkünden. Der im September veröffentlichte „Nationale Suchtbericht“ kommt dagegen zu dem Schluss, dass die Zahl von Abhängigen nach „illegalen Drogen“ in den vergangenen fünf Jahren um 50 Prozent gestiegen sei. Und auch auf den internationalen Märkten sind die Preise konstant. Noch immer sorgen die zuverlässigen mexikanischen Lieferanten, die inzwischen auch die Routen in Zentralamerika und teils bis nach Kolumbien kontrollieren, dafür, dass eine Tonne Kokain auf dem US-Markt ein Drittel weniger kostet als in Europa. Die Gewinne der mexikanischen Kartelle im nördlichen Nachbarland werden pro Jahr auf bis zu 23 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Allein das gewaschene Geld aus den Drogendeals, das jährlich direkt in die formale mexikanische Wirtschaft investiert wird, beträgt nach vorsichtigen Rechnungen zehn Milliarden US-Dollar. In einem Land, das auch ökonomisch betrachtet bessere Zeiten gesehen hat, ist fraglich, ob man es sich mit diesen treuen Investoren tatsächlich verscherzen will.

Fernsehen als Mittel der Kritik

Am 6. Juli 1988 gewann in Mexiko angeblich der Kandidat der regierenden PRI, Carlos Salinas de Gortari, die Präsidentschaftswahl. Noch am Wahltag wurden Anschuldigungen der Wahlfälschung laut. Obwohl die mexikanische Öffentlichkeit massiv gegen die Wahl protestierte, wurde Salinas ohne weitere Untersuchungen zum Präsidenten erklärt. Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, berichteten nur sehr eingeschränkt über die Anschuldigungen der Wahlfälschung und die Protestbewegung. In diesem politischen Klima gründete eine Gruppe von JournalistInnen und FilmemacherInnen den canalseisdejulio als unabhängige Produktionsgesellschaft.
Seitdem hat sich canalseis in etwa 60 Dokumentarfilmen vieler Themen angenommen, die andere Medien links liegen ließen oder erst später in ihrer Relevanz und Problematik erkannten. So produzierte canalseis eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit NAFTA, mit La guerra de Chiapas eine erste visuelle Analyse des Zapatisten-Aufstands von 1994 und kurz nach der gewalttätigen Niederschlagung der sozialen Bewegungen in Atenco mit Romper el cerco einen der bekanntesten Dokumentarfilme zu dem Thema.
Neben der schnellen Reaktion auf politische Entwicklungen zeichnet sich die Arbeit des canalseis durch die akribische Recherche von historischen Ereignissen aus, die der Zensur zum Opfer fielen, zum Beispiel in Tlatelolco: Las claves de la masacre und Halcones: Terrorismo del estado. Beide Filme präsentieren Analysen von ZeugInnenaussagen und Bildmaterial über die Massaker, die 1968 und 1971 an der mexikanischen Studierendenbewegung verübt wurden.
Durch den Gebrauch von Satire und Farce werden Themen zur Sprache gebracht, deren Behandlung ohne diese Stilmittel nur mit großer Bitterkeit möglich wäre. Zum Beispiel entblößt Democracia para imbéciles („Demokratie für Dummköpfe”) den diskursiven Gebrauch des Wortes „Demokratie” unter der Fox-Regierung, der keine Verbindung zur politischen Praxis aufweist und so zu einer Entwertung des Demokratiebegriffs führt. Der Gebrauch von Satire in diesem und anderen Filmen von canalseis hat die jeweiligen Regierungen oft verärgert, und canalseis ist immer wieder Angriffen und Zensur ausgesetzt gewesen.
Oft wird die Behauptung erhoben, dass canal-seis der PRD nahe stehe und deshalb im täglichen Machtspiel Mexikos klar einzuordnen sei. Tatsächlich versteht sich canalseis in den Worten von Mario Viveros, einem der Angehörigen des Kollektivs, aber als „Aktivist seiner eigenen Unabhängigkeit”. „Innerhalb seiner sehr bescheidenen Möglichkeiten versucht canalseis zu sagen ‚Schau hin, denk nach, versuche zu verstehen, schau was wirklich passiert‘”, sagt Mitbegünder Carlos Mendoza.
Die Position des canalseis hat sich in den letzten 20 Jahren nicht maßgeblich verändert. 2008 wie schon 1988 bemüht sich das Kollektiv um die Unterstützung und Stärkung der Zivilgesellschaft durch zuverlässige Informationen, die ihr die Entwicklung von eigenen Standpunkten ermöglicht.
Der Vorsitzende der Filmschule der UNAM, Armando Casas, bezeichnete canalseisdejulio kürzlich als „praktisch das einzige vertrauenswürdige visuelle Medium, das ein Verständnis der Realität Mexikos der letzten 20 Jahre erlaubt”. Trotz ständiger Unterfinanzierung überlebt die Produtionsgesellschaft durch das Engagement seiner MitarbeiterInnen und die Unterstützung seines Publikums.

Vorwand Drogenhandel

„Dieses Mal hat es nicht geklappt. Aber wir kommen wieder, in zwei Wochen. Und dann kommen wir auf jeden Fall in die Gemeinde rein“. Diese unverhohlene Drohung sprachen SoldatInnen gegenüber den zapatistischen BewohnerInnen der indigenen Gemeinde Hermenegildo Galeana aus. Das geht aus einem Kommuniqué des Rats der Guten Regierung von La Garrucha, einem der fünf regionalen Verwaltungszentren der zapatistischen Autonomie, hervor. Bisher wurden die Drohung noch nicht wahr gemacht.
Am 4. Juni war die Armee zusammen mit einer lokalen Polizeieinheit und einem Trupp der Justizpolizei AFI zunächst in die Gemeinde La Garrucha, später dann in Galeana und San Alejandro, eingedrungen. Als Vorwand gaben sie die Suche nach Marihuana-Feldern an. Es war die heftigste Provokation der Regierung gegenüber den ZapatistInnen in den letzten Jahren.
Und es war nicht der einzige Einsatz von Militärs und Polizei in einer zapatistischen Gemeinde. Bereits am 19. Mai führten SoldatInnen, AFI- und chiapanekische PolizistInnen eine gemeinsame Operation in der Gemeinde San Jerónimo Tulijá, im autonomen Landkreis Ricardo Flores Magón, durch. Zunächst wurde die Suche nach einem Labor für Raubkopien als Motiv angegeben, später ein intrakommunitärer Konflikt zwischen Familien, die der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) angehören. Einige Tage später hieß es dann von Seiten der chiapanekischen Regierung, der Einsatz sei auf der Suche nach Drogen und Waffen eingeleitet worden. Keines dieser drei Motive erklärt jedoch, warum ausschließlich ZapatistInnen Ziel des Einsatzes waren.
Beiden Einsätzen ist ein Muster gemeinsam: Sie wurden von KennerInnen der lokalen Strukturen geleitet. In San Jerónimo Tulijá wurde ein Bewohner des Dorfes, der als Soldat in Cancún stationiert ist, während seines Urlaubs zur entscheidenden Figur. Er zeigte auf die Häuser der UnterstützerInnen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN). Daraufhin drangen die Soldaten in mehrere Häuser ein und bedrohten eine Frau, das Kind auf dem Arm, mit dem Tod. Später zogen sie vor ein Haus, das Teil der zapatistischen Infrastruktur darstellt. Die zapatistischen Frauen des Dorfes verhinderten, dass Armee und Polizei die Sicherheitsstrukturen der zapatistischen ZivilistInnen angreifen konnten. In La Garrucha wurde der Einsatz von der lokalen Polizei geleitet. „Es war Feliciano Román Ruiz, und wir wissen, dass er ein Polizist aus Ocosingo ist“, so der Rat der Guten Regierung von La Garrucha.

SoldatInnen drangen in mehrere Häuser ein und bedrohten eine Frau mit dem Tod

Ende Mai berichteten regierungsnahe Medien über die Zerstörung von Hanffeldern in der angeblich zapatistischen Gemeinde Nuevo Chamizal im Biosphärenreservat Montes Azules. Lokale Nichtregierungsorganisationen stellten bald darauf klar, dass im genannten Dorf keine ZapatistInnen leben. Doch es deutet alles darauf hin, dass es Strategie der föderalen Regierung ist, die ZapatistInnen des Drogenanbaus und -handels zu beschuldigen, um möglicherweise eine Offensive gegen die zapatistischen Gemeinden zu rechtfertigen. Ähnliche „Anschuldigungen“ hatte es zwar schon früher gegeben, allerdings ohne dass das Militär in zapatistische Gemeinden eingedrungen war.
Auch in der Gemeinde Morelia kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Dort war in der Zeit kurz nach dem Aufstand 1994, als die gesamte Gemeinde in der EZLN organisiert war, ein Stück des Gemeinschaftslandes den Aufständischen überlassen worden. Daraufhin entstand dort eines der fünf aguascalientes , ein Treffpunkt für das Zusammenkommen der EZLN mit der Zivilgesellschaft. 2003, wurde er in das caracol, ein zapatistisches Verwaltungszentrum, umgewandelt. Die mittlerweile mehrheitlich zur PRI gewechselten DorfbewohnerInnen forderten nun Ende April das Land zurück, auf dem sich das caracol befindet. Nach einigen konfrontativen Gesprächen mit dem Rat der Guten Regierung begannen die Aggressionen. Die PRI-AnhängerInnen stellten den ZapatistInnen mehrmals den Strom ab. Als diese ihre Elektrizitätsleitungen reparierten, wurden sie gewaltsam angegriffen. In der Folge wurden über 30 Personen auf beiden Seiten verletzt. Mittlerweile wurden die PRI-AnhängerInnen von der chiapanekischen Regierung „entschädigt“.

Im nördlichen Teil von Chiapas wurden Militärkontrollposten eingerichtet

Insgesamt haben die Militärbewegungen und ‑einsätze in den letzten Wochen zugenommen. Im nördlichen Teil von Chiapas wurden mehrere Militärkontrollposten eingerichtet. Die BewohnerInnen der betroffenen Gemeinden haben daraufhin öffentlich ihre Sorge ausgedrückt, dass es zu einer Zunahme von Feindseligkeiten gegen die widerständischen Gemeinden kommen könnte. Vor allem in dieser Region hat in den letzten Jahren der Widerstand gegen die hohen Stromtarife zugenommen. Mehrere Gemeinden zahlen keinen Peso mehr an das halbstaatliche Energieunternehmen CFE. Dieses hatte in einigen Fällen unverhältnismäßig hohe Rechnungen für die BewohnerInnen von Dörfern ausgestellt, in deren Haushalten zwei Glühbirnen der einzige Stromverbrauch waren.
Nicht nur die ZapatistInnen sind von der aktuellen Welle der Einschüchterung betroffen. Am 29. Mai konnten die Frauen der indigenen Gemeinde El Carrizal, auf dem Weg von San Cristóbal in Richtung der Täler des Lakandonischen Urwalds gelegen, ein Eindringen der Armee und der chiapanekischen Polizei verhindern. Auch in diesem Fall handelt es sich um die Kriminalisierung sozialer Organisationen, denn das besagte Dorf ist Mitglied der Bauernorganisation Emiliano Zapata (OCEZ). Diese wiederum ist innerhalb der Landesweiten Front im Kampf für den Sozialismus (FNLS) organisiert. Abermals war der Vorwand die Suche von Marihuana-Feldern in der näheren Umgebung.
„In diesem Jahr haben wir von verschiedenen Gemeinden Beschwerden über Militär- und Polizeieinsätze erhalten, die sich durch die Art der Durchführung dieser Aktionen in die Logik der Aufstandsbekämpfung einreihen,“ heißt es in einer jüngst veröffentlichen Pressemitteilung des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas zur Situation in Chiapas. „Diese Ereignisse dürfen nicht isoliert betrachtet werden und müssen im Rahmen einer Offensive gegen die indigenen Gemeinden im Widerstand gesehen werden,“ so das Menschenrechtszentrum weiter. Das Zentrum für politische Analysen und sozio-ökonomische Forschung (CAPISE) hat in seinem jüngsten Bericht die aktuellen Militärbewegungen im Lakandonischen Urwald aufgeführt und erklärt, dass „die Offensive (des Staates) gegen die zapatistischen Gemeinden auf ihrem Gebiet weiter geht und zunimmt.“ Die Medien schweigen währenddessen darüber. Beide Organisationen stimmen überein, dass die vom Militär angeführte Begründung, den Drogenanbau zu bekämpfen, nur ein Vorwand ist, um den Widerstand der indigenen Gemeinden zu brechen.
Als Reaktion auf die Einsätze des Militärs und der Polizei haben prozapatistische Gruppen der Zivilgesellschaft in Mexiko zu Protesten und gemeinsamen Aktionen aufgerufen. Mehrere lokale Gruppen der Anderen Kampagne, einer mexikoweiten pazifistischen Initiative der EZLN, haben in verschiedenen Städten des Landes zu Demonstrationen gegen die Armeeprovokationen aufgerufen. Mitte Juni haben diverse alternative Radio-Stationen, die in der Anderen Kampagne organisiert sind, einen Tag lang über die jüngsten Ereignisse berichtet.
Auch international blieben die Reaktionen nicht aus. In Australien und Neuseeland haben Solidaritätsgruppen vor den mexikanischen Botschaften demonstriert. Zapatistische Kollektive in Madrid und Barcelona konnten Mitte Juni während des Besuchs des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón in hörbarer Nähe ihrer Empörung über die jüngsten Provokationen Ausdruck verleihen. Verschiedene Solidaritätsgruppen weltweit haben Protestbriefe an die mexikanische Regierung geschrieben und das Ende der Aktionen verlangt.
Mittlerweile sind in den europäischen Kollektiven die Vorbereitungen für eine Solidaritätskarawane angelaufen. Diese wird vom 27. Juli bis zum 12. August, in Koordination mit mexikanischen Gruppen und Organisationen, in die zapatistischen caracoles und Gemeinden reisen, um die aktuelle Situation kennen zu lernen und später in den Herkunftsländern der TeilnehmerInnen darüber berichten zu können. Entstanden war die Initiative bei einem Treffen von 28 europäischen Solidaritätsgruppen Anfang Mai in Athen. Jetzt, wo sich die Lage der zapatistischen Gemeinden zuspitzt, gibt es klare Zeichen, dass sie nicht allein sind.

Weitere Infos // www.frayba.org.mx // www.capise.org.mx // www.chiapas98.de // www.europazapatista.org

Mexikos nationale Ölkuh soll auf die Schlachtbank

Erdöl, das ist in Mexiko mehr als ein fossiler Brennstoff. „Die Verstaatlichung der Ölindustrie im Jahre 1938 durch den Präsidenten Lázaro Cárdenas ist vielleicht das zentrale Moment des heutigen mexikanischen Nationalismus“, erklärt der Historiker Lorenzo Meyer von der staatlichen Elitehochschule Colegio de México den existentialistischen Tonfall der aktuellen Öldebatte. Meyer, der von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution PRD im Mai als Sachverständiger in den Senat eingeladen wurde, sieht neben dem nationalistischen Ballast aber noch ein weiteres Problem, die Zukunft der Ölforderung derzeit analytisch und problemnah zu diskutieren. „Wegen der Unregelmäßigkeiten bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen 2006 zweifelt die Linke unentwegt die Legitimität der rechten Regierung an. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich seitdem jedes Thema zu einer grundlegenden Konfrontation zwischen diesen beiden Positionen. Der politische Widersacher wird links wie rechts als Feind verstanden, den es zu vernichten gilt, nicht als Akteur, mit dem man verhandeln sollte.”
In dieses politisch aufgeladene Klima schlug Ende 2007 nun eben jene Nachricht ein, dass Mexiko in nur acht Jahren das Erdöl auszugehen drohe. Das Land, in dem im vergangen Jahr 36 Prozent der Staatseinnahmen auf die hoch besteuerte Ölrente zurückgingen, wurde von leiser Panik ergriffen. Zweifel wurden laut am wirtschaftlichen Gesundheitszustand der nationalen Ölkuh PEMEX. Die großen Fernsehstationen und Tageszeitungen wie Excélsior und Milenio warteten mit immer neuen Sensationsnachrichten über Korruption, Unfälle, Schulden und aufgeblasene Ölreserven im Hause PEMEX auf – Sensationen, die wie üblich auf einer Ausblendung des Kontexts seitens der Medien und allgemeiner Amnesie seitens des Publikums beruhten. Denn die hohe Gewinnrate des mexikanischen Öls war nie einem technisch-organisatorischen Genius geschuldet, sondern natürlichen Ölvorkommen, die beinahe mit der Spitzhacke zu erreichen waren – und historischen Zufällen. Das größte je in Mexiko gefundene Vorkommen entdeckte 1971 der Fischer Rudecindo Cantarell, als er vor der Küste des Bundesstaates Campeche unverhofft in einen Ölteppich schipperte. Das riesige Ölfeld „Cantarell“ sichert Mexiko bis heute einen Großteil der nationalen Produktion.
Doch da es weder die Natur noch die Garnelenfischer in den letzten Jahren gut mit dem Land meinten, war im vergangenen Jahr die Stunde politischer Rettung gekommen. Im Schlaglicht der Sachzwänge drang zunächst Präsident Felipe Calderón auf die Verabschiedung einer bereits Mitte 2007 verfassten „Energiereform”. Eine erste Phase dieser Regierungsinitiative war ausschließlich der Generalüberholung von PEMEX und entsprechenden Gesetzes- und Verfassungsänderungen gewidmet. Um die Ölförderung „wieder zum Entwicklungsmotor” des Landes zu machen, würde PEMEX künftig von einem Gremium geleitet, welches direkt dem Energieministerium unterstellt wäre und über die Kooperation mit privaten Unternehmen wachen würde. Gern hätte seine Calderóns Partei der Nationalen Aktion PAN über dieses Vorhaben noch vor den Weihnachtsferien in beiden Kammern des Parlaments abgestimmt, doch der Widerstand gegen dieses Verfahren im Schnelldurchlauf wuchs. Die Abstimmungen wurden schließlich auf die Sitzungsperiode Januar-April verschoben.
Während die SenatorInnen und Abgeordneten der Mitte-Links-Partei PRD geteilter Meinung über die Energiereform waren, ergriff ihr ehemaliger Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador (AMLO) die Gelegenheit, sich lautstark der „Verteidigung des nationalen Öls” anzunehmen. AMLO, welcher den Wahlsieg des von ihm als „rechte Strohpuppe“ titulierten Calderón nie anerkannt hat, begann eine Kampagne zu organisieren, die einem erneuten Wahlkampf gleichkam. „Die Energiereform ist ein betrügerisches Projekt, an dessen Ende die Privatisierung des gesamten mexikanischen Öls steht. Die neoliberalen Usurpatoren müssen gestoppt werden” lautete die redundante Botschaft AMLOs, der sich selbst als „legitimen Präsidenten” bezeichnet
Das Parteienbündis Breite Progressive Front FAP, ein Zusammenschluss von PRD, der Arbeiterpartei PT und der sozialdemokratischen Partei Convergencia wurde reaktiviert, um gemeinsam mit den AnhängerInnen AMLOs für Großkundgebungen zu mobilisieren und zivilen Ungehorsam anzustiften. Porfirio Muñoz Ledo, ein Parteichamäleon, das bereits für die Revolutionäre Institutionelle Parte PRI , PRD und PAN getrommelt hat, führt jetzt als „General-Koordinator“ die FAP an, und lässt selten ein Mikro aus: „Man sagt, dass PEMEX zu den fünf Unternehmen gehört, die in den letzten 30 Jahren weltweit am meisten erwirtschaftet haben. Mexiko braucht eine grundlegende Wirtschaftsreform, sicher. Aber nicht PEMEX hat wirtschaftliche Probleme“, schnaubt Muñoz Ledo, diese „hat die Regierung selbst geschaffen, da sie unverantwortlich viel von der Ölrente abzwackt.“ Auf den Versammlungen und Kundgebungen der FAP wird diese zentrale Botschaft dann von ÖlingenieurInnen und ÖkonomInnen ausgeführt und mit scharfer Kritik an der „plündernden Regierung“ verbunden. Liebste Zielscheibe ist nach wie vor der in Madrid geborene mexikanische Innenminister und Unternehmersohn Juan Camilo Mouriños, der als früherer Abgeordneter der privaten Transportfirma Ivancar Aufträge bei PEMEX gesichert haben soll. Seither wird Mouriño von der Regierung vorsorglich „versteckt”, wann immer das Thema Öl aufkommt.
Lange Zeit ignorierte die PAN die Proteste auf der Straße, dementierte eher nachlässig. Da sie mit Unterstützung der früheren Staatspartei PRI in beiden Parlamentskammern eine komfortable Mehrheit hat, schien Aussitzen nicht die schlechteste Lösung – zumindest bis zum 10. April, als ein Teil der PRD-Fraktion die Rednertribüne des Senats besetzte, während AMLOs „Brigaden“ die Zufahrtsstraßen blockierten. Erst als die Regierung einem 71-tägigen Sitzungsmarathon über die Zukunft von PEMEX und einer Überarbeitung der Energiereform zustimmte, räumten die PRD-AnhängerInnen die Bühne und feierten ihren Etappensieg. „Undemokratische Erpresser“, zischte die PAN, ein „Sieg des Volkes“, jubelte AMLO.
„Ich freue mich auf die Senatsdebatte“, sagt der PAN-Senator Rubén Camarillo, „denn es wird Zeit, endlich mit den Halbwahrheiten der Linken aufzuräumen“. Der studierte Petrochemiker Camarillo, der federführend an der Energiereform beteiligt war, weist darauf hin, dass in der 70-jährigen Geschichte des staatlichen Ölmonopols immer schon private Unternehmen an der Ölförderung, -verarbeitung und dem Transport beteiligt gewesen seien und dass die Gesetzesänderungen lediglich „für mehr Haftbarkeit der Privaten sorgen sollen. Die Souveränität des Staates über die Ölressourcen wird bei den geplanten Verfassungsänderungen jedoch nicht angetastet.“ Im Interview erklärt sich Camarillo dann auch bereit, etwaige Unklarheiten gemeinsam mit den ExpertInnen der Linken auszuräumen.
Der 75-jährige pensionierte Ölingenieur Francisco Garicochea Petrirena stimmt Camarillo zumindest in einem Punkt zu. „Ölmultis wie Schlumberger sind längst durch Verträge mit 40-prozentiger Teihabe an der Erschließung neuer Bohrlöcher des Chicontepec-Ölfeldes beteiligt. Ich habe mit einem Report jedoch nachweisen können, dass diese Bohrungen entgegen den öffentlichen Erklärungen von PEMEX schon geraume Zeit mehr Geld kosten, als sie Ölrente abwerfen“, erläutert Garicochea Petrirena seine Nachforschungen. „Und solche Fälle interner Korruption gibt es zuhauf bei PEMEX. Die aktuelle Krise ist hausgemacht.“
Warum zu Beginn der 90er Jahre die PEMEX-Abteilung für Projektentwicklung abgewickelt wurde, versteht Garicochea Petrirena bis heute nicht. „Tausende Fachkräfte wurden versetzt oder entlassen. Von gezielter Demontage zu sprechen, ist die einzige Erklärung, die ich habe, solange die PEMEX-Führung zu diesen Vorfällen schweigt.“
Für das Drängen von PEMEX und der Regierung auf die Erschließung möglicher neuer Ölquellen in den Meerestiefen des Golfs von Mexiko, trotz fehlender Technik und Know-How, hat der gut informierte Pensionär jedoch eine fundierte Erklärung parat. „Nach international anerkannten Schätzungen werden die Ölfelder in der Nordsee in 10 bis 15 Jahren versiegen. Es ist die dort eingesetzte Technik, die neu verwertet werden muss, und es findet ein massives Lobbying für einen Technologietransfer in Länder wie Mexiko statt.“ Und ohne von Rubén Camarillos Skandinavienreise im letzten Jahr zu wissen, fügt Garicochea Petrirena hinzu: „Es wird immer von Halliburton (US-amerikanisches Öl-Dienstleistungsunternehmen, d. Red.) geredet, aber die werden sich eher in andere Bereiche einkaufen. Im Golf von Mexiko erwarte ich Norweger, Briten und Holländer.“
Für diese BohrspezialistInnen ist es mehr als interessant, die riskanten Unterwasserunternehmungen in einem Joint Venture mit dem mexikanischen Staat zu absolvieren. Obwohl unter dem mexikanischen Festland jeweils eine Milliarde Barrel an bestätigten, wahrscheinlichen und vermuteten Ölreserven lagern, kann die derzeitige Förderquote von drei Millionen Barrel am Tag über das Jahr 2015 hinaus jedoch nur durch die kostspielige Erschließung neuer Vorkommen gewährleistet werden. Und nach den Plänen der Regierung soll Mexiko sein Produktions- und Exportvolumen langfristig steigern.
„Ein Großteil des geförderten Rohöls geht bereits heute in den Export, schafft zwar eine hohe Ölrente, bringt der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes jedoch wenig“, kritisiert die Ökonomin Teresa Aguirre von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos UNAM. Der aktuelle Preisboom für das schwarze Gold ist Mexiko paradoxerweise teuer zu stehen gekommen. Zwar verkauft das Land das Barrel Rohöl für 102 US-Dollar, muss dann beim Einkauf von Benzin jedoch satte 140 US-Dollar berappen. In Mexiko ist in den letzten 25 Jahren nicht eine einzige neue Raffinerie gebaut worden.
Der Bau neuer Raffinerien ist zumindest ein gemeinsamer Punkt, den sowohl die Regierung, als auch die Opposition für die Zukunft der mexikanischen Ölproduktion auf dem Programm haben. Die Regierung will dabei über die Ausschüttung von „Bürgeranleihen“ von je 100 Pesos (ca. 6 Euro) neues Investitionskapital schaffen. „Da die Energiereform bisher vorsieht, die neue Unternehmensführung von der Exekutive ernennen zu lassen und diese verantwortlich zu machen, würden die BürgerInnen trotz ihrer finanziellen Unterstützung keinen Einfluss auf die PEMEX-Politik erhalten. Ich nenne so etwas fiktive Teilhabe“, empört sich Aguirre. Doch auf ein Plebiszit über die Zukunft des Petro-Riesen und die Einrichtung eines permanenten Bürgerrats zur Überwachung der Ölproduktion wie es das Bündis FAP-AMLO vorsieht, will sich die Regierung auf keinen Fall einlassen. Ebenso wenig will die PAN die „eisernen Reserven“ von PEMEX, 150 Milliarden Pesos anrühren, um ohne Privatinvestitionen strukturelle Veränderungen zu stemmen – aus Angst davor, die für 2008 prognostizierte Inflationsrate von knapp fünf Prozent weiter anzuheizen, wie das Wirtschaftsministerium verlauten ließ.
Der Historiker Meyer zieht es vor, sich nicht in diese Debatten einzumischen. Er ist eher an einer notwendigen geschichtlichen Dimensionierung interessiert: „Der moderne mexikanische Staat leidet von Geburt an unter einem enormen Steuerdefizit. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlten beständig finanzielle Mittel, die staatlichen Aufgaben wahrzunehmen“. Die historische Schwäche des mexikanischen Staates und den fehlenden Willen der politischen Eliten, eine höhere Besteuerung großer Agrarunternehmen, Landbesitzer und Industrieller durchzusetzen, habe Mexiko nie überwunden.
„Seit Mitte der 1920er Jahre hat man nie eine tief greifende Steuerreform hinbekommen. Man hat es mehrfach versucht und ist mehrfach gescheitert, wegen des Drucks der Gruppen, welche die großen ökonomischen Ressourcen in diesem Land kontrollieren“, sagt Meyer weiter und schließt: „Und so hat sich eben PEMEX im Laufe seiner Geschichte zur größten Einnahmequelle für die laufenden Kosten der verschiedenen Zentralregierungen entwickelt, die PEMEX kein Geld fürs Reinvestieren übrig lassen. Eine längst überfällige Fiskalreform ist der eigentliche Grund für die Krise bei PEMEX, die chronisch leeren Kassen des Finanzamts und die scheinbare Unvermeidlichkeit privater Investitionen.“

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