„Unbequeme werden aus dem Weg geräumt“

Wie erklären Sie die massive Zunahme an Verschwundenen in Mexiko, die nichts mit dem Drogenkrieg zu tun haben?

Reveles: Seit ein paar Jahren verschwinden täglich wahllos Menschen in Mexiko, Bürger wie Arbeiter. Es werden Menschen entführt, um Lösegeld zu erpressen. Aber neuerdings handelt es sich oft um Entführungen, bei denen kein eindeutiges Motiv erkennbar ist. Ich kann aus dem Gedächtnis mindestens zwanzig solcher Fälle aufzählen. Da sind Farbenverkäufer aus Mexiko Stadt im Norden des Landes verschwunden oder neun Telefontechniker des Unternehmens Nextel aus Senaloa. Sie waren auf Montage in Nuevo Laredo und wurden entführt, als sie schliefen.
Laut Regierung entführen kriminelle Banden ihre Feinde. Oder es handle sich um unschuldige Opfer, die auf Drogentransportwegen reisen, auf denen es sehr viel Gewalt gibt. Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Regierung über paramilitärische Gruppen eine soziale Reinigung vornimmt. Die Zahl der Verschwundenen ist seit 2006 enorm angestiegen, als die Regierung die Armee, die Bundespolizei und die Marine gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Aber die Verschwunden sind ja nur ein Teil der Gewaltopfer, da sind ja noch die Toten. Nach offiziellen Angaben sind in Mexiko bis 2010 rund 35.000 Menschen ermordet worden. Die Wochenzeitung Seta aus Tijuana spricht aber von mehr als 50.000 Morden. Es handelt sich um Exekutionen. Mexiko ist heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Und jeder kann in dieses Meer der Gewalt hineingezogen werden.

Sie sind Experte auf dem Gebiet des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens in Mexiko und haben dazu acht Bücher veröffentlicht. Ihr kürzlich erschienenes Buch heißt „Erhebungen, Narcogräben und gefälschte Erfolge“. Was meinen Sie mit dem Begriff gefälschte Erfolge?

Reveles: Der Begriff falsos positivos stammt aus Kolumbien und bezieht sich auf Morde an Unbeteiligten, die „positiven“ Statistiken über die Drogenbekämpfung dienen. Dies können auch Morde sein, die darauf abzielen, „Unbequeme“ aus dem Weg zu räumen oder soziale Bewegungen zu kriminalisieren. Da ja so viele umkommen, kann man es leicht so darstellen, als stünden die Narcos hinter allen Morden.
In Mexiko herrscht in ganzen Landstrichen das organisierte Verbrechen. Im Bundesstaat Tamaulipas werden so viele Menschen ermordet, dass sie nicht mehr wissen wohin mit den Leichen. Im August 2010 wurden 72 Tote – es handelte sich um Leichen zentral- und südamerikanischer Migranten ohne Papiere – in einem Lastwagen nach Mexiko Stadt gebracht. Bei dieser Gelegenheit entdeckten sie weitere 230 Leichen, die unweit der Hauptstadt San Fernando Tamaulipas vergraben waren. Laut der Regierung wurden sie ermordet, weil sie sich dem Drogenkartell der Zetas nicht anschließen wollten. Aber so einfach ist das nicht. Die Narcos verstecken die toten Körper nicht, erklärte mir Emílio Álvarez Icaza, von der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde, einer Organisation von Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen um den Dichter ­Javier Sicilia.

Was geschah mit den Leichen in MexikoStadt?

Reveles: Sie wurden in die Forensik gebracht und es kamen 700 bis 800 Familien, die ihre Familienangehörigen suchen. Das Tragische war aber, dass nur 32 Leichen identifiziert werden konnten. Der Großteil der Toten konnte von keiner Familien identifiziert werden. Und die wenigen, die identifiziert werden konnten, waren keine Kriminellen, sondern Händler, die in die USA emigrieren wollten.

Warum gibt es kaum Daten über die Ermordeten und Verschwundenen?

Durán de Huerta: Die meisten Familienangehörigen zeigen die Verbrechen nicht an. Bei Entführungen besteht die Gefahr, dass die Polizei mit den Entführern oder Mördern unter einer Decke steckt. Dies trägt zu mehr Straflosigkeit bei.

Reveles: Die Regierung gibt auch keine Daten über die Morde heraus. Die verschiedenen Behörden schicken einen hin und her oder sagen, dass die Daten in Bearbeitung sind. Es ist absurd, dass es in einem Land mit soviel Gewalt keine Statistiken gibt. Vor weniger als einem Monat sagte Präsident Felipe Calderón, es sei schlimm, dass so viele Menschen verschwänden. Gleichzeitig meinte er: Aber wir wissen nicht, wie viele es sind. Es gibt zwar Zahlen, aber diese haben keine Vor- und Nachnamen. Es ist notwendig, die Fälle wirklich aufzuklären, mit Daten über Personen, die gestorben oder verschwunden sind. Wir befinden uns in einer humanitären Krise in Mexiko, und erst seit kurzer Zeit wird von Familienangehörigen sozialer Druck ausgeübt, durch Proteste und die Karawane der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde.

Gibt es Beweise für Verbrechen von Seiten des Staates?

Durán de Huerta: Viele Verbrechen sind denunziert und nachgewiesen worden, zum Beispiel Verbrechen von Gouverneuren, die mit Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen zu tun haben. Da gibt es das Beispiel des Gouverneurs Ulisses Ruiz in Oaxaca [dieser setzte 2006 Militär gegen streikende Lehrer ein, es gab Tote und Verschwundene, Anm. d. Red]. Danach haben politische Verhandlungen stattgefunden und Ruiz wurde trotz massiver Menschenrechtsverletzungen nicht bestraft.
Ende November letzten Jahres hat eine Gruppe von Rechtsanwälten und sozialer Aktivisten eine Klage gegen die gesamte mexikanische Staatsklasse, gegen Präsident Calderón und seinen Sicherheitssekretär Garcia Luna beim Internationalen Menschengerichtshof in Den Haag eingereicht. Sie richtet sich auch gegen die Bosse der mexikanischen Drogenkartelle wie Chapo Guzmán. Damit der Gerichtshof etwas macht, denn die Staatsklasse bestraft sie nicht, obwohl offensichtlich ist, dass sie Mörder und Räuber sind.

Wie schätzen Sie die Aussichten der Klage auf Erfolg ein?

Reveles: Falls die Klage akzeptiert wird, wird die mexikanische Regierung erstmal um eine Stellungnahme gebeten. Die Schwierigkeit besteht eben darin, dass es keine Daten gibt. Um Dich an ein internationales Organ zu wenden, brauchst Du genaue Daten. Es gibt aber nur Statistiken und Zeugenaussagen. Diese Zeugenaussagen sind sehr wichtig. Sie reichen aber für eine genaue Untersuchung nicht aus. Es gibt keine Namen, keine DNA-Datenbanken. Außerdem kannst Du einen Fall nur vor den Interamerikanischen Gerichtshof, den internationalen Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag oder die Vereinten Nationen bringen, wenn Du die lokalen Instanzen ausgeschöpft hast. Und diese arbeiten sehr langsam. Es gibt Fälle von Verschwundenen, die seit drei Jahren von Instanz zu Instanz geschoben werden. Dann bleibt der Fall an einem falschen Gutachten einer staatlichen Institution hängen, falsch, in dem Sinne, das der Tathergang oder dessen Gründe nicht richtig dargestellt werden.

Gibt es Polizisten, die bestraft wurden?

Reveles: Ja, einige wenige Polizisten sind im Gefängnis. Zu den 270 Leichen, die in Durango auftauchten, gibt es sogar Erklärungen des Präsidenten, in denen er die lokale Polizei bezichtigt, die Menschen zu den Hinrichtungsplätzen geschickt und mitgeholfen zu haben, sie in den Gruben zu vergraben. Deswegen sind 17 lokale Polizisten ins Gefängnis gekommen. So etwas passiert, wenn die Bundesregierung die lokale Polizei beschuldigt und für die Gewalt verantwortlich macht.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Gewalt im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 ein?

Durán de Huerta: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gewalt zunehmen wird, je näher die Präsidentschaftswahlen kommen. Denn der „schmutzige Krieg“ zwischen den Parteien fördert die Gewalt. Sie werden sich gegenseitig beschuldigen. Einer wird zu dem anderen sagen: Du Gouverneur bist verantwortlich für die Gewalt, Du Bürgermeister, Du von dieser Partei förderst die Gewalt. Alle Parteien sind in das organisierte Verbrechen involviert. Auch in Bundesstaaten, wo die Opposition regiert, wie in Michoacán. Dort hat sich die Mafiaorganisation „Familia Michoacana“ zwar in verschiedene Segmente von Nachkommen aufgespalten, aber sie macht dort, was sie will. Auch dort, wo die PRI regiert oder die PAN. Alle sind involviert. Die Zivilgesellschaft müsste sich in Netzwerken dagegen organisieren.

Wie reagieren die Familien der Opfer?

Durán de Huerta: Die Familien der Opfer organisieren Proteste, wie die Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde von Javier Sicilia. Als der Sohn des Dichters ermordet wurde, prangerte er die Regierung und das ganze korrupte System an. Daraufhin trafen sich einige Angehörige von Opfern mit ihm. Sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Sie fordern von der Regierung Aufklärung über die Toten und Gerechtigkeit. Sie verlangen, dass eine Liste der Toten erstellt wird und nachgeforscht wird, wie sie gestorben sind und von wem sie ermordet wurden. Und die Verschwundenen: Wo sind sie?
Aber die Bewegung von Sicilia geht noch weiter. Sie verlangt, dass die Ursachen des organisierten Verbrechens bekämpft werden, die Armut, das Fehlen von Möglichkeiten, von Schulen, die Arbeitslosigkeit. Aber nicht mit Soldaten, sondern durch die Schaffung von Schulen und Möglichkeiten. Denn man kann die Korruption nicht mit Maschinengewehren bekämpfen.

Infokasten:

José Reveles ist seit den 1970er Jahren investigativer Journalist zum Thema Verschwundene und Ermordete in Mexiko. Seine Untersuchungen trugen dazu bei, das Geflecht von Korruption und Komplizenschaft zwischen der Regierung und dem organisierten Verbrechen bekannt zu machen.

Marta Durán de Huerta ist Journalistin, Soziologin, Dozentin und Menschenrechtlerin. Sie forscht und publiziert seit Jahren über indigene Kulturen Mexikos wie auch über die zapatistische Bewegung.

„Gouverneure gehen, Organisationen bleiben“

Wie blicken Sie mit der Distanz von fünf Jahren auf die Ereignisse von 2006 zurück? Was bleibt an Erfahrungen und Lehren aus den Barrikaden, der APPO und dem Versuch einer tief greifenden Transformation der sozialen und politischen Realität in Oaxaca?

Alejandro Cruz López: Die Bewegung von 2006 war das Resultat einer Vielzahl von vorangegangenen politischen Aktivitäten und der sozialen Bewegungen. Bereits 15 Jahre vor der APPO begann eine neue Etappe, in der verschiedene soziale Bewegungen anfingen Allianzen untereinander zu knüpfen. Diese Bündnisse schafften es in einigen Momenten der Repression, den Regierungen die Stirn zu bieten. Als Ulises Ruiz den Gouverneursposten übernahm, wurde den Organisationen, die schon seit Jahren der Repression gegenüberstanden, klar, dass wir diese Bestie nicht alleine aufhalten konnten. Aus diesem Grund suchten wir das Bündnis mit der Lehrer_innengewerkschaft, obwohl uns bewusst war, dass ihre Anführer von Anfang an gegen eine Allianz mit der Bevölkerung und den sozialen Organisationen waren. Aber letztendlich, als der Protest der Lehrer_innen unterdrückt wurde, begann dieser ganze Prozess der Verbindung unter den sozialen Organisationen, den Gewerkschaften, der Frauenbewegung und der ganzen Bevölkerung von Oaxaca. Und so entstand die APPO. Ihre Hauptforderung war die Absetzung von Ulises Ruiz, aber die Idee war nicht nur eine Person auszuwechseln, sondern das ganze Regime der PRI verschwinden zu lassen.

Montserrat Sanmartín Cruz: Ich glaube, für viele Leute war die APPO die erste Erfahrung von Organisation. Die Bevölkerung ging auf die Straße und begann sich selbst zu organisieren. Die Besetzungen der Regierungsgebäude, die Übernahme der Radiostationen, die Frauengruppen, die Barrikaden und das System der Verteidigung gegen die Paramilitärs, all das verwirklichten die Leute selbst. Auch die Aufrechterhaltung und der Betrieb der städtischen Grundversorgung, wie der Krankenhäuser und der Müllabfuhr, musste geregelt werden. Und das diskutierten und koordinierten die Leute in ihren Gruppen, Vierteln und Versammlungen, in welchen ein horizontales System praktiziert und der Konsens gesucht wurde. Die Leute wurden sich bewusst, dass sie die Macht haben, sich zu organisieren und selbst zu regieren, und diese kollektive Erfahrung gab ihnen viel Kraft.
Wir mussten aber auch einige Dinge lernen und feststellen, wo unsere Organisationsformen versagten. So vernachlässigten wir in all der Zeit die Bildung eines politischen Bewusstseins in der Bevölkerung, was es letztendlich einigen wenigen ermöglichte sich als Anführer_innen der Bewegung darzustellen, den Konsens zu brechen und die APPO für ihre individuellen Pläne zu missbrauchen.

Letztendlich konnte sich Ulises Ruiz aber bis zu den nächsten regulären Wahlen an der Macht halten. Wie gelang ihm das gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, wie waren die Jahre nach 2006?

Sanmartín: Dafür gibt es mehrere Gründe. Als erstes waren da die Präsidentschaftswahlen in Mexiko und der wahrscheinliche Wahlbetrug der PAN (die regierende Partei der Nationalen Aktion, Anm. d. Red.). Die Bundesregierung konnte es sich nicht leisten, dass die Bewegung von Oaxaca zu einem Beispiel für das ganze Land wurde. Nach November 2006 war uns klar, dass Ruiz auf die Unterstützung der Bundesregierung zählen konnte, um sich an der Macht zu halten. Auf der anderen Seite gab es einen Verrat aller politischen Parteien von Oaxaca. Im Kongress haben alle Parteien, mit Ausnahme vom Partido Convergencia, für den Einsatz der PFP gestimmt. Und auch die Anführer_innen der Lehrer_innengewerkschaft und einiger anderer Organisationen haben so Ämter und Kandidaturen für die Lokalwahlen 2007 ausgehandelt und wollten die APPO als eine Wahlplattform benutzen. Das führte zur Zersplitterung der Bewegung. Und in all der Zeit ging die Repression weiter, die massive Unterdrückung der Demonstrationen und die selektive Repression. Es gab Haftbefehle und Morddrohungen gegen führende Aktivist_innen und viele Gefangene. Einige Compañer@s mussten Oaxaca und das Land verlassen, viele von uns hielten sich versteckt. Das Regime hatte die grundlegenden Rechte außer Kraft gesetzt, wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Mit dem Abzug der PFP Mitte 2007 fingen dann all die Demonstrationen auf der Straße erneut an. Zwar nicht mehr im gleichen Ausmaße wie 2006, aber es fanden fast täglich kleine Demonstrationen der verschiedensten Gruppen und Organisationen statt. Für Ulises Ruiz gab es keinen öffentlichen Ort, an dem er sich frei aufhalten konnte, also konnte er auch keine wirklichen Regierungsakte erledigen. Sagen wir, wir konnten ihn zwar nicht absetzen, aber praktisch regierte er nicht mehr nach 2006. Er hielt sich, oder wurde gehalten, und nicht mehr.

Hat Ihre Organisation nach 2006 noch versucht die APPO als Organisationsform aufrechtzuerhalten?

Sanmartín: Ja, obwohl es ab November 2006 sehr schwer war einen Konsens zu erreichen, die Diskussionen waren festgefahren. Die APPO verlor an Anhänger_innen und Strukturen. Trotz all dem nahmen wir 2007 weiterhin an den Versammlungen der APPO teil, die immer noch breit gefächert war. Zudem stießen wir die Gründung von neuen, breiten Allianzen an. So bildeten wir zum Beispiel 2008 zusammen mit verschiedenen Organisationen und Dörfern des Bundesstaates die Vereinigung der Indigenen Völker und Organisationen von Oaxaca (UPIO). Die Idee war, mit dieser Geschlossenheit erneut die APPO anzuschieben. Aber es funktionierte nicht, weil einige, vor allem die Anführer_innen der Lehrer_innengewerkschaft, mit ihrer autoritären Art den Konsens und alle Prinzipien des gemeinsamen Respekts brachen. Darum beschlossen wir Ende 2008 uns als Organisation aus der APPO zurückzuziehen. Parallel zum Niedergang der APPO bildeten sich aber andere Bewegungen und Bündnisse im ganzen Bundesstaat und der Widerstand ging weiter.

Nach über 80 Jahren an der Macht verlor die PRI schließlich die Gouverneurswahlen im Juli 2010 gegen eine Wahlallianz aller anderen relevanten Parteien. Wie schätzen Sie den neuen Gouverneur Gabino Cué ein, ist eine Veränderung des sozialen und politischen Lebens in Oaxaca ersichtlich?

Cruz López: Mit der Abwahl der PRI in Oaxaca trug die Bewegung von 2006 ihre Früchte. Es war die Bevölkerung, die dies erreichte und wir sehen es mit Ironie, dass es die Parteien gewesen sein sollen, die diesen politischen Wechsel letztendlich schafften. Wir glauben, dass diese Regierung keine grundlegende Änderung bringen wird, einzig die Bevölkerung kann dies bewirken. Wir wissen, dass Gabino Cué aus der Unternehmerklasse entstammt und dass er ein Neoliberaler ist. Die Bevölkerung und die Organisationen werden deshalb seine Politik genau im Auge behalten und das weiß er. Dies gibt uns eine gewisse Zuversicht, dass er zumindest die Regierungsgeschäfte verantwortungsvoll und ehrlich erledigen wird. Wir haben jetzt einen Unternehmer an der Macht, aber keine kriminelle Mafia mehr wie in den Jahren zuvor.

Was fordern Sie von der neuen Regierung?

Cruz López: Sie muss den alten Praktiken der Politik entsagen und die öffentlichen Mittel gut einsetzen. Sie muss für Gerechtigkeit sorgen und die Verantwortlichen der Ereignisse der vergangenen Jahre bestrafen. Die soziale und wirtschaftliche Situation im Bundesstaat wird Gabino Cué nicht ändern können. Was wir bisher sehen ist aber eine Bereitschaft zum Dialog und die Einstellung der massiven Repression gegen die sozialen Bewegungen; als Organisation können wir unsere Arbeit wieder offen aufnehmen. In Bezug auf die indigenen Gemeinschaften glauben wir, dass diese selbst den Prozess einer Veränderung wieder aufgreifen müssen. Die neue Regierung hat einen Konsultativen Rat der Indigenen Gemeinschaften eingeführt. Es wird sich erst in einigen Jahren zeigen, wie diese Initiative verläuft und in welcher Form dieser Rat der Regierung Vorschläge unterbreiten kann. Im Moment hoffen wir nur, dass diese Regierung unsere Rechte und das respektiert, was wir bisher auf der Basis unserer Versammlungen, der Verteidigung unser Territorien, der kollektiven Arbeit und unseres kulturellen Ausdrucks erreicht haben.

Im nächsten Jahr stehen erneut Präsidentschaftswahlen an. Viele soziale Organisationen unterstützen die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und innerhalb dieser Manuel Andrés López Obrador als Kandidaten. Was ist Ihre Meinung über die Wahlen 2012 und die PRD?

Cruz López: Ich glaube, die PRD hat in diesem Moment wenig Chancen die Wahlen zu gewinnen. Ohne Zweifel muss sie ein Bündnis mit anderen Parteien aufbauen, um das bisherige Umfragehoch für die PRI und Peña Nieto (voraussichtlicher Kandidat der PRI; Anm. d. Red.) zu überwinden.

Sanmartín: Zuallererst muss die PRD ihren Kandidaten auswählen und sich zwischen López Obrador und Marcelo Ebrard entscheiden. Von diesen beiden bevorzugen wir López Obrador, weil Marcelo ein Wahlbündnis mit der PAN plant. Und die PAN hat bereits gezeigt, was ihre Bundespolitik bedeutet: Neoliberalismus, Militarisierung und ein Krieg der bisher 60.000 Todesopfer forderte.
Als Organisation werden wir keine Partei aktiv unterstützen, auch nicht die PRD und López Obrador. Aber wir sind uns bewusst, dass keinesfalls die PRI gewinnen sollte. Wir werden in den Dörfern die Situation analysieren und die Compañer@s werden mit diesem Bewusstsein wählen gehen. Aber niemals haben wir gesagt oder werden wir sagen, wie die Leute wählen sollen. Mit Sicherheit sind wir gegen die PRI, aber von der PRD haben wir auch keine gute Meinung, nicht einmal als das kleinere Übel, denn hin und wieder kann die PRD auch schlimmer als die PRI sein. Darum denken wir, dass die Antwort und die einzige Lösung darin besteht, uns zu organisieren und die unabhängigen sozialen und politischen Bewegungen zu stärken. Die Wahlen, die Abgeordneten und die Gouverneure kommen und gehen, aber was bestehen bleibt sind die Organisationen.

Infokasten: Montserrat Sanmartín Cruz & Alejandro Cruz López
arbeiten für die Indianischen Organisationen für Menschenrechte in Oaxaca (OIDHO, Organizaciones Indias por los Derechos Humanos en Oaxaca). Ihre Organisation war im Jahr 2006 eine zentrale Stütze des Volksaufstandes, der losbrach, als Gouverneur Ulises Ruiz von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) einen Streik der Lehrer_innengewerkschaft mit massiver Gewalt beenden wollte. Über fünf Monate hielt die Bevölkerung die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates besetzt und regierte sich über die Volksversammlung der Völker von Oaxaca (APPO) selbst (siehe LN 389-91). Zentrale Forderungen waren der Rücktritt von Ulises Ruiz und eine tief greifende Reform des Bundesstaates. // Infos: www.oidho.org

Das letzte Mittel

Es ist das letzte Mittel, das ihnen geblieben ist. Sieben indigene politische Gefangene sind am 29. September im Gefängnis von San Cristóbal de Las Casas, gelegen im südlichen Bundesstaat Chiapas, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Sie sind fest entschlossen, den Protest bis zu ihrer Freilassung fortzusetzen. Vier weitere gesundheitlich angeschlagene Gefangene, darunter der Lehrer Alberto Patishtan, unterstützen die Aktion mit einem täglichen zwölfstündigen Fasten. Wenig später schlossen sich zwei weitere Häftlinge aus anderen lokalen Gefängnissen der Protestaktion an, womit der Hungerstreik inzwischen von 13 Gefangenen aus vier Häftlingskollektiven geführt wird.
Die Umstände, unter welchen die Indigenen gefangen und bis zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, sind haarsträubend. Alberto Patisthan beispielsweise wurde im Juni 2000 durch einen vermeintlichen Augenzeugen beschuldigt, an einem Hinterhalt gegen eine Polizeipatrouille beteiligt gewesen zu sein, bei dem 10 Polizisten starben. Der 40-jährige Pathistan, der als Grundschullehrer in der Region Altos arbeitete, war dem lokalen Bürgermeister von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) seit langem ein Dorn im Auge. So hatte Pathistan immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt, in die der Bürgermeister verstrickt war, und versucht, Leute dagegen zu mobilisieren. Gabriela Patishtan, die Tochter des Lehrers, betont im Interview, dass der Sohn des damaligen Bürgermeisters ausgesagt habe, dass der Zeuge gekauft und die Verhaftung von Alberto Patishtan ein abgekartetes Spiel gewesen sei. Tatsächlich nahm der angebliche Zeuge später von seiner Aussage Abstand, gilt heute jedoch als spurlos verschwunden.
Die aktuelle Aktion der Gefangenen orientiert sich an einem historischen Erfolg: Mit einem langen Hungerstreik im Jahre 2008 gelang es mehreren Dutzend politischen Gefangenen in Chiapas, ihre bedingungslose Freiheit wiederzuerlangen. Einzig Alberto Patishtan, der zu 60 Jahren Haft verurteilt wurde, verweigerte die Bundesregierung unter Präsident Felipe Calderón die Haftentlassung. Letztes Jahr wurde er dank der Intervention von zahlreichen solidarischen Personen zur Behandlung einer schwerwiegenden Augenkrankheit in das Spital Buen Vivir in der Hauptstadt des Bundesstaates, Tuxtla Gutiérrez, eingeliefert. Doch der Name des Krankenhauses („Gutes Leben“) steht im krassen Gegensatz zu den Erfahrungen des gefangenen Lehrers. Nicht nur blieb die Behandlung seines Augenleidens erfolglos, sondern auch die Haftbedingungen waren unerträglich: Während fünf Monaten wurde Patishtan mit Handschellen 24 Stunden am Tag an das Spitalbett gefesselt und sozial isoliert.
Die Tochter von Alberto Patisthan, Gabriela Patishtan, zeigt sich im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten am ersten Tag des neuen Hungerstreiks sehr um die Gesundheit ihres Vaters und der anderen Hungerstreikenden besorgt. Zugleich betont die 20-jährige Jurastudentin aber, dass die Aktion ein Signal sei, „dass wir trotz allem weiterkämpfen, trotz der Folter, der Misshandlungen und der Gefängnisverlegungen weiterhin die Freiheit der politischen Gefangenen fordern”.
Der Fall von Alberto Patishtan, der inzwischen über 11 Jahre unschuldig im Gefängnis sitzt, ist symptomatisch für das marode Justizwesen Mexikos. Gemäß dem viel diskutierten Dokumentarfilm Presunto Culpable („Angeblich Schuldig“, verfügbar auf youtube.com) wurden über 90 Prozent der Gefangenen in Mexiko allein aufgrund von Zeugenaussagen verurteilt.
Unter den weiteren Hungerstreikenden sind zwei Gefangene aus dem Dorf Mitzitón, das der zapatistischen Anderen Kampagne nahe steht und so immer wieder in Konflikt mit den Behörden gerät. Vor allem durch ihren Widerstand gegen den Bau einer privaten Autobahn nach Palenque haben die Dorfbewohner_innen den Zorn der staatlichen Repräsentant_innen aus sich gezogen. Die beiden Tzotzil-Indigenen wurden wegen einer angeblichen Entführung im Jahr 2002 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Tatsächlich hatten sie „nur“ gemäß den indigenen Gebräuchen einen Dorfbewohner wegen einer fehlenden Begleichung einer privaten Schuld vorübergehend festgenommen. Ein typischer Fall von Kriminalisierung der indigenen Selbstverwaltung.
In den ersten Tagen des Hungerstreiks war die einzige Frau, die an der Aktion beteiligt ist, besonders perfiden Einschüchterungen ausgesetzt: Das Gefängnispersonal drohte Rosa López Díaz, man werde ihr ihren zweijährigen Sohn wegnehmen, falls sie den Hungerstreik nicht abbreche. Dies gab die Versammlung der Organisationen der Anderen Kampagne in San Cristóbal bekannt, die die Hungerstreikenden unterstützt. Zudem habe die Gefängnisverwaltung versucht, die Gefangene zur Unterschrift von Dokumenten zu zwingen, deren Inhalt sie nicht kenne.
Am 7. Oktober konnte Alberto Patishtan aus dem Gefängnis heraus ein Telefoninterview geben: „Wir sind im neunten Hungerstreiktag und machen weiter. Wir empfinden einfach Wut und Zorn darüber, dass unschuldige Leute im Knast sind. Die Richter verurteilen nur auf Grund von fadenscheinigen Beweisen. Wir, und insbesondere die Compañera Rosa, erleiden auch Momente von Aufruhr aufgrund der Bedrohungen, aber wir müssen darüber stehen und weiter kämpfen”, so Patishtan. Im selben Telefoninterview gab der Grundschullehrer bekannt, dass der Arzt, welcher von Seiten der Gefangenen zur Überprüfung ihrer gesundheitlichen Verfassung angefordert wurde, in einem zweiten Anlauf Zugang zum Gefängnis bekam, nachdem ihm dies zuerst verweigert wurde.
Einen Tag später begannen die Familien der Hungerstreikenden und mit ihnen solidarische Organisationen wie das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas eine Dauerkundgebung auf dem Platz vor der Kathedrale San Cristóbals. Als eine der ersten solidarischen Stimmen war hier diejenige der Bewegung für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde zu hören. Die Unterstützer_innen der Gefangenen hoffen, dass diese neue landesweite Bewegung, angeführt von dem Dichter Javier Sicilia (siehe LN 445/446), ihrem Anliegen größere Öffentlichkeit verschaffen kann. Denn im Vergleich zum weitgehend erfolgreichen Hungerstreik von 2008 ist heute eine große Lücke auf Seiten der Gefangenen zu spüren: Der im Januar dieses Jahres verstorbene Bischof Samuel Ruiz, der auch Präsident des Menschenrechtszentrums war, hatte sich sehr für die vorzeitige Entlassung der über 40 Hungerstreikenden eingesetzt. Eine der letzten öffentlichen Auftritte von Bischof Ruiz war die Übergabe eines nach ihm benannten Menschenrechtspreises an Alberto Patishtan.

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

Hundert Jahre Vergeblichkeit

„Tierra y Libertad“ („Land und Freiheit“) lautete die zentrale Forderung, für die Hunderttausende mexikanische Landlose, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen vor hundert Jahren in die Revolution (1910 bis 1920) zogen. Obwohl das daraus entstandene politische System keinesfalls zu einer gerechten Landverteilung führte, brachte die Revolution immerhin die Stärkung des ejido-Systems und somit Landzugang für einen großen Teil der mexikanischen Landbevölkerung mit sich. Dabei ist das ejido keine Erfindung der Mexikanischen Revolution, sondern eine juristische Figur aus der Kolonialzeit, als indigenen Bäuerinnen und Bauern sowie Siedler_innen kleine Landparzellen zugestanden und in lokale Verwaltung gegeben wurden. Ursprünglich bezeichnete ejido in Spanien Gemeindeflächen außerhalb des Ortes.
Im (post-)revolutionären Mexiko galt ejido-Land als Teil des „sozialen Landsektors“, es blieb im staatlichen Besitz und wurde den Nutzer_innen, den ejidatarios, zur zeitlich unbegrenzten gemeinschaftlichen Nutzung überlassen. Durch seine Unverkäuflichkeit war es den kapitalistischen Warenkreisläufen über den Handel mit Landflächen in gewisser Weise entzogen. Die bis heute gültige Verfassung von 1917 schrieb in Artikel 27 die Form des ejido als gemeinschaftlichen Landbesitz fest. Dabei hatte die Revolution nicht sofort einen grundlegenden Wandel in der Struktur des Landbesitzes gebracht, wie die revolutionären Bauernbewegungen um Emiliano Zapata und andere lokale Anführer damals immer wieder gefordert hatten. Erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) kam es mit der Verteilung von 11.347 ejidos, einer Fläche von etwa 20 Millionen Hektar, zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen auf dem Land.
Wirklich kollektiv gewirtschaftet, wie von Cárdenas angedacht, wurde allerdings nur in einer Minderheit der ejidos und regional sehr unterschiedlich. Der Großteil der ejido-Familien bebaute jeweils eine kleine Parzelle, während politische Partizipation und Konfliktlösungen über die ejido-Verwaltung als lokaler Organisationseinheit funktionierten. In der offiziellen Revolutionsrhetorik spielten die ejido-Wirtschaft und die Vorstellungen über das ländliche Mexiko eine wichtige Rolle – und durch die Organisation der ejidos fungierten diese auch als ländliche Unterstützungsbasis der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), die jahrzehntelang quasi als Staatspartei regierte.
Es sollte nicht aus dem Blick geraten: Über Jahrzehnte hatte Mexiko eine weit gerechtere Landverteilung als die meisten anderen lateinamerikanischen Länder. Dennoch waren die Phasen in der mexikanischen Geschichte nur kurz, in denen die Agrarpolitik dem Revolutionsmythos annähernd gerecht wurde. Staatliche Unterstützung war fast immer auf Agrarunternehmen gerichtet, die eine „moderne“, technisierte Landwirtschaft betrieben. Der ejido-Sektor und der kleinbäuerliche Landbesitz mit Parzellen von unter fünf Hektar beschäftigten noch in den 1960er Jahren 70 Prozent der ländlichen Arbeitskräfte, bekamen aber nur 38 Prozent der Agrarinvestitionen ab. Die ländliche Armut war (und ist) groß. Häufig reichte das, was eine Familie über die ejido-Parzelle erwirtschaften konnte, nicht zum Leben und musste doch wieder durch die Arbeit auf großen haciendas aufgebessert werden. Die alten Abhängigkeitsverhältnisse blieben also oft bestehen; häufig behielten die hacendados die produktivsten Ländereien und das Monopol auf Infrastruktur und Weiterverarbeitung, etwa in der Zuckerindustrie. Neue Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber der PRI kamen hinzu. Immer wieder wurde das Ende der Landverteilung verkündet. Der letzte größere Versuch der Landverteilung fand Anfang der 1970er Jahre statt, als der Nahrungsmittelbedarf des Landes längst wieder teilweise mit Importen gedeckt werden musste: Unter Präsident Echeverría (1970 bis 1976) wurden noch einmal circa sechs Millionen Hektar Land verteilt.
Vor allem im Zuge der radikalen Liberalisierungspolitik, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank dem mexikanischen Staat seit Ausbruch der Schuldenkrise 1982 verordnet hatten, verlor das ejido-System kontinuierlich an staatlicher Unterstützung. 1992 war für die mexikanischen Bäuerinnen und Bauern sowie alle Landlosen das entscheidende Jahr, als Präsident Salinas de Gortari die Veränderung des Artikels 27 der Verfassung durchsetzte: ejido-Land war ab sofort nicht mehr unverkäuflich und die Verteilung von Land wurde für endgültig beendet erklärt – obwohl das Ministerium für Agrarreform bis heute existiert. Umgesetzt wurde die Verfassungsänderung über Programme, welche die Weltbank mit entworfen hatte: Entscheidend war dabei das Programm PROCEDE, das vor allem Parzellen registrieren und zertifizieren, Rechte auf die Nutzung von Gemeindeland festlegen und individuelle Besitztitel festschreiben sollte.
In den von der Weltbank vorangetriebenen marktgestützten Landreformen der 1990er Jahre, die laut Plan auch in Brasilien, Südafrika oder Kolumbien zu ländlichem Wohlstand verhelfen sollten, spielte die geregelte Enteignung ungenutzter Flächen in Privatbesitz, wie sie in früheren Initiativen zur Landreform immer mitdiskutiert – seltener durchgesetzt – worden waren, keine Rolle mehr: Die Umverteilung von Land sollte über Kauf und Verkauf von Parzellen auf freiwilliger Basis geschehen und so einen dynamischen Markt für Land erzeugen. Denn ein Grund für die ländliche Armut, so sah es die Weltbank, wäre eben das Fehlen dieses dynamischen Marktes, der für eine ausgeglichenere Verteilung des Landbesitzes und eine höhere Produktivität des bewirtschafteten Landes sorgen würde.
Für die ejidatarios bedeuteten die individuellen Besitztitel vor allem eine Privatisierung gemeinsam verwalteten Landes. Die Verfassungsänderung stellte die Idee des „sozialen Landsektors“ auf den Kopf: „In diesem Gesetz gibt es keine rechtliche Grundlage für soziale Modelle des Landbesitzes“, lautete eine weit verbreitete Kritik Anfang der 1990er Jahre. Dennoch: Mit 84 Prozent hat der Großteil der ejidatarios und gemeinschaftlich Wirtschaftenden am Prozess der Zertifizierung über PROCEDE teilgenommen – wenn auch nur 65,7 Prozent der ejido-Flächen zertifiziert wurden. Besonders größere und in Oaxaca viele kollektiv bewirtschaftete ejidos (tierras comunales) nahmen nicht am Programm teil, um den kollektiven Besitz zu bewahren. Gleichzeitig ist es offensichtlich über PROCEDE nicht gelungen, Besitztitel vollständig festzuschreiben; Konflikte über die Begrenzungen von ejido-Land sind heute an der Tagesordnung. Laut Ana de Ita, eine der wenigen Autor_innen, die zu Landkonzentration nach der Reform arbeiten, haben gerade mal 0,43 Prozent der ejidatarios vollständigen Privatbesitz aus ihrem Land gemacht. De Ita vermutet diejenigen vor allem am Rand von Städten, in der Hoffnung, ihre Parzellen teurer verkaufen zu können.
Die Zurückhaltung bei der Nachfrage nach Besitztiteln versuchte die Weltbank damit zu erklären, dass auf privates Land Steuern erhoben würden. Deren Autoren_innen, die offensichtlich nicht begreifen können, wieso gerade in Oaxaca, Guerrero und Chiapas – Bundesstaaten mit einer großen indigenen Bevölkerung – die Akzeptanz von PROCEDE sowie der Privatisierung kleiner und kleinster Parzellen so gering war, schreiben in einem Bericht von 2001: „Es gibt, wenn überhaupt, kaum Unterschiede zwischen zertifizierten ejidos mit großer indigener Bevölkerung und denen in nicht-indigenen Gemeinden. [..] Die zögerliche Annahme von PROCEDE in indigenen Gemeinden ist auf Konflikte, Ungleichheiten im Zugang zu Land und Ressourcen, und das fehlende Humankapital und wirtschaftliche Potential zurückzuführen“. Wie radikal der Wandel für viele kollektiv wirtschaftende Gemeinden gewirkt haben muss, wird aber dann deutlich, wenn Land nicht nur als tierra, als zu bewirtschaftendes Gut, sondern auch als territorio verstanden wird, ein Raum, der als zentraler Bezugspunkt des Gemeindelebens Identität birgt. Land in Kollektivbesitz ist häufig in langen Kämpfen errungen worden und funktioniert auch als soziales Netz. Die meisten zusätzlichen Aktivitäten richten sich auf den lokalen Konsum und Verkauf, als Nebenquelle für Einkünfte. Die gesellschaftliche Rolle von Land geht weit über ein einfaches Produktionsmittel hinaus.
Im Grunde gibt es zwei Sichtweisen zur Bedeutsamkeit der Änderung des Artikels 27. Die eine lautet, diese habe nur eine Entwicklung fort- und festgeschrieben, die bereits seit den 1960er Jahren die ejidos immer schlechter gestellt habe. Zudem sei ejido-Land schon seit Jahrzehnten illegal verpachtet worden. Gleichzeitig ist aber beispielsweise aus zapatistischen Gemeinden in Chiapas zu hören, dass die Verfassungsänderung durchaus als entscheidender Schnitt begriffen wurde, und die Angst ihr gemeinschaftlich bewirtschaftetes Land zu verlieren, ein wesentlicher Grund für den Aufstand 1994 war. So äußerte Subcomandante Marcos in jenem Jahr gegenüber der Zeitung La Jornada: „Als die Regierung die brillante Idee hatte, den Artikel 27 zu reformieren, wurde das zu einem mächtigen Katalysator in den Gemeinden. Diese Reformen haben jede legale Möglichkeit untergraben, zu Land zu kommen“. Die Auswirkungen waren also unterschiedlich, je nachdem, inwieweit die ejido-Wirtschaft in der Region wirklich umgesetzt worden war – und wie viele Landlose dort lebten. Denn mit dem endgültigen Stopp der Verteilung von ejido-Land gab der Staat auch das letzte Bemühen auf, den demografischen Veränderungen gerecht zu werden. So wuchs die mexikanische Bevölkerung von knapp 20 Millionen im Jahr 1940 bis 1990 auf über 80 Millionen (heute circa 112 Millionen).
Vor allem aber hat das Zusammenspiel mit den Konsequenzen des Nordamerikanischen Freihandelsvertrags NAFTA, der 1994 in Kraft trat, die Bedingungen für Landbesitz nachhaltig verändert. Nämlich die Tatsache, dass kaum eine mexikanische Kleinbauernfamilie noch vom Anbau von Mais und Bohnen für den mexikanischen Markt überleben kann, weil dieser von Mais aus industrieller US-Produktion verdrängt wurde. Zudem öffnete die Regierung den ejido-Sektor seit den 1980er Jahren sukzessive für ausländische Direkt­investitionen: Joint Ventures sollten zwischen ejidatarios und Privatwirtschaft entstehen. Mit dem industriellen Anbau etwa von Ölpalmen für Agrosprit in Chiapas ergeben sich damit auch im Süden Mexikos ganz neue Räume für Investitionen.
Das mexikanische Aktionsnetz gegen den Freihandel RMALC weist darauf hin, dass heute zwar nicht der Verkauf, aber die Verpachtung von ejido-Land sehr weit verbreitet ist. „Leute, die von den Erträgen der kleinen ejido-Parzellen nicht mehr leben können, wandern aus und verpachten teilweise an Unternehmen. Die Pacht ist meistens lächerlich gering“, so ein Sprecher. Für die Agrar­unternehmen scheint dies der günstigste Weg zu Land zu sein; wer an sie verpachtet, bekommt die Böden, wenn überhaupt, meist ausgelaugt zurück. Obwohl also die meisten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ihr Land nicht verkauft haben, sorgten diese Faktoren dafür, dass viele ihr Land verlassen haben. Sie gehören zu den Hunderttausenden Migrant_innen, die „auf der anderen Seite“ des Zauns, in den USA, zum Beispiel als Tagelöhner_innen in der Ernte arbeiten.
Unterstützungs-Programme für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gibt es kaum. Zwar wurde als cash-transfer-Programm für mexikanische Landwirt_innen das Programm Procampo eingeführt, das die erwarteten Einkommensverluste durch NAFTA abfedern sollte. Doch Subventionen und staatliche Hilfen konzentrieren sich meist in den oberen Einkommensschichten und im kommerziellen Anbau. Die liberalen Strukturanpassungsprogramme hatten als ein zentrales Element in Mexiko nicht nur die „Klärung“ privater Eigentumsrechte. Mit ihnen wurden auch die speziell für den ländlichen und ejido-Bereich gedachten Kreditinstitute „verschlankt“ oder abgebaut. Ohnehin schwindet nicht nur die wirtschaftliche Grundlage; auch wenn das Land anderweitig genutzt werden soll, müssen die Leute gehen: „Überall werden Leute enteignet, sei es über geringe Entschädigungszahlungen oder über Drohungen und Repression und sogar grupos de choque (bezahlte Schlägerbanden; Anm. d. Red.), vor allem dort, wo Bergbau eine Rolle spielt oder Staudämme gebaut werden sollen“, so ein Sprecher der Mexikanischen Liga für Menschenrechte. So setzen sich Privatisierung und Konzentration von Landbesitz langsam wieder durch. Und hundert Jahre, nachdem sich die arme Landbevölkerung für „Land und Freiheit“ der Revolution anschloss, ist diese Forderung für die Mehrheit ihrer Nachkommen weiter aktuell.

Hilfe zur Selbsthilfe

„Ich begann den Tag mal wieder mit einer schaurigen Zeitungsnotiz: ‘Wieder eine Frau getötet!‘ – die dritte in diesem Monat und bereits die 18. in diesem Jahr. Weinen, sich entrüsten oder resignieren, was sonst kann ich tun? Die Ermordete, Nayely González, war 24 Jahre alt, Mutter eines Kindes. Ihren Körper fand man in einer Schlucht, nachdem sie für einen Tag als vermisst gegolten hatte. Vom Mörder keine Spur.“ Anabel López fährt sich durch die schwarzen Locken und schaut aufgewühlt in die Runde. Sie und ihre Kolleginnen vom Kollektiv Huaxyacac setzen sich seit Jahren für die Rechte oaxaquenischer Frauen ein. Dass Frauen Gewalt erfahren, erleben sie täglich in ihrer Arbeit. Trotzdem erschüttern sie die sich häufenden Notizen von ermordeten Frauen jedes Mal aufs Neue.

Anabel López fühlt sich machtlos, wenn sie neuen Fällen von Gewalt an Frauen begegnet. Dennoch nimmt sie nach solch einer Zeitungsnotiz ihre Arbeit auf: „Ich begleite die verzweifelte Familie zur Staatsanwaltschaft, um mehr Informationen zu bekommen. In diesem Fall konnte uns der Staatsanwalt jedoch nicht mehr sagen, als schon in der Zeitung stand: elf Stichwunden, eine davon tödlich im Hals, heraustretende Eingeweide, vermutlich wurde sie vor ihrem Tod vergewaltigt“, berichtet López von ihrem Versuch, den Angehörigen der ermordeten Nayely González zu helfen. „Weder über den Mörder noch über das Handlungsmotiv konnte er Auskunft geben, nichts. Weil die Gutachten nicht richtig eingereicht wurden, sind die Untersuchungen eingestellt. Der Mörder bleibt unbestraft.“

Gewalt gehört zum ohnehin harten Alltag der meisten Frauen im südmexikanischen Oaxaca. In einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos sind die ländlichen Gemeinden besonders marginalisiert. Die Menschen dort haben kaum Zugang zu Bildung, Erwerbsarbeit und einem funktionierenden Gesundheitssystem. Laut nationalen Statistiken hat Oaxaca beispielsweise eine der höchsten Raten von Tod im Kindsbett. Jährlich sterben Frauen während der Schwangerschaft oder beim Gebären. Für viele FrauenrechtlerInnen gilt auch dieser Tod als Feminizid, da er durch eine bessere Versorgung hätte verhindert werden können.

Doch selbst ohne diese Todesfälle hinzuzuzählen, sind die Zahlen ermordeter Frauen in Oaxaca erschreckend hoch. 2010 kam es in dem Bundesstaat zu 56 Morden an Frauen, im Jahr zuvor waren es 58. Allein von Januar bis Mai dieses Jahres wurden bereits 24 Frauen ermordet.

Diese Zahlen stammen nicht etwa aus einer Polizeistatistik, sondern von Frauen selbst, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Feminizide in Oaxaca zu erfassen. Seit 2004 dokumentiert das Kollektiv Huaxyacac, ein Zusammenschluss mehrerer Organisationen, Frauenmorde in Oaxaca. Da die zuständigen Institutionen kaum offizielle Zahlen veröffentlichen, werten die AktivistInnen dafür entsprechende Zeitungsberichte aus. Die Zahlen des Kollektivs sind erschreckend hoch und erfassen dennoch bei weitem nicht alle an Frauen begangenen Verbrechen, denn viele Gewalttaten werden nicht angezeigt, geschweige denn erscheinen sie in einer Zeitung.

In Kürze wird das Kollektiv Huaxyacac den Jahresbericht 2010 über den Feminizid in Oaxaca herausgeben, der neben Frauenmorden auch Fälle von innerfamiliärer und sexueller Gewalt sowie verschwundenen Frauen aufzählt und die institutionelle Gewalt im Süden Mexikos thematisiert. Die bisherigen Auswertungen haben ergeben, dass die Morde an Frauen immer brutaler werden. Viele Frauen wurden vor ihrer Ermordung vergewaltigt und gefoltert; im Jahr 2010 wurden fast 50 Prozent der Frauen mit Schusswaffen getötet. In den meisten Fällen handelte es sich beim Täter um ein Familienmitglied: Ehemann, Schwiegersohn, (Ex-)Freund oder Vater. Häusliche Gewalt ist in der Region sehr verbreitet. Die psychische und emotionale Dauerbelastung der Frauen ist enorm. Laut einer landesweiten Umfrage über die Dynamik der häuslichen Beziehungen von 2006 litt in Oaxaca jede zweite Frau mindestens einmal in ihrer damaligen Partnerschaft unter (physischer, sexueller oder psychischer) Gewalt.

Damit sich endlich etwas ändert, setzen sich Deogracia Pérez und Irma Galvan als juristische Beraterinnen für ein gewaltfreies Leben der Frauen ein. Zusammen mit 26 anderen Frauen aus verschiedenen indigenen Gemeinden Oaxacas haben sie einen Diplomkurs besucht, der vom Verbund für Parlamentarischen Dialog und Gleichheit (Consorcio Oaxaca) angeboten wird. Während der acht Monate langen Ausbildung wurden den Teilnehmerinnen juristische Grundkenntnisse sowie Methoden für die Beratung beigebracht, damit diese wiederum nach Abschluss des Kurses die Frauen ihrer Gemeinden auf dem Weg aus der Gewaltspirale begleiten können.

Wie Anabel López beraten und begleiten nun auch die frisch diplomierten juristischen Beraterinnen Frauen ihrer Gemeinden auf der Suche nach Gerechtigkeit. Viele der Beraterinnen haben die Sekundarschule nicht abgeschlossen. Nach Abschluss des Diplomkurses wissen sie jedoch deutlich mehr über ihre Rechte als die meisten Gemeindeautoritäten. Irma Galvan, die als Sozialarbeiterin in einem regionalen Krankenhaus arbeitet, berichtet selbstbewusst von ihren neuen Fähigkeiten: „Der Kurs gab mir mehr Sicherheit, um Frauen zu beraten und zu begleiten. Jetzt kann ich ihnen die juristischen Prozesse erklären und ihnen helfen, Entscheidungen zu treffen, um einen Weg aus der Gewalt zu finden. Es haben mich sogar schon MitarbeiterInnen der Gemeindeverwaltung um Rat gefragt und bei der Anwaltschaft fühle ich mich jetzt sicher genug, um zu insistieren, wenn sie einer Frau nicht helfen wollen.“

Das ist wichtig, denn von Seite der staatlichen Institutionen wie Polizei und Justiz können Frauen meist keinen Schutz erwarten. Die Straflosigkeit gerade für Delikte an Frauen ist in ganz Mexiko hoch. Viele Frauen erstatten gar nicht erst Anzeige, weil sie den Behörden nicht trauen oder weil sie sich mit unsensiblem Personal konfrontiert sehen, vor dem sie erst beweisen müssen, dass sie geschlagen wurden und „keine Schuld“ daran hatten. Bei den wenigen Fällen, in denen es überhaupt zur Anklage kommt, wird gerade mal ein Prozent der Täter auch verurteilt. Und selbst dann müssen diese oftmals nur kleine Geldbußen zahlen und kehren anschließend wieder zu Frau und Kindern zurück. Hinzu kommt, dass die Gerichtsverfahren durch Korruption stark beeinflusst werden – zugunsten der Täter.

Seit Februar 2007 gibt es in Mexiko zwar ein nationales Gesetz für das Recht der Frauen auf ein gewaltfreies Leben. Der Kongress in Oaxaca nahm den nationalen Entwurf als zweitletzter Bundesstaat im März 2009 in die regionale Gesetzgebung auf. Erst im Januar 2010 trat es dann in Kraft.

Doch das Gesetz ist umstritten. Frauenrechtsorganisationen in Oaxaca kritisieren, dass sie bei der Ausarbeitung des bundesstaatlichen Vorschlags nicht hinzugezogen wurden. Und auch auf nationaler Ebene gab es Kritik. So konnte erreicht werden, dass das Gesetz immer wieder ergänzt wurde. Seit Januar 2011 müssen Frauen sich beispielsweise nicht mehr auf ein Versöhnungsverfahren mit den Tätern einlassen. Neu ist auch, dass indigenen Frauen das Recht auf DolmetscherInnen zusteht. In Oaxaca wurden diese Ergänzungen bisher nicht umgesetzt.
Doch selbst wenn es dazu kommt: Ein Gesetz allein ändert weder strukturelle Verhaltensweisen noch das machistisch geprägte Zusammenleben in der Gesellschaft. Zwar wird im Gesetz für das Recht der Frauen auf ein gewaltfreies Leben auch ausdrücklich an die Medien appelliert, auf reißerische und stereotype Berichterstattung zu verzichten, in der Praxis hatte das bisher jedoch keine Konsequenzen.

Medien spielen beim Thema Gewalt gegen Frauen eine wichtige Rolle. So berichtet beispielsweise die Presse in Mexiko kaum kritisch über Morde an Frauen. Die meisten Zeitungen wollen mit sogenannten notas rojas, den bluttriefenden Nachrichten über Morde und Unfälle, vor allem LeserInnen gewinnen, anstatt Menschen zu sensibilisieren. Mit diesem Verhalten tragen sie zur Verstärkung der Gewalt bei. Die Taten erscheinen als gruselig-schaurige Geschichten, es fehlt an Recherche und Hintergrundinformation und die Aufklärung der Fälle wird nicht weiter verfolgt. Hinzu kommen wertende, oft abschätzige bis sexistische Bemerkungen über die Opfer: „Er brachte seine Frau um. Sie hatte ihn verlassen, um in einer Bar zu arbeiten“, „Alleinerziehende Mutter umgebracht!“ oder „Prostituierte erwürgt aufgefunden“, sind typische Schlagzeilen einer mexikanischen Tageszeitung.

Der soziale Kontext, innerhalb dessen Gewalt an Frauen als etwas normales erscheint, erklärt auch die lasche Haltung der Regierung gegenüber den Tätern. Mexikos Gesellschaft ist sehr patriarchal organisiert, Frauen werden vielerorts diskriminiert, was sie sowohl bei der politischen Partizipation als auch in ihrer persönlichen Freiheit und Entwicklung einschränkt.

Wie tief die strukturelle Missachtung der Rechte von Frauen auf Selbstbestimmung gesellschaftliche verankert ist, zeigt die Reform der Abtreibungsgesetzgebung, die im September 2009 vom Parlament in Oaxaca angenommen wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch ist demnach vollständig verboten, auch bei akuter Lebensgefahr für die Frau. Einzig nach einer Vergewaltigung ist eine Abtreibung zulässig – selbst das mussten Frauenorganisationen erstreiten.

Doch wo der Staat in Oaxaca versagt, übernehmen zivile Organisationen Verantwortung. AktivistInnen vom Consorcio Oaxaca oder Organisationen wie Casa de la mujer (Haus der Frau) sensibilisieren in Kampagnen die Bevölkerung und klären Frauen in Kursen auf, dass häusliche Gewalt nicht ‚normal’ ist und sie ein Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Auch in Schulen und mit GemeindevertreterInnen werden Workshops durchgeführt.
Besonders in ländlichen Gemeinden kennen viele Frauen ihre Rechte nicht. So berichtet beispielsweise Deogracia Pérez, die früher als Krankenschwester arbeitete und heute eine der 28 ausgebildeten juristischen Beraterinnen ist: „In allen Dörfern ist die Gewalt gegenüber Frauen ein großes Problem. Ich bin zwar pensioniert, aber immer noch kommen viele Frauen mit blauen Flecken und anderen Verletzungen zu mir. Es sind Frauen, die zu Hause geschlagen werden, meist von ihren Partnern. Früher fühlte ich mich machtlos und wusste nicht, wie ich ihnen helfen kann, was ich ihnen raten soll. Ich selber kannte unsere Rechte nicht und glaubte, dass die Gewalt normal sei. So habe ich es seit meiner Kindheit erlebt.“

Um daran endlich etwas zu ändern, betreiben die Beraterinnen aktiv Präventions- und Sensibilisierungsarbeit. An Informationsständen bei Dorffesten, zum Beispiel am Muttertag – wo viele Frauen anwesend sind – stellen die juristischen Beraterinnen sich und ihre Arbeit öffentlich vor. Viele Frauen kostete das anfangs viel Überwindung, da sie spitze Bemerkungen oder gar Ausgrenzung befürchteten. Irma Galvan erzählt von ihrem ersten öffentlichen Einsatz als Beraterin: „In meiner Gemeinde ist es nicht üblich, dass sich die Frauen exponieren. Anfangs war mir daher gar nicht wohl bei dem Gedanken, mich hinter den Stand zu stellen. Ich dachte, was werden wohl die Leute denken? Glücklicherweise sind wir immer zu zweit und können uns gegenseitig Mut geben. Auch, weil wir wissen wie wichtig unsere Arbeit ist, um die Gewalt an Frauen zu stoppen.“

Um an der strukturellen Benachteiligung und Gewalt an Frauen in der mexikanischen Gesellschaft nachhaltig etwas zu ändern, wäre besonders die gezielte Ausbildung von männlichem Personal der öffentlichen Verwaltungen und staatlichen Behörden wichtig. Doch diese gestaltet sich schwierig. Die meisten Männer sehen in ihrem gewalttätigen Handeln gar kein Problem. Concorcio Oaxaca gab 2010 einen Leitfaden heraus, der Angestellten der Gemeindebehörden im Umgang mit häuslicher Gewalt und bei der Beratung von Frauen, die Gewalt erlebt haben, als Hilfestellung dienen soll. Er beinhaltet sowohl die Gesetzesgrundlage zum Schutz der Frau als auch praktische Ratschläge für den Umgang mit Opfern von Gewalt. Es ist der Versuch, das Behördenpersonal zu sensibilisieren und Strukturen zugunsten der Frauen zu verändern.

Das ist auch das Ziel der AktivistInnen vom Kollektiv Huaxyacac. Neben der Beratung der betroffenen Frauen und Familien, versuchen sie deshalb auch auf die lokale Politik einzuwirken. Und ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus: Seit der Regierungsübernahme des neuen Gouverneurs Gabino Cué, dessen Parteienbündnis Ende 2010 die jahrzehntelange Herrschaft der Revolutionären Institutionellen Partei PRI ablöste, gibt es in Oaxaca kleine Fortschritte. So wurde beispielsweise die Aktivistin Anabel López zur Direktorin des Fraueninstituts von Oaxaca ernannt und koordiniert nun die Programme zur Stärkung der rechtlichen Situation von Frauen. Doch immer noch mahlen die Mühlen der Politik langsam: Das versprochene Budget ihres Instituts wurde bisher nicht ausgezahlt. Davon jedoch wird abhängen, wie viele Programme durchgeführt werden können und in welcher Qualität.
Auch andere Versprechen sind bis heute reine Lippenbekenntnisse. Und während die neue Regierung ihren Apparat zum Laufen bringt, sind seit der Amtsübernahme vom 1. Dezember 2010 bereits 29 Frauen getötet worden. In einer Presseerklärung von Anfang Mai fordern die Frauenorganisationen deshalb von Gabino Cué: „Aktion statt Simulation!“

 

(Download des gesamten Dossiers)

 

 

Kampf um Selbstbestimmung

Andrés del Campo Ortega aus Chiapas ist Anwalt und Aktivist und hat lange Zeit in Oaxaca gearbeitet. Im Rahmen einer Rundreise mit dem Namen „Sembrando conciencia de autonomía” (Bewusstsein zur Autonomie säen) bereist er zur Zeit verschiedene Länder Europas und die Türkei. Das Ziel ist der Austausch mit Projekten, Kollektiven und Personen über verschiedene Formen der Selbstorganisation und Autonomie.

Wie hat sich die Situation in San Juan Copala seit dem letzten Jahr verändert?

Die Änderung besteht darin, dass es die Gemeinde nicht mehr gibt, das heißt die Paramilitärs haben sie eingenommen. Sie haben die Gemeindevertretung und die Einwohner vertrieben. Viele sind migriert und einige befinden sich heute in Chiapas, Guerrero und in Oaxaca-Stadt. Die damalige Regierung des Bundesstaates verkündete nach den Morden an Bety Cariño und Jyri Jaakkola, dass sie nicht eingreifen könne, weil es sich um ein internes Problem des Dorfes handle. Aber das ist nicht wahr. In Wirklichkeit geht es um starke ökonomische Interessen, darum, wer sich Zugang zur Gemeinde und den natürlichen Ressourcen verschafft.

Haben Außenstehende inzwischen Zutritt zur Gemeinde?

Es gab noch weitere Karawanen nach San Juan Copala mit Politikern, NRO und europäischen Parlamentariern, die Lebensmittel dorthin bringen wollten. Die damalige Regierung von der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei, die in Oaxaca über Jahrzehnte herrschte, Anm. d. Red.) erklärte, sie könne nicht für deren Sicherheit sorgen. Ihnen wurde der Zugang zu San Juan Copala verweigert. Dann wurden ein wichtiges Gemeindemitglied und seine Ehefrau ermordet. Die EinwohnerInnen begannen, sich zurückzuziehen, weil die Regierung nicht reagierte und die Para­militärs von der Organisation UBISORT sich im Dorf breit machten. Sie beherrschen und kontrollieren es. Die Mitglieder der UBISORT stammen aus der PRI, sie waren ursprünglich der verlängerte operative Arm der Partei und haben sich in Paramilitärs verwandelt.

Wie verhält sich die neue Regierung von Oaxaca zu diesem Konflikt?

Der frühere Gouverneur Ulises Ruíz von der PRI hat die Gemeinde in Verzweiflung zurückgelassen. Die Leute glauben keiner politischen Partei mehr. Zwar unterscheidet sich die die neue Regierung unter Gabino Cué von der alten, sie steckt aber im gleichen Getriebe der Parteiendemokratie. San Juan Copala kämpft nicht für Parteienvertreter im Amt oder ökonomische Interessen, sondern für seine Selbstbestimmung und Autonomie. Und diese Frage ist die neue Regierung von Cué nicht angegangen. Bisher hat es keine Entscheidung gegeben, die der Gemeinde ihre Autonomie zugestand. Die Situation ist zurzeit festgefahren.

Gibt es einen Dialog zwischen der neuen Regierung und den Triqui-Gemeinden?

Ja, aber auch viel Angst seitens der Bewohner. Nicht nur wegen der neunzehn Morde in zwei Jahren. In den letzten zehn Jahren sind mehr als 500 Personen ermordet worden. Man kann sich leicht vorstellen, dass das Problem nicht mit e­iner offiziellen Urkunde der Anerkennung des autonomen Status von San Juan Copala gelöst ist. Es geht um Landkonflikte, die Entwaffnung der Paramilitärs, Gerechtigkeit für die Angehörigen der Ermordeten. Jetzt werden kleine Versuche des Dialogs unternommen, um sich auf die wichtigsten Punkte zu einigen. Nach allem, was seit der Autonomieerklärung 2007 und der Ermordung der beiden Aktivisten geschehen ist, haben die Menschen jedoch wenig Hoffnung.

Was müsste als erstes getan werden, um den Konflikt in der Region Triqui zu lösen?

Als erstes sollten die Regierung und die politischen Parteien aufhören, sich einzumischen. Damit meine ich, dass die Autonomie respektiert wird und das Volk der Triqui seine eigenen Autoritäten, seine Lebensformen und seine politischen Strukturen selbst bestimmen kann. Das ist der Ausgangspunkt, damit die Grundlagen zur Lösung des Konflikts geschaffen werden. Zweitens müssen die Mörder von Bety Cariño und Jyri Jaakkola angeklagt und verurteilt werden. Das ist bisher nicht geschehen. Bis heute genießen die Anführer der paramilitärischen Gruppen wie der UBISORT Schutz und befinden sich in Freiheit.

Wann können die BewohnerInnen in ihre Gemeinde zurück?

Wie können die Menschen in ihre Häuser zurückkehren, wenn sie keine Garantien erhalten, dass die Gewalt beendet wird? Wie denn auch bei all diesen Morden, Entführungen, Vergewaltigungen, Häuserzerstörungen und Scharfschützen in den Bergen, die auf das Dorf schießen, um ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten. Es ist sehr schwierig, das alles zu verändern. Ich meine damit nicht, dass die Bewohner nichts tun. Es gab verschiedene Bewegungen und Proteste in anderen Landesteilen, so auch ein Protestcamp in Mexiko-Stadt. Das Wichtigste ist, dass wir, die Leute, die San Juan Copala und seine Geschichte kennen, gemeinsam den Respekt für die Autonomie der Triqui fordern. Die Regierung muss das letztendlich verstehen.

KASTEN:
Machtkämpfe in der indigenen Region Triqui
Der Konflikt um Macht und Land in der schwer zugänglichen Bergregion im Westen des Bundesstaates Oaxaca ist vielschichtig; zuverlässige Informationen sind für Außenstehende oft schwer zu erhalten (siehe LN 432). Die Gemeinde San Juan Copala, die sich am 1. Januar 2007 als autonom erklärte, befindet sich im Zentrum des Machtkampfes mit wechselnden Allianzen. Seit den 1980er Jahren hat sich die indigene Organisation MULT für mehr Rechte und Selbstorganisation eingesetzt und damit die Macht der Regierungspartei PRI herausgefordert. Diese antwortete mit der Gründung einer bewaffneten Gruppe (UBISORT), die mittlerweile quasi-paramilitärische Strukturen aufzeigt. Die PRI – seit Ende 2010 erstmals nicht mehr Regierungspartei, aber immer noch sehr präsent – versuchte die Zone der indigenen Triqui zu kontrollieren, indem sie bewaffnete Gewalt in der Region direkt und indirekt förderte. Eine interne Spaltung des MULT verstärkte den Konflikt weiter. Die Auseinandersetzungen haben bisher mehrere Hundert Tote in den letzten Jahren gefordert, internationale Aufmersamkeit erhielten sie 2010 nach der Ermordung des finnischen Menschenrechtsaktivisten Jyri Jaakkola. Den Bericht zu sozialen Bewegungen in Oaxaca 2010 finden Sie hier: http://www.educaoaxaca.org/images/informe-final-los-mov-soc-04-10-10.pdf

Déjà Vu unter anderen Vorzeichen

Polizei, die mit Tränengas, Knüppel und teils scharfer Munition gegen die protestierende Menschenmenge vorgeht; DemonstrantInnen, die sich mit Steinwürfen wehren; beißende Rauchwolken über dem historischen Zentrum: Nein, kein Rückblick auf das Jahr 2006, als ein brutaler Polizeiseinsatz gegen protestierende LehrerInnen einen monatelangen Volksaufstand gegen die Bundesstaatsregierung initiierte. Es ist der 15. Februar 2011, der Tag, an dem Mexikos rechter Präsident Felipe Calderón die gleichnamige Hauptstadt des südmexikanischen Bundesstaats Oaxaca besucht. Calderón ist gekommen, um gemeinsam mit dem neuen Gouverneur Oaxacas Gabino Cué einen lokalen Ableger von „La Salle“, eine der teuersten Privatuniversitäten, einzuweihen. Ein Geschenk hat der Präsident auch mitgebracht. Denn am Vortag hatte er ein Dekret angekündigt, auf dessen Grundlage künftig die Unterrichtsgebühren der privaten Bildungseinrichtungen von den Steuern abgezogen werden können. Die kleine Schicht reicher Eltern kann sich freuen. Auf circa 800 Millionen Euro an Steuereinnahmen verzichtet der Staat, während das öffentliche Bildungssystem chronisch unterfinanziert bleibt. Zu Protesten gegen diese neoliberale Bildungspolitik hatte die lokale Sektion 22 der nationalen LehrerInnengewerkschaft aufgerufen. „Wir protestieren gegen den Besuch von Felipe Calderón, welcher die Unternehmer unterstützt und weiter das Land zerstört, zum Vorteil seiner Machtclique“, verlautbarte die kämpferische Gewerkschaftssektion im Vorfeld. Ein weiterer Grund für die Wut der LehrerInnen: Die Bundesregierung hatte wenige Tage zuvor eine zweite Gewerkschaft im öffentlichen Erziehungsbereich als Verhandlungspartner anerkannt, mit dem offenkundigen Ziel, die mitgliederstärkste Gewerkschaft Lateinamerikas mit seinen teils rebellischen Sektionen zu schwächen. Aus dem friedlichen Versuch der LehrerInnen, sich durch eine Kundgebung auf dem Hauptplatz Gehör zu verschaffen, wurde durch den Angriff der Bundespolizei, der einen schwer verletzten Lehrer und mehrere Verhaftete zur Folge hatte, schnell eine mehrstündige Straßenschlacht.
Rund 50 Verletzte, über ein Dutzend von ihnen schwer, waren schließlich das Ergebnis des brutalen Polizeieinsatzes. Mindestens ein Polizist feuerte auch mit einer Schusswaffe in die DemonstrantInnen, drei Schussverletzungen wurden dokumentiert. Schwer getroffen wurde auch Marcelino Coache, Gewerkschaftsaktivist und ehemaliger Sprecher des Protestbündnisses Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO), das sich 2006 formiert hatte. Ein Polizist hatte nach Zeugenaussagen gezielt eine Tränengaspatrone aus kurzer Nähe auf seinen Kopf abgefeuert, Coache erlitt einen komplizierten Schädelbruch mit inneren Blutungen. Für diesen Aktivist fordert der Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof eigentlich Schutzmaßnahmen von Seiten des mexikanischen Staates, weil Coache seit 2006 Drohungen, Attentaten, einer Entführung und Folter ausgesetzt war.
Tags darauf formulierten die LehrerInnen ihre Antwort auf die massive Repression. 72.000 von ihnen legten die Arbeit nieder, blockierten alle Bundesstraßen in Oaxaca und in Oaxaca-Stadt fand eine Großdemonstration mit schätzungsweise 25.000 Teilnehmern statt. Diese Mobilisierung blieb friedlich. Allseits fragte man sich, was genau am 15. Februar geschehen ist und wie es nun weitergehen soll. Denn auch wenn die Bilder jenen Tages an die Ereignisse von 2006 erinnern, so haben sich die politischen Konstellationen inzwischen stark verändert.
Nach der deutlichen Wahlniederlage der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) im Sommer letzten Jahres gegen eine Wahlallianz von drei eher linken Parteien mit der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN), amtiert seit Dezember mit Gabino Cué von der Partei Convergencia erstmals ein Gouverneur in Oaxaca, der nicht der PRI angehört (siehe LN 435). Im Januar wechselten zudem in allen 570 Bezirken Oaxacas die Gemeindevorstände. Die neue Administration zeigt sich durchaus bemüht, nach 80 Jahren autoritärer PRI-Herrschaft einen Neuanfang zu machen. Viele erste Aktionen, wie die Rückkehr des Regierungssitzes in den Regierungspalast am Hauptplatz oder die öffentlichen Audienzen des Gouverneurs – fünf Minuten pro BürgerIn; die erste Audienz dauerte 22 Stunden – kommen in der Bevölkerung gut an. Auch die Ernennung einer neuen Kommission der Menschenrechte, welche durch eine bekannte Aktivistin aus der Zivilgesellschaft bestückt wurde, ist von den sozialen Bewegungen als ein Schritt in die richtige Richtung bezeichnet worden. Doch der Polizeieinsatz vom 15. Februar lässt viele VertreterInnen der sozialen Bewegungen an einer tatsächlichen Neuausrichtung der Regierungspolitik zweifeln und offenbart Gräben zwischen ihnen und dem neuen Regierungschef.
So betonte Porfirio Domínguez Muñoz, Sprecher der Front gegen die Repression, in welcher sich die Folteropfer von 2006 organisieren, bei einer Fastenaktion für die Gerechtigkeit zwei Tage nach dem Polizeieinsatz, die Bevölkerung habe „im Juli 2010 nicht Gabino wegen seines Programms gewählt, sondern um die PRI aus dem Gouverneursposten zu vertreiben”. Der junge Generalsekretär der Sektion 22 der LehrerInnengewerkschaft, Azael Santiago Chepi, nannte den Gouverneur in einem ersten Moment einen Verräter. Schon wenige Tage darauf äußerte er jedoch den begründeten Verdacht, dass die Auseinandersetzung von „Gruppen von Provokateuren” gezielt angeheizt wurde. Insbesondere die PRI spiele dabei wohl eine Schlüsselrolle. Chepis Aussagen verweisen auf die weiterhin einflussreiche Position der ehemaligen Staatspartei in Oaxaca. Denn im Parlament ist sie nach wie vor die stärkste Kraft, sie hat noch wichtige Posten innerhalb des Apparates inne – so beispielsweise die Präsidentschaft des Wahlgerichts – und gewann auch in den Gemeindewahlen wichtige Regionen. Die Vertreibung vom Gouverneursposten wird sie nicht einfach auf sich beruhen lassen. Manche BeobachterInnen befürchteten schon vor dem 15. Februar, die PRI könnte einen Aufstand à la 2006 inszenieren, um die Regierung Cué zu destabilisieren. Denn das Modell der Links-Rechts-Allianz darf sich in den Augen der PRI für die mexikanischen Präsidentschaftswahlen von 2012 keinesfalls wiederholen.
Andere Interpretationen der Auseinandersetzungen, wie diejenige des Journalisten Luis Hernández Navarro, gehen etwas tiefer. Seiner Ansicht nach kam es zur Konfrontation unter anderem, „weil Gabino Cué sich von den sozialen Kräften entfernt hat, die ihn in den Gouverneursposten hievten (…) und er Felipe Calderón in Oaxaca einen triumphalen Empfang bereiten wollte, obwohl es einen immensen Widerwillen der Lehrer gegen ihn gibt”. Diese Aussage verweist auf das Grundproblem der neuen Regierung, einer extrem heterogenen Parteienallianz vorzustehen. So musste Cué in diesem Fall einerseits dem PAN-Politiker Calderón huldigen, der ihn im Übrigen im Wahlkampf unterstützt hatte, andererseits ist Präsident Calderón für viele der linken UnterstützerInnen der Allianz ein rotes Tuch.
So scheint die Regierung Cué nach dem Gewaltausbruch vor allem konsterniert. Sie verspricht, die Polizeigewalt zu untersuchen, die Staatsanwaltschaft hat in Rekordzeit mehrere Verfahren eröffnet. Die Angriffe von Seiten der Polizei gingen jedoch insbesondere von Bundespolizisten aus, die für Calderóns Besuch angerückt waren. Diese zur Rechenschaft zu ziehen, dürfte kaum im Bereich des Möglichen für Cué liegen. Ähnlich wie im Nachbarstaat Chiapas, der seit 2000 ebenfalls von einer Allparteien-Allianz gegen die PRI regiert wird, argumentiert Gabino Cué in Richtung eindeutigere Regeln für den Einsatz von Sicherheitskräften und verspricht, es gebe „nie wieder eine repressive Polizei“. In Chiapas sind die angeblich „menschenrechtskonformen“ Räumungen und Verhaftungen in Anwesenheit von MenschenrechtsfunktionärInnen jedoch ein unglaubwürdiges Spektakel.
Einmal mehr wurde mit dem 15. Februar klar, dass die Bevölkerung von Oaxaca unter der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit leidet. So äußert der ehemalige APPO-Sprecher, politische Gefangene und heutige Abgeordnete Flavio Sosa: „Die Konfrontation zwischen Bundespolizei und Lehrerschaft machte offensichtlich, dass die Wunde von 2006 offen ist und dass die Verantwortlichen der Verbrechen gegen diese Bewegung bestraft werden müssen.“ Die neue Regierung ging diese Aufarbeitung nur zögerlich an, erst nach dem 15. Februar gab sie bekannt, eine spezielle Einheit der Untersuchungsbehörden sowie eine Wahrheitskommission einrichten zu wollen. Klar scheint jedoch, dass es weitgehend von der Entschlossenheit der sozialen Bewegungen und der organisierten Zivilgesellschaft abhängen wird, ob tatsächlich eine Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit geschieht, die ihres Namens würdig ist. Aufgrund der schwierigen Bündnispolitik und einer Bundesregierung, die auf militärische Mittel und neoliberale Wirtschaftspolitik setzt, ist die Aufarbeitung der Repression nur eines der Konfliktfelder.
So sind künftige Auseinandersetzungen um geplante Megaprojekte und indigene Rechte vorprogrammiert. Momentan wird ein bundesstaatlicher Entwicklungsplan in öffentlichen Veranstaltungen diskutiert. „Vorbildliche partizipative Planung“ nennt dies die Weltbank, für die Mexiko inzwischen der drittgrößte Schuldner ist. Eine ähnliche Übung veranstaltete die Schattenadministration Cué im Herbst 2010 kurz vor Amtsantritt, doch die spannenden Diskussionsprozesse mit VertreterInnen verschiedenster Interessengruppen spiegelten sich bisher nicht sichtbar in Regierungstätigkeit wider. Auch machen PAN-FunktionärInnen aus Oaxaca der Bundesregierung klar, dass die Megaprojekte nun vorangehen müssen, darunter eine Silbermine in San José El Progreso und das Staudammprojekt Paso de la Reina an der Küste. Mitte März findet dort eine Großdemonstration der widerständigen Gemeinden statt, welche sich zur Verteidigung des „Grünen Flusses“ organisiert haben. Eingeklemmt in eine Regierungspolitik zwischen Militarisierung einerseits und fortschrittlichem Diskurs andererseits, wird der Widerstand gegen Großprojekte keineswegs einfacher.

Gewerkschaft sucht Unternehmen

„Was er hier macht und vorantreibt, scheint uns heute sehr kongruent zu sein“. Diese Worte von Martín Esparza, Generalsekretär der SME, über den fünften Jahresbericht der Regierungsführung von Enrique Peña Nieto sind wohl mehreren Gewerkschaftsmitgliedern bitter aufgestoßen. Der Gouverneur vom wirtschaftlich bedeutsamen Bundesstaat Estado de México konnte sich zwar durch klientelistische Maßnahmen und die mediale Zurschaustellung seiner Person als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012 positionieren. Gerade für soziale Bewegungen, linke Gruppierungen und auch für unabhängige Gewerkschaften wie die SME selbst ist der stets sorgfältig frisierte Politiker der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) jedoch eigentlich ein rotes Tuch. Seine autoritäre Regierungsführung, die vom größten Medienunternehmen des Landes Televisa kundengerecht aufbereitet wird, erinnert in einiger Hinsicht an den Klientelismus und den Korporatismus des alten PRI-Regimes. Dazu kommen homophobe Äußerungen und bewusste Versäumnisse in Bezug auf die zahlreichen Frauenmorde im Bundesstaat. Vor allem aber ist Peña Nieto einer der Hauptverantwortlichen für die brutale Repression gegen die Front der Dörfer zur Verteidigung der Erde (FPDT) in Atenco im Mai 2006 – gerade jener Bewegung also, mit der sich die SME seit Beginn der Unterdrückung durch die bundesstaatliche Regierung solidarisiert hatte. Umso mehr muss es daher verwundern, wenn Gewerkschaftsboss Esparza plötzlich die Regierungsführung von Peña Nieto in ein positives Licht stellt. Seine Präsenz beim fünften Jahresbericht des Gouverneurs und auch die deutlichen Worte vor laufenden Kameras sind ein eindeutiges politisches Signal in Richtung PRI.
Wie ist nun dieser offensichtliche Widerspruch in der politischen Strategie der Gewerkschaftsführung zu erklären? Ein Rückblick: Im Oktober 2009 löste Präsident Felipe Calderón das für Zentralmexiko zuständige staatliche EnergieunternehmensLuz y Fuerza del Centro (LyFC), dessen ArbeiterInnen und Angestellte in der SME organisiert waren, per Dekret auf (siehe LN 426). Während Calderón diesen Schritt mit mangelnder Effizienz und Korruptionsfällen im Unternehmen begründete, werteten viele BeobachterInnen dies als Maßnahme, um die SME zu entmachten, die Calderóns Plänen einer weitergehenden Privatisierung des Energiesektors im Wege stand. Trotz der großen Unterstützung durch breite Bevölkerungsschichten, die 2009 zu Hunderttausenden auf die Straße gingen und Aktionen wie Hungerstreiks durch SME-AktivistInnen, gab die Führung der SME den Kämpfen auf juristischer Ebene und den direkten Verhandlungen mit der Regierung den Vorrang. Ihr Ziel war es, das Dekret auf legalem Weg zu Fall zu bringen, um damit die Zerschlagung von LyFC rückgängig zu machen. Dem schob der Oberste Gerichtshof am 5. Juli 2010 einen Riegel vor, indem er in einem umstrittenen Urteil die Verfassungsmäßigkeit des Dekrets bestätigte. Gleichzeitig wurde in dem Urteil jedoch die SME als rechtmäßige Vertreterin der ehemaligen ArbeiterInnen von LyFC anerkannt. Dies war nicht unwesentlich, verweigerte die Regierung der SME doch schon seit dem 5. Oktober 2009 die legale Anerkennung als Gewerkschaft. So ebnete das Urteil den Weg für weitere juristische Maßnahmen der Gewerkschaftsführung.
Obwohl also die SME die Mobilisierungen auf der Straße nicht mit Nachdruck betrieb und diese letztlich auch nicht ausreichten, um die Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen, konnte die Gewerkschaft zumindest einen beträchtlichen Teil ihrer Mitglieder halten: Dass bis heute rund 16.000 der vormals 44.000 ArbeiterInnen von LyFC die Abfindungszahlungen der Regierung nicht akzeptiert haben, kann allein schon als Erfolg betrachtet werden. Damit steht die Gewerkschaftsführung aber auch unter Zugzwang, denn die verbliebenen Mitglieder befinden sich finanziell ohne regelmäßigen Lohn in einer schwierigen Lage. In Verhandlungen mit der Regierung forderte Gewerkschaftsboss Esparza daher wiederholt die kollektive Wiedereinstellung der verbleibenden Gewerkschaftsmitglieder in der Bundeskommission für Elektrizität (CFE), jenem halbstaatlichen Energieunternehmen, das seit der Zerschlagung von LyFC die Stromversorgung im Zentrum Mexikos mehr schlecht als recht gewährleistet. Erst vor kurzem aber wurde der SME auch diesbezüglich ein negativer Bescheid des Innenministeriums übermittelt. „Die Bundesregierung hält ihre Versprechen nicht“, musste schließlich auch die Gewerkschaftsführung der SME einsehen. Um ihren verbleibenden Mitgliedern doch noch zu einem Arbeitsplatz zu verhelfen, versucht die SME nun über rechtliche Mittel, die Gründung eines eigenen Energieunternehmens voranzutreiben. Dazu bedarf es aber einer Gesetzesinitiative und deren Zustimmung durch das mexikanische Parlament – ein Vorhaben, das nur mithilfe der PRI umgesetzt werden kann. Die Anwesenheit Martín Esparzas beim fünften Jahresbericht von Peña Nieto ist genau in diesem Kontext zu verstehen, vor allem, wenn man sich den großen Einfluss Peña Nietos innerhalb der PRI vor Augen hält.
Dass sich die Gewerkschaftsführung an die Regierung oder an politische Parteien annähert, ist historisch betrachtet nichts Außergewöhnliches. Vor allem unter dem Präsidenten Carlos Salinas de Gortari (1988 bis 1994) bestanden enge politische Kontakte mit der Regierungspartei PRI. Die Unterstützung von Salinas de Gortari durch die SME wurde schließlich im Jahr 1994 mit der Gründung des Unternehmens LyFC abgegolten und verschaffte damit der Gewerkschaft ihr eigenes Unternehmen. Ob diese Strategie auch ein zweites Mal funktioniert, ohne dabei die Legitimität oder andere strategische Bündnisse der SME zu gefährden, ist jedoch fraglich. Peña Nieto könnte einem solchen Pakt zwar durchaus zustimmen. Angesichts der für ihn und seine Partei wichtigen Regionalwahlen im Estado de México im Juli dieses Jahres dürfte er die politische Unterstützung der SME gut gebrauchen – vor allem, wenn seine Partei einem Wahlbündnis aus der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN) und der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) gegenüberstehen sollte.
Ob für die SME selbst ein Bündnis mit der PRI von Vorteil ist, muss dahingestellt bleiben. Gefälligkeiten wie die Zustimmung zur Gründung eines Energieunternehmens haben in Mexiko jedenfalls ihren politischen Preis. Die Annäherung an die PRI setzt die Legitimität der SME und ihre Allianzen mit sozialen Bewegungen und anderen unabhängigen Gewerkschaften gehörig unter Druck. Zwar beteuert die Gewerkschaftsführung immer wieder ihre Solidarität mit sozialen Bewegungen und unabhängigen Gewerkschaften und versucht, ihre Beziehungen auch in diese Richtung auszubauen. Davon zeugt etwa der am 24. Februar diesen Jahres unterzeichnetet „Pakt“ mit der mexikanischen Bergarbeitergewerkschaft, die ebenfalls im Visier der Bundesregierung steht. Was diese Solidaritätsbekundungen und die antineoliberale Haltung der SME wirklich Wert sind, wenn es um handfeste Dinge wie die Gründung eines eigenen Energieunternehmens geht, wird sich zeigen. Der Spagat zwischen regierungskritischen Gruppierungen und sozialen Bewegungen einerseits und konservativen politischen Parteien andererseits ist jedenfalls nicht endlos dehnbar.

Mehr als nur Drogenkrieg

Es war ein geschichtsträchtiges Jahr, das für Mexiko gerade zu Ende geht. Nicht nur feierte das Land im September mit viel Pomp den zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien. Am 20. November vor einhundert Jahren begann zudem die mexikanische Revolution, deren Versprechen von Land und Freiheit bis heute aktuell, weil uneingelöst sind.
Nicht wenige linke AktivistInnen erwarteten, dass 2010 wieder etwas passieren würde, ein Aufstand oder gar Umsturz. Es scheint als war die Hoffnung vergebens. Wer heute über Mexiko spricht oder liest, hat weniger aktuelle linke Revolten, als vielmehr den eskalierenden Drogenkrieg vor Augen. An die 30.000 Menschenleben hat dieser alleine in den vergangenen vier Jahren gekostet.
Die Kulturwissenschaftlerin und Mexiko-Expertin Anne Huffschmid beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit dem Mexiko von Gestern und Heute. Dabei spannt sie gekonnt einen Bogen von den geschichtlichen Mythen und Erinnerungskämpfen um Unabhängigkeit und Revolution, „in denen sich mexikanisches Selbstverständnis spiegelt“, bis ins vielfältige Mexiko des 21. Jahrhunderts. Die Drogenmafia, „ohne die, ob man mag oder nicht, über das heutige Mexiko nicht sinnvoll zu sprechen ist“, macht dabei nur eines von sechs spannenden Kapiteln aus.
Anhand des Bundesstaates Oaxaca, der 2006 durch einen breiten gesellschaftlichen Aufstand gegen den korrupten Gouverneur Schlagzeilen machte, zeigt Huffschmid die Ambivalenz „indigener Zivilgesellschaft“ auf. Im Kapitel über den Aufschwung von Frauen in der mexikanischen Politik wird eine Krise der „starken Männer“ konstatiert, die aufgrund der brachialen Gewaltinszenierungen der Drogenkartelle zunächst überraschen mag. Mit vielen kleinen Beispielen beschreibt Huffschmid „die Erosion gesellschaftlicher und symbolischer Ordnungen“ und widmet sich der von Frauen ausgehenden „anderen Macht“. Im Mittelpunkt steht die Chefin der früheren Staatspartei PRI, Beatriz Paredes, die viele schon als nächste Präsidentin Mexikos sehen.
Der Imagination des „monströsen Megamolochs“ Mexiko Stadt, der sich nicht nur durch progressive Gesetzgebung in den Bereichen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe „in mancher Hinsicht als Oase ziviler Modernität“ darstellt, setzt die Autorin ein buntes, vielseitiges Stadtporträt entgegen. Im kulturellen Teil des Buches werden zuletzt einige „GrenzgängerInnen“ vorgestellt, wie der dieses Jahr verstorbene Schriftsteller Carlos Monsiváis und die Sängerin Lila Downs. Durch das gesamte Buch hindurch ziehen sich Kurzporträts wichtiger Persönlichkeiten oder Orte. Zwei eigenständige Fotostrecken runden das Buch ab.
Huffschmid erzählt in lockerem, journalistischen Ton, so dass sich das Buch streckenweise wie eine lose Aneinanderreihung von Reportagen liest. Dabei hat sie einen sehr persönlichen Zugang und reflektiert immer wieder die eigene Wahrnehmung. Etwa wenn sie von Orten oder Personen erzählt, die ihr früher bereits begegnet sind. Die Mischung aus Analyse und Anekdoten machen diese Länderkunde zu einem informativen Lesevergnügen und sehr gelungenen Einblick in zentrale Aspekte des heutigen Mexiko.

Anne Huffschmid // Mexiko – Das Land und die Freiheit // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 288 Seiten // 24 Euro // www.rotpunktverlag.ch

„Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt“

Seit Jahren tobt in Mexiko ein regelrechter Krieg um die Drogen, dabei gibt es hier weder eine nennenswerte Produktion noch einen ausgeprägten Konsum. Woher rührt diese Gewalt?
Die Welle der Gewalt in Mexiko hängt mit der Organisierung von Handelsrouten der Drogen von Süd- nach Nordamerika zusammen. Das ist ein grundlegender Unterschied zu beispielsweise Kolumbien, wo das Drogenproblem eines der Produktion ist. Traditionell werden zwar auch in Mexiko verschiedene Drogen wie Marihuana und Opium hergestellt, aber bis vor Kurzem handelte es sich dabei um mehr oder weniger unabhängige Produktionssysteme, die von keinem Drogenkartell kontrolliert wurden. Zusätzlich gibt es natürlich auch die indigenen, zu religiösen Zwecken verwendeten Drogen wie halluzinogene Pilze und peyote, mescalinhaltigen Kaktus. In Mexiko existiert also, wie in ganz Lateinamerika, eine weit verbreitete Kultur der Nutzung von Drogen, die aber nie die dynamischen Märkte hervorgebracht hat wie in Europa und den USA. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert.
Zum wirklichen Problem wurde das Thema Drogen in Mexiko erst im Laufe der 1980er Jahre. Bis dahin hatte die Revolutionäre Institutionelle Partei PRI den Schwarzmarkt durch Absprachen mit den Händlern zu kontrollieren verstanden. Mit dem Niedergang der politischen Kontrolle des Drogenhandels durch die PRI begannen dann die Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen. Die verfehlte Politik der letzten beiden Regierungen tat ein Übriges. Seit Jahren wohnen wir nun einer Art Ent-Institutionalisierung des Landes bei: heutzutage sind es die privaten Akteure, ganz besonders die Drogenkartelle, welche für die Sicherheit der Gemeinden zuständig sind, welche die Straßen bauen und an der Dorffeier teilnehmen. Der Staat wurde durch die Kartelle ersetzt.

Haben diese Veränderungen in den Produktions- und Handelsbeziehungen einen Einfluss auf den Drogenkonsum in Mexiko?
Man muss zwischen den etablierten und den aufstrebenden Drogenmärkten unterscheiden. Marihuana beispielsweise existiert schon lange in Mexiko und obwohl der Konsum infolge des großen Angebots ein wenig gestiegen ist, handelt es sich um einen sehr stabilen Markt, ohne große Variationen. Aber wenn wir uns die Entwicklung des Konsums von Kokain und Methamphetaminen anschauen, haben wir ein sehr ernsthaftes Problem. Der Konsum dieser Drogen ist allein in den letzten fünf Jahren um das Sechsfache gestiegen. Diese Entwicklung ist zum einen dem enorm großen Angebot dieser Drogen in Mexiko geschuldet. Zum anderen hat der Anstieg des Konsums aber auch mit kulturellen Veränderungen zu tun, mit dem Aufkommen bestimmter Jugendkulturen und einer Aufweichung der Familienstruktur und den traditionell konservativen Moralvorstellungen. Ich denke, in Mexiko sind wir in pädagogischer, ökonomischer und institutioneller Hinsicht völlig unvorbereitet auf diese Entwicklung, denn es besteht ein komplettes Unverständnis der Problematik. Niemand begreift das Thema Drogen jenseits des Diskurses der öffentlichen Sicherheit.

Trotzdem wurde vor etwa einem Jahr eine Gesetzesreform vorgenommen, die von vielen als erster Schritt Richtung Legalisierung der Drogen gedeutet wurde. Was ist davon zu halten?
Im August letzten Jahres wurde das so genannte Gesetz gegen den Drogenkleinhandel erlassen und hat für viel Wirbel gesorgt. Entgegen der Einschätzung in Mexiko und in der Welt sieht das Gesetz aber keinesfalls eine Entkriminalisierung der Drogen vor. Im Gegenteil, es geht eigentlich um eine Verschärfung der Strafen für die Kleinhändler. Die neue Gesetzgebung zielt gegen die Armen in den Städten, die sich auf niedrigster Ebene in den gefährlichen Kreislauf des Drogenmarktes begeben, da unsere Gesellschaft ihnen ansonsten keine Überlebensmöglichkeiten anzubieten hat. Dass das Gesetz trotzdem als eine Art Legalisierung verstanden wurde, ist das Resultat von einem Widerspruch im mexikanischen Recht: Das Strafgesetzbuch verbietet zwar den Kauf und Besitz von Drogen, den Konsum aber nicht. Deswegen musste eine rechtliche Unterscheidung zwischen Händler und Konsument getroffen werden, und das passiert über das Modell des Kleinstmengenbesitzes. Laut dem nun geltenden Recht ist der Drogenbesitz weiterhin ein Vergehen, wer aber mit weniger als einer bestimmten Menge festgenommen wird, gilt als Drogennutzer oder als Abhängiger. Im ersten Fall gibt es keinerlei Sanktionen, doch nach der dritten Festnahme gilt man als abhängig und wird zu einer Therapie gezwungen.
Eigentlich hat Felipe Calderón das Gesetz im Rahmen der Verschärfung seines „Drogenkrieges“ eingebracht, aber was als Anziehen der Schraube auf der einen Seite und notgedrungenes Lockern auf der anderen Seite gedacht war, wurde plötzlich als Beginn der Legalisierung gedeutet. Und das bei einem Gesetz von der Rechten, mit dem die Armen dran gekriegt werden sollten! Es wurde also nichts legalisiert, aber es ist sehr aufschlussreich, dass das Gesetz so gedeutet wird.

Diesbezüglich ist das Referendum über die Legalisierung von Marihuana von Interesse, welches Anfang November im US-Bundesstaat Kalifornien stattfindet. Welchen Einfluss hätte eine Annahme des Vorschlags auf den Drogenmarkt und die Drogenpolitik in Mexiko?
In Hinsicht auf den Markt wird die eventuelle Legalisierung keinen Einfluss auf Mexiko haben, denn die Produktion von Marihuana ist in Kalifornien sehr viel weiter fortgeschritten als hier, und das nicht erst seit der vor Jahren erfolgten Legalisierung zu medizinischen Zwecken. Der Effekt einer Legalisierung in Kalifornien wäre viel eher politischer Art. Wie genau dieser aussehen könnte, ist sehr schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall bedeutete sie für Mexikos politische Klasse, dass das Thema Legalisierung nun offener angesprochen werden könnte. Auch Obama hat ja Signale ausgesendet, die darauf hindeuten, dass er eventuell auf den Gebrauch informeller Druckmittel zur Steuerung der mexikanischen Drogenpolitik verzichtet. Das Problem ist jedoch, dass sich kaum ein mexikanischer Politiker mit dem Thema auskennt. Es wird noch eine Weile dauern, bis es hier zu einer tiefgreifenden und konstruktiven Debatte kommt, denn das Thema Drogen wurde zu lange vernachlässigt.

Als Kollektiv tretet ihr für die Legalisierung der illegalisierten Drogen ein. Es gibt ja gewisse Erfahrungen mit alternativen Drogenpolitiken in Ländern wie den Niederlanden. Aber Mexiko ist ein Transitland mit einem enormen Gewaltproblem. Was kann man hier von einer Legalisierung des Drogenkonsums erhoffen?
In letzter Instanz wollen wir die Legalisierung und spezifische Regulierung aller Drogen erreichen. So wie zum Beispiel Tabak, Alkohol oder Opiate nach verschieden Kriterien behandelt werden, sollte es auch für andere Drogen spezifische Schemata geben. Klar, die dahingehenden Erfahrungen in den Niederlanden oder in Portugal beziehen sich auf die Welt des Konsums. Dort haben die Entkriminalisierung und Kontrolle der Drogen zu einer Senkung der Kriminalität geführt, was natürlich fantastisch ist. Das zeugt von einer gut durchdachten Drogenpolitik, in der die Probleme des Konsums die Mehrheitsgesellschaft nicht negativ beeinträchtigen. Die Situation in den Hersteller- und Transitländern ist aber eine völlig andere, denn die Gewalt resultiert aus den Interessen an den enormen Geldmengen, die der Drogenhandel bewegt.
Wir haben damit zu kämpfen, dass die Drogenproblematik in Mexiko nicht als Problem der öffentlichen Gesundheit oder unter dem Gesichtspunkt der Verbraucherrechte behandelt wird, sondern allein aus der Perspektive der öffentlichen Sicherheit. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Entkriminalisierung des Konsums auf einer gewissen Ebene helfen würde, vor allem auf der gesundheitlichen. Aber das hätte keinen direkten Einfluss auf die Entwicklung der organisierten Kriminalität und der Gewalt in Mexiko.

Eine Legalisierung lediglich des Konsums würde das Problem der Gewalt also kaum lösen. Müssten dazu nicht auch der Handel und die Produktion legalisiert werden?
Das kommt darauf an. Der Markt des Marihuana beispielsweise kann in einen sehr demokratischen Markt transformiert werden. Das ist zum Teil in den Niederlanden der Fall. Die Coffee-Shops sind natürlich gewinnbringend, und es gibt große Mafias, die sie beliefern. Aber ich kenne auch viele Menschen in den Niederlanden, die in ihrem eigenen Garten Marihuana anbauen und dies dann an die Coffee-Shops verkaufen. Du kannst die Pflanzen auf deiner Dachterrasse züchten, ohne dass gleich ein narco ankommt und dir in den Kopf schießt, weil du mit ihm in Konkurrenz stehst. Es koexistieren also zwei Arten von Produktion von Marihuana, und zudem bauen die KonsumentInnen noch selber an. Aber das ist mit dem Kokain nicht möglich. Kokain wird in den Anden produziert und in Mexiko weiter gehandelt, und es gibt keine Möglichkeit, diesen Markt zu demokratisieren. Entweder legalisiert man das Kokain und regelt den Markt, oder man versucht weiter zu verhindern, dass es hierher gelangt.

Würde eine solche grundsätzliche Legalisierung und Kontrolle der Drogenmärkte nicht das Ende der großen kriminellen Organisationen bedeuten?
Ich werde immer gefragt, ob ich die Drogenbosse nun in die Legalität führen will. Natürlich nicht! Alle, die schwere Delikte begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Aber ich bin mir sicher, dass sie oder ihre Kinder die technischen Voraussetzungen hätten, sehr gute Wettbewerber auf einem regulierten Markt zu werden. Eine Legalisierung würde natürlich dem Anreiz der enorm hohen Gewinne aus dem Drogengeschäft einen Riegel vorschieben, aber das bedeutet nicht, dass die Mafias nicht zum Beispiel die Prostitution kontrollieren würden. Eine Ent-Kriminalisierung der Drogen würde es dem Staat ermöglichen, Ressourcen für die Bekämpfung wirklich krimineller Aktivitäten einzusetzen, anstatt Müttern den Prozess zu machen, die zwei Kilo Marihuana von A nach B befördern, um ein wenig Geld für ihre Familie zu verdienen. Solche Delikte zu verfolgen kostet den Staat Unmengen Geld, zerstört Familienstrukturen, überlastet das Gefängnissystem und nutzt niemandem. Eine Legalisierung von Drogen würde den Mafias nicht nur Macht nehmen, sondern es auch ermöglichen, effizienter gegen sie vorzugehen. Wenn wir über die Legalisierung eines der fundamentalen Motive der Gewalt zerstören können, nämlich die enormen Gewinnerwartungen aus dem illegalen Drogenmarkt, dann wäre das ohne Frage ein riesiger Fortschritt.

Demokratischer Frühling in Oaxaca

„Und, wie verlaufen die Wahlen?“, fragt der stets grinsende Gouverneur Ulises Ruiz Ortíz am Nachmittag des 4. Juli, dem Tag der Bundesstaatswahlen, bei einem Rundgang im Zentrum von Oaxaca Stadt einen befreundeten Abgeordneten. „Wir gehen unter und es kommen weiter viele Leute an die Wahlurnen“, antwortet dieser, worauf Ulises Ruiz das Lächeln im Gesicht gefriert. „Wie das? Mir wurde gesagt, dass die Wahlbeteiligung runtergeht… Ruf das Wahlinstitut an, damit wir wissen, was passiert“.
Dieses Gespräch, das José Gil Olmos und Pedro Matías für die Zeitschrift Proceso dokumentierten, zeigt die Ungläubigkeit der sich stets siegessicher gebenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), als das Undenkbare doch eintraf: Nach 82 Jahren verliert die PRI die Regierungsmacht in dem südostmexikanischen Bundesstaat. Schon bei der Schließung der Wahllokale stimmten Gruppen von PRI-GegnerInnen den Schlachtruf an, den das Protestbündnis Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) bei dem Aufstand im Jahr 2006 (siehe LN 390) etabliert hatte: „Ya cayó, ya cayó, Ulises ya cayó!” („Ulises ist schon gestürzt!“).
Starken Widerhall fand die PRI-Schlappe auch Ende Juli auf dem Fest „Guelaguetza Popular“, das die APPO und die LehrerInnengewerkschaft Sektion 22, die stärkste außerparlamentarische Kraft Oaxacas, bereits zum fünften Mal in Folge organisierten. Zehntausende feierten hier ausgelassen das Ende der PRI-Regierung. Die spontanen Straßenpartys am Wahltag sowie die Stimmung auf dem Volksfest verweisen darauf, dass in erster Linie nicht die Opposition gewählt, sondern die PRI abgewählt wurde. Mit sagenhaften 10 Prozent Vorsprung hat die bunt zusammengewürfelte Oppositionsallianz die alte Macht abgehängt. Da blieb kein Spielraum mehr für technischen Wahlbetrug, zu klar war die Mehrheit dank der historisch hohen Wahlbeteiligung von 56 Prozent. Auch der von der Opposition vielfach beklagte Einsatz öffentlicher Mittel für die PRI-Kampagne konnte die PRI nicht retten. Der Volksaufstand von 2006 und dessen Nachwehen, mit seinen langen Monaten des Barrikadenkampfes, den vielen Toten und Verletzten im Widerstand gegen das alte autoritäre Regime der PRI, fand doch noch ein Echo an der Urne. Mit dem 44-jährigen Ökonomen Gabino Cué Monteagudo von der Mitte-Links-Partei Convergencia wird ab dem 1. Dezember erstmals seit 1928 ein Gouverneur sein Amt antreten, der nicht aus der PRI stammt.
Die PRI hingegen muss sich an die ihr unbekannte Oppositionsrolle gewöhnen. Obwohl sie im Parlament mit 16 Sitzen die stärkste Partei bleibt, hat sie gegen die Allianz klar die Mehrheit verloren. Die Karten werden neu gemischt, und es ist höchste Zeit dafür, betrachtet man die katastrophalen Folgen der PRI-Regierung. So ist der Bundesstaat Oaxaca in den letzten Jahren bei fast allen sozioökonomischen Indikatoren immer mehr zum Schlusslicht der Nation geworden. Zuletzt hatte die Administration des Gouverneurs Ulises Ruiz nur noch mit Repression einen unfähigen und tauben Staatsapparat aufrechterhalten können. Unzählige ungelöste Konflikte werden vor der Amtsübergabe weiterhin vor allem in der Hauptstadt ausgetragen. Unter den Organisationen, die ihrem Unmut Luft machen, befinden sich durchaus auch solche der eigenen PRI-Klientel, wie die Bauernorganisation Antorcha Campesina oder die von PRI-LehrerInnen gegründete Sektion 59. Demonstrationen und Blockaden führen tagtäglich zu einem Verkehrskollaps, den der Großteil der Bevölkerung stoisch erträgt.
Auf der Seite der Gewinner steht die Allianz aus der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Aktion (PAN, jetzt mit 11 Sitzen im Parlament), der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD, 9 Sitze), der Mitte-Links-Partei Convergencia (3) und der linken Partei der Arbeit (PT, 2). Der frisch gewählte Gouverneur Gabino Cué von der Convergencia kann auf eine Amtszeit als Bürgermeister von Oaxaca Stadt sowie eine Legislaturperiode als Senator des Bundesstaates zurückblicken. Laut Umfragen hat er beide Ämter vergleichsweise gut geführt.
Doch außer der Gegnerschaft zur PRI hat das Links-Mitte-Rechts-Bündnis nur wenige Gemeinsamkeiten, so dass ein kohärentes Regierungsprogramm schwierig sein dürfte. Gabino Cué wird entweder einen politischen Spagat vollbringen müssen oder sich über die diversen Parteiinteressen hinwegsetzen und nach eigenem Gutdünken regieren.
Cué scheint bislang eher Zweiterem zugeneigt: „Die Leute haben Gabino gewählt, nicht die Machtgruppen“, ist seine Antwort auf die Frage, ob er sowohl Andrés Manuel López Obrador als auch Felipe Calderón gerecht werden könne. Sowohl der populäre linke Ex-Präsidentschaftskandidat López Obrador als auch der mexikanische Präsident Calderón von der PAN hatten Cué im Wahlkampf massiv unterstützt. Die ideologische Breite der Allianz wirft in Oaxaca ihre Schatten voraus: Gewisse Themen, so erklärt die eben gegründete Regierungs-Plattform „Für einen effizienten, transparenten und gerechten Pluralismus“ sollen im Parlament explizit nicht angegangen werden; zum Beispiel die Frage nach der Kriminalisierung von Abtreibung, da sich BefürworterInnen als auch GegnerInnen in der Koalition befinden.
Der Nachbarstaat Chiapas, in dem eine ähnliche politische Konstellation herrscht, bietet Anschauungsunterricht, wohin ein auf Personenkult setzender Regierungsstil führen kann. Dort haben die Gouverneure Salazar und Sabines der Alle-gegen-die-PRI-Allianz in den letzten zehn Jahren eine Vetternwirtschaft betrieben, die letztlich der der PRI in nichts nachsteht. Als Resultat hat das Parteiensystem jegliche Legitimität verloren.
Erst einmal gilt es in Oaxaca jedoch die letzten Monate der PRI-Herrschaft zu überstehen.Die lange Übergangsfrist zwischen Wahlen und Amtsübergabe ist eine mexikanische Spezialität. In diesen langen fünf Monaten bis Ende November sind Zersetzungsprozesse der politischen Macht im Gange, ohne dass die neue Administration schon Verantwortung tragen kann. PRI-Kadern wird nachgesagt, sie plünderten Staatseigentum und öffentliche Kassen. Auch gibt es Versuche, der Administration Ruiz Straflosigkeit für ihre Verbrechen zu garantieren. So fand im Juli ein in Mexiko bisher noch nie praktizierter „politischer Prozess“ statt: Die noch von der PRI dominierte Abgeordnetenkammer Oaxacas „untersuchte“ die Verantwortlichkeit von Ulises Ruiz für die schweren Menschenrechtsverletzungen von 2006. Innerhalb von nur zwei Wochen kam sie zu dem Urteil, dass er von alle Vorwürfen freigesprochen werden müsse. Dabei hatte der Oberste Gerichtshof Mexikos noch im Oktober letzten Jahres Ruiz als verantwortlich für eben jene Menschenrechtsverletzungen bezeichnet, die Umsetzung des Urteils aber den Institutionen in Oaxaca überlassen.
Neben diesem Theater, das einmal mehr beweist, wie die Legislative der Regierung im bisherigen autoritären System Oaxacas unterworfen ist, sind interne Abrechnungen im PRI-Apparat im Gange. Beispielsweise wurde ein der PRI nahe stehender Gewerkschafter erschossen. Der Strippenzieher der Repression von 2006, der damalige Innenminister Jorge Franco alias „El Chucky“, ist seit Wochen untergetaucht. Wie sich Machtgruppierungen wie UnternehmerInnenzirkel und lokale Kaziken bis hin zu den in Oaxaca operierenden Drogenkartellen mit dem neuen Regime arrangieren werden, ist noch völlig offen. Klar ist, dass sich die politische Kultur der Gewalt und Korruption, die von der PRI über 80 Jahre geprägt wurde, nicht kurzfristig entwurzeln lässt.
Inzwischen verschärft sich das Unsicherheitsgefühl breiter Bevölkerungskreise. Die Selbstjustiz nimmt zu. Mehrere, teilweise minderjährige „Kriminelle“ wurden in der ersten Jahreshälfte gelyncht, wöchentlich werden neue Lynchversuche bekannt. Auch ungelöste Landkonflikte schwelen weiter vor sich hin und fordern immer wieder Todesopfer. Der Soziologe Eduardo Bautista von der Universität Benito Juárez beschreibt die gefährliche Situation zwischen Wahltag und Machtwechsel als „schwarzes Loch der Unregierbarkeit und der Abrechnung zwischen Machtgruppierungen“.
Exemplarisch für diese explosive Mischung ist San Juan Copala. Die Triqui-Indigenen, welche versuchen, einen autonomen Bezirk nach Vorbild der Zapatistas zu organisieren, befinden sich seit Ende 2009 in einer blutigen Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn, welche offen oder indirekt mit der PRI zusammenarbeiten (s. LN 432). Ende Juli eskalierte die Situation einmal mehr: Anastasio Juárez Hernández, der Chef der paramilitärischen UBISORT in San Juan Copala, kam in der Nacht auf den 29. Juli unter unklaren Umständen ums Leben. Am 30. Juli drangen mehrere hundert Polizisten in Begleitung von bewaffneten UBISORT-Anhängern in das Dorf ein, um die Leiche von Juárez’ zu bergen. Dabei besetzte die UBISORT das Regierungsgebäude von San Juan Copala. Laut den Sprechern des autonomen Bezirks sei Juárez’ Leiche aber erst bei der Polizeioperation nach San Juan Copala gebracht worden. In Wahrheit sei der Paramilitär in der Bezirkshauptstadt Juxtlahuaca bei einer Streitigkeit um Taxi-Lizenzen zwischen PRI-Leuten erschossen worden. Der Mord an Juárez „wurde geplant, um den autonomen Bezirk zum Verschwinden zu bringen“, so Ramiro Martínez von der zapatistischen Anderen Kampagne. Er sieht die Aktion in Verbindung mit dem Versuch, eine parteiunabhängige indigene Autonomie zu ersticken, bevor die neue Regierung ihr Amt antritt.
Mitglieder der Gruppe Frauen des Widerstands des Autonomen Bezirks San Juan Copala versuchten mit einer Menschenkette, die Besetzung des Regierungsgebäudes zu verhindern. Es fielen Schüsse. Zwei Frauen wurden verletzt, die 14-jährige Adela Ramírez López so schwer, dass sie wohl ihr Leben lang gelähmt bleiben wird. Auch wenn die Hintergründe um den Tod des UBISORT-Chefs vorerst ungeklärt bleiben, beweist die Aktion von Polizei und Paramilitärs, dass die offiziell behauptete Neutralität der Staatsmacht in dem Konflikt nicht zutreffend ist. Im August gab es weitere Überfälle in Copala, die drei Tote und mehrere Verletzte forderten. Dabei ist die ausufernde Gewalt in der Triqui-Region nur eines der zahlreichen ungelösten Probleme, bei denen die sozialen Bewegungen Oaxacas die neue Administration in die Pflicht nehmen müssen.
Eine der wohl entscheidenden Weichenstellungen für eine Verbesserung der Situation in Oaxaca wäre eine Aufarbeitung der traumatischen Jahre der Repression unter Ulises Ruiz. Dafür will sich insbesondere der ehemalige APPO-Sprecher und politische Gefangene Flavio Sosa einsetzen, der für die PT ins Parlament gewählt wurde. Er will neben juristischen Schritten gegen Ruiz auch eine Wahrheitskommission zu den Ereignissen von 2006 ins Leben rufen. Wie auch immer sich diese Initiativen dann gestalten werden, klar ist: Erst mit dem Durchbrechen der Spirale der Straflosigkeit wäre ein Neuanfang möglich. Genau dies ist auf nationaler Ebene mit den PAN-Regierungen nicht gelungen. Und spätestens bei den ökonomischen Interessen der InvestorInnen und UnternehmerInnen wird sich weisen, welche Spielräume sich die sozialen Bewegungen werden erkämpfen können. Denn Gabino Cué hat bereits eine bessere Zusammenarbeit mit der neoliberalen Regierung Calderón angekündigt, um die „Entwicklung“ Oaxacas zu fördern. Zudem haben spanische InvestorInnengruppen für 2011 einen massiven Ausbau der Windenergie-Parks in der Isthmus-Region angekündigt, gegen die zahlreiche lokale Basisgruppen seit langem protestieren.
Diese Signale sind für Teile der sozialen Bewegung wie die städtischen Libertären Basis für ihre Annahme, dass mit Cué kein wirklicher Wandel zu erwarten sei. „Mit dem Wahlsieg Gabinos gewinnt der Staat, der es schafft, das Volk zu demobilisieren, es gewinnt die kapitalistische Oligarchie, die nur ihre Marionette auswechselt“, meint Ruben Valencia vom Kollektiv VOCAL. Bis dato scheint bezüglich der demobilisierenden Wirkung allerdings eher das Gegenteil der Fall zu sein: die Demonstrationen und Vernetzungen der sozialen Bewegungen haben einen zweiten Atem erhalten. Der überwiegende Teil der Basisgruppen sieht mit kämpferischem Optimismus in die Zukunft. Carlos Beas, Mitgründer der indigenen Organisation UCIZONI, fasst die Stimmung zusammen: „Wir bleiben wachsam in diesem unruhigen, jetzt aber fröhlichen Oaxaca.“

Asche auf den Zócalo

Monsiváis war der wohl einflussreichste zeitgenössische Publizist der mexikanischen Linken. Es fällt schwer, ein Thema des politischen, kulturellen oder alltäglichen Lebens in Mexiko zu finden, dem er sich nicht gewidmet hat. Er begann seine Karriere 1956 als Mitarbeiter diverser Zeitungen und des Senders Radio UNAM, 1966 veröffentlichte der Literatur-, Sprach- und Wirtschaftswissenschaftler bereits seine Anthologie Die mexikanische Poesie des 20. Jahrhunderts. 22 Jahre später beschäftigte er sich in Szenen der Scham und der Geilheit mit dem Liebesleben der MexikanerInnen.
Konsequent zog Monsiváis gegen die autoritäre und korrupte Staatspartei PRI ins Gericht. Monsiváis, selbst ein „68er“, forderte er über Jahrzehnte die Aufklärung des Massakers, das Soldaten 1968 an Studierenden angerichtet hatten. Lange bevor die indigenen RebellInnen vom zapatistischen Befreiungsheer EZLN 1994 mit einem Aufstand auf sich aufmerksam machten, beschäftigte er sich mit der Situation der mexikanischen UreinwohnerInnen. Und er zählt zu den wenigen Journalisten, die den EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos mehrmals persönlich interviewt haben. Freilich nicht, ohne seinen großen Respekt gegenüber den Aufständischen mit einer deutlichen Kritik etwa an deren Märtyrer-Inszenierungen zu verbinden. Das kam nicht überall gut an, genauso wenig wie seine kritische Haltung gegenüber dem kubanischen Regime und sein Bemühen, die Fehler der zusammengebrochenen sozialistischen Welt radikal aufzuarbeiten.
Monsiváis war nicht engstirnig, wenn es galt, seine Meinung auszudrücken. Das zeigt nicht zuletzt die Spannbreite der Medien, für die er arbeitete: Seine oft mit beißendem Humor geschriebenen Essays und Kommentare sind in der konservativ-liberalen Tageszeitung Reforma ebenso zu lesen wie in der linken La Jornada. Er hinterlässt über ein Dutzend Bücher sowie unzählige Artikel in Zeitungen, von denen er einige selbst mit gegründet hat. Und es gibt keine Bühne in Mexiko-Stadt, auf der Monsiváis nicht zu hören war. Das gefiel ihm ganz gut, und wohl deshalb erklärte er einmal mit Blick auf den größten Platz und wichtigsten politischen Ort der Stadt: „Verteilt meine Asche auf dem Zócalo, damit ich mit einem mehr oder weniger zentralen Begräbnis protzen kann.“

Nachdruck aus der taz vom 22.06.2010

Das Drama von San Juan Copala

„Ein Kugelhagel deckte uns ein“, erinnert sich eine Überlebende. Mit Schrecken denkt sie an die Umstände des Überfalls vom 27. April zurück. An jenem Tag befand sich eine deutlich als „Friedenskarawane“ gekennzeichnete Fahrzeugkolonne auf dem Weg in die von Paramilitärs belagerte Gemeinde San Juan Copala, um Lebensmittel und Medikamente zu bringen. Kurz vor ihrem Ziel geriet sie in einen Hinterhalt der paramilitärischen Gruppe UBISORT (Einheit für das Soziale Wohl der Region Triqui). Allein 21 Einschüsse wurden im vordersten Geländewagen gezählt, in dem Beatriz Cariño, 37-jährige Leiterin der lokalen sozialen Organisation CACTUS, und der 33-jährige finnische Menschenrechtsaktivist Jyri Jaakkola getötet wurden. Die zwanzig Überlebenden, darunter MenschenrechtsbeobachterInnen aus Deutschland, Belgien, Italien und Finnland, standen nach der kaltblütigen Attacke unter Schock, mehrere erlitten Schussverletzungen. Die meisten der TeilnehmerInnen gerieten auf der Flucht in die Fänge der Angreifer. „Die Paramilitärs prahlten, sie hätten die Rückendeckung des Gouverneurs Ulises Ruiz Ortiz (von der Revolutionären Institutionellen Partei PRI, Anm. d. Red.), luden ihre Gewehre durch und bedrohten uns“, erzählt die Augenzeugin weiter. Schließlich hätten sie die Gefangenen mit der Bemerkung, dass sie ihnen „für dieses Mal das Leben schenkten“ freigelassen.
Ein Krankenwagen, der sich in das Gebiet wagte, musste unter Beschuss umkehren. Die im Hauptort Santiago Juxtlahuaca stationierte Polizei wagte sich erst 24 Stunden nach dem Überfall kurz in die Region, um die Leichen zu bergen. Vier Vermisste harrten tagelang im Wald versteckt aus. Zwei Aktivisten des libertären Kollektivs VOCAL gelang schließlich die Flucht. Ihr Handy-Video mit Aufnahmen der beiden anderen Vermissten setzte die Behörden, die sich durch völlige Untätigkeit auszeichnen, unter Druck, doch noch eine Suchaktion zu unternehmen. Nach langen 60 Stunden ohne Nahrung wurden der verletzte Fotoreporter und die Journalistin von Contralínea gerettet. Fotos derselben Zeitschrift bezeugen, dass der Suchaktion Absprachen der Polizei mit dem Anführer der Paramilitärs vorausgegangen waren.
Seit Ende 2009 befindet sich die Region, Stammgebiet der indigenen Triquis, im Würgegriff der Paramilitärs. Der Versuch einer indigenen Selbstverwaltung, gestartet 2007, wurde damals durch die paramilitärische Besetzung des Gemeindesitzes von San Juan Copala abgewürgt. Am schlimmsten ist die Situation in der Gemeinde San Juan Copala selbst. „Strom und Wasserzufuhr wurden gekappt, weder LehrerInnen noch medizinisches Personal sind noch im Dorf, und wenn die Frauen auf der Suche nach Wasser und Essen sich trauen, die Häuser zu verlassen, werden sie bedroht”, erzählt Jorge Albino Ortíz, Sprecher des autonomen Bezirks. Die mit schweren Waffen ausgestatteten Paramilitärs der UBISORT und der MULT (Bewegung der Vereinigung und des Kampfes Triqui) kontrollieren seitdem den Zugang zu der Gemeinde. Über 20 politische Morde, auch an Frauen und Kindern, wurden seit Ende des letzten Jahres verübt. Opfer haben alle Konfliktparteien zu beklagen. Die Karawane wollte diese unhaltbare Situation dokumentieren, den eingeschlossenen DorfbewohnerInnen helfen und auch die LehrerInnen an ihren Arbeitsplatz zurück begleiten. Noch am Vortag der Ankunft kündigte der Sprecher der UBISORT an, sie würden die Karawane stoppen. Er machte seine Drohung war – mit tödlichen Konsequenzen. Doch wie konnte die Situation überhaupt so eskalieren?
Es ist kein leichtes Unterfangen, die historischen Wurzeln der Auseinandersetzung sowie das aktuelle Konfliktfeld zu verstehen. Nur wenige Quellen sind einigermaßen zuverlässig, zudem handelt es sich meist um Beschreibungen von Außenstehenden. Tatsache ist, dass die politische Gewalt in der Triqui-Region bereits seit Jahrzehnten andauert. Die Triquis, wie auch die anderen indigenen Völker Mexikos, litten in den Jahrzehnten vor und nach der mexikanischen Revolution (1910 bis 1917) unter systematischer Landenteignung durch GroßgrundbesitzerInnen und mestizische Gemeinden. Die letzte größere Konfrontation der Triquis mit dem Staat datiert aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Militärs und Händler ein blühendes Tauschgeschäft Kaffeebohnen gegen Schnaps, Waffen und Munition betrieben. Militäreinheiten beschlagnahmten die Waffen, nur um sie dann den Indigenen erneut zu verkaufen. Eines Tages ermordeten erzürnte BewohnerInnen von San Juan Copala mehrere Soldaten. Als Antwort beschossen Militärflugzeuge die Hütten von Copala und der mexikanische Staat entzog Copala den Status des Bezirks. Seither sind alle Triqui-Indigenen auf die drei umliegenden mestizischen Bezirke aufgeteilt und nicht als eigenständige Verwaltungseinheit anerkannt. Die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte mit den zentralen Konfliktparteien MULT, UBISORT und MULTI (Bewegung der Vereinigung und des Kampfes Triqui Independiente), und deren Kampf um politische Macht sowie der Verteilung von staatlichen Unterstützungsgeldern ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.
Die MULT entstand 1981 aus einer quasi informellen Kaffeekooperative, der einzigen Organisationsform, welche den Triquis zu dieser Zeit erlaubt war. Die MULT führt zwar einen linken Diskurs, fordert indigene Rechte und Landtitel ein, doch ist sie auch mit der in Oaxaca seit 81 Jahren autoritär herrschenden PRI verbunden. Aus ihren Reihen gründete sich 2004 die Partei der Volkseinheit PUP, die als eine Art simulierte Opposition der PRI half, bei den Gouverneurswahlen 2004 der Oppositionsallianz wichtige Stimmen abzunehmen. Der doppelbödige Charakter der MULT-PUP zeigt sich auch dadurch, dass sie sich 2006 zwar der „anderen Kampagne“ der Zapatistas anschloss, nicht aber der Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO. Bei den diesjährigen Gouverneurswahlen ist die Spitzenkandidatin der PUP, die sich selbst als indigene Partei bezeichnet, eine Weiße, die früher der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN angehörte. Nach dem Aderlass durch die Abspaltung der MULTI im Jahre 2006 konsolidierte die MULT ihre Basis und verfügt heute über rund 7.000 Mitglieder in 22 Gemeinden.
Die UBISORT ging 1994 aus einer PRI-Fraktion mit dem strategischen Ziel hervor, den zaptistischen Einfluss in der Triqui-Bevölkerung zu schwächen. Die Hauptforderung von UBISORT ist die erneute Militarisierung der Gegend. Inzwischen hat die Gruppe an Unterstützung verloren, hält sich aber in drei Gemeinden mit circa 300 UnterstützerInnen. Trotz ihrer geringen Größe ist sie einflussreich, da sie am besten bewaffnet ist und volle Rückendeckung der PRI genießt. So war ihr Anführer ein Schüler des derzeitigen Innenministers von Oaxaca an der Rechtsfakultät. Seit November 2009 scheint sich die UBISORT mit der MULT verbündet zu haben, um den autonomen Bezirk San Juan Copala zu belagern, was MULT jedoch bestreitet.
Die MULTI entstand während des Konflikts 2006 (siehe LN 427) aus Sektoren von MULT und UBISORT, die sich nicht länger vor den Karren der PRI spannen lassen, sondern als indigene Bewegung unabhängig sein wollten. Sie ist sowohl Teil der „anderen Kampagne“ als auch der APPO. Gemeinsam mit Teilen der UBISORT erklärte die MULTI im Januar 2007 San Juan Copala zum autonomen Bezirk. Der daraus resultierende blutige Konflikt mit der MULT konnte auch nicht durch verschiedene Vermittlungsbemühungen von außen beigelegt werden. Die Allianz der dissidenten UBISORT-Familien mit MULTI war allerdings stets instabil und zerbrach im Oktober 2009. Während Schätzungen davon ausgehen, dass sich zu Beginn rund die Hälfte der gesamten Triqui-Bevölkerung (15.000 in der Region, gleich viele in der Migration) dem autonomen Projekt angeschlossen hätten, schwanken die Zahlen zur aktuellen Unterstützung sehr. Je nach Quelle ist die Rede von einigen Hundert bis zu 3.500 UnterstützerInnen der MULTI, verteilt auf sechs Gemeinden.
Allen drei Organisationen ist gemein, dass sie eine Gruppe von Bewaffneten angestellt haben, was in Gemeinden Südmexikos keine Seltenheit ist. Die Organisationen beschuldigen sich gegenseitig, schwere Verbrechen begangen zu haben, unter anderen auch der Ermordung von Frauen und Kindern. Gerade die Gewalt an Frauen ist ein Thema für sich, beklagen doch Triqui-Frauen aller Gruppierungen, dass sie als Kriegsbeute behandelt würden. So sind zwei Frauen der MULT seit 2007 verschwunden, zwei junge Radiomacherinnen der MULTI wurden 2008 ermordet. Eine Delegation von mutigen Frauen aus dem belagerten San Juan Copala, die die Gemeinde verließen, um Lebensmittel zu beschaffen, wurde von UBISORT überfallen. 13 Frauen und Kinder befanden sich eine Nacht lang in der Gewalt der Paramilitärs und mussten Übergriffe erdulden.
Die Gründe, warum sich die einzelnen Gemeindemitglieder der einen oder der anderen Organisation anschließen, sind nicht unbedingt strikt politischer Natur. So äußert der universitäre Forscher Francisco López Bárcenas (dessen Buch San Juan Copala: Dominación política y resistencia popular unter www.desinformemonos.org erhältlich ist): „Der ideologische Diskurs existiert schon, aber er ist dem Klanwesen untergeordnet. Wenn ein Familienoberhaupt entscheidet, sich einer Organisation anzuschließen, dann macht er das zusammen mit den Familien seiner Söhne und sogar seiner Brüder. Deshalb schließen sich ganze Dörfer der einen oder anderen Organisation an.“ Laut den Aussagen von Angehörigen der MULTI hatte die Führungsschicht der MULT neue, junge Autoritäten ignoriert und so wichtige Familien von den Machtpositionen ferngehalten, was mit zur Abspaltung und des bis heute andauernden Konflikts beitrug. Eine der zentralen Forderungen der neuen Generation war die transparente Verteilung der föderalen Unterstützungsgelder, welche in den südlichen Bundesstaaten Oaxaca, Chiapas und Guerrero von enormer Bedeutung für die verarmten Gemeinden sind.
Die Eskalation des Machtkampfs um San Juan Copala, dem historischen Kern der Triqui-Nation, begann schließlich im November 2009. Nachdem MULTI die Allianz mit UBISORT aufgekündigt hatte, wollte eine Karawane der „anderen Kampagne“ in jenem Monat dem autonomen Bezirk San Juan Copala einen Solidaritätsbesuch abstatten. Doch UBISORT verhinderte die Ankunft der Karawane, gleichzeitig attackierten Militante der MULT San Juan Copala, wobei ein Schulkind erschossen wurde. Seither wird San Juan Copala von UBISORT und MULT belagert, während die Mehrheit der AnwohnerInnen der MULTI zuzuordnen ist. Als am 8. Dezember ein UBISORT-Anhänger ermordet wurde, eroberte die Gruppe den Gemeindesitz mit Waffengewalt. Im März 2010 schaffte es eine Frauendemonstration von MULTI zwar, den Gemeindesitz zurückzuerobern, doch können die politischen RepräsentantInnen das Gebäude nicht mehr verlassen, ohne unter Beschuss zu geraten. Eine Reportage von drei Reportern der Zeitschrift Contralínea, die Mitte Mai auf abenteuerlichen Wegen den Belagerungsring durchbrechen konnten, zeigt, wie unmöglich das Leben in der Gemeinde ist. Kaum jemand traut sich auf die Straße, denn von den Hügeln und aus dem verlassenen Militärcamp gleich hinter dem Gemeindesitz beschießen die Paramilitärs die Gemeinde nach Belieben.
Lange Zeit schien es, die schwersten Auseinandersetzungen beschränkten sich auf die Gemeinde San Juan Copala, während andere Gemeinden, die sich ebenfalls in dem autonom Bezirk befinden, relativ in Ruhe gelassen wurden. San Juan Copala hat offenbar ein zu hohes politisches Gewicht, als dass die PRI-Regierung hinnehmen will, durch eine zapatistisch inspirierte indigene Autonomie die Kontrolle zu verlieren. So setzt sie die Zahlung von staatlichen Geldern aus, und setzt so die paramilitärischen Gruppen unter Druck, gegen die autonomen Autoritäten vorzugehen. Eine ähnliche Argumentation war auch schon in Chiapas zu hören, wo staatliche Institutionen in der Region der Montes Azules den Mitgliedern der paramilitärischen Opddic drohten, es gäbe keine Unterstützung, solange der Widerstand der Dörfer der „anderen Kampagne“ nicht gebrochen sei.
Inzwischen hat die Gewaltwelle jedoch auch andere Dörfer erfasst. Am 20. Mai wurden in der Gemeinde Yosoyuxi Timoteo Alejandro Ramírez und dessen Ehefrau Cleriberta Castro erschossen. Ramírez galt als „natürliche Autorität“ seiner Gemeinde sowie als Gründer und „politisches Hirn“ des autonomen Bezirks San Juan Copala. Laut Augenzeugen handelt es sich bei den Tätern, denen die Flucht gelang, um nicht-indigene Auftragsmörder aus dem Nachbarbezirk. Laut Aussage des Sprechers von MULTI, verkehrten die als Händler getarnten Mörder bereits seit eineinhalb Monaten in der Gemeinde, um Waren zu verkaufen. Dies lässt vermuten, dass der Mord schon vor der Karawane vom 27. April geplant wurde. Die MULTI bezeichnete die MULT als verantwortlich für den Doppelmord. Andere Stimmen wie Miguel Badillo, Chefredakteur von Contralínea, sehen darin ein klares „Staatsverbrechen“, um mit einer Person abzurechnen, welche sich als zu gefährlich für das PRI-System herausstellte: „Er kämpfte für den Frieden in der Region, forderte das Recht auf indigene Autonomie ein; bat dass die Politiker und Kaziken aufhörten, die öffentlichen Gelder zu stehlen und dass diese stattdessen den Gemeinden zugute kämen“. Der Mord an Ramírez lässt befürchten, dass die Gewaltspirale nochmals an Dynamik gewinnt.
Der Fall Ramírez zeigt, dass das unsägliche Gerede der Regierung, welche die Gewalt in der Region als Teil der Triqui-Kultur darstellen will, eine rassistische Ausrede ist. „Wir Triquis sind nicht von Natur aus gewalttätig, wie dies Ulises Ruiz Ortiz sagt“, meint Jesús Martínez Flores, der aktuelle Präsident des autonomen Bezirks. „Die Gewalt kommt von außen“, betonte auch ein Mitglied eines Triqui-Ältestenrates im Interview.
Der Zeitpunkt der Eskalation der letzten Wochen ist kein Zufall. Oaxaca befindet sich derzeit in der heißen Phase des Gouverneurswahlkampfs. Gabino Cué, charismatischer Kandidat einer parteipolitisch äußerst zweifelhaften Links-Rechts-Allianz, liegt laut Umfragen klar vor dem PRI-Kandidaten Eviel Pérez Magaña. Die Destabilisierung der Region liegt im Interesse der Regierung. So befürchtet die Plattform der lokalen NRO eine „Wahl der Angst“, was der PRI mit ihrer starken Stammwählerschaft zugute käme. Die Wahlen am 4. Juli in Oaxaca und in acht weiteren Bundesstaaten gelten als Testlauf für die gesamtmexikanischen Präsidentschaftswahlen von 2012, wobei der PRI derzeit die besten Chancen eingeräumt werden. Kein anderer als der eigentlich vollkommen diskreditierte Ulises Ruiz Ortiz will die Rückeroberung der Macht orchestrieren: Er kündigte an, nach dem Ende seiner Amtszeit als Gouverneur den Parteivorsitz übernehmen zu wollen.
Die Menschenrechtsarbeit sieht sich derweil vor größte Probleme gestellt. Für sie bedeutet der mörderische Angriff auf die Friedenskarawane am 27. April den GAU. Das bisherige Konzept, durch die Teilnahme internationaler BeobachterInnen den lokalen Menschenrechtsorganisationen einen größeren Spielraum und Schutz zu verschaffen, muss neu überdacht werden. Auf Unterstützung durch die Regierung kann die Menschenrechtsarbeit jedenfalls nicht hoffen. Während die Regierung Oaxacas durch ihre Unterstützung von UBISORT und MULT eine direkte Verantwortlichkeit für die ausufernde Gewalt trägt, zeichnen sich bundesstaatliche Stellen durch Untätigkeit und Ignoranz aus. Beispielhaft dafür ist, dass die mexikanische Botschafterin in Brüssel den Überfall als „Unfall“ bezeichnete. Präsident Felipe Calderón, der sich auf seiner Europareise mit zahlreichen Protesten von Solidaritätsgruppen konfrontiert sah, äußerte sich nach drei Wochen erstmals zu den Ereignissen. Gegenüber der finnischen Präsidentin versprach er, den Mord an Jyri Jaakkola aufzuklären, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch Calderóns tatsächlicher Aufklärungswille ist höchst fraglich. So befinden sich auch die Mörder des US-Amerikaners Brad Will, der 2006 in Oaxaca erschossen wurde, weiterhin auf freiem Fuß (siehe LN 429). Von der Aufklärung der zahlreichen Morde an mexikanischen Menschenrechtsaktivistinnen erst gar nicht zu reden.
Die MULTI und mit ihr solidarische Organisationen wollen mit einer neuen, dritten Karawane am 8. Juni die paramilitärische Belagerung durchbrechen. Doch was als politisches Druckmittel Sinn macht, stellt die Verantwortlichen der Initiative gleichzeitig vor ein unlösbares Dilemma: An den lokalen Machtverhältnissen hat sich nichts geändert. Das bedeutet, entweder werden sie erneut beschossen, oder sie reisen mit dem Einverständnis oder gar in Begleitung von Paramilitärs und Regierung. Letzteres würde wiederum der Regierung eine gewisse Anerkennung als neutralem Akteur verleihen. Tatsächlich war nach medialem Sperrfeuer von UBISORT und Innenminister gegen den neuen Karawanenaufruf plötzlich zu vernehmen, dass der Gouverneur Ulises Ruiz die Karawane „willkommen heiße“. Auch dass sich hohe Politiker der linkszentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wie Alejandro Encino, Koordinator der PRD im Bundesparlament, plötzlich „an die Spitze der Karawane“ stellen wollen, lässt befürchten, dass die Triquis endgültig zum Spielball des Wahlkampfs werden.
Wie auch immer das Drama um San Juan Copala weitergeht, die in Mexiko aktiven Menschenrechtsorganisationen müssen unter den aktuellen Rahmenbedingungen ihre Strategien neu überdenken. San Juan Copala ist ein Fall, der ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde, aber längst nicht der einzige. Andere Gemeinden in Südmexiko leben unter ähnlichen Umständen, die Gewalt und der Unwillen der Institutionen, dieser ein Ende zu setzen, sind symptomatisch für das Mexiko von heute. „Die paramilitärischen Angriffe auf widerständige Gemeinden in Oaxaca, Guerrero und in Chiapas haben dasselbe Grundmuster“, betont Raymundo Díaz vom Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit in Acapulco. Menschenrechtsarbeit in extrem konfliktreichen Regionen muss umsichtig und mit allen gebotenen Sicherheitsmaßnahmen geschehen. Vereinzelte, spontane Aktionen bringen keine grundlegende Verbesserung der Situation und der Preis ermordeter AktivistInnen ist fraglos zu hoch.
Im Fall der Karawanen der „anderen Kampagne“ in die Triqui-Region hat eine einseitige Solidarität mit dem autonomen Bezirk sicher mehr zur Zuspitzung denn zur Lösung des Konflikts beigetragen. Wichtiger als solche überhasteten Aktionen wäre das Sichtbarmachen der Interessen hinter dem de facto Kriegszustand sowie der Verantwortung der mexikanischen Behörden für die endemische Gewalt gegen soziale Organisationen. Dass auch europäische Interessen in der Region eine große Rolle spielen, zeigt die „Adelung“ Mexikos als zehnter „strategischer Partner“ der EU am Rande des Lateinamerika-Gipfels Mitte Mai. Das unkritische bis komplizenhafte Engagement europäischer Unternehmen in Bundesstaaten, in denen systematisch die Menschenrechte verletzt werden, könnte einer neu justierten Menschenrechtsarbeit einen zentralen Ansatz bieten.

Mexikos Gewerkschaften proben den Streik

Massendemonstrationen und Blockaden bestimmten das Bild vieler Städte Mexikos am 16. März. Ein breites Bündnis, angeführt von der Gewerkschaft der Mexikanischen ElektrizitätsarbeiterInnen SME, hatte für diesen Tag zu einem „Nationalen Politischen Streik“ gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Regierung von Präsident Felipe Calderón aufgerufen. Besonders die Gewerkschaft der MinenarbeiterInnen und die oppositionellen Lehrersektionen beteiligten sich, so dass in 25 der insgesamt 31 Bundesstaaten Aktionen verzeichnet werden konnten. Ein beachtlicher Mobilisierungserfolg in einem Land, in welchem die Gewerkschaften traditionell als verlängerter Arm der Regierung in die korporatistische Machtstruktur eingebunden waren. Die seit bald zehn Jahren regierende Partei der Nationalen Aktion PAN führte dieses Erbe der Revolutionären Institutionellen Partei PRI weiter, ist aber in jüngster Zeit auf Konfrontationskurs zu den nicht (mehr) kontrollierten Sektoren der Gewerkschaften übergegangen.
Die Menschen haben guten Grund, sich den Protesten der SME anzuschließen. Schließlich sind die Pläne der Regierung Calderóns zur Reformierung des Arbeitsgesetzes ein frontaler Angriff auf alle Lohnabhängigen. Diese sehen neben einer Legalisierung der Praxis der Anstellung über Subunternehmen, um so Arbeitsrechte zu verweigern, eine die massive Ausdehnung der Probezeit vor . Auf der anderen Seite soll das Streikrecht deutlich begrenzt werden. Zentrale Forderungen der Streiktage waren neben dem Erhalt der SME-Arbeitsplätze auch die Rücknahme des Reformvorhabens., sowie der Rücktritt des Arbeitsministers, Javier Lozano und Calderóns selbst, der immer hemmungsloser auf Repression gegen die sozialen Bewegungen und Militarisierung des Landes setzt.
Das Datum des Aktionstags war nicht zufällig gewählt: Am 16. März lief der Tarifvertrag der SME aus. Doch die 44.000 in der Gewerkschaft organisierten ElektrizitätsarbeiterInnen sind schon seit fünf Monaten ohne Arbeit, nachdem Mexikos Präsident Felipe Calderón die staatseigene Stromgesellschaft LFC über Nacht per Dekret aufgelöst hatte und alle Gebäude polizeilich-militärisch besetzen ließ (siehe LN 426). Der Entmachtung der kämpferischen SME liegen Privatisierungsbestrebungen zugrunde, die sich insbesondere auf das Glasfasernetz für Internet, Telefon und Fernsehen im Zentrum Mexikos konzentrieren. Die SME hatte sich allen Privatisierungsversuchen stets widersetzt. Stattdessen forderte sie, diese Dienste den Schulen und Universitäten gratis und allen anderen NutzerInnen zu günstigen Konditionen anzubieten. Auf den Handstreich gegen sie reagierte die älteste Gewerkschaft Mexikos mit Demonstrationen, einem Hungerstreik, der juristischen Anfechtung des Dekrets und Verhandlungen, doch ohne Erfolg.
Die Kräfte der SME im monatelangen, erfolglosen Ringen schienen langsam zu erlahmen. Viele ArbeiterInnen akzeptierten die Abfindungen und damit auch die Liquidation ihrer Arbeitsplätze. Doch dass der Widerstand noch nicht zu Ende ist, zeigt der Streiktag, zu dem die SME über die Plattform Versammlung des Mexikanischen Volkswiderstands (AMRP) aufgerufen hatte. In der AMRP sind hunderte Organisationen unterschiedlichster Couleur repräsentiert, darunter die oppositionellen Lehrersektionen und auch die MinenarbeiterInnen. Letztere tragen episch lange Arbeitskämpfe aus (siehe Kasten).
Am Streiktag besetzten die SME-GewerkschafterInnen die Eingänge von mehreren Dutzend Gebäuden der Stromgesellschaft in der Hauptstadt und umliegenden Bundesstaaten und verzierten sie mit schwarz-roten Streikfahnen. Ziel war, diese Eingänge solange unter Kontrolle zu behalten, bis die Liquidierung des Unternehmens LFC rückgängig gemacht wird. Verschiedene Repressalien schwächten die geplanten Blockadeaktionen: In der von der sozialdemokratischen Partei der Demokatischen Revolution regierten Hauptstadt wurde das Hissen der Streikfahnen im historischen Zentrum verhindert. In der Folge eines massiven Tränengaseinsatzes der Polizei gegen AktivistInnen in Mexiko-Stadt mussten 500 Kinder aus einer Krippe evakuiert werden. Weitere Polizeiaktionen folgten: Im Bundesstaat Hidalgo wurde in der Nacht das Haus eines Gewerkschafters durchwühlt, in Puebla entführten Polizeieinheiten zwei SME-Aktivisten über Stunden, sie wollten damit die Aufgabe von 17 Blockaden erzwingen. »Die Polizisten ertrugen es nicht, dass sie die Kontrolle über den Zugang zu den Strominstallationen verloren«, kommentiert Eric García, lokaler Regisseur, der einen Dokumentarfilm zum Widerstand der SME dreht. Er sieht nach dem 16. März die Chance eines zweiten Atems der Bewegung.
Nicht von ungefähr fanden die massivsten Proteste am Streiktag in Oaxaca statt: 70 000 LehrerInnen blockierten ab dem frühen Morgen wichtige Straßen, Regierungsgebäude und Niederlassungen multinationaler Konzerne und legten das öffentliche Leben im Bundesstaat nahezu lahm. Auch die Studierenden der Universität von Oaxaca besetzten den Campus und übernahmen den Radiosender der Hochschule. Dieser sicherte zusammen mit einem Sender der LehrerInnengewerkschaft und lokalen Gemeinderadios die Kommunikation der Streikenden. Anarchistische Gruppierungen und Gemeinden, welche sich gegen Staudamm-, Schnellstraßen- und Minenprojekte organisieren, schlossen sich den Protesten an. Der Geist des Aufstandes von 2006 wehte durch Oaxaca. Damals bot die Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO während sechs Monaten der Oligarchie die Stirn. „Oaxaca ist und bleibt die Stadt des Widerstands“, erklärte ein Koordinator der Gewerkschaft im Radio der LehrerInnen, kurz bevor das nicht bewilligte Radio Plantón durch ein Störsignal zu einem Frequenzwechsel gezwungen wurde.
Erste unmittelbare Erfolge konnten in Oaxaca ebenfalls erzielt werden. Auf Druck der DemonstrantInnen wurde am Verhandlungstisch mit dem Innenministerium die Freilassung von zwei indigenen Gefangenen erreicht. Die beiden Bauern aus der Gemeinde Santiago Xanica hatten zu den ersten politischen Gefangenen des Gouverneurs Ulises Ruiz gehört, gegen den sich bereits die Proteste von 2006 gerichtet hatten. Der dritte Gefangene aus derselben Konfrontation ist weiter in Haft. An der strukturellen Gewalt ändern solche häppchenweisen Zugeständnisse jedoch nichts. Die mexikanische soziale Bewegung wird weiter hart darum kämpfen müssen, nicht zwischen den Strukturanpassungsmaßnahmen und der Kriminalisierung des sozialen Protests aufgerieben zu werden. Der eher symbolische nationale Streiktag vom 16. März ist da zumindest ein hoffnungsvoller Anfang.

KASTEN:
Cananea: Mine seit 32 Monaten bestreikt

In der Stadt Cananea (Bundesstaat Sonora), unweit der Grenze zu den USA, befinden sich 1100 Minenarbeiter seit Juli 2007 im Streik. Doch im Februar dieses Jahres verlor die Gewerkschaft der weltweit drittgrößten Kupfermine die letzte gerichtliche Revision, die Arbeiter der BetreiberInnenfirma Grupo México (deren Aktien auch europäische Rentenversicherer halten) sind offiziell entlassen. Der Streik wurde zwar von den Behörden als legal bezeichnet, aber das Arbeitsverhältnis wegen angeblicher Zerstörungen an den Einrichtungen der Mine für beendet erklärt. Eine Reportage der regierungskritischen Zeitschrift Proceso berichtet im Widerspruch dazu von intakten Installationen der besetzten Mine. Die ArbeiterInnen halten den Mineneingang weiter besetzt, eine gewaltsame Räumung wird befürchtet.
Zentraler Grund des Streiks war die versuchte Zerschlagung der Minengewerkschaft durch die Regierung und Grupo México, indem sie eine der Unternehmensleitung genehme Gewerkschaft anerkannt und Wahlen einberufen hatten, bei denen die ArbeiterInnen gezwungen waren, dieser Gewerkschaft beizutreten. Der gewählte eigentliche Anführer der Gewerkschaft, Napoleon Gómez Urrutia, lebt aufgrund eines Haftbefehls wegen Korruption gegen ihn im kanadischen Exil. Verbunden war der Haftbefehl mit der Beschlagnahmung des Gewerkschaftsvermögens. Laut Internationalem Gewerkschaftsbund beruhen die Beweise gegen die Gewerkschaftsspitze auf Fälschungen. Sicherlich ist der Multimillionär Gómez – ähnlich wie auch andere Gewerkschaftbonzen – kein Engel. Einst „erbte“ er das Syndikat von seinem Vater, der die Gewerkschaft zuvor 40 Jahre lang autoritär geleitet hatte.
Dennoch hat gerade die kleine Ortschaft Cananea im historischen Bewusstsein der Arbeiterbewegung Mexikos eine immense symbolische Bedeutung. So war sie Schauplatz der gewaltsamen Niederschlagung eines Streiks 1906 (mit Beteiligung von US-Rangers aus dem nahegelegenen Arizona), der als Vorspiel der mexikanischen Revolution gilt. Jesus Verdugo vom Streikkomitee in Proceso: „Alle wissen, dass hier die Revolution begann. Hundert Jahre später sind wir am selben Punkt. Wenn sie Märtyrer wollen, dann werden sie sie hier finden, am Mineneingang.“

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