Aztekischer Touri-Nepp in Berlin

Schon der Eintritt schreckte ab: Zehn Mark, und das sogar für Kinder, von Er­mäßigungen für StudentInnen, Er­werbslose, RentnerInnen ganz zu schwei­gen. Nun gut, dachte ich mir, jetzt bin ich schon mal hier, jetzt will ich ihn auch sehen, den Sprecher der Azteken. Am Eingang Souvenir- und Bücherstände, wo mensch echte Federn, Federkronen, Azte­kenschmuck und natürlich Bücher Xokonoschtletls kaufen konnte. Die Preise waren ge­pfeffert, dünne Taschenbücher gab es nicht unter dreißig Mark.
Unterschriften für die Kopilliketzalli
Eine letzte Hürde war noch zu neh­men. Dabei handelte es sich um zwei Unter­schriftenlisten. Eine Unterschriften­sammlung war für eine Petition an das österreichische Parla­ment gedacht, die die Rückgabe der Federkrone “Kopilli-ketzalli” des letzten Aztekenkönigs Mote-kuhzoma Yokoyotzins (Montezuma) er­möglichen soll. Die Krone wurde nach der Ermordung des Königs von den Spaniern geraubt und Karl dem Ersten in Wien geschenkt. Die “säuerliche und feurige Kaktusfeige” (Xokonotschtletl) hat nun von seinem Volk den Auftrag erhalten, die Krone aus dem Wiener Völkerkunde­museum zurück nach Mexiko zu bringen. Um seine Forde­rung vor das österrei­chische Parlament bringen zu können, benötigt er 200.000 Unterschriften. 130.000 hat er schon. Die zweite Liste war eine Art Beschwerdeliste. Bei seinem letzten Besuch in Wien hat Xoko­noschtletl wohl etwas Ärger mit der Polizei bekommen und saß ungerecht­fertigterweise einige Tage im Gefängnis.
Mehr Zeit, Liebe und Harmonie
Na gut, ich also rein, hatte dann erst mal Zeit; das merkwürdige Publikum zu be­trachten. So gar nicht uniadäquat, lauter ältere Menschen und “Ottilie-Normal-BürgerInnen”. Mit einer Stunde Verspä­tung erscheint er end­lich. Die Zeitungen, die im Vorfeld über ihn berichteten, haben nicht gelogen. Er sieht wirklich aus wie Winnetou aus den Karl-May-Filmen. Er spricht sehr gut Deutsch und hat mal eben für seine Mission schnell mehrere Spra­chen gelernt. So spricht er neben Deutsch auch noch Französich und Portugiesisch. Und Spanisch spricht er ja so­wieso oder Nahuatl oder gar beides? Dann fängt er an zu erzählen. Er spricht frei, und das macht er wirklich gut. Ihm fehlt oft das richtige Wort an der richtigen Stelle, aber gerade das macht seine Botschaft besonders prä­gnant- und ist wahr­schein­lich auch beabsichtigt. So entschuldigt er seine Ver­spätung mit den Problemen “am Rand von einem Land in ein anderes”. Ja, und dann erzählt er und erzählt er, und es ist so schön, daß einigen Omis schon die Tränen in den Augen hän­gen, und einige Opis aus dem zustim­menden Kopfnicken gar nicht mehr herauskommen. Wir sind doch alle Brüder und Schwestern, und zwischen Mann und Frau gibt es keinen Unter­schied, und wir sollten uns doch alle lie­ben und respektieren und in Har­monie zu­sammenleben und mehr Zeit füreinander haben und sowieso mehr Zeit haben und die Natur ach­ten und ….
Aztekischer Tanz auf der Bühne
Das ist seine Botschaft. Als Erholung nach so vielen schönen Worten tritt nach etwa einer dreiviertel Stunde die Tanz­gruppe “Tloke Nauake” auf. Xoko­no­schtletl erklärt vorher die Be­deutung des Tanzes für die Azteken. Tanz ist die Bewegung der Klapper­schlange, und sie ist das Symbol für Weisheit. Tan­zen bedeutet, sich bei der Sonne zu be­danken. Laut Xokonoschtletl tanzen die Azteken manchmal vier Tage ohne zu es­sen und ohne sich auszuruhen. Ein Anlaß für so­lche Marathontänze sei zum Beispiel eine Son­nenfinsternis. Da haben die Azte­ken aber Glück, daß es die nicht so oft gibt.
Penecillin aus Tortillas
Nach der Tanzeinlage, die im holzgetä­felten Auditorium der Universität mit dem Hintergrundflair einer ganz normalen Schul­tafel, merkwürdig wirkt, geht der Vortrag weiter. Die “säuerliche und feu­rige Kaktusfeige” klärt uns noch darüber auf, daß es bei den Azteken keine Men­schenopfer gegeben habe. Das seien näm­lich höchst komplizierte chirurgi­sche Ope­rationen gewesen, die die Azte­ken aus­führten. Komisch, auch am Herzen haben die damals schon ope­riert? Wenn ich mich recht erinnere, gibt es eindeutige azteki­sche Bild­schriften, wo ein Herz in der Hand gehalten wird. Na gut, vielleicht irre ich mich ja. Als Beweis führt er an, daß sein Volk ja schließlich auch schon vor 3000 Jahren das Penicillin gekannt habe. Es wurde aus den Pilzen der Maisfla­den gewonnen. Penicillin aus Tor­tillas?! Warum machen sie das heute nicht mehr, schießt mir als Frage durch den Kopf. Auch war sein Volk friedfertig und lebte im Einklang mit den anderen am, im und um den See herum. Dazu malt er uns an die Schultafel ein Bild der Stadt Tenoch­titlan und klärt uns darüber auf, wieviel mal größer und bombasti­scher die Stadt im Vergleich zu euro­päischen Städten der damaligen Zeit war. Die Spanier waren platt vor Stau­nen. 50 Millionen Menschen zähle sein Volk heute noch, und 5 Millio­nen sprechen Nahuatl. Da purzelt nun lang­sam alles bunt durcheinander. Wahr­scheinlich meint er 50 Millionen Indí­genas und nicht Azteken. Ich werde immer saurer – fast wie eine Kaktusfeige.
Die Kaktusfeige ein Winnetou?
Als er den Vortrag beendet, will ich mich mit meinen Fragen auf ihn stür­zen. Doch ältere Herr- und Frauschaften haben ihn schon in Beschlag genommen. “Meine Frau schreibt auch, aber mehr Liebesro­mane, würden sie für uns diese Bücher sig­nieren” – und ein Stapel Bücher wandert in seine Hände, und er signiert und signiert. Das ist einfach zu viel für mich. In Chiapas verändern die Indígenas das politische Selbstver­ständnis Mexikos und vielleicht ganz Lateinamerikas, und der Sprecher der Azteken gibt nur Allgemein­plätze von sich. Ich bin den ganzen Abend noch wütend. Da hat mir Pierre Brice im Fernsehen besser gefallen – der war wenigstens kein echter Indianer. Aber echte, die sich benehmen wie Winne­tou, die ertrage ich nicht in der Reali­tät, die sind mir einfach zuviel.

USA schieben Aristide aufs Abstellgleis

Zu der in Miami durchgeführten Konferenz wurden RepräsentantInnen aller haitianischen politischen Parteien, Organisationen und Gruppen eingeladen. Außerdem sollten VertreterInnen internationaler Organisationen und der nordamerikanischen zivilen Gesellschaft dabei sein. Die zahlenmäßige Beteiligung übertraf alle Erwartungen. Die nationale Konferenz fand ohne die Militärs statt, obwohl Aristide eine Einladung an den von ihm vorgesehenen Nachfolger des derzeitigen Armeechefs Cédras geschickt hatte. Die US-Regierung drohte bis kurz vor dem Beginn mit einem Boykott. Der Zankapfel war ein von Aristide in den Mittelpunkt gerücktes Thema: haitianische Flüchtlinge und US-Abschiebepolitik. Die dreitägige Konferenz brachte aber nur Vorschläge, die der Regierung Aristides vorgelegt wurden. Eine durchsetzungsfähige Resolution oder sogar Mittel zur endgültigen Beendigung der Herrschaft der Militärs in Port-au-Prince wurden jedoch nicht beschlossen.
Still und fast unbemerkt verstrich unterdessen am 15. Januar das Ultimatum, das die sogenannten Vier Freunde Haitis, die USA, Kanada, Frankreich und Venezuela, den Militärs gestellt hatten. Sie hatten mit schärferen Sanktionen gedroht, falls die Putschisten nicht bis zum gesetzten Datum die Macht übergeben haben sollten. Frankreich schlug ein totales Embargo vor, wogegen sich die USA aus humanitären Gründen wandten. Kanada beschloß die Bildung einer haitianischen Polizei außerhalb Haitis; die USA waren in Zugzwang geraten und froren das Guthaben aller haitianischen Militärs auf US-amerikanischem Boden ein. Das Tauziehen um die Vorlage einer Verschärfung der UNO-Sanktionen vor dem Sicherheitsrat findet gegenwärtig unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Bisher geschah jedoch nichts Neues, was die Macht der Militärs ernsthaft gefährdet hätte. Einzig die verschärfte Erdölknappheit in Haiti und die dadurch erzeugte Putschmüdigkeit in den bürgerlichen Kreisen scheinen zu fruchten.
Angesichts der andauernden Verzögerung wandte sich Aristide Anfang Februar an die UNO, die OAS und einzelne “befreundete Staaten”, um Schutz für die verfolgten und flüchtenden HaitianerInnen zu erbitten. Er kritisierte dabei die widersprüchliche Politik der USA gegenüber den haitianischen Flüchtlingen. Das US-Außenministerium hatte einige Tage zuvor in seinem Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Welt die Situation in Haiti als katastrophal bezeichnet und die Militärs dafür verantwortlich gemacht. Trotzdem schwimmt die “Berliner Mauer” weiter, wie Aristide die US-amerikanischen Schiffe, die haitianische Flüchtlinge auf hoher See abfangen, genannt hat. Er bezeichnete diese Praxis als unvereinbar mit den internationalen und interamerikanischen Konventionen, denen die USA und Haiti angehören. Er drohte auch mit der Kündigung des Staatsvertrags, den seinerzeit Jean-Claude Duvalier unterzeichnet hat. Dieser gestattet es den USA, die abgefangenen HaitianerInnen ohne jegliche Einschaltung der US-Einwanderungsbehörde und ohne die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung der möglichen Asylanträge nach Haiti zurückzubringen.
Die US-Regierung reagierte prompt und kündigte einen Plan zur Rückkehr der Demokratie in Haiti an, der die sofortige Ernennung eines Premierministers vorsieht, aber die Rückkehr Aristides nach Haiti nicht mehr erwähnt. Daß hiermit die Clinton-Administration hinter die Position des Vorgängers Bush zurückgefallen ist, scheint die US-Öffentlichkeit derzeit nicht zu wundern. Gleichzeitig werden Gerüchte lauter, denen zufolge der Druck der USA auf Aristide, einen ihnen genehmen Premier sehr bald zu ernennen, sich verstärkt haben soll. Der angeblich geeignete Kandidat ist Julio Larosillière, ein Abgeordneter, der sich eindeutig zugunsten des Putsches ausgesprochen hatte. Larosillière reiste bereits nach Washington, um Kontakt mit der US-Administration aufzunehmen. Aristide seinerseits zögerte nicht und veröffentlichte am 15. Februar seine Stellungnahme: “Unter den gegenwärtigen Umständen wäre die Ernennung eines neuen Premierministers unverantwortlich. Nach dem Abkommen von Governors’ Island (das den Rücktritt der Anführer des Staatsstreichs sowie die Rückkehr Aristides zu einem späteren Zeitpunkt vorsah, d. Red.) habe ich bereits einen Premierminister ernannt. Die Gewalt und Unterdrükkung des Militärregimes verhinderten die Regierungsfähigkeit des neu ernannten Premierministers. Das politische Vakuum ist das Ergebnis der Angst, die die Militärs schüren. Die Regierung wird einen neuen Premierminister ernennen, wenn die Putschisten abgetreten und durch Offiziere ersetzt sind, die die zivile Macht anerkennen.”
Es bleibt noch offen, in welchem Ausmaß der Druck der US-Regierung zunehmen und welchen Einfluß dies auf die Position der anderen “Vier Freunde” haben wird. Die Auseinandersetzung zwischen der gewählten Regierung Aristides und den de facto-MachthaberInnen in Port-au-Prince ist bereits seit langem auch zum Kampf zwischen den USA und den haitianischen demokratischen Kräften geworden.

“Auf jeden Fall gewinnen”

Im Juli 1993 hatte eine “Gruppe der 29” in der sandinistischen Partei gefordert: “Die FSLN muß den Kampf des Volkes in klarer Distanzierung von dieser Regierung anführen.” Damals war das inoffizielle “Mitregieren” der FSLN in eine Krise geraten, weil die Regierung in Fragen der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu keinen Zugeständnissen bereit war. In der FSLN wurde diskutiert, ob sie die Führung bei den sozialen und gewerkschaftlichen Protesten übernehmen sollte, oder ob eine Reform des Staatsapparates einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise eröffnen würde, und sich damit gleichzeitig größere Chancen für eine Regierungsübernahme der FSLN bieten könnten. Die Parteiführungsgremien trafen keine prinzipielle Entscheidung.
Und sie verfolgen unterschiedlichen Linien: Die FSLN-Fraktion unter Führung von Sergio Ramirez, unterstützt von einem Teil der Nationalleitung, näherte sich an die Teile der zerfallenden U.N.O.-Parteienallianz an, die dazu bereit waren. Ziel: Sicherung der notwendigen Stimmen für eine Reform der Verfassung – gegen eine Verfassungsgebende Versammlung, die alles komplett neu formulieren würde. Obwohl die beabsichtigten Reformen mit einer gewissen Distanzierung von der Regierung verbunden zu sein scheinen – deren Kompetenzen beschnitten werden sollen -, ist die Parteilinke doch hellhörig geworden angesichts einiger Äußerungen des FSLN-Fraktionsvorsitzenden Sergio Ramirez bezüglich der verfassungsrechtlichen Regelungen zur Wahl des Präsidenten. In einem Abkommen, daß im November vergangenen Jahres mit der U.N.O. geschlossen wurde, heißt es nämlich zur Frage der Wiederwahl des Präsidenten, dieser könne nach “einmaligem Aussetzen” durchaus wieder kandidieren. Und gerade diese Passus wertete Ramirez lediglich als “Bezugspunkt”. Damit löste er Spekulationen aus, er wolle Daniel Ortega – der ja gerade eine Präsidentschaftsperiode “aussetzt” – aus dem KanditatInnenkreis ausschließen und eine mögliche eigene Kandidatur oder die Antonio Lacayos im Rahmen einer bürgerlich-fortschrittlichen Wahlallianz begünstigen.
Auf der anderen Seite profilierte sich FSLN-Generalsekretär Daniel Ortega als Fürsprecher der sozialen Bewegungen und sandinistischen Gewerkschaften. Ortegas Prestige ist eng mit den wenigen Erfolgen und vielen Niederlagen der sozialen Protestbewegung verbunden. Die für Sergio Ramirez äußerst günstigen und für Daniel Ortega nicht gerade hervorragenden Ergebnisse der letzten Beliebtheitsumfragen spiegeln dies wider.
In der FSLN scheint sich jedoch die Meinung durchzusetzen, daß eine Kandidatendiskussion jetzt schädliche Auswirkungen auf die gesamte Partei haben würde. FSLN-Nationalleitungsmitglied Tomás Borge warnte davor, mögliche Kandidaten durch eine verfrühte Personaldebatte zu verheizen. Zunächst müsse geklärt werden, mit welchen programmatischen Aussagen die FSLN sich den WählerInnen präsentieren will, um dann zu entscheiden, welcher Kandidat sie glaubwürdig vertreten kann. Alle Meinungsströmungen in der FSLN erklären, die FSLN müsse bei den nächsten Wahlen wieder die Regierung übernehmen. Denn “sonst bleibt überhaupt nichts mehr von dem übrig, was in zehn Jahren sandinistischer Regierung geschaffen wurde”, erklärte José Pasos, Mitglied der Gruppe der 29 und dienstältester Funktionär der FSLN-Auslandsabteilung DRI. Laut Pasos müßte man sich notfalls auch mit der “halben” Macht begnügen, das heißt die Regierungsgewalt mit anderen politischen Kräften teilen und bei der Kandidatenwahl Rücksicht auf mögliche Koalitionspartner nehmen. Darin sind sich wohl rechte wie linke SandinistInnen einig.
Allgemeiner Usus einer parlamentarischen Opposition ist, als Präsidentschaftskandidaten entweder den Fraktionsführer oder ein Vorstandsmitglied aufzustellen. So gewinnt die Frage der neuen Führungsgremien der FSLN zusätzlich zur innerparteilichen Demokratisierung an Bedeutung. Sogar der FSLN-Nationalleitung selbst ist klar, daß dieses Organ durch eine neue Führungsstruktur ersetzt werden muß. Wie die aber aussehen soll, ist noch offen. FSLN-Nationalleitungsmitglied Luis Carrión, Leiter der Kongreß-Statuten-Kommission, schlug die Wahl eines “Nationalen Rates” mit bis zu 25 Mitgliedern vor, der seinerseits jährlich ein “Exekutivkomitee” wählen sollte. Vor allem die linke Meinungsströmung ist mit dieser indirekten Wahl des Exekutivkomitees nicht einverstanden und setzt sich für dessen direkte und geheime Wahl auf dem Kongreß ein.
Alle FSLN-Flügel erklären, die inhaltlichen Fragen, also Programm und Statut, müßten den Vorrang vor personellen Entscheidungen haben. Aber angesichts der pragmatischen Politik der FSLN seit 1990 haben zwei Personen Fakten geschaffen. Was heute diskutiert wird, ist im wesentlichen eine Synthese dessen, was die Caudillos Daniel Ortega und Sergio Ramirez vertreten, gemeinsam oder gegeneinander.

Abschied vom Comandante

“Wenn es mal so wäre”, kommentiert der sandinistische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal die Frage, ob die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Zapatistas unterstützen würde. Denn sie tun es nicht. Die FSLN hat genauso wie die guatemaltekische URNG jahrelange Unterstützung von der mexikanischen Regierung erfahren, sei es materiell oder diplomatisch. Die PRI-Regierung erkannte die Guerilla-Bewegungen als “kriegführende Parteien” an, und in Mexiko-Stadt fanden viele Asyl, die als politische FührerInnen von Befreiungsbewegungen fliehen mußten.
Das ist verständlicher Grund für vornehme Zurückhaltung. Zuneigung korrumpiert die Analyse. Unverständlich aber ist, was ein “legendärer” Revolutions-Comandante sich an politischem Unsinn so leistet: Der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge, einziger noch lebender Mitbegründer der FSLN. Der ist richtig sauer über den Chiapas-Aufstand. Die Zapatistas stehlen seinem gerade veröffentlichten Buch die Show: Die Biografie von Mexikos Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, ein Buch über “den großen Staatsmann und Modernisierer Mexikos.” Nun zeigt Chiapas, wie Borge drucksend zugibt “ein Schwarzes Loch” in der ansonsten “substantiellen wirtschaftlichen Entwicklung” Mexikos. Es könnte ja egal sein, würde Borge nicht die ganze FSLN mit ins politische Schlamassel ziehen. Im Interview mit dem El Nuevo Diaro meint der Alt-Revolutionär, er wolle “nicht den geringsten Zweifel lassen: Die FSLN ist die Freundin der Regierung Mexikos und der PRI.” Und setzt nach: “An der Atlantikküste meines Landes ereignete sich eine ethnische Rebellion unter Führung der Miskitos. Was die Regierung Mexikos in den ersten Tagen nach Beginn der Ereignisse in Chiapas tat, hat gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir nach einigen Jahren Krieg taten. Deshalb begrüßen wir den Versuch der Regierung Mexikos, eine Verhandlungslösung zu finden.” Als ob nicht lediglich der Druck der Öffentlichkeit und der Gewehre die Regierung Salinas davon abgehalten hätte, die aufständischen Zapatistas kurzerhand zusammenzuschießen.
Daß Salinas seinen Innenminister auswechselte, nachdem dieser für tagelange Menschenrechtsverletzungen in den vom Militär abgesperrten Gebieten in Chiapas Anfang Januar verantwortlich war und der öffentliche Druck riesig wurde, ist für Borge “praktische Selbstkritik” der Regierung Salinas, aber nicht “am Gehalt ihrer Amtsführung oder der globalen Strategie der Regierung, sondern eine kühne und notwendige Selbstkritik an bestimmten, jetzt ganz offensichtlichen Fehlern.”
Borge erklärt kurzerhand, die Aufständischen in Chiapas müßten wohl über sehr gute Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen weltweit verfügen. Und überhaupt sei, wie man höre, eigentlich Bischof Samuel Ruiz für all das verantwortlich. Der habe seit zwanzig Jahren an der Vorbereitung des Aufstandes gearbeitet. Aber Borge sieht Hoffnung. Der neue PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio sei “ein Freund der Antworten vor Ort, weniger der bürokratischen Formalitäten.” So werde schon eine Lösung gefunden werden, die für ganz Lateinamerika Vorbild sein werde.
Eigentlich schade. Irgendwie war Tomás Borge, der alte, der radikale, doch sympathisch. Zeit, Abschied zu nehmen.

Die Gewinne denen, die den Kaffee anbauen…

Nun hat sich die Situation ja gründlich geändert. Nicaragua wird seit 1990 von konservativen Kräften (die Regierungsbeteiligung der FSLN sei hier mal vernachlässigt) regiert, die willfährig die Politik von IWF und Weltbank durchführen. Dabei ist Privatisierung das Zauberwort, Sozialdemontage soll ein Wirtschaftswunder einleiten.
Im Kaffeebereich stand die Rückgabe der enteigneten Betriebe an die alten BesitzerInnen auf dem Programm der Regierung. Dagegen setzte die ATC (LandarbeiterInnengewerkschaft) ihr Konzept der arbeiterInneneigenen Betriebe (APT). Dieses Modell ähnelt dem einer Aktiengesellschaft, wobei die ArbeiterInnen AktienhalterInnen sind, aber jede Person bei der Generalversammlung nur eine Stimme hat. Das Unternehmen hat bei Verkauf der Aktien ein Vorkaufsrecht. (Für weitere Information seien zwei Broschüren zum APT vom Informationsbüro Nicaragua, Postfach 101320, 42013 Wuppertal empfohlen.) Nach heftigen Konflikten mit der Regierung und früheren EigentümerInnen wurde schließlich erreicht, daß von den 132 staatlichen Betrieben die ArbeiterInnen 36, Ex Contras 21 und entlassene Armeeangehörige 19 erhielten. Der Rest wurde an die ehemaligen BesitzerInnen zurückgegeben, ein Teil aber ist nach wie vor besetzt. Als Kaufpreis für die 36 Betriebe wurden ca. 6 Millionen US $ vereinbart, die über 10 Jahre abzuzahlen und mit 7 Prozent zu verzinsen sind. Dies entspricht ca. einem Drittel bis einem Viertel des “Marktwertes”. Zudem gelten folgende “Rabattregelungen”:
Bis zum 30.3.94 zählt jeder gezahlte US $ wie 2 US $, es gibt also einen Rabatt von 50 %. Danach fällt der Rabatt jedes Jahr, erst auf dreißig Prozent, dann auf fünfzehn. Für Zahlungen ab dem vierten Jahr gibt es keine Ermäßigungen mehr.
Besagte Kaffeebetriebe, die sich zwischenzeitlich zu “Agrocafé S.A.” zusam-mengeschlossen haben, traten nun mit verschiedenen möglichen Kreditgebern in Kontakt, während gleichzeitig auch die Chancen diskutiert wurden, die Betriebe besetzt zu halten und die Landtitel zu “erkämpfen”, dies vor allem unter Berücksichtigung eines möglichen Wahlsieges der FSLN im Jahre 1996. Letzteres wurde verworfen, da es für die weitere Entwicklung des APT wichtig ist, “daß sich die ArbeiterInnen auch als EigentümerInnen fühlen”.
Schließlich betreiben reaktionäre Kräfte eine systematische Arbeit, um den APT zu destabilisieren. Also doch – unter völlig veränderten Bedingungen – das Land denen, die es bebauen?

Das Darlehensmodell

Wir von Ökotopia haben uns zusammen mit “Fairhandeln” aus Kiel das Ziel gesetzt, bis zum 20.3.93 einen Kredit von 250.000 US $ für Agrocafé aufzutreiben. Dies ist der Wunsch von Agrocafé! Die Entscheidung ist nicht leicht gefallen, schließlich gibt es genügend Fragen und Unwägbarkeiten: Inwieweit wird mit der Konzentration der ATC auf den APT (oh, diese Abkürzungen) deren Interessenvertretung für Landlose, Arbeitslose und Beschäftigte im privaten Sektor geschwächt? Wie verhält sich die ATC zu Entlassungen in den selbstverwalteten Betrieben? Inwieweit handelt es sich beim APT wirklich um ein partizipatives Modell? …. dies und noch viel mehr galt und gilt es zu bedenken. Außerdem haben wir eben den “alternativen Kaffeeberg” (LN berichtete) überlebt – sollten wir nun also schon wieder eine zusätzliche Verpflichtung eingehen?
Nach Abklärung der vielen rechtlichen Fragen ergibt sich jetzt folgende Situation:
I H R gebt mindestens DM 3000,- als Darlehen. Die Anlagedauer ist zwischen 1 und 5 Jahren wählbar, die Zinsen betragen maximal 6 Prozent. Das Währungsrisiko (der Kredit lautet ja auf US $) trägt der/ die Darlehensgeber/in. Als Vermittler- und Clearingstelle hat sich die Gruppe “Fairhandeln! e.V.”, Kirchhofallee 14, 24103 Kiel, Tel. 0431/671008 zur Verfügung gestellt. Als Sicherheit dient eine Abnahmegarantie der MITKA (ein Zusammenschluß von alternativen Kaffeegruppen, u.a. Ökotopia), die sich verpflichtet, während der nächsten fünf Jahre Kaffee zu garantierten Mindestpreisen von 132 US $/46 kg von Agrocafé zu beziehen (zum Vergleich sei hier der aktuelle Weltmarktpreis von ca 75 US $ erwähnt). Agrocafé tritt die jeweils fällige Zins- und Tilgungsumme an die MITKA ab, die sie an “Fairhandeln!” weiterleitet. “Fairhandeln!” ihrerseits übernimmt die Zins- und Tilgungsverwaltung und erhält dafür von Agrocafé ein Prozent der Gesamtdarlehenssumme. Agrocafé zahlt also insgesamt 7 Prozent Zinsen.
Weitere Informationen und die Darlehensverträge sind bei “Fairhandeln!” (Adresse siehe oben) zu erhalten.
Nach diesen komplizierten, aber hoffentlich verständlichen Ausführungen bleibt für uns eigentlich nur noch zu sagen: Gebt Darlehen und kauft NICAKAFFEE! Schließlich müssen wir den abgenommenen Kaffee auch verkaufen. Als besondere Empfehlung geben wir dieses Mal:
Zarter Sandino: entsäuert, magenfreundlich, supergut! Das 5kg Paket kostet 104,90 zzgl Porto – und wenn Ihr mehr nehmt (z. B. als VerteilerIn) wird’s noch günstiger. Ach ja – wer’s noch nicht weiß – der Kaffee ist 12 Monate haltbar.

Hans Häge/Ökotopia, Gneisenaustr.2a, 10961 Berlin, Tel:030/6911077

Beweist uns, daß es anders geht

“Als wir aus den Bergen herunterstiegen, beladen mit unseren Rucksäcken, unseren Toten und unserer Geschichte, kamen wir in die Stadt, um das Vaterland zu suchen. Das Vaterland, das uns im letzten Winkel des Landes vergessen hatte, im isoliertesten, ärmsten, dreckigsten Winkel, in der schlimmsten Ecke.
Wir kamen, um das Vaterland, unser Vaterland, zu fragen: Warum hast du uns so unglaublich viele Jahre einfach sitzen gelassen? Warum hast du uns mit soviel Tod alleine gelassen? Und wir möchten es noch einmal fragen, vermittelt durch Euch: Warum ist es notwendig zu töten und zu sterben, damit Ihr und durch Euch alle Welt Ramona zuhört, die hier bei uns ist, und so schreckliche Dinge sagt wie, daß die indianischen Frauen leben wollen, daß sie Schulen wollen, daß sie studieren wollen, daß sie Lebensmittel wollen, daß sie Respekt wollen, daß sie Gerechtigkeit wollen, daß sie Würde wollen?
Warum muß man erst töten und sterben, damit Ramona hier herkommen kann und Ihr ihr zuhört? Warum mußten Laura, Ana María, Irma, Elisa, Silvia und soviele indianische Frauen erst eine Waffe in die Hand nehmen und Soldatinnen werden, statt Doktorinnen zu werden? Oder Wissenschaftlerinnen, Ingenenieurinnen, Lehrerinnen?
Warum mußten die sterben, die gestorben sind? Warum muß man töten und sterben? Was ist in diesem Land los? Und wir fragen sie alle, die Regierenden und die regierten: Was ist in diesem Land los, daß es notwendig ist, zu töten und zu sterben, um einige kleine Worte und Wahrheiten auszusprechen, ohne daß sie in Vergessenheit geraten?
Wir sind am ersten Tag dieses Jahres in die Stadt gekommen, bewaffnet mit der Wahrheit und dem Feuer, um die Gewalt sprechen zu lassen. Heute sind wir wieder in die Stadt gekommen, wieder, um zu reden, aber diesmal ohne Feuer. Unsere feuer- und todspeienden Waffen schweigen, und es hat sich ein Weg eröffnet, daß wieder das Wort regieren kann, hier, wo es nie hätte verdrängt werden dürfen: auf unserem Boden.
Wir sind in die Stadt gekommen und haben diese Fahne gefunden, unsere Fahne. Das haben wir gefunden. Wir haben kein Geld gefunden, keine Reichtümer, wir haben keinen gefunden, der uns noch einmal zugehört hätte. Wir fanden die Stadt verlassen und fanden diese Fahne, und wir sahen, daß das Vaterland unter dieser Fahne lebt; nicht jenes Vaterland, das längst in Museen und Büchern in Vergessenheit geraten ist, sondern das lebendige, einzige, schmerzliche Vaterland, das der Hoffnung.
Das ist die Fahne Mexikos, unsere Fahne. Unter dieser Fahne lebt und stirbt ein Teil des Landes, dessen Existenz durch die Mächtigen komplett ignoriert und abgewertet (despreciada) worden war; Tote und abermals Tote haben sich unter dieser Fahne angesammelt, ohne daß andere Mexikaner sich darum geschert hätten: Ihr.
Warum müssen wir mit angezogenen Stiefeln und der Seele an einem seidenen Faden hängend schlafen gehen, um diese Fahne zu beschützen? Warum durchqueren wir den Busch, die Berge, die Täler, Schluchten, Pfade und Landstraßen, und tragen dabei diese Fahne mit uns, um sie zu beschützen? Warum tragen wir sie als einzige Hoffnung auf Demokratie, Freiheit und Gerechigkeit mit uns? Warum beschützen die Waffen Tag und Nacht diese unsere Fahne? Warum?
Und wir möchten Sie fragen, ob es eine andere Form gibt, unter dieser Fahne zu leben eine andere Form, in Würde und Gerechtigkeit unter dieser Fahne zu leben. Ihr habt uns gesagt: ja. Ihr habt uns ehrliche Worte gesagt, Ihr habt mit dem Herzen gesprochen und uns gesagt: Gebt dem Frieden eine Chance.
Wir haben Eure Botschaft erhalten, und wir sind in ehrlicher Absicht hierhergekommen. Wir sprechen nicht doppelzüngig, es gibt keine geheimen Mächte hinter uns, und wir sind auch nicht wegen etwas anderem hierhergekommen, als um ohne Waffen zu reden und zuzuhören.
Als wir uns mit dem Vermittler Bischof Samuel Ruiz und dem Friedensemissär Manuel Camacho Solis an den Verhandlungstisch gesetzt haben, haben wir uns entwaffnet, wir haben unsere Waffen zur Seite gelegt und von Angesicht zu Angesicht miteinander geredet, ohne Waffen zwischen uns, ohne Drohungen, ohne Druck.
Wenn wir jetzt Waffen tragen, oder immer dann, wenn wir nicht am Verhandlungstisch sitzen, dann sind das persönliche Waffen, die wir tragen, um uns zu verteidigen, falls es irgendeine Agression von Leuten gibt, die sich durch uns angegriffen fühlen, oder durch unsere Worte von Wahrheit und Gerechtigkeit.
Ihr habt uns gesagt, daß wir dem Frieden eine Chance geben sollen. Und wir sind in wahrer und ehrlicher Absicht hierhergekommen. Wenn es einen anderen Weg zu diesem Ziel gibt, zu Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, dann beweist uns das. Wir werden mit dem Blut unserer Leute nicht spielen (leichtfertig umgehen). Wenn es eine Möglichkeit gibt, daß diese Fahne, unsere und Eure Fahne, in Würde weht, ohne daß dazu der Tod notwendig wären, der unsere Böden düngt, um so besser.
Wir werden diese Tür aufstoßen, und wir werden andere Schritte tun. Wenn es möglich ist, daß die Waffen und die Armeen schon nicht mehr notwendig sind, daß es kein Blut, kein Feuer mehr gibt, um die Geschichte zu bereinigen, umso besser. Aber wenn nicht, wenn sie uns alle Türen wieder zuschlagen? Wenn die Worte nicht ausreichen, um die Mauern der Taubheit un des Unverständnisses zu überwinden? Und wenn der Frieden nicht würdig und wahrhaftig ist, wer, fragen wir, wer will uns dann verbieten, unser geheiligtes Recht auszuüben, als ehrliche und würdige Männer und Frauen zu leben und zu sterben? Wer will uns verbieten, uns wieder die Kleidung von Krieg und Tod überzustreifen, um in der Geschichte voranzuschreiten? Wer?
Ihr habt das Wort: Die Regierenden und die Regierten, alle Völker dieser Welt. Ihr müßt antworten, wir werden verstehen, zuzuhören.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Gewalt ist manchmal die Medizin

Die Rebellion in Chiapas hat Gewissen aufgewühlt. Im Guten wie im Schlechten. Für viele Intellektuelle, die sich an der kontinuierlichen Diskussion nationaler Probleme in den Medien beteiligen, hat der von der EZLN erklärte Krieg die Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen wiederbelebt. Auf Veränderungen, die erlauben, daß die Güter für alle erreichbar sind und nicht nur für einige Privilegierte. Und diese Hoffnung ist wiedergeboren, nicht weil die Zapatisten sich Marxisten oder Maoisten nennen, sondern eben weil sie sich Zapatisten nennen.
Die Armen und Ausgegrenzten, die nicht mit der Ersten Welt konkurrieren können, zu der Salinas uns angeblich hinführen will, haben plötzlich VerfechterInnen gefunden, die grundsätzliche Veränderungen der nationalen Politik und der internationalen Einschätzung unserer ökonomischen Situation erreicht haben. Sie warfen einen Innenminister, der eine Garantie für Wahlbetrug war, und einen kazikischen Gouverneur hinaus. Sie eröffneten die Möglichkeit sauberer Wahlen in Mexiko, was wir, die politischen Parteien, nicht hatten erreichen können. Diejenigen, die ausgeschlossen sind von Reichtum, Gerechtigkeit und Freiheit finden sich in der EZLN wieder. Nicht nur die Indígenas auf dem Land, sondern auch die, die in den großen Städten leben, haben ihnen ihre Symphatie bekundet, außerdem die MestizInnen. Deshalb erweisen auch viele Intellektuelle ihnen ihre Zustimmung, schreiben ermutigende Botschaften an die KämpferInnen, veranstalten Sammlungen, um Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente in die chiapanekischen Dörfer zu schicken, die durch Armee und EZLN von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Diese Intellektuellen beteiligen sich an den Diskussionsrunden und an den Märschen durch die Straßen und einige schreien, schreien sich heiser vor lauter Enthusiasmus. Sie haben selbstverständlich weder die Verbrechen Hitlers noch die Stalins vergessen, und auch nicht die Korruption, wie man sie in der Ex-UdSSR gesehen hat. Noch weniger vergessen sie, daß in den Ländern, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wurde, eine politisch dominante Klasse zu einer neuen Bourgeoisie wurde, noch privilegierter als in den kapitalistischen Ländern. Aber der Kampf in Chiapas enthält einen Bestandteil, der dem Ganzen erst die Würze gibt: Der Kampf geht um die Rechte von Millionen Indígenas, ausgegrenzt aus ihrem eigenen natürlichen Reichtum, zu unerwünschten AusländerInnen in ihrem eigenen Vaterland geworden. Es geht um nichts geringeres als um die Forderung nach sauberen Wahlen und damit um den Übergang zur Demokratie. Herausragende Intellektuelle wie Octavio Paz, die der Regierung nahe stehen, kritisieren das Verhalten der anderen Intellektuellen, die von dem Aufstand in Chiapas begeistert sind und verurteilen die Gewalt im Abstrakten. Sie übersehen dabei geflissentlich, daß die größten sozialen Errungenschaften der Geschichte nur durch schonungslose Gewalt, wie bei der Französischen Revolution zustande kamen. Paz hat vergessen oder täuscht das jedenfalls gut vor, daß einer der wichtigsten Faktoren des Aufstandes in Chiapas die korrupten Machenschaften der Regierung Carlos Salinas waren, für den er nur flammendes Lob und sanfte Kritik hat.

Der Mangel an Sensibilität der herrschenden Klasse

Octavio rühmt die jüngsten Handlungen von Salinas und ignoriert, daß der das Jahr damit begann, gegen die “Delinquenten und professionellen Gewalttäter” zu wettern, und wie er die KämpferInnen der EZLN sonst noch nannte. Man kann ja zum Frieden und zur Eintracht aufrufen. Man darf dann aber nicht vergessen, daß es die Freunde von Octavio Paz sind, die den Betrug organisiert haben, der Carlos Salinas de Gortari zum Präsidenten der Republik aufsteigen ließ. Paz hat wohl mitbekommen, daß Mexiko eines der am wenigsten vertrauenswürdigen Länder in Bezug auf die Legitimität von Wahlen ist. Darüber hat er allerdings nichts gesagt. Wir stehen auf Seiten der Aufständischen von Chiapas, weil wir mit ihnen in der Kritik der aktuellen Situation übereinstimmen. Aber vor allem unterstützen wir ihre Vorschläge zur Beendigung der fünfhundertjährigen Ausgrenzung der Indígenas. Der Mangel an Sensibilität der regierenden politischen Klasse hat unerträgliche Ausmaße erreicht. Der Luxus einiger Weniger ist eine Beleidigung der Armen. Nicht nur in Chiapas, sondern auch in Morelos, Veracruz, Hidalgo, Guerrero und Oaxaca. Und nicht nur Unternehmer und Geschäftsleute schwelgen im Luxus, nein auch die Regierungsbeamten. Die Korruption in Mexiko stinkt, aber einige riechen sie wohl nicht mehr. Je mehr die angesehenen Intellektuellen sich durch durch ehrenvolle Erwähnungen, Auszeichnungen und andere Preise ködern lassen, desto schwächer wird ihre Kritik an der Regierung bis sie vollständig verschwindet. Das ausgegrenzte, verletzte, gedemütigte, seiner Würde beraubte Volk schaut zu. Der Mangel an Sensibilität einiger Intellektueller wächst in dem Maße, wie das System sie mit Ehren und Gunstbezeugungen überhäuft.
Wir dürfen die Unzulänglichkeiten und Gebrechen unseres Systems nicht nur im Abstrakten erkennen. Es ist gut, daß die Parteien kritisiert werden (alle, denn bei allen gibt es Fehler, Mängel und Sektiererei) genauso wie die Militärs und ihre Führer. Aber wir müssen auch die Lektion verstehen, die uns die KämpferInnen der EZLN in Chiapas erteilt haben. Ihre Führung habe sich in das indianische Volk eingeschleust, behauptet Paz. Aber um das zu schaffen, mußten sie mit ihnen und wie sie leben und nicht nur einige Tage, Wochen oder Monate, sondern Jahre. Der richtige Ausdruck wäre hier also nicht, “sich eingeschleust haben”, sondern integriert sein. So und nur so ist es möglich, das Vertrauen dieser ausgestoßenen und seit jeher gedemütigten Bevölkerung zu gewinnen.
Der Friede in Mexiko ist gefährdet. Es liegt in den Händen der Regierung, das Land an die Indígenas von Chiapas zu übergeben und dafür die Landbesitzenden im öffentlichen Interesse zu enteignen. Es liegt außerdem in ihren Händen, schnell Gerechtigkeit zu schaffen und die Menschenrechte dieser MexikanerInnen zu respektieren. Ihre wichtigste Aufgabe aber ist, klare und saubere Wahlen zu garantieren, die von unabhängigen BürgerInnen beaufsichtigt werden. Das Vertrauen der Indígenas kann sicherlich nicht gewonnen werden, indem Salinas überraschenderweise Tuxtla Gutierrez besucht und dabei wie ein Präsident, mit dunklem Anzug und Krawatte, gekleidet ist, wenn er an seinen Sitzungen sonst im Hemd teilnimmt. Zur Krönung des Aufzuges fehlte nur noch die Präsidentenschärpe. Es wird keinen Fortschritt geben, wenn er in die Schweiz fliegt, um sich mit den großen Bankiers zu treffen, während die Gemeinden in Chiapas vom Militär umzingelt sind. Es ist Zeit, daß Salinas Bereitschaft zum Handeln erkennen läßt, nicht repressiv, sondern politisch. Es sind keine Devisen mehr notwendig in Mexiko. Was die Regierung vielmehr braucht, ist Vernunft, Besonnenheit, Sensibilität, Liebe zu den Marginalisierten und Respekt für die Würde der freien Männer und Frauen. Die regierungsnahen Intellektuellen werden noch mehr unter dem Taten der Marginalisierten und der Begeisterung der unabhängigen Intellektuellen leiden müssen. Ihre gescheiten Analysen stoßen zusammen mit der elementaren Rationalität derjenigen, die seit Jahrhunderten unter der Unterdrückung leiden und nun Basta gesagt haben. Gewalt ist manchmal die beste Medizin, um soziale Ungerechtigkeiten zu kurieren. Dies zeigten uns Hidalgo, Morelos und Zapata und andere unvergeßliche MexikanerInnen. Und außerdem zeigten sie, wie irgendein Intellektueller von kleinerem Format gesagt hat, daß die Gewalt gewöhnlich gegen die zurückschlägt, die sie anwenden, um das Volk zu befreien. Die Zeitgenossen beklagten den Tod dieser Helden. Millionen von MexikanerInnen segnen heute die Entscheidung, daß sie ihr Leben opferten, damit wir heute würdevoller leben können.

Jahrhundertwahlen unter Beschuß

Nach den Meinungsumfragen der letzten Monate wird es nach den Wahlen in El Salvador wieder eine rechte Regierung geben. Armando Calderón Sol, Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen Regierungspartei ARENA liegt bei allen Umfragen klar in Führung. Zuletzt kam er bei einer Umfrage der “Technologischen Universität” auf 40,2% gegenüber 22,2% für Rubén Zamora vom Mitte-Links-Bündnis FMLN-CD (Convergencia Democrática) und 14,1% für den rechten Christdemokraten Fidel Chávez Mena. All zu viel Bedeutung sollte man den Umfragen jedoch nicht beimessen. Bis zur Hälfte der Befragten gibt an, sich noch nicht entschieden zu haben. Verständlich in einem Land, in dem die Äußerung der eigenen Meinung oft tödlich war und auch heute noch – und in letzter Zeit wieder vermehrt – Todesschwadronen Terror verbreiten. Bezeichnender für den Wahlkampf ist da schon die Aussage, daß je ein Viertel der Befragten den Wahlkampf als “langweilig” bzw. “voller Lügen” empfindet.

Kontrollierte Medien – kontrollierte Meinung

Die Verwicklung von Calderón Sol in die Aktivitäten der Todesschwadrone Anfang der 80er Jahre, die im November durch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten der USA belegt wurde (vgl. LN 234), war eher in den internationalen Medien als in El Salvador selbst ein größeres Thema. Auch die Tatsache, daß Calderón Sol im Dezember angekündigt hat, die Empfehlungen der UN-Wahrheitskommission, die die schwersten Menschenrechtsverletzungen in den 80er Jahren untersucht hat, nicht zu erfüllen, blieb folgenlos. Die Medien in El Salvador werden weitgehend von der Rechten kontrolliert und damit auch die Themen vorgegeben. Die Opposition kann kaum mithalten mit der riesigen Propagandakampagne der Regierung, die mit dem Beginn des Wahlkampfes im November angelaufen ist. Dabei läßt die Regierung nichts unversucht, sich in positivem Licht zu präsentieren. Ganz zufällig fanden im Januar die “Zentralamerikanischen Spiele” in El Salvador statt, und “ganz unabhängig von den Wahlen” haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst kürzlich eine satte Bonuszahlung von eineinhalb Monatslöhnen bekommen, für die sie sonst wochenlang streiken müßten.
Die Opposition ist sich dessen bewußt und sucht daher die direkte Auseinandersetzung mit dem Präsidentschaftskandidaten der Rechten. Doch Calderón Sol weigert sich bislang beharrlich, eine öffentliche Debatte mit Rubén Zamora und Fidel Chávez Mena zu akzeptieren. Im direkten Vergleich sähe Calderón Sol auch ziemlich schlecht aus: Seine Ausstrahlung ist gleich Null, und argumentieren kann er nicht. Außerdem würde er mit den Korruptionsfällen konfrontiert werden, die mittlerweile gegen die ARENA-Regierung erhoben werden. Dies ist für ARENA umso bedrohlicher, da ihr vorher noch keine Korruptionsfälle nachgewiesen werden konnten und ihr 1989 die Abwahl der Christdemokraten insbesondere deshalb gelang, weil die PDC-Regierung von Präsident Duarte als korrupt galt.

Wahlkampfthema Innere Sicherheit

Da redet Calderón Sol schon lieber über das Thema Innere Sicherheit (Wer hatte die Idee wohl zuerst, Schäuble oder Calderón Sol?). Allgemein bekannt als Hardliner, hofft er, daß ihm am ehesten zugetraut wird, die in den letzten zwei Jahren angeblich extrem gestiegene allgemeine Delinquenz in den Griff zu bekommen. Um Stimmung zu machen, werden innerhalb von ARENA Stimmen laut, die die Einführung der Todesstrafe fordern. Dabei ist gerade die ARENA-Regierung an der Verzögerung beim Aufbau der “Zivilen Nationalpolizei” (PNC) schuld. Die Kriminalität ist in den Gebieten, in denen die PNC mittlerweile arbeitet, deutlich zurückgegangen, und die Bevölkerung hat weitgehend positive Erfahrungen mit der neuen Polizei gemacht. Im Gegensatz zur berüchtigten und in weiten Teilen des Landes noch agierenden Nationalpolizei scheint die PNC die Menschenrechte bislang einzuhalten. Für die Menschen in El Salvador ist dies ein riesiger Fortschritt.
Dabei steht es um die Menschenrechte nicht mehr so gut wie noch am Anfang des Friedensprozesses. Anfang Februar haben die Vereinten Nationen ihren neuesten Bericht vorgelegt und für 1993 eine deutliche Zunahme der Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Die Todesschwadronen sind – vor allem seit Beginn des Wahlkampfes – wieder verstärkt aktiv. Nach drei politischen Morden 1992 waren es 1993 bereits 33, in vielen Fällen an AktivistInnen und KandidatInnen der FMLN. Außerdem fallen nach Angaben der katholischen Kirche mittlerweile pro Woche drei Menschen der politischen Gewalt zum Opfer. Und die Tendenz ist steigend: Allein in der ersten Februarwoche wurden sechs Menschen ermordet.

Terror gegen die Einheit der Linken

Die Terrorkampagne der Rechten ist auch eine Antwort auf den Einigungsprozeß der Linken in der Präsidentschaftskandidatur. Nach langem Zögern hat sich auch die sozialdemokratische MNR entschlossen, Rubén Zamora zu unterstützen und hat ihren eigenen Kandidaten, den MNR-Vorsitzenden Victor Manuel Valle, zurückgezogen. Spannend dürfte die Wahl auf jeden Fall werden. Selbst wenn Calderón Sol die relative Mehrheit bekommen sollte, ist sein Sieg in einer Stichwahl noch längst nicht sicher. FMLN-CD und PDC haben ein Abkommen geschlossen, wonach der Drittplazierte im zweiten Wahlgang im April auf jeden Fall den Zweitplazierten unterstützt. Obwohl die Parteirechte, die bei den Christdemokraten den Vorstand stellt, den PDC-Dissidenten Zamora heftigst bekämpft und auf keinen Fall als neuen Präsidenten sehen will, mußte sie sich auf diesen Deal einlassen, da die PDC-WählerInnen mehrheitlich sowieso Zamora statt Calderón Sol wählen würden und eine Empfehlung des Vorstands, Calderón Sol zu wählen, die Partei spalten könnte.
Bei den Parlamentswahlen haben sich die Mitte-Links-Parteien vorgenommen, eine erneute Mehrheit der Rechten (ARENA, PCN, MAC) zu verhindern, um zumindest die Legislative zu kontrollieren, falls ARENA erneut den Präsidenten stellt. Die Convergencia geht mit einem klaren Handicap ins Rennen. Als drei CD-Vertreter am 31. Januar, dem letzten Tag der Einschreibung, die KandidatInnenliste für die “Nationale Liste” (auf der 20 der 84 Abgeordneten gewählt werden) beim Obersten Wahlrat abgeben wollten, wurden sie von der Polizei gestoppt und längere Zeit festgehalten, da die Papiere ihres Wagens nicht in Ordnung waren. Als sie endlich weiter konnten, war der Wahlrat bereits geschlossen. Diese Mischung aus Verschwörung gegen die CD und eigener Trotteligkeit wird sie zwei bis drei Mandate kosten.
Die große Unbekannte bei den Wahlen ist, wie stark die beiden Evangelikalen-Parteien (MSN und MU) abschneiden werden, die erstmals zu Wahlen antreten werden. Sie sind längst nicht so stark wie im Nachbarland Guatemala, wo sie nach den letzten Wahlen bis zum “Selbst-Putsch” von Jorge Serrano im Mai 1993 den Präsidenten stellten. Aber immerhin bekennen sich in El Salvador mittlerweile 20% der Bevölkerung zu evangelikalen Sekten und Kirchen. Auch ihre ideologische Einordnung ist schwierig. Ihre Programme beinhalten eine Mischung aus fortschrittlichen sozialen Forderungen und reaktionären Wertvorstellungen. Mit ihrem “Schützt-die-Familie-Populismus” könnten sie insbesondere bei der ARENA-Basis Stimmen holen, im Parlament werden sie wohl eher mit der Rechten stimmen.

Streit ums Bürgermeisteramt

Schlechter für die Linke sieht es hingegen bei der Kandidatur um das Bürgermeisteramt von San Salvador aus, das wegen der Bedeutung der Hauptstadt als zweitwichtigstes Amt in El Salvador angesehen wird. Dort treten FMLN und Convergencia Democrática getrennt an. Die CD ist sauer, weil sie angeblich von der FMLN nicht konsultiert wurde, als diese den FMLN-Koordinator Shafik Handal als Kandidaten aufstellte. Die CD, die daraufhin den Rektor der “Universidad de la Paz” Luis Domínguez Parada nominierte, meint nicht zu Unrecht, daß Handal als Vorsitzender der Kommunistischen Partei (PCS) nicht der geeignete Kandidat sei, um die notwendigen Stimmen der Mittelschicht zu bekommen. Eine Rolle spielt jedoch auch die Haltung von Mario Aguiñada Carranza, der sich vehement gegen Handal ausgesprochen hat. Aguiñada Carranza ist Chef der unbedeutenden UDN, die über 20 Jahre die legale Wahlpartei der verbotenen Kommunistischen Partei war, sich aber 1992 mit der PCS zerstritt, von ihr lossagte und wenig später der CD anschloß. Von der Spaltung profitieren werden insbesondere ARENA-Kandidat Mario Valiente und José Napoleón Duarte, der für die heillos zerstrittenen Christdemokraten ins Rennen geht und dessen entscheidende Qualifikation ist, der Sohn des früheren Präsidenten Duarte zu sein.

Brasilien 1994 oder die alte Unübersichtlichkeit

1993: Die Katastrophe

Je nach politischem Standort oder Temperament kann eine völlig unterschiedliche Bilanz des Jahres gezogen werden. Die Regierung Itamar Franco hat jedenfalls bei dem Ziel Inflationsbekämfung – und das heißt eben auch gesamtwirtschaftliche Stabilisierung – völlig versagt. 2567,46% betrug die Inflation im letzten Jahr nach dem meist verbreiteten Index, dem IGP-M der Stiftung Getulio Vargas. Es ist damit die höchste Inflationsrate seit deren statistischer Erfassung, das heißt seit 1829. Es ist auch eine der höchsten der Welt im Jahre 1993, weit über der Rate in lateinamerikanischen Ländern, ebenso wie etwa in Rußland (590%) oder Kroatien (1027%). Lediglich Restjugoslawien steht mit 30.000% erheblich schlechter da.
Die hohe Inflation ist seit etwa 1985 das makroökonomische Problem Brasiliens, und eine ganze Serie von gescheiterten Plänen hat es nicht gelöst. Nach einer Welle heterodoxer Schocks war nun seit 1992 Orthodoxie angesagt. Die wechselnden Regierungen (von Collor zu Itamar) und Wirtschaftsminister verkündeten unisono, daß nur über eine Eliminierung des Haushaltsdefizits die Voraussetzungen für eine nachhaltige Inflationsbekämpfung geschaffen werden könnten. Die Grundformel lautet also: Solide Haushalts-(sprich: Spar-)politik und Vertrauen in die Berechenbarkeit der Regierung (also keine über Nacht verhängten Preisstopps) schaffen ein Klima für eine graduelle Senkung der Inflationsrate. Der jetzige Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso – FHC, in den siebziger Jahren bekannt als linker Theoretiker und Verfechter der Dependenztheorie – verfolgt nun konsequent den orthodoxen Gradualismus. Ergebnis: die höchste Inflationsrate der Geschichte trotz praktischer Eliminierung des Haushaltsdefizits. Die brasilianische Inflation ist jedenfalls eine harte Nuß für alle traditionellen Wirtschaftstheorien. Die klassischen Inflationstheorien hatten eins nicht vorhergesehen: daß nicht zuletzt dank modernster Computertechnik die Wirtschaft auch eine Inflation von 40% ganz gut managen kann, und daß es wichtige Inflationsgewinner gibt (den Finanzsektor), daß es also trotz eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der eine solche Inflation für untragbar hält, wirksame Widerstände gegen die Erbringung von “Opfern” zu ihrer Überwindung gibt. Dazu gehört jetzt sogar die untere Mittelschicht, die plötzlich mit einem simplen Sparbuch unglaubliche Gewinne erzielen kann. Das heißt, Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft haben sehr gut gelernt, mit der Inflation zu leben oder gar von ihr zu profitieren.

Auf dem Weg zur Dollarisierung?

Was will nun Fernando Henrique Cardoso (FHC) angesichts dieser dramatischen Situation tun? Ohne unmittelbaren Erfolg hat der Wirtschaftsminister Ende letzten Jahres seinen “Plan FHC” lanciert. Der sieht eben an erster Stelle die Eliminierung des Haushaltsdefizits vor. Der neue Haushalt enthält folglich wichtige Kürzungen (vor allem im sozialen Bereich). Dennoch wird er gegenüber 1993 an Umfang zunehmen, in erster Linie wegen der Kosten der internen und externen Verschuldung. Also tritt nun die im letzten Jahr von der Justiz kassierte Steuer auf finanzielle Transaktionen (auf jede Überweisung oder Abhebung vom Bankkonto wird eine Steuer von 0,25% des Betrages erhoben) in Kraft und einige wichtige Steuern werden um 5% erhöht – eine Maßnahme, die zu erbittertem Widerstand von Seiten der Industrie geführt hat. Die Steuererhöhungen müssen noch vom Parlament bewilligt werden, danach kommt die zweite und entscheidende Phase des “Plan FHC”. Wenn die Regierung ihren Zeitplan durchhalten kann (bei Redaktionsschluß fehlte noch die Zustimmung des Senates), wird am 1.März ein neuer einheitlicher Index (URV) geschaffen, der sich nach der Entwicklung des Wechselkurses des Dollars richtet. Dieser Index soll alle anderen Anpassungsmechanismen ersetzen und nach und nach freiwillig von der Wirtschaft angewendet werden, etwa auch für die Festsetzung der Löhne. Praktisch soll dies folgendermaßen funktionieren: Zur Einführung des URV ist dieser zum Beispiel 500 Cruzeiros wert, der Preis für ein Bier. Einen Monat später würde (bei einer Inflation von 40%) das Bier zwar 700 Cruzeiros kosten, aber immer noch etwa 1 URV. So sollen die BrasilianerInnen wieder an stabile Preise gewöhnt werden. Der Cruzeiro wäre bald nur noch eine Kleingeldwährung, während alle größeren Transaktionen und die Festsetzung von Mieten und Preisen in URV liefe.
Der Markt hat auf die Ankündigung des Planes mit Unsicherheit reagiert, wie das Ansteigen der Inflationsrate im Januar zeigt. Niemand weiß genau, wie die Anwendung des URV im einzelnen funktionieren wird und ob die Regierung nicht versucht sein wird, den URV zu weitgehenden Preiseinfrierungen zu nutzen und die Variation des Wechselkurses unter der Inflationsrate festzusetzen, um so die Inflation nach unten zu indexieren – mit entsprechenden Auswirkungen für die Exportwirtschaft. Die Zweifel am “Plan FHC” sind aber auch politisch motiviert. Itamar Franco hat sich bisher als eher schwacher und unberechenbarer Präsident erwiesen und FHC verheimlicht seit dem 12. Januar nicht mehr seine Ambitionen auf das Präsidentenamt. Wenn er wirklich kandidieren will, müßte er bald die Regierung verlassen. Zweifel werden auch angemeldet, ob der URV nicht im juristischen Gestrüpp verenden wird.

1993: der Boom

Auf der Seite der Inflationsbekämpfung bleiben also bisher eine negative Bilanz und ungewisse Aussichten. Dennoch kann Brasilien Erfolge vorweisen. Nach drei Jahren Rezession (1990 und 1991) und Stagnation (1992) ist das Bruttoinlandsprodukt 1993 wieder kräftig gewachsen: 4,5%. Und angesichts des Wachstums der Industrie um 8,5% sieht mancheR Brasilien schon in die Reihe der ostasiatischen Tiger vorrücken (Die Zahlen sind noch nicht endgültig, sondern Projektionen des Regierungsinstituts IPEA aufgrund der Daten bis November 1993). Beispielhaft für die Erfolge ist die Autoindustrie: Sie wuchs 1993 um 29,5% und erreichte mit der Produktion von 1.390.000 Fahrzeugen einen neuen Rekord. Diese Zahlen sind besonders beeindruckend, da sie in einer Phase des weltweiten Einbruchs der Automobilindustrie und trotz Rückgangs der Exporte (- 3,3%) und Steigerung der Importe (+ 125%, was aber nur etwas über 100000 Fahrzeugen entspricht) erzielt wurden. Die Entwicklung dieses Sektors wird nun von vielen als ein Beispiel für eine gelungene Alternative zu neoliberalen Strategien gesehen. Brasilien hatte einen gegen Importe abgeschotteten Binnenmarkt. Statt brutaler Marktöffnung werden die Steuern auf Importe allmählich gesenkt, was den Konkurrenz- und Modernisierungsdruck auf die Industrie erhöht, ihr aber Zeit gibt für Anpassungen. Gleichzeitig kam es 1992 zu einem Sektorabkommen zwischen Industrie und Gewerkschaften, bei dem Beschäftigung und Lohnsteigerungen garantiert sowie von der Regierung Steuererleichterungen gewährt wurden. Die brasilianische Autoindustrie (das heißt natürlich: die Multis, die in Brasilien produzieren) versprühen jedenfalls Optimismus und sehen ein weiteres Wachstum um 10% für dieses Jahr vor.
Durchweg Positives auch bei der Handelsbilanz. 1993 hatte Brasilien für 38,8 Milliarden US$ exportiert, was einen Außenhandelsüberschuß von etwa 13 Milliarden Dollar bedeutet. Das Ergebnis ist um so bemerkenswerter, als die Importe (wenn auch langsam) ansteigen. 75% der Exporterlöse werden durch Verkauf von Industrieprodukten erzielt (Zahlen nach Jornal do Brasil, 21.12.93).
Die Situation Brasiliens ist also überaus widersprüchlich. Insbesondere das Wachstum der Industrie und der Exporte industrieller Produkte lassen Brasilien zumindest für 1993 im Vergleich zu neoliberalen “Erfolgen” wie Argentinien und Mexico überaus gut dastehen. Und diese Erfolge wurden eben gerade ohne drastische makroökonomische Strukturanpassung erzielt. Dennoch kann auch in Brasilien der Preis dieser Erfolge nicht übersehen werden. Das Wachstum in der Industrie vollzog sich ohne nennenswerte Effekte für die Beschäftigung. Trotz Wachstum ging die Arbeitslosenquote nur gering zurück und in der Industrie sank die Zahl der Beschäftigten 1993 gar um 5% gegenüber 1992 (Nach Jornal do Brasil vom 1.2.1994; Zahlen bis September 1993). Das heißt auch, Brasilien lernt nun das Symptom Wachstum ohne Beschäftigung kennen, zumindest in den fortgeschrittensten Bereichen der Produktion. Wichtige Sektoren haben die Krise 1990 bis 1992 dazu genutzt, ihre Belegschaften zu reduzieren. Die Erfolge in der Automobilindustrie wurden ohne Neueinstellungen realsiert, lediglich mit Produktivitätssteigerungen und Überstunden. Die positiven Beschäftigungsentwicklungen vollzogen sich praktisch ausschließlich im informellen Sektor oder im Handel und in den Randbereichen der Industrie, also dort, wo Löhne und Sozialleistungen geringer sind.
Auch ist die Regierung offensichtlich bereit, viele Grundforderungen einer neoliberalen Strukturanpassung zu erfüllen: Haushaltsdisziplin steht im Vordergund, auch auf Kosten der Sozialausgaben. Die Politik der Privatisierung wird fortgesetzt, auch wenn ihre Ausdehnug auf die Ölgesellschaft Petrobras und die Telekommunikation nach wie vor umstritten ist und wohl von dieser Regierung nicht mehr in Angriff genommen werden kann. Und die hohe Inflation trifft am härtesten die, die sich am wenigsten dagegen schützen können: 2/3 der Bevölkerung, die kein Bankkonto haben und ausschließlich von ihren Löhnen und Einkommen leben. Die Inflation ist eine tägliche Umverteilung von unten nach oben. So kann es auch nicht verwundern, daß die fabelhaften Wachstumsraten von der Mehrheit der Bevölkerung kaum wahrgenommen werden: Nach Umfragen zu Jahresbeginn schätzen 84 % der Bevölkerung die Lage des Landes als schlecht oder sehr schlecht ein, während nur 2% sie für gut erachten. Und die Aussichten für 1994 sind kaum besser.

Rotes Gold – rote Zahlen

Die Preisentwicklung auf dem inter-nationalen Kupfermarkt nährt seit einigen Jahren Zweifel am Modell-charakter der Wirtschaftspolitik Chiles. Die hohe Abhängigkeit von den Exporteinnahmen der CODELCO spiegelt die Verwundbarkeit der chilenischen Volkswirtschaft wider. Noch 1990 beliefen sich die Exportgewinne für Kupfer auf 1,5 Milliarden US-Dollar. Bedingt durch Preiseinbrüche und Kostensteigerungen schrumpfte diese Summe für 1993 auf klägliche 467 Millionen US-Dollar zusammen.
In dieser Situation bis zu 300 Millionen US-Dollar zu verlieren, trifft die CODELCO hart. Seit August des vergangenen Jahres hatte das Unternehmen 1,8 Milliarden US-Dollar in den Kauf von Gold, Silber und Kupfer investiert, um durch den späteren Verkauf zu höheren Preisen einen Spekulationsgewinn einzustreichen. Mit diesen Transaktionen überschritt die CODELCO jedoch das für derartige Geschäfte vorgeschriebene Limit um ein Zehnfaches. Das Direktorium der Kupfergesellschaft hatte nach Bekanntwerden des Skandals den Schuldigen schnell zur Hand: den Unterabteilungsleiter José Pablo Dávila, der postwendend öffentlich erklärte, ohne das Wissen seiner Vorgesetzten gehandelt zu haben. Dies würde freilich nicht den Mangel an Kontrollmechanismen innerhalb des Verwaltungsapparates erklären.
Es überrascht nicht, daß die Top-Manager sowie die Direktoren der CODELCO keine Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Doch von den betroffenen Ministern für Bergbau und für Finanzen, Hales und Foxley, wurde eigentlich harsche Kritik an der Unternehmensführung erwartet. Hales und Foxley stellten sich jedoch schützend vor die CODELCO. Zum Teil taten sie das aus persönlichem Interesse heraus, denn beide sind Mitglieder des umstrittenen Direktoriums, und die Forderung der Koalitionspartnerin, der “Sozialistischen Partei” (PS), nach dem Rücktritt der gesamten Führungsriege macht auch vor den Ministern nicht halt. Darüber hinaus geht die Liebe zu marktwirtschaftlichen Modellvorstellungen nicht so weit, daß die Regierung freiwillig auf die Gewinne aus dem Kupferexport verzichten würde.

Gewerkschaften uneins

Die beiden Minister erhalten die Unterstützung des chilenischen Dachverbandes der Gewerkschaften, der CUT. Deren Vorsitzender, Bustos, bescheinigte dem Direktorium, “verantwortungsbewußt und mutig” gehandelt zu haben, als es den Finanzskandal öffentlich machte. Auch die CUT hat keinerlei Interesse daran, die Debatte um eine Privatisierung der CODELCO anzuheizen. Obwohl sich die Betriebsgewerkschaft des Staatsunternehmens, die FTC, gegen die von der extremen Rechten und den Unternehmerverbänden geforderten Privatisierung sträubt, fordert sie den Rücktritt des Direktoriums. Die Tatsache, daß in den letzten Jahren 4200 Kumpels ihren Arbeitsplatz verloren, um die Produktionskosten zu senken, schmerzt doppelt, nachdem bekannt wurde, wie leichtfertig große Summen des Betriebsvermögens aufs Spiel gesetzt worden sind.
Ein gemeinsamer Rücktritt der Top-Leute von CODELCO hätte einerseits nur symbolischen Charakter, denn zeitgleich mit dem Amtsantritt der neuen Regierung am 11. März würde das Direktorium ohnehin automatisch ausgewechselt. Andererseits geht es darum, die Verantwortlichen nicht durch das Bauernopfer eines entlassenen Unterabteilungsleiters ungeschoren davonkommen zu lassen.
Licht ins Dunkel der Verantwotlichkeiten
Licht in das Dunkel von Verantwortlichkeiten und mangelnden Kontrollmechanismen sollen umfassende Untersuchungen bringen. Auf Antrag des Staatspräsidenten ernannte der Oberste Gerichtshof einen Untersuchungsrichter. Die Deputiertenkammer des chilenischen Parlaments setzte eine Untersuchungskommission ein. Zusätzlich zu den von CODELCO beauftragten externen PrüferInnen durchforstet die Controlaría de la República – vergleichbar dem Bundesrechnungshof – die Bücher des Kupfergiganten. Von den Ergebnissen dieser Untersuchungen wird es zum einen abhängen, ob Verantwortliche vor Gericht gestellt werden und zum anderen, in welche Richtung die Auseinandersetzung um die Privatisierung der CODELCO geführt wird.
Eine der wichtigsten Interessengruppen hat sich noch nicht öffentlich zu Wort gemeldet: das Militär. Ein Zehntel der CODELCO-Gewinne fließen in den Kriegshaushalt, ohne daß Rechenschaft über die Verwendung dieser Gelder abgelegt werden müßte. Die Säulenheilige neoliberaler Politik, die reaktionäre UDI, spricht denn auch nur von “Teilprivatisierungen”.

For Richer, For Poorer

Als Hintergrund der weltweiten Integrationsbestrebungen (NAFTA und EG-Binnenmarkt als herausragende Beispiele) wird die wachsende Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse ausgemacht. Ausdifferenziertere Formen der Arbeitsteilung auf der Basis fortgeschrittener Technologie im Bereich der Telekommunikation und des Transportwesens ermöglichen inzwischen eine simultane Koordination der Produktionsprozesse in mehreren Ländern. Produktionsprozesse können somit aufgespalten werden, indem für den jeweiligen Produktionsabschnitt der weltweit günstigste Standort gewählt wird. Wenn auch diese Gobalisierungstendenz vornehmlich auf die Suche der transnationalen Konzerne (TNC) nach billiger Arbeitskraft zurückzuführen ist, gab die von den USA nach 1945 verfolgte Wirtschaftspolitik den Rahmen für diese Entwicklung vor. Als dominante Wirtschaftsmacht verschrieben sich die USA der Förderung des Freihandels, in Kenntnis ihrer überlegenen Wettbewerbsfähigkeit und des Bedarfes an zusätzlichen Absatzmärkten. Schwerpunkt dieser Strategie war der Versuch, im Rahmen der GATT-Verhandlungen auf eine globale Senkung der Handelsbarrieren hinzuwirken. Ergänzt wurde die Strategie durch kontinentale Integrationsprojekte, insbesondere das Freihandelsabkommen mit Kanada 1988 und eben das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen USA, Kanada und Mexiko.
Mexikos Hinwendung zu neoliberaler Wirtschaftspolitik ab Mitte der achtziger Jahre wird als Konsequenz der gescheiterten Politik der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) beschrieben. Mit dem Versuch, Importe durch den Aufbau einer eigenen Industrie zu ersetzen, sollte die Abhängigkeit vom internationalen Handel und von ausländischen Direktinvestitionen verringert werden. Erbrachte dieses Konzept beachtliche Wachstumsraten (1940-75: 6% jährlich), so wurden ab Mitte der siebziger Jahre die Mängel zusehends deutlicher. Wenn auch der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen bis dato unter 3% gefallen war, so hielten in den schnell wachsenden Industriezweigen (Auto, Pharmazie) die transnationalen Konzerne ihre beherrschende Stellung aufrecht.
Die für Investitionen erforderlichen Kapitalgüter mußten weiterhin überwiegend importiert werden und eine Devisen erwirtschaftende Exportindustrie war nur rudimentär vorhanden. Die hieraus resultierende Abhängigkeit von den Öl-Einnahmen einerseits und den ausländischen Krediten andererseits kulminierte 1982 in Zahlungsunfähigkeit. Auslöser waren der Ölpreisverfall und die binnen eines Jahrzehnts sich annähernd verdoppelnden Kreditzinsen.
Um die Gläubiger zu einer Umschuldung zu bewegen, unterwarf sich Mexiko in der Folgezeit den neoliberalen Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Senkung der Staatsausgaben, Peso-Abwertung und Privatisierung von Staatsunternehmen stellten bis 1989 die internationale Kreditwürdigkeit wieder her. Ein Reallohnverfall von 40% (1981 bis 1992), steigende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Einkommensungleichheit bildeten die Begleitmusik.
Daß die Verflechtung der US-amerikanischen mit der mexikanischen Wirtschaft durch NAFTA nur ihre Fortsetzung, nicht aber ihren Ausgang erfährt, wird anhand der Geschichte der maquiladoras (Fertigungsstätten) illustriert. In diesen Betrieben werden importierte Vorprodukte veredelt, um danach wieder exportiert zu werden. Bereits 1965 gab die mexikanische Regierung die Nordgrenzgebiete für exportorientierte Fabriken ausländischer Provenienz frei. Vorwiegend US-amerikanische Konzerne siedelten sich in der bis 1972 auf einen 12,5 Meilen Umkreis beschränkten Region an. Ab 1972 waren maquiladoras bis auf Mexiko-Stadt, Guadalajara und Monterrey überall erlaubt. Von der Regierung ursprünglich als Beschäftigungsprogramm intendiert, bildete dieses Grenzindustrialisierungsprogramm den ersten Schritt einer Eingliederung Mexikos in die Industriestruktur der USA. Der Boom der maquiladoras ist ungebrochen und wird durch NAFTA weiteren Auftrieb erhalten. Schon jetzt entfällt ein Drittel des US-mexikanischen Handelsvolumens auf die maquiladoras und die Beschäftigtenzahl stieg von 20 000 im Jahre 1970 auf über eine halbe Million Ende 1992. Das Abkommen bietet nun generell freien Zugang zum US-Markt, weshalb die Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen aus aller Welt gesteigert wird.
Von den AutorInnen werden drastische Folgen besonders für die Landbevölkerung erwartet. Ohnehin seit Jahrzehnten vernachlässigt, werden die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen nun schutzlos der übermächtigen Konkurrenz der High-Tech-Farmer aus Kanada und den USA ausgeliefert. Die Subventionen für die Grundnahrungsmittel Mais und Bohnen fallen dem Abkommen zum Opfer. 72% der mexikanischen Maisbauern und -bäuerinnen, dies entspricht 2 Millionen Familien, werden von der Regierung Salinas als nicht konkurrenzfähig erachtet und sollen sich deshalb andere Erwerbsquellen erschließen. Insgesamt erwartet das mexikanische Agrarministerium bis 2010 eine Landflucht von 13 Millionen Bauern und Bäuerinnen.

ArbeiterInnensolidarität auf dem Prüfstand

Ein ganzes Kapitel widmen die AutorInnen dem Bemühen der ArbeiterInnen, sich grenzübergreifend den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen. Einen Anfang machte bereits 1979 eine LandarbeiterInnengewerkschaft in Arizona, in der überwiegend mexikanische ImmigrantInnen zusammengeschlossen sind. 10, inzwischen 20 Cents sind von jedem Stundenlohn für einen Entwicklungsfonds abzuzweigen, der Landwirtschafts- und Gemeindeprojekte in den Heimatdörfern der LandarbeiterInnen fördert. Die Zusammenarbeit US-amerikanischer und mexikanischer Gewerkschaften zeigt zwar steigende Tendenz, beschränkt sich bisher aber nur auf vertrauensbildende Maßnahmen. Die Tatsache, daß die mexikanischen Gewerkschaften der Regierungspartei PRI hörig sind, macht die Zusammenarbeit nicht eben einfach. Die Verlagerung von Produktion ins Niedriglohnland Mexiko in der Vergangenheit hat zudem viel Unmut bei den betroffenen US-ArbeiterInnen ausgelöst. Gegenüber dem Integrationsniveau der Konzerne besteht auf Gewerkschaftsseite beträchtlicher Nachholbedarf, lautet das abschließende Fazit.

Realität und Theorie des Freihandels

Im abschließenden Kapitel werden Freihandel in Theorie und Realität und eine anzustrebende alternative Ausgestaltung diskutiert. Dabei werden sehr viele Aspekte angesprochen, die Tiefe leidet bisweilen darunter. Dies gilt vor allem für den theoretischen Teil, in dem unterschiedliche Ansätze, Freihandel zu begründen, einfach zusammengemixt werden, ohne aufzuzeigen, daß Klassik und Neoklassik zwar beide Freihandel propagieren, aber sehr wohl mit gänzlich unterschiedlichen Ausgangsannahmen.
Wenn schon den Integrationsbestrebungen realistischerweise nicht Einhalt geboten werden kann, so fordern die AutorInnen, daß Handelsabkommen zukünftig und im nachhinein wenigstens um 4 Aspekte ergänzt werden sollen. In die Entscheidungsprozesse soll eine breite Öffentlichkeit einbezogen werden, um zu verhindern, daß wenige FreihandelsbefürworterInnen ihre Interessen durchsetzen. Weiter soll Mexiko im Rahmen des NAFTA Ausgleichszahlungen erhalten, um die zu erwartenden enormen sozialen Kosten abmildern zu können. Die Errichtung einer Entwicklungsbank zur Wahrnehmung sozialer Aufgaben wird dabei als praktischer Vorschlag angeführt. Internationale Rahmenvorschriften hinsichtlich Arbeitsbedingungen, Migrationsbestimmungen und Menschenrechten einschließlich Durchsetzungsmechanismen (internationaler Gerichtshof, Handelssanktionen) sollen juristische Möglichkeiten schaffen, auf internationaler Ebene gegen Verstöße vorzugehen. Schließlich sollen Innovationen auf institutioneller Ebene für klare Verantwortlichkeiten sorgen. Als Beispiel wird eine binationale Kommission für die US-mexikanische Grenze genannt, die sich um Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsprobleme kümmern könnte.
Insgesamt überzeugt das Buch beim Beschreiben der Geschichte US-mexikanischer Integration im Industriesektor. Zu kurz kommt der Agrarsektor. Über die dort vorhandenen Strukturen werden nur sehr allgemeine, um wenige Beispiele angereicherte Ausführungen gemacht. Die Schwächen bei den theoretischen Teilen des Buches wurden schon angemerkt und können auch durch reichhaltige empirische Daten nicht wettgemacht werden. Die vorgeschlagenen Alternativen bei der Gestaltung von Integration zeugen nicht gerade von Originialität, spiegeln aber wohl den derzeitigen Stand der “alternativen” Diskussion wider. Wenn schon die Integration unumgänglich ist, dann wenigstens die Einflußmöglichkeiten und die soziale Abfederung verbessern.

Harry Browne: For Richer, For Poorer. Latin American Bureau 1994, 130 Seiten, DM 27,80 Über den LN-Vertrieb zu beziehen.

Mexiko: 1992 – 1993 – 1994

Das Jahr 1992 wurde zum vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen des mexikanischen Staates, in den erlauchten Kreis des Nordens aufgenommen zu werden. Carlos Salinas de Gortari repräsentierte einen Staat, der über umfangreiche Privatisierungen ein neoliberales Wirtschaftsmodell praktizierte, den man für ordnungsgemäße Schuldenrückzahlung mit einem Teilerlaß belohnte und dem der Wahlbetrug zu seiner Amtsübernahme vergeben wurde.
Die Internationalismusbewegung beschäftigte sich mit dem Quinto Centenario, da bot es sich für die internationale Buchmesse in Frankfurt an, mit der Wahl Mexikos als Schwerpunktland einerseits auf den fahrenden Zug des öffentlichen Interesses aufzuspringen, andererseits mit dieser Wahl den Versuch zu unternehmen, ein Land vorzustellen, das – scheinbar – gerade nicht mehr in Abhängigkeit gehalten und ausgebeutet wurde. Mexiko selbst wiederum benutzte die Schau, um sich selbst als an der “Schwelle” zum Norden stehend darzustellen und begegnete den letzten verbliebenen KritikerInnen mexikanischer “Demokratie” mit einem Gesetz zur Errichtung einer nationalen Menschenrechtskommission.

1993: NAFTA über alles

1993 setzte sich dieser Trend einerseits fort und fand mit dem vorherrschenden Thema NAFTA einen neuen Focus. Die Strategie der mexikanischen Regierung konzentrierte sich ganz auf die Ratifizierung dieses Abkommens, die US-Administration ebenfalls, wohl wissend, daß unter Inkaufnahme von Arbeitsplatzverlusten unter dem Strich durch diese Freihandelszone die Vorherrschaft des US-Kapitals langfristig gesichert würde.
Um so größer war der Schock Anfang 1994. Der Aufstand der Indígenas in Chiapas sorgte für Aufregung. Und zwar um so mehr, je stärker der Einzelne an die “erfolgreiche” (Wirtschafts-)Politik von Salinas geglaubt hatte. Nur wenige waren nicht überrascht, daß der Aufstand ausbrach, sondern daß er nicht schon früher ausbrochen war (Carlos Fuentes). Rücken dementsprechend in diesem Jahr die ungerechten und undemokratischen Verhältnisse, die Armut und Abhängigkeit ein wenig mehr ins Blickfeld des Interesses?
Zwei umfangreiche Länderkunden aus den Jahren 1992 bzw. 1993 sollen vor dem oben beschriebenen Hintergrund beleuchtet werden. Passend zur Buchmesse haben Biesemeister und Zimmermann einen umfangreichen Sammelband mit dem Titel “Mexiko heute” herausgegeben. In über 40 Einzelbeiträgen werden Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes analysiert. Daneben widmet sich ein gesondertes Kapitel dem deutsch-mexikanischen Verhältnis, und in einer Bibliographie ist die mexikanische Literatur in deutscher Übersetzung zusammengestellt. Es kann insgesamt aufgrund der Themenfülle und der Zusammenführung vieler Mexiko-SpezialistInnen als anspruchsvolles Informationsbuch und Nachschlagewerk gelten.
Aus einem Mexiko-Seminar des Instituts für wissenschaftliche Zusammenarbeit in Tübingen gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwuchs ein weiterer Sammelband “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?”, 1993 herausgegeben von Sevilla und Azuela. Hier werden in 15 Einzelbeiträgen ebenfalls die Bereiche Politik, Kultur und Wirtschaft abgehandelt. Auffällig ist, daß beide Aufsatzsammlungen, im Unterschied zu klassischen geographischen oder sozialwissenschaftlichen Länderkunden letzten Jahrzehnte, ihr Schwergewicht auf die Kultur legen. Letztere besticht zudem durch eine Konzentration auf politisch aktuelle Problembereiche und Fragestellungen.
In “Mexiko heute” beschreibt Lauth die Situation von Parteien, Wahlen und Demokratie. Er konzentriert sich bei der Kritik an der mexikanischen Demokratie hauptsächlich auf den Wahlbetrug, kommt allerdings zu dem Schluß, daß die 1988er Wahlen auch bei korrekter Stimmenauszählung wohl nicht von der Opposition gewonnen worden wären. Gleichsam sieht er eine nach wie vor große “tatsächliche Akzeptanz der PRI” im Kontext “einer sich immer stärker pluralistisch konstituierenden Gesellschaft”, die ihren Ausdruck findet “in der wachsenden Anerkennung der Opposition bis hin zum Eingeständnis von Niederlagen”. Mit keinem Wort erwähnt er dagegen die subtile und effiziente Absicherung der Vormachtstellung der PRI im mexikanischen Staat. Ganz anders bei Nohlen im anderen Sammelband, der sich speziell mit der mexikanischen Wahlreform auseinandersetzt. Er kritisiert den “sanften Autoritarismus” der “Sechs-Jahre-Monarchie”, die fehlende Gewaltenteilung und kommt zu dem Schluß: “Der ‘Mehr-Partizipations’-Rhetorik steht eine entschiedene Machterhaltung in der Wahlgesetzgebung gegenüber. Madlener erörtert in letzterem Band zusätzlich die “Stellung und Aufgaben der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos”. Diese seit 1992 gesetzlich verankerte Einrichtung sollte primär bereits begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob sie die Unabhängigkeit besitzen würde, um einen effektiven Menschenrechtsschutz auch präventiv gewährleisten zu können. So konnte sie – wie erwartet – die umfangreichen Menschenrechtsverletzungen Anfang dieses Jahres nicht verhindern, allerdings zusammen mit den Medien und einer durch NAFTA und die diesjährig anstehenden Wahlen sensibilisierten Öffentlichkeit immerhin zur Aufklärung bzw. Anprangerung des Regimes beitragen.

PRONASOL als soziales Feigenblatt?

Bei der Analyse der ökonomischen Situation fällt im Sammelband “Mexiko heute” auf, daß zwar eine detaillierte Behandlung von Landwirtschaft, Erdölwirtschaft, Verschuldung, Umweltproblematik und Tourismus erfolgt, durch diese Aufteilung in Einzelaufsätze jedoch kein Gesamteindruck bzw. keine konsequente Bewertung der Wirtschaftspolitik Salinas entsteht. So wird das “Solidaritätsprogramm” (PRONASOL) als Kontrapunkt neoliberaler Wirtschaftspolitik hingestellt und von Kürzinger das Fazit gezogen: “Ungeachtet der Unwägbarkeiten und Probleme kann der Zukunft mit gedämpftem Optimismus entgegengesehen werden”. Gleichwohl kommt ein anderer Autor (Sangmeister) zu dem Schluß: Es steht zu befürchten, “daß die sozialen (Folge-)Kosten der Auslandsverschuldung, die noch über längere Zeit zu tragen sind, wie schon bisher überwiegend den ärmeren Bevölkerungsschichten aufgebürdet werden, sofern keine verteilungspolitische Kurskorrektur der mexikanischen Wirtschaftspolitik erfolgt”. An dieser Stelle böte sich die kritische Analyse des “Solidaritätsprogramms” an – sie erfolgt jedoch nicht. Dabei wäre in diesem Zusammenhang gerade gut die Einbindung dieses Programms in die Strategie neoliberaler Flexibilisierung und den staatlichen Rückzug aus der Verantwortung für die gesellschaftspolitische Umverteilung herauszustellen gewesen.
In dem Buch “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?” konzentriert sich Kielmann auf die Analyse des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Er beschreibt darin das Konzept, die Chronologie der Verhandlungen und gibt im Anhang eine kurze Beschreibung der Hauptbestandteile. Kein Wort hingegen taucht auf über die Akteure, weder scheint es handelnde Subjekte mit einem bestimmten Interesse für dieses Abkommen zu geben, noch irgendwelche Personen, die sich gegen die Ratifizierung wandten.
Zur Situation der “Indianer in Mexiko” schreibt Masferrer Kan in “Mexiko heute” einiges über die Fragen, wer denn eigentlich als “Indianer” zu bezeichnen ist, wo sie leben und über ihre Religionen. Er endet in dem Kapitel “Der mexikanische Staat und die Indios” mit der Erwähnung der Verfassungsänderung, wodurch der Staat jetzt als multiethnisch ausgerichtet definiert wird. Jetzt wo es eigentlich spannend wäre weiterzufragen, ob sich dadurch eventuell etwas positiv für die indianische Bevölkerung ändern wird, endet der Artikel. Ausführlicher beschäftigt sich Köhler mit dem komplizierten Verhältnis von Assimilation und Marginalisierung der Indianer Mexikos in dem anderen Sammelband. Er kommt zu dem Fazit, daß es nach wie vor kaum Aufstiegschancen für Indígenas gibt und ihnen nach wie vor nur die Erledigung der Drecksarbeit bleibt. In einem weiteren Beitrag beschreibt Guidi die “Auswirkungen des mexikanischen ‘Nationalprojektes’ auf eine mixtekische Gemeinschaft in Oaxaca”. Dabei bilanziert sie anhand einer ausgezeichneten Fallstudie treffend, daß “das Streben nach Fortschritt in Wirklichkeit nur Rückschritt bedeutet hat”.
Die Auseinandersetzung mit den aufgeführten Aufsätzen führt zu dem Ergebnis, daß, bei aller Heterogenität der AutorInnen der Sammelbände, letztlich beide zu einem gewissen Teil typisch für das eingangs beschriebene Zeitgefühl der Jahre 1992 bzw. 1993 sind. Dabei ist das erstere (Mexiko heute) ein wenig mehr der Ideologie des “Schwellenlandes” aufgesessen und das zweite in einigen Beiträgen sowohl aktueller als auch treffender.

Biesemeister/Zimmermann (Hrsg.) Mexiko heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. Vervuert, 1992. ISBN 3-89354-543-3. 88,-DM
Sevilla/Azuela (Hrsg.) Mexiko – die institutionalisierte Revolution? Unkel/Rhein Horlemann, 1993 ISBN 3-927905-82-8 38,-DM

Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes

“Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.” An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand “eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume” erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in “Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes” eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes”, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In “Ein harter Knochen” von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. “Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.” Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen “Die Kleider einer Dame” von Alonso Cueto und “Hinter der Calle Toledo” von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in “Arachne” von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in “Hinter der Calle Toledo” spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In “Lince und der letzte Sommer” reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: “Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt”.
“Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise” – Barreda Delgados Erzählung “Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist” drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte “Die Jakarandabäume”. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in “Der schwarze Pianist” von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. “Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.” Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich “Lieblingsgeschichten” gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.

“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag”; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark

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