Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes

“Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.” An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand “eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume” erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in “Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes” eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes”, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In “Ein harter Knochen” von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. “Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.” Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen “Die Kleider einer Dame” von Alonso Cueto und “Hinter der Calle Toledo” von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in “Arachne” von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in “Hinter der Calle Toledo” spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In “Lince und der letzte Sommer” reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: “Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt”.
“Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise” – Barreda Delgados Erzählung “Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist” drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte “Die Jakarandabäume”. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in “Der schwarze Pianist” von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. “Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.” Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich “Lieblingsgeschichten” gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.

“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag”; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark

Mal was Gutes für die Schule

Wenn wir unseren SchülerInnen aber trotzdem was Gescheites beibringen wollen, sie zum Selberdenken anregen wollen, müssen wir uns also schon was einfallen lassen – oder wirklich gute Texte anbieten können. Dazu kommt, daß auch wir selbst den zu offensichtlichen pädagogischen Zeigefinger schon lange leid haben, das Belehrende und Plump-zu-Guten-Bekehrende nicht mehr hören können.
Und da gibt es nun mal etwas Erfreuliches zu berichten über zwei neue Lektüren für den Englischunterricht in der Oberstufe (und durchaus auch für andere Interessierte):
Die Textsammlung “The Caribbean” ist ein ungewöhnlich gut gelungenes Exemplar dessen, was frau sich schon lange gewünscht hat: eine Reihe von authentischen und hochinteressanten Texten, aus denen sich zweifellos – bei nicht völlig uninteressierten SchülerInnen – eine Menge Fragen, Diskussionen und Anregungen, weiterzulesen, ergeben. Ausnahmsweise mal wird nicht, gut gemeint, über die armen benachteiligten Minderheiten und Unterdrückten berichtet, was ja im Unterricht leider immer nur zu gelähmt zustimmendem Kopfnicken führt, sondern es werden eine Menge kontroverser Themen geboten.
Dies ist eine erfreuliche Überraschung, wenn frau zuvor im Inhaltsverzeichnis die überaus konventionellen Überschriften (wie “Introducing the Caribbean” oder “Dependence and Poverty”) erstmal hinter sich gebracht hat, die Trockenes befürchten lassen und auf SchülerInnen eher abschreckend wirken dürften. Dann aber wird es gleich spannend: Das Heft beginnt fulminant mit einem Brief der Jamaica Kincaid aus Antigua, in dem sie schonungslos, bissig, sarkastisch und witzig uns weißen TouristInnen genau das sagt, was wir nie hören wollten: “An ugly thing, that is what you are when you become a tourist, an ugly, empty thing, a stupid thing, a piece of rubbish pausing here and there to gaze at this and taste that, and it will never occur to you that the people who inhabit the place in which you have just passed cannot stand you, that behind their closed doors they laugh at your strangeness (you do not look the way they look); the physical sight of you does not please them; you have bad manners…”usw.
Allein wegen dieses Textes lohnt sich das ganze Heft, aber auch in anderen Texten kommen vorwiegend Einheimische aus der Karibik zu Wort. Daraus ergeben sich eine Menge Fragen. Und in Info Boxes und Sachartikeln bietet das Heftchen dann auch genug Sachinformationen über Wirtschaft, Auslandsschuld usw. an, die einen natürlich entstandenen Informationsbedarf befriedigen und inhaltlich in Ordnung sind (gibt es doch sogar einen Auszug aus “Far From Paradise” von J. Ferguson, ed. Latin American Bureau, das ja bekanntlich für Deutschland von den LN vertrieben wird).
Ein anderer Themenkomplex ist das creole, die Sprache der Karibik, die jeweils aus der Sprache der KolonisatorInnen in ihrem Kontakt mit einheimischen und afrikanischen Sprachen entstanden ist. Deren Daseinsberechtigung neben oder statt dem offiziellen Englisch/Französisch/Niederländisch ist eine Frage, die zu diskutieren lohnt.
Wie bei den LN kommt auch in dem Heft die Kultur leider erst am Ende, und Reggae werden die SchülerInnen wohl mega-out finden. Trotzdem, finde ich, gehört er natürlich in das Heft über die Karibik. Der Nobelpreisträger 1992 aus St. Lucia, Derek Walcott, wird zwar genannt und als Foto vorgestellt, jedoch fehlt leider ein Textbeispiel von ihm. Das kann aber in LN 221 nachgelesen werden.
Das andere Heft aus demselben Verlag über “Hispanic Groups in the USA” weist ähnliche Qualitäten auf, spannende Originaltexte, Auszüge aus Romanen von Latino-AutorInnen in den USA und viele brauchbare Informationen. Aktuelle Themen werden angesprochen, den SchülerInnen wird vermittelt, daß die US eben nicht nur aus weißen Amis bestehen. Das Heft ist etwas konventioneller gestaltet als das andere, und auch hier sind die Titel der Artikel abschreckender als ihr Inhalt.
Diese Lektüre habe ich allerdings noch nicht selbst in der Schule ausprobieren können. Obgleich ich sofort nach ihrem Erscheinen einen Klassensatz davon bestellte, kam er buchstäblich erst in der letzten Woche des dafür geeigneten Semesters in der Schule an, da solche Bestellungen sich immer erst durch den Dschungel der Schulbürokratie kämpfen müssen – und im jetzigen Semester sind andere Themen vorgeschrieben. Nun ja, kurz vor den neuesten Sparmaßnahmen haben wir wenigstens noch was Gutes angeschafft für die Zukunft.

The Caribbean, A Crossroad of Cultures, ed. Gerhard Dilger, Cornelsen Verlag, Berlin, 1993
Hispanic Groups in the USA, ed. Horst Tonn, Cornelsen Verlag, Berlin, 1992.

Explosive Komponenten

Die bewaffnete Erhebung in Mexiko ist die wichtigste in diesem Land seit der Revolution von 1910. Die Explosion übersteigt bei weitem alle anderen bekannten Erfahrungen mit Guerillagruppen auf aztekischem Boden, einschließlich der ländlichen und städtischen Bewegungen der 70er Jahre.
Noch nie zuvor wurde ein Kontingent von 3.000 Aufständischen gesehen, die, von Frauen und Kindern begleitet, mit einem Schlag vier Ortschaften besetzten, unter ihnen solch große wie San Cristóbal de las Casas und Ocosingo.
Bei Lichte betrachtet, handelt es sich weniger um eine klassische Guerilla-Operation als um einen bewaffneten Massenaufstand. Mit explosiven Bestandteilen, wie etwa der klaren sozialen und ethnischen Identifikation der Kämpfenden: arme Campesinos aus dem ärmsten Staat Mexikos, und Indígenas vom Volk der Maya, in einer Provinz, in der sich die Großgrundbesitzer der Jagd von Indios widmen.

Gerüchteküche – je nach Gusto wird analysiert und interpretiert

Wer an einen klassischen “Guerilla-Foco” (Aufstandsherd, Anm. d. Red.) denkt, irrt sich. Ebenso derjenige, der ein Schema nach Art von Sendero Luminoso im Kopf hat. Das Zapatistische Befreiungsheer EZLN, das mit diesem Aufstand sein formales Debut gab, ist ein Heer, das sich bereits vorher angekündigt hat. Seit mehr als sechs Monaten reden Presse und politische Gerüchtebörse von Aufständischen, die sich still und heimlich in den bewaldeten und nebligen Hügeln von Chiapas vorbereiten. Schon vor sechs Monaten kündigten Campesinos, die heute Mitglieder der Milizen sind, in den Versammlungen ihrer Organisationen an, daß sie nicht wie sonst aussäen würden.
Ebenfalls vor sechs Monaten hörte ich während eines Abendessens im Hause von Jorge Castañeda, wie der Senator Porfirio Muñoz Ledo, Präsident der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD) sagte, es gäbe keine derartige Guerilla. Vielmehr handele es sich um eine gigantische Provokation von Seiten des mexikanischen Innenministers Patrocinio González Garrido, der im Einvernehmen mit der Regierung von Chiapas handele. Ziel sei laut Meinung des Oppositionsführers, den Konflikt zu militarisieren, damit die Leute sich nicht der PRD anschlössen. Obwohl normalerweise recht scharfsinnig und gut informiert, scheint Muñoz Ledo sich in diesem Fall geirrt zu haben.
Auch wenn noch nicht alles vorüber ist, übersteigen die schwerwiegenden Geschehnisse schon jetzt den Rahmen einer möglichen Verschwörung, die einige dem militärischen Geheimdienst unterstellen. Laut letztgenannter Hypothese hätte ein Teil des mexikanischen Militärs, entrüstet über die wenig glanzvolle Rolle, die die Armee in den letzten sechs Jahren spielte -unter anderem wurde sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht – das “zapatistische” Phänomen wachsen lassen, um politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dies klingt mir entschieden zu machiavellistisch.
Plausibler erscheinen dagegen andere Erklärungsansätze. Seit vielen Jahren – zehn Jahre sagen die einen, zwanzig die anderen – sollen sich einige überlebende Kader der Stadtguerilla “23. September” und der Landguerillas “Genaro Vázquez” und “Lucio Cabanas” in Chiapas festgesetzt haben, um ihre heimlichen Aktivitäten mit langfristiger Perspektive fortzusetzen. Die furchtbaren Rahmenbedingungen sozialer Ungerechtigkeit und politischer, ethnischer und sogar religiöser Verfolgung, die seit Jahrhunderten in dieser Grenzregion zu Guatemala herrschten, erleichterten der Guerilla die Arbeit. So soll es ihnen gelungen sein, sowohl der Regierungspartei PRI als auch der oppositionellen PRD einige Bauernorganisationen zu entreißen. Einige dieser Keimzellen hätten die Reihen der EZLN genährt. Die Regierung von Chiapas hat nach anderen Erklärungen gesucht. Sie beschuldigte die lokale Kirche und den Bischof Samuel Ruiz, mit dem sich die regionalen Autoritäten seit Jahren in einer erbitterten Konfrontation befinden.

Politikreflex: Wem nützt das alles?

Für die PRD, angeführt von dem Ingenieur Cuauhtémoc, erscheint die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Einige Beobachter rechnen damit, daß bestimmte Kreise aus dem Umfeld der Regierung versuchen werden, die “Cardenistas” mit der EZLN zu identifizieren. Andere glauben dagegen, daß der PRD das Entstehen einer Guerilla links von ihr gelegen kommt, um das extremistische Profil abzuschütteln, das ihr angehängt werden soll, und sich dem magischen Zentrum anzunähern, wo sie die Wahlstimmen vermuten (oder vermuteten).
Die Regierung sieht auch , daß sich ein repressives Vorgehen im Zuge des kommenden Wahlkampfes kontraproduktiv auswirken könnte. Daher überrascht es nicht, daß Salinas zum Dialog aufgerufen hat. Paradox ist, daß Mexiko während der ganzen letzten Jahre im zentralamerikanischen Konflikt der vermittelnde und schlichtende Staat war. Jetzt, wo sich in der gesamten Region Friedensabkommen durchsetzen, explodiert der Krieg auf seinem eigenen Territorium.
Und nicht nur in Chiapas: In den letzten Monaten drangen mehr und mehr Meldungen an die Öffentlichkeit, daß es Guerillagruppen gibt, die sich seit Jahren im Hochland von Guerrero vorbereiten – in den gleichen Bergen, die die Guerilla von Lucio Cabanas beherrbergten, den gleichen, wo seit den achtziger Jahren der Drogenhandel seine blutige Spur hinterlassen hat. Haben die Zapatistas eine Verbindung zu den Guerilleros, die sich zur Zeit noch in den Bergen von Guerrero verbergen? Wird es nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auch in Guerrero zu einer Explosion kommen?
Es ist schwierig, Voraussagen für Mexiko zu machen. Vor sechs Monaten besuchte der glänzende Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donado Colosio, Las Margaritas, eine der vier Ortschaften, die zur Zeit von dem Zapatistischen Heer besetzt sind. Dort verteilte er wichtige Spenden. – Kurioserweise war Chipas der Staat, der im Rahmen des “Programa Nacional de Solidaridad” die meiste Unterstützung bekam.
So was soll vorkommen.

Der Argentinier Miguel Bonasso ist ehemaliges Mitglied der “Montonero”- Guerilla und arbeitet mittlerweile als Journalist.

gekürzt übernommen aus: Pagina/12 (Argentinien)

Menschenrechte und Repression in Chiapas

LN: Die Repression in Chiapas hat ja schon eine längere Geschichte. Worauf beruht sie?
Barragán: Das Regierungssystem hat immer die privilegierten Familien oder Kasten begünstigt, das politische Kazikentum in allen öffentlichen Ämtern gestärkt, die ohnehin von derselben politischen Klasse kontrolliert werden.
Im allgemeinen wurde den Indiogemeinschaften die Möglichkeit, Landkonflikte gerichtlich klären zu lassen, verwehrt. Die bundesstaatliche Justiz wird nach wie vor von der herrschenden Klasse verwaltet.
Jeder Widerstand und jeder Protest wurde mit Waffengewalt durch die Polizei, und in den letzten Monaten das Militär, unterdrückt.

Hat das Eingeifen der Militärs in der Region nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen?
In der Tat ist der militärische Eingriff in der Region illegal, da er eigentlich der Genehmigung des Kongresses bedarf, so wie es in der Verfassung steht.
Nach Zeugenaussagen, die wir erhalten haben, wird bestätigt, daß Zivilisten ermordet wurden, daß Verletzte sterbend liegen gelassen wurden oder ihnen eine medizinische Behandlung nur bei dem medizinischen Personal des Militärs erlaubt war.

Hat es in Mexiko schon früher ähnlich bedeutende Guerilla-Bewegungen gegeben?
Die letzte wichtige Guerillabewegung war vor 20 Jahren im Bundesstaat Guerrero, die damals zuerst von Génaro Vázquez und dann von Lucio Cabañas angeführt wurde. Der General, der Lucio Cabañas besiegte, hieß Absalón Castellanos, und er wurde zur Belohnung Gouverneur von Chiapas. Daher kann seine Entführung zu Beginn des Aufstandes der EZLN in Verbindung mit den Ereignissen von damals gebracht werden.

Worin unterscheidet sich denn die EZLN von der damaligen Guerilla?
Vielleicht liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die EZLN besser vorbereitet ist und über einen größeren Anhang verfügt.

Kam der Aufstand der Zapatisten überraschend?
Schon vor 6 Monaten war bekannt, daß es Guerilla-Aktivitäten gab. Es gab sogar Konfrontationen mit dem Militär. Dies teilte die stellvertretende Innenministerin Socorro Díaz mit, und der neue Innenminister Carpizo bestätigte es.

Inwieweit haben die Militärs sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt?
Immer gab es eine starke Militärpräsenz wegen der Gefahr, daß die guatemaltekische Guerilla in Chiapas eindringen könnte. Doch die Repression gegen die Indios und Bauern ging hauptsächlich von den “guardias blancas” (paramilitärische Einheiten, Anm. d. Red.) aus, die im Dienste der Großgrundbesitzer arbeiten. Diese “guardias blancas” genießen die Unterstützung der staatlichen Behörden. Genaue Angaben über ihre Stärke gibt es nicht, da sie immer wieder neu rekrutiert werden.

Was hat die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) gegen die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas getan?
Die Kommission hat sich vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit vielen Problemen in Zusammenhang mit den Landkonflikten, der Repression und dem Zugang zu den Justizbehörden befaßt. Sie veröffentlichte zahlreiche Studien dazu. Sie hat sogar 29 schriftliche Empfehlungen zu über 200 Beschwerden gemacht, aber ohne Erfolg, da niemand sie beachtet. Nun hat sich die Kommission aufgrund der bewaffneten Konflikte um humanitäre Hilfen bemüht: wie durch die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften, durch die Registrierung von Übergriffen, z.B. der Erschießung von Guerilleros und Zivilisten. Sie hat aber nichts getan, um die Massaker gegen die Zivilbevölkerung und die Repression gegen JournalistInnen und die Presse zu verhindern.
Unabhängige Menschenrechtsgruppen haben über Menschenrechtsverletzungen berichtet und sind nach Chiapas gereist, doch sie werden ebenso wie die Presse zurückgehalten. Für viele MexikanerInnen ist die CNDH nur eine Fassade, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Regierung dahinter zu verbergen.

Was kann sich in Bezug auf die Menschenrechtssituation durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verändern?
Einen politischen Richtungswechsel wird es praktisch nicht geben, da die USA auf ihre wirtschaftlichen Interessen achten werden. Und das Fehlen einer wirklichen Demokratie in Mexiko interessiert die USA zumindest zur Zeit nicht, nicht einmal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Das Freihandelsabkommen wird für das Land andere Veränderungen bringen, vor allem wirtschaftliche und juristische. In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich die Handelsbilanz nachteilig verändern und die Arbeitslosigkeit verstärken, wodurch der informelle Sektor weiter anwachsen wird. In Sachen Justiz werden die Veränderungen sehr wichtig sein, da das mexikanische Recht dem kanadischen und US-amerikanischen untergeordnet wird. Auf diese Weise kann ein Mexikaner (im wirtschaftspolitischen Bereich, Anm.d.Red.) in Zukunft seine Konflikte vor den Gerichten dieser beiden Länder schlichten lassen und so die sehr schlechte mexikanische Justiz übergehen.

In welcher Weise kontrolliert die Regierung die Opposition? In welcher Weise wird sie vereinnahmt?
Die Regierung charakterisiert sich durch ihr Bemühen, sozialen Protest über die Kontrolle der institutionellen Organe zu vereinnahmen. Daher wurde zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode das Nationale Solidaritätsprogramm (PRONASOL) geschaffen, das wie CARITAS oder eine Einrichtung für das öffentliche Wohl wirkt, aber letztendlich Wahlziele (für die PRI, Anm. d. Red.) verfolgt. Doch selbst die Studien von PRONASOL verdeutlichen, wie schwierig es für die Regierung ist, den Unmut in der Bevölkerung abzubauen.
Die Kontrolle über die politischen Parteien ist zudem komplett, nicht zuletzt wegen der jüngsten Wahlreform, die Parteikoalitionen verbietet. Diese Wahlreform begünstigt die PRI, die auch, wenn Unvorgesehenes eintreten sollte, die Wahlgerichte kontrolliert, da diese dem Innenministerium unterstellt sind. Mensch kann sagen, daß, wenn Wahlbetrug notwendig werden sollte, dieser wie bisher auch ohne Schwierigkeiten und ohne Verstösse gegen geltendes Recht stattfinden kann.

Innerhalb der mexikanischen Regierung scheinen Veränderungen stattgefunden zu haben, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chiapas stehen. So wurde beispielsweise als neuer Innenminister Jorge Carpizo ernannt, der vormals Vorsitzender der CNDH war. Gleichzeitig wurde Camacho Solís, der dem linken Flügel der PRI angehört, als Emissär nach Chiapas entsandt. Welche Bedeutung haben diese Veränderungen? Könnten sie zu einer Demokratisierung führen?
Im allgemeinen wurden die Veränderungen, die zur Ernennung von Jorge Carpizo geführt haben, sehr begrüßt. Insgesamt scheint jedoch die Regierung mit Ausnahme von Camacho über keine guten Politiker zu verfügen. Jorge Carpizo ist ein sehr schlechter politischer Unterhändler, wie er bewiesen hat, als er Rektor der UNAM (Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) war. Er ist hervorragend, um die Korruption aufzudecken und um auf die Schlechtigkeiten des Systems hinzuweisen, aber dann trägt er zu nichts Nützlichem bei, da er sich zurückzieht und sich dem System anpaßt, das ihn begünstigt. So war es, als er Präsident der CNDH und der Bundesstaatsanwaltschaft war: in letzterer Funktion brachte er in Mexiko das Corcuera Gesetz ein, das ja sehr kritisiert wurde.

Was beinhaltet dieses Gesetz?
Dieses Gesetz ermächtigt das Innenministerium (ministerio público), das über der Justizpolizei steht, in schweren Fällen oder in solchen, wenn es kein Gericht in der Nähe gibt, Haftbefehle und Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen. Darüber hinaus ermöglicht es, MexikanerInnen und AusländerInnen bis zu 96 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung in Haft nehmen zu können.

Was ist die Regierungsstrategie, um die Probleme in der Region zu lösen und den Konflikt zu beenden?
Zunächst setzte die Regierung nur auf Repression und entsandte deswegen Truppen dorthin.
Danach bildete sie einen runden Tisch, um eine Lösung für die sozialen Probleme der Region zu suchen. An diesen runden Tisch wurden Vertreter des Verteidigungs-, Sozial-, und Innenministeriums und der Bundesstaatsanwaltschaft berufen.
Wie man sieht, handelt es sich hier – mit Ausnahme des Sozialministeriums – um eine Repressionsrunde. Es gibt bis jetzt keinen tiefgreifenden Vorschlag. Zum Beispiel müßte eine echte Agrarreform in Chiapas durchgeführt werden, die die Indiogemeinschaften und generell die Bauern begünstigt. Es muß eine politische Initiative unternommen werden, mit dem Ziel, die Ethnien anzuerkennen, mehr Selbstbestimmung und politische Partizipation einzuräumen. Ihnen muß ein Minderheitenvotum bei allen lokalen und bundesstaatlichen Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Und es muß eine tiefgreifende Sozialreform begonnen werden, die ihnen die minimalen sozialen Dienstleistungen (Trinkwasser, Strom, medizinische Versorgung, Schulen usw.) garantiert. Nichts von dem wird jedoch gemacht, da die Haushaltsmittel in die Präsidentschaftswahlkampagne fließen werden, und weil solche Reformen dem neoliberalen Kurs der Regierung widersprechen. Hier sagt man, daß zuerst Reichtum geschaffen werden muß, damit die Reichen den Armen gegenüber wohltätig sein können. Dies ist absurd.

Basta!

Freiheit statt Coca-Cola

Natürlich geht es in materieller Hinsicht, wie auch dem ‘Tagesspiegel’ klar sein dürfte, nicht um koffeinhaltige Erfrischungsgetränke, sondern um einen verzweifelten Aufschrei gegen Hunger und Verelendung. Natürlich geht es um den Kampf gegen Landraub und Massenarmut. Schon im Landesdurchschnitt lebt die Hälfte der MexikanerInnen unterhalb der Armutsgrenze. In Chiapas, einem bedeutenden Rohstofflager des Landes, ist es aufgrund von Rassismus, Flüchtlingselend und einem perfekt geschmierten Kazikensystem ein bedeutend höherer Anteil der Bevölkerung, der um das tägliche Überleben bangen muß. Und natürlich war das neoliberale Schockprogramm der 80er Jahre, inklusive der Reprivatisierung von Gemeinschafts- und ejido-Land, nicht nur die Eintrittskarte zu NAFTA, sondern außerdem Ursache von verstärkter Ausbeutung und Unterdrückung des indigenen Teils der Bevölkerung.
Eine rein ökonomische Betrachtungsweise jedoch versperrt den Blick auf das Freiheitsbedürfnis der Aufständischen. Der Schlachtruf “Tierra y Libertad” ist weder nur aus revolutionärer Tradition heraus gewählt worden, noch als alleiniger Protest gegen die Raffgier von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Holzunternehmen. Der Schrei nach Freiheit richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und gerade in Chiapas, gegen die Repression organisierten Protests, gegen Bevormundung, illegale Verhaftungen, Folter und Morde. Da diese Verbrechen erst mit der Duldung oder Förderung durch lokale und regionale PRI-PolitikerInnen möglich sind, ist der Aufstand zugleich eine Herausforderung des politischen Systems, eines Herrschaftsapparates, dessen Funktion die organisierte Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist. Jede Bombe auf ZivilistInnen und jede Exekution von gefangenen Zapatistas legitimiert diesen Aufstand aufs Neue.

Der Verrat des revolutionären Erbes

Als im November 1991 der Artikel 27 der mexikanischen Verfassung über Landverteilung und Eigentumsrechte modifiziert wurde, um eine Privatisierung von Gemeinschaftsland und damit eine Ausdehnung von Großgrundbesitz zu ermöglichen, fiel eine zentrale rechtliche Säule des sozialen Teils der Verfassung von 1917. Vergebens appellierte der Vorsitzende der Linksopposition PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, an das revolutionäre Erbe und folgerte: “Es ist wieder an der Zeit, sich mit den Fahnen von Emiliano Zapata zu erheben, für wirtschaftliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität”. Der Erfolg von Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 war ein deutliches Zeichen an die PRI, daß weite Teile der Bevölkerung das einfordern, was die Verfassung aus der Revolutionszeit vorschreibt: Soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und ein Vorgehen des Staates gegen die Privilegien der Eliten. Daß die PRI, wie ihr Name vorgibt, die Revolution ‘institutionalisiert’ habe, wollte eine stetig steigende Zahl von MexikanerInnen nicht mehr glauben. Die Dominanz von ausländischem, besonders US-amerikanischem Kapital, die Verquikkung von Wirtschaftselite und politischer Führung und der undemokratische Charakter des Systems sprechen eine andere Sprache.
Die Erhebung mit den Fahnen Zapatas, die Cárdenas gefordert hatte, findet nun statt, allerdings anders, als sich das die linkspopulistischen Neocardenistas vorgestellt hatten. Tiefgreifende Veränderungen, so das Signal aus Chiapas, lassen sich nicht über Wahlen erreichen, sondern nur über eine Erhebung des Volkes, in dessen Namen, aber gegen dessen Interessen, regiert wird. Zu tief sitzt das Mißtrauen gegenüber dem politischen System. Dieser militante Widerstand, so betonen die Zapatistas, ist nicht nur notwendig, sondern entspricht dem eigentlichen Geist der Verfassung. So wird im ersten Aufruf der EZLN die Verfassung zitiert: “Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu wechseln oder zu ändern”. Der PRI wird somit das Recht abgesprochen, als Treuhänderin der Revolution zu regieren, als deren legitime VertreterInnen sich die Zapatistas betrachten. Die Revolte von Chiapas ist somit ein Fanal, das die PRI innenpolitisch weiter schwächt und außenpolitisch diskreditiert. Von der EZLN wird Salinas in einem Atemzug mit General Porfirio Díaz genannt, dem Diktator, gegen den sich Zapata vor 80 Jahren erhob. Die Parallelen zu dessen Aufstand sind so offenkundig, daß das Emblem ‘Verräter der Revolution’ nun dauerhaft an der PRI kleben bleiben wird.

“An das Volk von Mexiko”

Das Berufen auf revolutionäre Traditionen gilt seit fünf Jahren im internationalen politischen Diskurs als äußerst unfein. Von daher hat Mario Vargas Llosa in seinem Kommentar zum Aufstand in ‘El Pais’ aus seiner Sichtweise heraus natürlich völlig recht, wenn er von der EZLN als einer “anachronistischen Bewegung” spricht. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß ein ‘Marsch auf Mexiko-Stadt’ die Regierung Salinas stürzt und im Gegenteil zu befürchten, daß das brutale Vorgehen der Militärs noch zahlreiche Opfer fordern wird, bis Chiapas ‘befriedet’ ist und der Repressionsapparat mit gesteigerter Gründlichkeit wieder arbeiten kann. Mit dem “ideologischen Salto rückwärts” (der ultimativen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Demokratisierung), den Llosa anprangert, müssen sich die Verfechter der ‘Strukturanpassungsprogramme’, zu denen der peruanische Schriftsteller gehört, schon auseinandersetzen. Offensichtlich ist der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit zu populär, um ihn noch glaubwürdig in die Mottenkiste der Geschichte verbannen zu können.
Wie also kann eine Wirtschaftspolitik gerechtfertigt werden, die nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt? Llosas Argumentation schwankt zwischen der Alternativlosigkeit nationaler Wirtschaftspolitik angesichts der Rahmenbedingungen des Weltmarkts (was auf staatlicher Ebene schwer zu bestreiten ist) und den auf lange Sicht wohltätigen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik für alle. Der Anspruch der PRI, die ganze Nation zu vertreten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der proklamierte Sprung des Landes in die ‘Erste Welt’ allen Bevölkerungsschichten Vorteile bringt. Die sozioökonomischen Realitäten Mexikos widersprechen dieser Lesart neoliberaler Schockprogramme grundlegend, und diesen Widerspruch betonen die Aufständischen. Der PRI wird nicht nur abgesprochen, legitime Vertreterin des revolutionären Erbes zu sein, sondern ebenso, ‘nationale’ Politik zu betreiben.
Die EZLN prangert in ihrem Aufruf nicht nur die “Abhängigkeit von ausländischen Mächten” und die Politik der Regierungskreise an, die “bereit sind, unsere Heimat zu verkaufen”. Dieser Vorwurf wurde zwar medienwirksam durch das zeitgleiche Inkrafttreten von NAFTA und dem Beginn des Aufstandes unterstrichen, doch die Zielrichtung ist eine andere, innenpolitische. Warum sonst, wenn die Mobilisierung der EZLN bereits seit Jahren läuft, fand die Revolte nicht vor der Abstimmung des US-amerikanischen Senats über NAFTA statt? Der Aufruf der Zapatistas wendet sich bewußt “an das Volk von Mexiko”, und, so betonen die Kämpfer, “wir haben ein Vaterland, und die Trikolore wird geliebt und respektiert”. In einem Interview führt Commandante Marcos explizit aus: “Wir sind MexikanerInnen, das eint uns, außerdem die Forderung nach Freiheit und Demokratie. Wir wollen unsere wirklichen RepräsentantInnen wählen”. Die EZLN besetzt auf diese Weise den Begriff ‘Nation’, und prangert zugleich die politische Elite als ‘Verräter’ und ‘unpatriotische’ Vertreter von Partikularinteressen an. Mehr als alles andere greift dieser Vorwurf die ideologische Hegemonie der PRI an.
NAFTA gewinnt durch diese Lesart eine andere Bedeutung: Über Jahrzehnte ist der ‘Antiimperialismus’ gegen die ‘Gringos’ aus dem Norden ein zentraler Bestandteil der nationalen Ideologie Mexikos gewesen. Durch die Öffnung der Grenzen ist diese Haltung von seiten der Regierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch das Brandmarken des ‘Ausverkaufs’ des Landes erhält so die Opposition ein wirkungsvolles propagandistisches Instrument in die Hand, um generell die Defizite der PRI-Politik aufzuzeigen.

Internationaler Imageverlust

Fortwährend hatte die liberale Presse in den USA für die Annahme von NAFTA getrommelt. Zwar wurde in Kommentaren von Zeit zu Zeit auch die Wahrung der Menschenrechte in Mexiko gefordert, aber grundsätzlich war dies eine zu vernachlässigende Größe. Nunmehr finden endlich die progressiven Kräfte in den Medien Widerhall, die von jeher ein Überdenken des Freihandelsabkommens mit einem repressiven Regime gefordert haben, und die relativ wenig mit dem Nationalpopulismus eines Ross Perot gemeinsam haben. Das Konzept von Salinas, sein Regime als aufstrebende Demokratie auf dem Sprung in die ‘Erste Welt’ auszugeben, wird durch den Aufstand empfindlich geschwächt. Mehr als alle Wirtschaftsdaten zeigt der militante Protest der Ausgebeuteten, daß die Ungleichheit in Mexiko strukturell ist, und nicht etwa ein unbedeutender Schönheitsfleck einer im wesentlichen erfolgreichen ‘Modernisierung’. Die Massaker durch Militärs, die Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Verletzungen von Pressefreiheit und Genfer Konvention zeigen auch dem blauäugigsten Freihandelsenthusiasten auf, mit was für einem Regime hier Handel getrieben wird. Dies wird aller Voraussicht nach NAFTA nicht kippen. Aber die mexikanische Regierung kann den internationalen Druck nicht ignorieren, und sei es auch nur, um InvestorInnen nicht zu verschrecken.
Die Legitimität der PRI-Dominanz ist durch den Aufstand in Chiapas ein weiteres Mal und in unübersehbarer Form in Frage gestellt worden. Noch ist nicht absehbar, ob die Vorherrschaft der PRI so stark geschwächt wurde, daß die Tage der ‘Demokratur’ bereits gezählt sind. Aber die Parteibonzen sind durch den Aufruf der EZLN gewarnt: “Heute haben wir gesagt: Basta!”

Was wird aus den guatemaltekischen Flüchtlingen?

Die Antwort von Ricardo Curtz, einer der Vertreter der CCPP, ist immer die gleiche: “Mit den Vorgängen in Chiapas haben die Flüchtlinge nichts zu tun”. Um dies zu unterstreichen, betont ein Kommuniqué der CCPP: “Falls ein/e JournalistIn, ein/e RepräsentantIn einer Institution oder irgend eine andere Person in den Lagern nach der aktuellen Situation fragt, muß man/frau klarstellen, daß die guatemaltekischen Flüchtlinge dazu keine Informationen oder Meinung haben.”
Die abweisende Haltung der CCPP zu dem Aufstand der Zapatistas ist verständlich und drückt die schwierige Lage der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, aber auch in Mexiko überhaupt, aus. Auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen auf die GuatemaltekInnen in Mexiko noch nicht abzusehen ist, hat sich deren Situation ohne Zweifel verschlimmert.
Obwohl die Flüchtlinge in dem Abkommen zwischen den CCPP und der guatemaltekischen Regierung vom Oktober 1992 eindeutig als Zivilbevölkerung anerkannt sind, ziehen mexikanische und guatemaltekische Behörden, aber auch die Presse im In- und Ausland, erneut eine angebliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen, der guatemaltekischen Guerilla URNG und den Zapatistas der EZLN.
Sprecher der Regierungen in Mexiko und Guatemala behaupten immer wieder, GuatemaltekInnen und SalvadorianerInnen seien an dem Konflikt beteiligt. Der einzige “Beweis” ist bislang die Festnahme von Jesús Sánchez Galicia, von dem gesagt wird, er sei Guatemalteke und einer der Chefs der EZLN. Der guatemaltekische Arzt Rubén Alejandro Bailey, der in Mexiko ein Stipendium zur Ausbildung zum Facharzt hat, wurde unter ähnlicher Anschuldigung verhaftet.

Propaganda gegen Flüchtlinge

Da nach Meinung der mexikanischen Regierung der Konflikt “importiert” wurde, berichteten guatemaltekische JournalistInnen aus Chiapas von einer aggressiven Stimmung gegenüber ihren Landsleuten. “Wenn wir uns als GuatemaltekInnen zu erkennen gaben, wurden wir von vielen Leuten in Comitán und San Christobal de las Casas beschimpft”, so Mariano Gálvez von der Radiostation Patrullaje Informativo.
Die Flüchtlingslager in Chiapas liegen nicht direkt in dem umkämpften Gebiet. Da jedoch die Zufahrtswege zu den Lagern während der ersten Tage des Konflikts abgeschnitten waren, war die Besorgnis um die Flüchtlinge sehr groß. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß es dort keine Zwischenfälle gegeben hat.
Nach Angaben einiger BeobachterInnen in Guatemala-Stadt ist nicht auszuschließen, daß guatemaltekische Flüchtlinge an dem Aufstand der Zapatistas beteiligt sein könnten. Als Mayas fühlen sie sich mit ihren Brüdern und Schwestern in Chiapas, die sie nach ihrer Flucht aus Guatemala vor 10 Jahren solidarisch aufgenommen hatten, eng verbunden. Und die soziale und ethnische Problematik im Hochland Guatemalas und in Chiapas unterscheidet sich nur unwesentlich.
Aus einigen Lagern wird berichtet, daß sich mehrere mexikanische Familien aus den Kampfgebieten dorthin geflüchtet hätten, eine genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt.
Wie sich der Konflikt auf die Arbeit der humanitären Organisationen in den Lagern auswirken wird, läßt sich nicht absehen. Dort ist es vor allem der Bischof Samuel Ruiz von der Diözese in San Cristobal de las Casas, der sich seit Anfang der 80er Jahre stark für die humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt hat. Es wird befürchtet, daß die Arbeit der Kirche in Chiapas in Zukunft streng kontrolliert wird. Auch eine Absetzung von Monseñor Ruiz, die schon vor Monaten im Gespräch war, ist nicht auszuschließen.
In diesem Zusammenhang fordert auch die Nationale Koordinationsstelle der mexikanischen NROs zur Unterstützung der Flüchtlinge in Mexiko (CONONGAR) die Respektierung ihrer Arbeit in den Lagern und Sicherheitsgarantien für ihre MitarbeiterInnen, von denen die NROs lange Zeit keine Nachricht hatten.
Auch für die Flüchtlinge in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo bleibt der Konfllikt nicht ohne Folgen. Mitglieder einer Delegation von Flüchtlingen aus diesen beiden Gebieten, die für den 10. Januar eine Reise nach Guatemala zur Vorbereitung der für April geplanten Rückkehr in die Provinz Petén beabsichtigten, erhielten von den mexikanischen Behörden keine Erlaubnis, ihre Lager zu verlassen.

Verkehrte Verhältnisse: Flucht nach Guatemala

Die guatemaltekische Zeitung “La República” berichtete am 10. Januar, Hunderte von Familien, guatemaltekische Flüchtlinge, guatemaltekische SaisonarbeiterInnen und mexikanische Campesinos/as seien aus Angst vor der Repression aus Chiapas nach Guatemala geflohen. Offiziell wurde diese Meldung nicht bestätigt, doch auch ein Mitglied der CCPP in Guatemala-Stadt vermutet, daß viele der nicht anerkannten und verstreut lebenden Flüchtlinge von sich aus nach Guatemala zurückgekehrt, und nun Flüchtlinge im eigenen Land sind.
Lange Zeit war die für den 12. Januar geplante Rückkehr von 201 Familien (947 Personen) aus Lagern im Landkreis Comalapa in Chiapas unklar. Anfang Januar sprachen sich VertreterInnen der UNHCR und der mexikanischen Flüchtlingsorganisation COMAR für eine Verschiebung der Rückkehr aus. CCPP, mit Unterstützung von Rigoberta Menchú, hielten jedoch an dem ursprünglichen Termin fest. Schließlich erklärten sich die mexikanischen Behörden bereit, einige der Vorbereitungen von Comitán zum Grenzort La Mesilla zu verlegen, und die Flüchtlinge kehrten ohne nennenswerte Probleme zurück. In Chaculá, im Landkreis Nentón der Provinz Huehuetenango, werden sie sich neu ansiedeln. Nach der Rückkehr von 350 Familien im Januar vergangenen Jahres in die Region Ixcán, Provinz Quiché, war dies die dritte organisierte und kollektive Rüchkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen.

Der Druck wächst – Die Schwierigkeiten bleiben

Die Ereignisse in Chiapas werden den Druck der Flüchtlinge auf die CCPP, möglichst schnell die Bedingungen für die Rückkehr weiterer Gruppen zu eröffnen, verstärken. Doch die beiden Hauptprobleme für sie in Guatemala bleiben bestehen: Die Schwierigkeiten, Land zu bekommen und die Militarisierung, die ihr Leben bedroht.
Als Beispiel sei hier die Situation der 200 Mitglieder der Kooperative “Ixcán Grande” in Quiché genannt, die am 8. Dezember 1993 in die Ortschaft “Tercer Pueblo” ihrer Kooperative zurückkehren wollten. Hier befindet sich ein Stützpunkt des Militärs, und die Streitkräfte zeigten sich nicht bereit, diesen zu verlegen, angeblich “zum Schutz der Bevölkerung”. Aus diesem Grund mußten die RückkehrerInnen provisorisch und unter unwürdigen Bedingungen in der Ortschaft Vera-cruz untergebracht werden.
Die Flüchtlinge stammen meist aus den Grenzregionen zu Mexiko, die nach wie vor Gebiete des militärischen Konfliktes zwischen dem Militär und der URNG sind. Mit dem Konflikt in Chiapas und unter dem Vorwand, das Eindringen von Zapatistas nach Guatemala zu verhindern, hat die militärische Präsenz im Grenzgebiet der Provinzen Huehuetenango, San Marcos, Quiché und Petén zugenommen. Die guatemaltekischen Streitkräfte schließen auch gemeinsame Aktionen mit dem mexikanischen Militär nicht aus.
Rigoberta Menchú, die nach Guatemala kam, um die Rückkehr der Flüchtlinge am 12. Januar zu begleiten, drückte ihre Besorgnis aus, daß das guatemaltekische Militär den Konflikt in Mexiko als Vorwand benutzen könnte, die Rückkehrer stärker zu kontrollieren und die Repression in den Konfliktgebieten zu verstärken.
Der Konflikt in Chiapas macht eine verstärkte internationale Aufmerksamkeit für die Situation der guatemaltekischen Flüchtlinge, offiziell anerkannt oder nicht, und die der RückkehrerInnen in Guatemala dringend notwendig.

“Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”

Vor gut fünf Jahren geschah etwas bis dahin Einmaliges: Eine Militärdiktatur wurde abgewählt. Was nicht so einmalig war: Das Konzept kam aus den USA. Unter dem Druck, sein Regime formal zu stabilisieren, rief General Pinochet die ChilenInnen 1988 zu einem Plebiszit auf. Es gab eine klare Alternative: Entweder acht weitere Jahre Diktatur oder Neuwahlen. Trotz der mächtigen staatlichen Propagandamaschinerie und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stimmte eine knappe Mehrheit für die zweite Option. Sein Junta-Kollege, Luftwaffenchef Matthei, durchkreuzte rechtzeitig Pinochets Plan, das Ergebnis der Volksabstimmung zu fälschen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr siegte die bürgerliche Mitte-Links-Koalition um den scheidenden Präsidenten Patricio Aylwin.

Eine Strategie geht auf

Damit triumphierte letztlich eine CIA-Strategie, die 1986 entwickelt wurde, um möglichst reibungslos die politischen Folgen einer weniger reibungslosen CIA-Intervention zu beseitigen, ohne dabei die Wirtschaftpolitik zu gefährden. Nach Gesprächen mit US-Vertretern scherte die chilenische Christdemokratie damals aus dem breiten Oppositionsbündnis gegen die Militärdiktatur aus, an dem auch die marxistische Linke beteiligt war. Unter Ausschluß von Kommunisten und Sozialisten sollte ein Arrangement mit der Diktatur getroffen werden, um deren “Errungenschaften” ein demokratisches Gewand überstülpen zu können.
Eduardo Frei stand damals voll hinter der Position der Christdemokraten. In dem Institut Blas Cañas forderte er 1986 einen Pakt der Opposition mit den Streitkräften: “Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn wir beim Übergang zur Demokratie Erfolg haben wollen, brauchen wir dringend einen Pakt. Ich spreche dabei in erster Linie von einem Pakt zwischen der Opposition und der Armee.” Nicht zuletzt in der Person von Eduardo Frei wird deutlich, wie erfolgreich die vor sieben Jahren entwickelte Strategie bisher gewesen ist. Daher ist es nicht überraschend, wenn er nach der Wahl betonte, daß sich seine Regierung um ein gutes Verhältnis zu den Uniformierten bemühen werde. Auch wenn BeobachterInnen von ihm eine etwas härtere Haltung in Formalfragen erwarten, wird er die offene Konfrontation mit der Armee vermeiden. Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden von dem neuen Präsidenten keine entscheidenden Änderungen erwartet. Das Wirtschaftsmodell blüht unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie, und das Gespenst des Kommunismus, das in Chile vor 20 Jahren konkrete Gestalt angenommen hatte, ist erfolgreich vertrieben worden.
“Der Niedergang der Kommunistischen Partei begann nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Pinochet im September 1986,” erklärt der jahrelange Verbindungsmann der Parteispitze. “Die Führung setzte damals auf den bewaffneten Kampf zum Sturz der Militärdiktatur. Das Plebiszit von 1988 über die Fortsetzung des Pinochet-Regimes wurde als Farce der Diktatur abgelehnt und boykottiert, erst im letzten Augenblick schwenkte die Partei auf das immer mächtiger werdende NEIN zu Pinochet um. Bei der anschließenden Präsidentschaftswahl im Dezember 1989 kämpfte sie lange Zeit gegen das bürgerliche Mitte-Links-Bündnis Concertación. Wiederum in letzter Minute änderte die Partei ihre Linie und akzeptierte das JA zu deren Kandidat Patricio Aylwin als NEIN zu Pinochet. Da kommt doch keiner mehr mit!” Die Führung der Kommunistischen Partei hatte sich im Untergrund immer weiter vom wirklichen Leben enfernt. Die streng hierarchischen Entscheidungsstrukturen führten zwangsläufig zu Fehleinschätzungen, die Glaubwürdigkeit der Partei ging verloren. Und nun hält der Spaltpilz Einzug in der einst monolithischen Partei, die bei den Wahlen 1970 und ’73 noch jeweils rund 15% der Stimmen erreicht hatte. Der größte Flügel der Partei hat sich dem linken Parteienbündnis MIDA angeschlossen, das die marxistisch-leninistische Tradition hochhält und nun bei den Wahlen am 11. Dezember 1993 kläglich scheiterte: Kein einziger Kandidat wurde in eine der beiden Parlamentskammern gewählt; beim letzten Mal hatte diese Gruppierung noch 2 Abgeordnete gestellt. Eine kleine Gruppe um den ehemaligen PC-Vorsitzenden José Sanfuentes schloß sich den HumanistInnen an und unterstützte deren aussichtslosen Präsidentschaftskandidaten Cristián Reitze. Die PragmatikerInnen in den Reihen der KommunistInnen gründeten kurzerhand die Unabhängige Demokratische Partei (PDI) und kandidierten auf einer gemeinsamen Liste mit der regierenden Concertación. Ihr Realitätssinn wurde belohnt: Als einzige aus dem ehemaligen PC-Spektrum zogen die PDI mit zwei Abgeordneten in das Parlament ein. Die populäre Rechtsanwältin Fanny Pollarollo gewann in ihrem Wahlkreis Calama-Tocopilla, zu dem auch die Kupfermine Chuquicamata gehört, sogar haushoch. Davon konnte der kommunistische Anwärter auf den Präsidentensessel, Eugenio Pizarro, nur träumen. Der politisch unerfahrene katholische Priester war von der Parteiführung auserkoren worden, um die Stimmen der befreiungstheologisch engagierten und der linken Christen in Chile zu gewinnen. Dieses Kalkül entpuppte sich als Schlag ins Wasser, Pizarro gab allerorten eine peinliche Figur ab, wurde einmal sogar fast aus einer Gewerkschaftsversammlung herausgeprügelt und konzentrierte sich im wesentlichen darauf, seine eher fortschrittlicheren Konkurrenten zu diffamieren. Der Stimmenanteil von nur 5% ist wohl mehr das Ergebnis einer Traditionswahl als seiner Überzeugungskraft.

Rundumerneuerte SozialistInnen

Ganz anders ist es den langjährigen Verbündeten der PC, den SozialistInnen, ergangen. Sie haben dem Marxismus abgeschworen und sich als rundumerneuerte Partei auf die Seite der mächtigen Christdemokratie geschlagen. Zusammen mit der nach wie vor größten Partei Chiles, der sozialdemokratisch orientierten PPD (Partei für die Demokratie) und den Radikalen stellten die “socialistas renovados” die erste Übergangsregierung. Nun konnten sie landesweit sogar ihren Stimmenanteil ausbauen; aufgrund des pinochetistischen Wahlrechts bleibt es aber bei ihren vier Sitzen im Senat, im Abgeordnetenhaus verlieren sie sogar zwei Parlamentarier. Größter Wahlgewinner war die PPD, die mit zwei Senatoren in das Oberhaus einzieht und die Zahl ihrer Abgeordneten von 7 auf 16 mehr als verdoppeln konnte.
Während deren Vorsitzender Ricardo Lagos, der ehemalige Erziehungsminister, mit ungebremsten Ambitionen auf den Sessel des Regierungschefs, mit dem unbedeutenden Ministerium für Öffentliche Aufgaben abgespeist wurde, honorierte der neugewählte Präsident Eduardo Frei den Wahlerfolg der SozialistInnen und ernannte deren Parteichef Germán Correa zum neuen Innenminister. Ein Aufschrei kam daraufhin aus den Reihen der Rechten – ein sozialistischer Innenminister ließ die Erinnerungen an die Unidad-Popular-Regierung von 1970-73 wieder wach werden. Doch der management-erfahrene neue Präsident ließ sich nicht beirren und hielt an Correa fest. Dahinter könnte nicht so sehr Sympathie, wie ein kühles Konzept stehen. Der Sozialistenchef hatte sich nicht ohne Grund lange vor dem Ministerposten geziert. Schließlich war es in erster Linie sein Verdienst, die verschiedenen Strömungen der Partei unter einen Hut zu bringen. Sein Ausscheiden aus der Parteiführung bringt die Gefahr mit sich, daß die verschiedenen Parteiflügel wieder auseinanderfallen. In Anbetracht einer zu erwartenden Zunahme der sozialen Spannungen, die auch der scheidende Präsident Patricio Aylwin vorausgesagt hat, wird der Innenminister zwangsläufig zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sein. Damit sind Spannungen mit der linken Opposition innerhalb wie außerhalb der Sozialistischen Partei vorprogrammiert. Bricht die Partei auseinander, werden ihre einzelnen Fraktionen als Koalitionspartner uninteressant und der Weg wäre frei für eine große Koalition der Christdemokraten mit der rechten Renovación Nacional (RN – Nationale Erneuerung). Und damit könnte Eduardo Frei wunderbar leben und regieren.

Verluste auch bei der Rechten

Auch wenn die RN vier Abgeordnete und zwei Senatoren eingebüßt hat, bleibt sie die zweitstärkste Fraktion in beiden Kammern. Deren smarter Parteivorsitzender Andrés Allamand ist zwar unter der Diktatur politisch groß geworden, verließ jedoch rechtzeitig das sinkende Schiff von General Pinochet und baute seine “Nationale Erneuerung” als bürgerliche Rechtspartei auf. Das hat ihm zwar schon wiederholt Schelte von der faschistischen UDI eingebracht, die sich nach seiner Kritik am unsozialen und nicht auf die Zukunft ausgerichteten Verhalten der chilenischen UnternehmerInnen zu einer regelrechten Diffamierungskampagne auswuchs. Das hielt die RN allerdings letztlich nicht von ihrem strategischen Bündnis mit der UDI ab, im Santiagoer Reichenviertel Vitacura wurde der Doppelerfolg von Allamnad und seines UDI-Kollegen Bombal begeistert gefeiert. Insgesamt konnte die Partei der PinochetistInnen trotz leichten Stimmenzuwachses die Verluste der RN nicht ganz ausgleichen, so daß die rechten Parteien insgesamt hinter ihrem historischen Stimmenanteil zurückgeblieben sind. Der konservative Präsidentschaftskandidat Arturo Alessandri erreichte nicht einmal 25% der Stimmen. Weitere 6% entfielen auf José Piñera, den ehemaligen Arbeitsminister der Diktatur und Urheber des repressiven Arbeitsrechts `Plan Laboral’. Dieses Gesetz, das die ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsrechte massiv einschränkt, ist im übrigen bis heute unverändert in Kraft. Ohne hemmungslose Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen ist das chilenische Wirtschaftswunder offenbar immer noch nicht nicht zu schaffen.

Warten auf die “neuen Zeiten”

“Für die neuen Zeiten” lautete der Wahlspruch des Christdemokraten Eduardo Frei. Inhaltslos symbolisiert er den Zeitgeist in dem Land Südamerikas, das die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten aufweist und in dem die Politik zweitrangig geworden ist. Unübersehbar ist der Hang zur politischen Mitte. Und zur Mittelmäßigkeit. Niemand regt sich heute mehr auf, wenn ehemalige Pinochet-Minister, die noch vom Diktator als Senatoren eingesetzt wurden, im Fernsehen auf ihre demokratischen Rechte pochen und ihre politischen GegnerInnen zur Einhaltung der demokratischen Spielregeln auffordern. An Rücktritt als einzigen wirklich demokratischen Schritt denkt keiner von ihnen, und – was noch schlimmer ist – niemand fordert sie dazu auf. Die neue Regierung wird sich mit den Hinterlassenschaften der Militärdiktatur arrangieren und deren Verfassung nicht antasten. “Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”, versicherte Präsident Frei kurz nach seiner Wahl gegenüber in- und ausländischen JournalistInnen, “und wenn wir bestimmte Änderungen der Verfassung im Senat nicht durchbekommen, müssen wir damit bis 1997 warten.”
In vier Jahren scheidet nämlich die Sperrminorität der von Pinochet eingesetzten Senatoren aus. Bei den Nachwahlen dürften sich dann die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Concertación ändern. Gleichzeitig tritt Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres zurück und geht in den Ruhestand. Doch schon jetzt wird der ehemalige Diktator in Chile selbst viel weniger ernst genommen als im Ausland. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppositionszeitschrift análisis, schreibt dem alternden General sogar eine systemstabilisierende Funktion zu: “Pinochet ist eigentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der gemeinsame Feind vereinigt die Regierungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Opposition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der bestehende Konsens verloren.” Vielleicht wird die Politik in Chile dann wieder etwas spannender…

Altlasten aus der Diktatur

Bis dahin wird wohl alles seinen gewohnten Gang gehen. Nur ab und zu kommt die jüngere chilenische Vergangenheit zum Vorschein. So bei der Verurteilung der Mörder des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier (vgl. LN 235). Auch der Mord an Carmelo Soria, einem spanischen CEPAL-Mitarbeiter mit Kontakten zur PC, wird auf Druck aus Madrid weiter untersucht. Und nun ist ein als sicher gehandelter Minister der neuen Regierung über seine Machenschaften unter der Diktatur gestolpert. Der Unternehmer Juan Villarzú, ein enger Freund von Präsident Frei, verzichtete plötzlich und unerwartet auf den Job des Finanzministers, angeblich wegen eines Kredits seiner Firma aus dem Jahr 1992. InsiderInnen munkeln aber, daß der jähe Abbruch seiner beginnenden politischen Laufbahn vielmehr mit der Rolle zu tun hat, die er in der großen Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre gespielt hatte. Damals war er Direktor der Banco de Chile, der wichtigsten Bank des Vial-Konzerns, dessen Unternehmen hemmungslos Kredite bei eben dieser konzerneigenen Bank aufgenommen hatten. Das System der unkontrollierten Kreditvergabe, das damals von allen Unternehmensgruppen angewendet wurde, war jedoch bald überreizt. Der chilenische Staat mußte für die Schulden aufkommen, um einen völligen Zusammenbruch des Finanzwesens zu verhindern. Damit wurde nicht nur die neoliberale Ideologie widerlegt, die ein Heraushalten des Staates aus dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte fordert, sondern eben dieser Staat mußte sieben Milliarden US-$ zur Rettung der maroden Banken ausgeben.
Eduardo Frei, der bis vor kurzem nichts von den Machenschaften Villarzús gewußt haben will, kann natürlich keinen Finanzminister gebrauchen, der sich so unverfroren an der Staatsbank bereichert hat. So ernannte er kurzerhand den unter chilenischen ÖkonomInnen anerkannten parteilosen Eduardo Aninat, dessen Wirtschaftsforschungsinstitut seit Jahren einen monatlichen Bericht herausgibt, der von den 80 wichtigsten Unternehmen des Landes bezogen und analysiert wird. Ebenso wie sein Vorgänger Alejandro Foxley geht er bei allen internationalen Finanzinstitutionen ein und aus, zwischen 1991 und `92 leitete er die Umschuldungsverhandlungen Chiles mit Weltbank und IWF. Nennenswerte Änderungen der bisherigen Wirtschaftspolitik sind von ihm auf keinen Fall zu erwarten, er wird die international gerühmte Foxley-Linie fortsetzen und kann auf weitere Auslandsinvestitionen und Kredite setzen.
Zwei weitere enge Vertraute von Eduardo Frei junior bleiben allem Anschein nach seiner Regierung erhalten. Der langjährige Chef der ChristdemokratenInnen, Genaro Arriagada, wird das dem Kanzleramtsministerium vergleichbare Amt des “Secretario General de la Presidencia” übernehmen, und Edmundo Pérez gilt als sicherer zukünftiger Verteidigungsminister. Lange Zeit war der Wahlkampfleiter des neugewählten Präsidenten der Favorit für das Innenministerium, aber das wäre der historischen Parallelen wohl zu viel gewesen. Sein Vater, Edmundo Pérez senior war nämlich Innenminister unter Eduardo Frei senior. Durch die Massaker von Puerto Montt und El Salvador hatte er sich durch sein repressives Vorgehen einen unrühmlichen Namen gemacht und fiel 1971 einem Attentat zum Opfer. Der entscheidende Verdienst von Edmundo Pérez junior ist es, der Sohn seines Vaters zu sein, politisch ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Daher wird er von vielen als unberechenbar eingeschätzt, und SkeptikerInnen meinen, im Verteidigungsministerium könnte er weniger Schaden anrichten als im Innenressort. An seinem guten Auskommen mit der Armeeführung wird nicht gezweifelt.
Das Außenministerium wird von der Radikalen auf die Christdemokratie übergehen, Carlos Figueroa heißt der zukünftige Chef der chilenischen Diplomatie. Die Radikale Partei erhält dafür das Bergbauministerium, der Amtsinhaber heißt Benjamín Teplisky. Erstmalig übernimmt eine Frau ein nicht frauenspezifisches Ministerium: Soledad Alvear wird Justizministerin. Ein weiteres innen- und sozialpolitisch wichtiges Ministerium gab Frei den mitregierenden SozialistInnen: Luis Maira, ehemaliger Vorsitzender der Christlichen Linken, übernimmt das Planungsministerium. Insgesamt zeigt die Zusammensetzung des Kabinetts den politischen Willen des neuen Präsidenten, mit einem breiten Bündnis zu regieren und die linken Parteien seiner Koalition in die politische Verantwortung einzuspannen. Die Stabilität dieser Regierung wird sich sicherlich in der ersten Hälfte der sechsjährigen Legislaturperiode zeigen.

Der kurze Moment der Hoffnung im Fall Soría

Was zum Zeitpunkt der zweiten Entscheidung – angeblich – niemand wußte: Der Militärrichter hatte flugs das ganze Verfahren eingestellt und eine Amnestie verkündet, ohne, selbstverständlich, irgendeinen der uniformierten Täter zu identifizieren. Damit war, so der Richter Libedinsky, sein Untersuchungsauftrag bereits gegenstandslos, als er erteilt wurde: er war nicht eingesetzt, den Militärrichter zu überprüfen, sondern das Verfahren fortzuführen.
Die Anwälte der Familie Soría werfen Libedinsky vor, er habe rechtliche Spielräume nicht ausgenutzt. Libedinsky nimmt für sich in Anspruch, daß er zu Zeiten der Diktatur mit seinen Entscheidungen mehrfach querlag; den Sprung ins Obersten Gerichts verdankt er tatsächlich der Regierung Aylwin.
In Erinnerung an Brechts Galilei (Unglücklich das Land, das keine Helden hat. – Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat.) ist die Frage vielleicht wirklich zweitrangig, ob der Richter Libedinsky feige war oder nicht. Was für ein Land, in dem Gerechtigkeit vom persönlichen Mut eines Richters abhängt…
Zumindest hat er gerichtlich festgeschrieben, daß der angebliche Unglücksfall Sorías ein Mord war und die Täter einer Brigade des Geheimdienstes DINA angehörten. Und er hat erklärt, die Gesetzeslage verhindere die Gerechtigkeit; wer sich daran stoße, solle das Gesetz ändern, aber nicht die Richter schelten.
Eine Entscheidung wie die des Richters Libedinsky ruft ein heftiges, kurzzeitiges und anscheinend folgenloses Medienecho hervor. Auf soviel Aufmerksamkeit hoffen die Gefangenen, denen die Verlegung in den neuen Hochsicherheitstrakt droht, bisher vergeblich. So absurd es klingen mag: Isolationshaft, Trennscheiben gegen Besucher, besondere technische Vorkehrungen gegen Fluchtversuche werden erstmalig vier Jahre nach Beendigung der Diktatur in Chile eingeführt, und da diese barbarische Neuerung demokratisch legitimiert ist, erhebt sich kaum Widerstand.

Immer noch Folter in Chile

Die Menschenrechtssituation in Chile

“Wahrheit und Gerechtigkeit! Wir werden die Menschenrechtsverletzungen aufklären! Wir werden die Täter identifizieren und verurteilen.” Dies hatte der derzeit noch amtierende Präsident Patricio Aylwin 1989, noch vor seiner Wahl, angekündigt. Dieses Wahlversprechen hat er in seiner vierjährigen Amtszeit nicht einmal annähernd eingelöst. Zwar richtete er im April 1990 die “Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung” ein (sie ist nach dem Namen ihres Vorsitzenden Raúl Rettig unter dem Namen Rettig-Kommission bekannt geworden), die für die Regierung einen Bericht über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Militärdiktatur (September 1973 – März 1990) erstellte. Dabei ging sie jedoch nur einem Bruchteil der Verbrechen nach.
Tausende von Beschwerden über Folterungen wurden nicht untersucht. Nur dem kleinen Kreis von Opfern, die im Rettig-Bericht aufgeführt sind, wird im Rahmen eines im Januar 1991 verabschiedeten Gesetzes eine monatliche Entschädigung gewährt. Die Ermittlungen bei Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Mitwirkung an Folter gehen nur schleppend voran.
Unter dem Deckmantel der Demokratie gibt es auch heute noch Menschenrechtsverletzungen. Die fundamentalen Rechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildung und würdigen Altersruhestand sind, genau wie früher, nur für Teile der Bevölkerung gewährleistet.
Repression durch die Polizei ist nach wie vor an der Tagesordnung (Vgl. LN 233 u. 234). Wie sollte es auch anders sein, sind die Polizisten der Diktatur und der “Demokratie” doch dieselben geblieben, und heißt doch auch der Oberbefehlshaber des Militärs in Chile immer noch Augusto Pinochet.

Die Situation der politischen Gefangenen

Seit März 1990, also seit dem formellen Ende der Militärdiktatur, sind mehr als 300 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden. Von ihnen befinden sich zur Zeit noch ca. 200 in Haft. Die Mehrheit von ihnen wird in Santiago, in den Gefängnissen San Miguel und der Ex-Penitenciaria (ehemaliges Zuchthaus) im Süden Santiagos festgehalten. Unter den Gefangenen sind 15-20 Frauen, die entgegen nationalen und internationalen Normen im Männergefängnis untergebracht sind. Sie leben in der ständigen Gefahr, belästigt und vergewaltigt zu werden. Immer noch in Haft befinden sich außerdem fünf politische Gefangene der Diktatur. Sie waren 1986 am Attentat auf Pinochet beteiligt.
Die politischen Gefangenen leben auf engstem Raum und unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen. In jahrelang immer wieder durchgeführten Hungerstreiks haben sich die politischen Gefangenen jedoch zumindest einige Freiheiten erkämpft. So können sie in der Besuchshalle relativ ungestört mit ihren Angehörigen und FreundInnen sprechen und sogar politische Veranstaltungen duchführen. (Am ersten Jahrestag der Flucht von acht Gefangenen aus dem Gefängnis am 10.10.1992 fand z.B. eine politische Kundgebung statt. Damals waren drei der Flüchtlinge entkommen, die fünf anderen gefaßt, gefoltert und drei von ihnen umgebracht worden.) Bisher waren bis zu sieben Besuche pro Woche möglich, einschließlich Intimkontakt. Doch auch diese Freiheiten wird es bald nicht mehr geben! Im Oktober 1993 wurde innerhalb des Santiagoer Gefängnisses “Ex-Penitenciaria” ein moderner Hochsicherheitstrakt fertiggestellt, der sicherlich einem deutschen Stammheim in nichts nachsteht.

“Stammheim” in Chile

Der neukonstruierte Hochsicherheitstrakt kann 600 Personen aufnehmen. Gleichzeitig wurde in Colina, einem Vorort Santiagos ein weiterer eingerichtet.
Innerhalb der letzten Jahre hatte der chilenische Innenminister Krauss (Oberster Chef der Carabineros und jetziger Kripovorsitzender) die BRD, Frankreich, Spanien und Italien bereist, um sich über die hiesigen Haftbedingungen und Erfahrungen in der “Terrorismusbekämpfung” zu informieren.
Die neuen Haftbedingungen, soweit sie bekannt sind, werden folgende sein: eine Begrenzung der Besuchszeit auf einmal innerhalb von 14 Tagen und auch nur durch direkte Familienangehörige, nicht mehr als vier gleichzeitig. Die Kommunikation kann dabei nur durch eine Trennscheibe erfolgen. Nach westeuropäischen Vorbild soll auch in Chile Isolationshaft eingeführt werden. Dabei wird nicht nur auf die psychische Vernichtung der Häftlinge und die Zerschlagung ihrer Organisationsmöglichkeiten spekuliert. Seit Juli 1992 existiert innerhalb der “Gendarmería” (ein Teil der Polizei, der nur im Knast eingesetzt wird,) eine Eliteeinheit (GEAM) zur Aufstandsbekämpfung. Sie wurde schon wiederholt bis hin zum Schußwaffeneinsatz eingesetzt, um Gefangenenproteste und -aufstände zu beenden. Sie wird unter den neuen Bedingungen ungestört ihre Willkür ausüben können.
Die politischen Gefangenen werden voraussichtlich im März 1994, wenn Eduardo Frei das Präsidentschaftsamt übernommen hat, verlegt. Erfahrungen zeigen, daß es dabei Tote geben könnte, vor allem, da die Gefangenen der FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez) angekündigt haben, mit allen Mitteln gegen die Verlegung zu kämpfen.

Immer noch wird gefoltert

Chile ist zwar Mitunterzeichner der Anti-Foltererklärung der UNO, doch die Realität sieht anders aus. Die Organisation Politischer Gefangener O.P.P., der Mitglieder der militanten Oppositionsgruppe FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez), der Kommunistischen Partei (P.C.), der Unabhängigen Linken sowie Teile des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) angehören, gab Mitte des Jahres 1993 eine Dokumentation mit dem Titel “Folter in Chile 1990-1993” heraus. Darin berichten 75 politische Gefangene über ihre Behandlung durch die Polizei in genanntem Zeitraum.
Die Ergebnisse der Studie sind erschrekkend. 67 der 75 befragten Befragten geben an, psychisch gefoltert worden zu sein. Größtenteils handelt es sich dabei um (Mord-)Drohungen gegen Familienangehörige. In einigen Fällen waren die Gefangenen sogar dabei, als ihre Familienangehörigen gefoltert wurden oder mußten es mitanhören. Die Gefolterten stehen vor der Wahl, entweder ihre Familie oder ihre MitstreiterInnen “verraten” zu müssen. Gerade unter diesem massiven Druck sind vielfach (falsche) Geständnisse zustande gekommen.
66 Gefangene sagen aus, geschlagen worden zu sein. Dazu zählen unter anderem Fausthiebe, Fußtritte, Ohrfeigen und Schläge mit Gummiknüppeln bei der Festnahme sowie danach. 55 Gefangene geben an, oft tagelang gefesselt gewesen zu sein, sei es mit Augenbinden, Knebel, Aufhängen an den Handgelenken oder Festbinden in unbequemen Positionen! 51 von ihnen wurde Essen, Kleidung, Schlaf, Wasser oder/und hygienische Einrichtungen entzogen. 30 berichten von Folter mit Elektroschocks. Eine weitere vereinzelte auftretende Foltermethode ist herbeigeführte Atemnot – bis hin zu Erstickungsanfällen. In zwei Fällen kam es zu Vergewaltigungen.
Vielfach wurden die Gefangenen unter Folter gezwungen, Geständnisprotokolle zu unterschreiben, ohne sie vorher gelesen zu haben. Oder es wurden einfach Unterschriften auf Blankoblättern erzwungen.
Vorwiegend werden die Folterungen und Mißhandlungen von der uniformierten Polizei begangen, allerdings gibt es auch Klagen gegen die Kriminalpolizei (Investigaciones). Häufig wird in Beschwerden über Folter auch das Dritte Polizeirevier Santiagos (Tercera Comisaria) genannt. Dabei handelt es sich um die Zentrale der DIPOLCAR (Dirección de Inteligencia de la Policía de Carabineros), vermutlich eine Art Nachfolgeorganisation des chilenischem Geheimdienstes CNI. Die DIPOLCAR wurde im Mai 1990 zur Bekämpfung von Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen gegründet.

Die “Inkommunikationshaft”

Als Inkommunikationshaft wird die Zeit direkt nach der Festnahme bezeichnet, in der die (politischen) Gefangenen ohne Kontakt zur Außenwelt stehen. Unter dem Militärregime (und auch unter der Regierung Aylwin) fanden in dieser Zeit die häufigsten Folterungen statt und wurden die meisten Geständnisse erzwungen. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Verurteilung. Bis 1991 enthielt die Strafprozeßordnung (CPP) eine Klausel, die den Militäranklägern erlaubte, die auf höchstens 15 Tage festgeschriebene Inkommunikationshaft, nach Überstellung in ein Gefängnis in einigen Fällen auf bis zu zwei Monaten auszudehnen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 19.047 im Februar 1991 kann heute einE GefangeneR nur noch höchstens 20 Tage in Inkommunikationshaft gehalten werden: 15 Tage in Polizeigewahrsam und 5 weitere Tage nach Überstellung in ein Gefängnis.
Insgesamt soll das Gesetz 19.047 die Sicherheitsgesetze reformieren sowie den Gefangenen mehr Rechte und Schutz garantieren. So sollen Gefangene in Inkommunikationshaft die Möglichkeit haben, täglich bis zu einer halben Stunde Rechtsbeistand zu empfangen sowie von einem/r unabhängigen Arzt/ Ärztin untersucht zu werden. Doch auch dieses Gesetz wird nicht immer beachtet. Menschenrechtsanwälte reichten bei den Behörden Beschwerden darüber ein, daß ihnen von den Carabineros wiederholt der Zugang zu Personen in Polizeigewahrsam verweigert worden sei.
Schreibt (alle) Protestbriefe an: Presidente de la Republica Patricio Aylwin, Palacio de la Moneda, Santiago, Chile.

Entflammte Proteste

In den Wochen und Monaten davor war es bereits in verschiedenen Provinzen des Nordwestens zu Demonstrationen gegen geplante Entlassungen im öffentlichen Sektor gekommen. Die Proteste richteten sich außerdem gegen die niedrigen Löhne und Renten und die monetaristischen Roßkuren der Regierung. Die Provinzregierungen stecken in der Klemme; sie können ihre Ausgaben nur mit Krediten und Vorschüssen der Zentralregierung decken. Diese verlangt aber Kostensenkungen durch Rationalisierung.
Am 9. Dezember hatten die Gewerkschaften der Staatsangestellten und DozentInnen in La Rioja gegen die geplante Entlassung von mehr als 6.000 Angestellten aus dem öffentlichen Dienst demonstriert. In La Rioja, wo Menem früher Gouverneur war, ist 90 Prozent der aktiven Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt. Insgesamt sind das 54.000 Personen, davon 33.000 ohne klare Funktion. In La Rioja warfen die DemonstrantInnen Knallfrösche und Kanonenschläge, worauf die Polizei Tränengas einsetzte. Als sich die Demonstration auflöste, wurden ein Behördenfahrzeug und die Tür des Regierungsgebäudes in Brand gesteckt. Das Haus von Carlos Menem wurde mit Steinen beworfen, das seines Bruders, dem Senatsvorsitzenden Eduardo Menem, mit Beschimpfungen besprüht. Die argentinische Tageszeitung Pagina/12 titelte am 10. Dezember: “La Rioja brodelt”.

La Rioja brodelt –
Santiago brennt

In Santiago del Estero hatte bereits am 10. Dezember eine friedliche Demonstration stattgefunden, deren Forderungen – Zahlung der ausstehenden Gehälter, Rücknahme der angekündigten Entlassungen, Bekämpfung der Korruption – unerfüllt geblieben waren. Die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE (Asociación de Trabajadores del Estado), die dem oppositionellen Gewerkschaftsdachverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos) angehört, rief für den 16. Dezember erneut zu einem Protestmarsch auf. Bereits am Mittag hatte die Provinzpolizei bereits ihre gesamte Munition an Tränengas und Gummikugeln verbraucht. Ab Mittag begann dann die heiße Phase der Demonstration: Neben den Regierungs- und Justizgebäuden wurden auch die Villa des Ex-Gouverneurs Iturre und die Privathäuser von weiteren 15 Abgeordneten der regierenden peronistischen Partei (PJ), der oppositionellen Radikalen Partei (UCR) und hoher Justizbeamter geplündert und angezündet. José Zavalía, der Caudillo der UCR in Santiago del Estero und einer der ersten seiner Partei, die Menems Pläne einer Verfassungsreform unterstützen, konnte nur mit der Pistole in der Hand die Plünderung seines Eigenheims verhindern.

Die Korrupten sichern sich ihre Einkommen

Das erste Mal seit Jahren nimmt die internationale Presse eine Demonstration gegen die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und die sich ausbreitende Misere in Argentinien zur Kenntnis. Der Protest brach aus, nachdem die Provinzregierung ihren Angestellten noch Mitte Dezember die Löhne und Gehälter von Oktober schuldete. Zudem kündigte sie eine große Zahl von Entlassungen auf der untersten Gehaltsebene an, die im “Pacto Fiscal” mit der Zentralregierung vereinbart waren. Auf dieser Ebene liegen die Gehälter bei ungefähr 200 Pesos und stellen angesichts fehlender Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft eher eine versteckte Arbeitslosenversicherung dar. Die unvergleichlich höhere Besoldung der höchsten politischen Ämter sollte dagegen unangetastet bleiben. Ein Richter des Berufungsgerichtes der Provinz verdient im Monat 14.000 Pesos – in einem Bundesgericht allerdings “nur” 3.500 Pesos. Das Versprechen des Gouverneurs Fernando Lobo (PJ), diesem Mißstand zu begegnen und als erste Maßnahme sein eigenes Gehalt von 8.000 Pesos zu senken, hatte er mit seinem Amtsantritt vergessen. Lobo trat nach einer tiefen politisch-institutionellen Krise Ende Oktober als Vizegouverneur die Nachfolge des ebenfalls peronistischen Carlos Mujica an. Die Zentralregierung erklärte sich damals bereit, durch Vorabzahlung zukünftiger Steuereinnahmen der Provinzregierung aus der Liquiditätskrise zu helfen. Bedingung war allerdings, daß die Provinz ihre Ausgaben reduziere. Nach knapp zwei Monaten warteten die Provinzangestellten allerdings immer noch auf ihre Gehälter. Als einzige Rationalisierungsmaßnahme drohte einer Vielzahl von ihnen die Entlassung. Das sah ein Gesetz vor das die PeronistInnen gemeinsam Teilen der UCR verabschiedet hatten, “um die Regierbarkeit zu garantieren” und die Intervention der Provinz durch die Zentralregierung zu verhindern.

Santiago del Estero im Abseits

Santiago del Estero ist heute eine der ärmsten Provinzen Argentiniens und ohne wirtschaftliche Perspektiven. Das war nicht immer so: Die gleichnamige Hauptstadt kann mit Stolz von sich behaupten, die erste von den spanischen Eroberern 1553 gegründete Stadt des heutigen Argentiniens zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte sie auch über eine für damalige Verhältnisse weit entwikkelte Textilproduktion. Der örtliche Baumwollanbau versorgte die Küstenprovinzen und Buenos Aires. Die eigenständige Entwicklung der Manufakturen wurde, wie in vielen der Andenprovinzen, mit der Durchsetzung des Agroexportmodells ab 1880 und des damit verbundenen Imports von industriell gefertigten Textilien aus England unterbunden.
Seit der Kolonialzeit waren die einst für die Provinz typischen Quebrachowälder zum Großteil abgeholzt worden und die ehemalig waldige Provinz verwandelte sich auf großen Flächen in eine Wüste. Das heiße und trockene Klima trug zur Versalzung der Böden bei: Landbau und vor allem Viehzucht, Angelpunkte des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells um die Jahrhundertwende, konnten sich in Santiago nicht gewinnbringend entwickeln. So gab es auch keine Grundlage für eine nachfolgende industrielle Entwicklung. Viele Santiageñas/os wanderten in die Städte des Litoral Buenos Aires, Rosario und La Plata ab. Die ländliche Selbstversorgung ging weitgehend verloren. Heute liegt das Bevölkerungswachstum unter dem argentinischen Durchschnitt; aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung sterben 15 von 1.000 Kindern. Auch das Erziehungswesen der Provinz ist miserabel. Wegen der Lehrerstreiks für Gehaltszahlungen fanden im vergangenen Schuljahr nur 52 Unterrichtstage statt. Die niedrigen Weltmarktpreise der Hauptprodukte der Provinz (Baumwolle, Quebracho-Holz, Wein und Oliven) vermindern die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich und führen damit zum Verlust der ohnehin vorwiegend saisonabhängigen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. So überrascht es nicht, daß die Mehrzahl der aktiven Bevölkerung von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst als einziger Möglichkeit eines regelmäßigen Einkommens abhängig ist. Die politische Macht in Santiago del Estero basiert zu einem großen Teil auf Klientelismus, der Stimmen gegen Posten im öffentlichen Dienst tauscht und der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Firmen der Politiker, beispielsweise im Straßenbau.
Diese Pfründewirtschaft wurde am 16. Dezember vor den Augen der Kameras aufgedeckt: Die DemonstrantInnen brachen in die Villen der Politiker und hohen Beamten ein, schleppten Kisten von schottischem Whisky, Champagner und feinsten Weinen ab, probierten italienische Maßanzüge und “erwarben” zum ersten Mal importierte Audio- und Videogeräte.

Erfolgreicher Protest?

Die BundespolitikerInnen reagierten im allgemeinen verständnisvoll auf die kritische soziale Situation in Santiago del Estero und erkannten die Forderungen der DemonstrantInnen an. Allein Menem und Cavallo zeigten Reaktionen, wie sie für die Zeiten der Militärdiktatur typisch waren: Provokateure aus anderen Provinzen oder sogar aus dem Ausland sollten für die Ausschreitungen verantwortlich sein. So versuche angeblich Sendero Luminoso, in Nordargentinien Fuß zu fassen. Die Geheimdienste konnten derartiges aber nicht bestätigen. Presse und OppositionspolitikerInnen vertraten allerdings die Auffassung, der Aufstand sei eine Konsequenz der Anpassungspolitik, so daß Cavallo seine Argumentation schließlich änderte: Schuld am “estallido social” sei die Korruption der LokalpolitikerInnen, die aus persönlichem Interesse die Strukturreformen zu vermeiden trachteten und damit eine Verbesserung der Situation aufhielten.
Die Hauptsorge des Innenministers, Carlos Ruckauf, war das Versagen der Provinzpolizei bei der Aufstandsbekämpfung: Bis zum Tag der Demonstration vom 16. Dezember war nicht einmal klar, ob die Provinzpolizei überhaupt den Befehlen des Gouverneurs folgen würde, da die Provinzregierung auch der Polizei die Gehälter der letzten zwei Monate schuldete. Ruckauf schickte deshalb am Nachmittag des 16. Dezember Grenzschutztruppen zur Unterstützung nach Santiago del Estero. Als Konsequenz dieser Erfahrungen beschäftigt sich das Kabinett derzeit mit der Bildung “schneller Eingreiftruppen” zur Bekämpfung von Aufständen. Nach der staatlichen Intervention hat sich die Situation in Santiago del Estero vorübergehend etwas beruhigt. Juan Schiaretti, ein enger Vertrauter Cavallos erhielt aus dem Staatsetat einen Vorschuß und begann bereits 48 Stunden nach Beginn des Aufstands, die ausstehenden Gehälter zu bezahlen. Da ein Großteil der Akten in Flammen aufgegangen war erhielten alle Angestellten eine feste Summe von 500 Pesos, die RentnerInnen bekamen 300 Pesos. Außerdem wurden Strafverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gegen den Ex-Gouverneur Carlos Mujica und weitere hohe Beamte der Provinzregierung eingeleitet. Das Anpassungsgesetz wurde vorerst ausgesetzt, und die Gehälter der obersten Provinzbeamten sollen auf das Niveau der des Bundesstaates gekürzt werden. Trotzdem gingen am 16. Januar über 2.000 Santiageñas/os auf die Straße, um den “Siestazo”, die zwei freien Tage zu feiern und ihre Forderungen zu wiederholen.

Santiago war nur der Anfang

Aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation vieler nordargentinischer Provinzen könnte es sein, daß die Geschehnisse in Santiago del Estero nur einen vorläufigen Höhepunkt sozialer Aufstände darstellen. Auch im Chaco, in Tucumán, Salta, Catamarca und Jujuy kam es schon zu Protestdemonstrationen gegen die “Anpassungspolitik”. Und der Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Chancen der Provinzen eher noch verschlechtert.
Auch wenn derzeit ausländische Investitionen nach Argentinien fließen, offenbaren sich mit den Ereignissen in Santiago del Estero erneut die Widersprüche des neoliberalen Modells, die Horacio Verbitsky am 26. Dezember in Pagina/12 folgendermaßen beschreibt:
“Sind auch die Brände gelöscht, die Trümmer weggeräumt und die Asche weggekehrt, bleiben doch die grundlegenden Probleme bestehen, denen sich die Regierung Menem gegenübersieht. Die Korruption, die jetzt von allen in Santiago verurteilt wird, ist keine Anomalie, sondern eine Regierungsmethode, und das gilt nicht nur für diese eine Provinz, sondern für das ganze Land. Die mit der politischen Macht verbundenen überzogenen Gehälter und illegalen Geschäfte sind keine Schönheitsfehler des neoliberalen Modells, sondern eine Grundbedingung seiner Existenz. Die Stimmen im Kongreß oder in den Gemeinderäten, die Anwesenheit und sogar die Abwesenheit in den Sitzungen, alles hat einen Tarif, den die Schatzmeister der Regierung zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das erklärt so manchen plötzlichen Meinungsumschwung, wie er notwendig war, um einige äußerst umstrittene Gesetze wie die Privatisierung des Rentensystems zu verabschieden. (…) Die Korruption ist der Preis, den man den leitenden Parteipolitikern zahlen muß, damit sie ihren Überzeugungen, für die sie und ihre Partei gewählt wurden, abschwören und genau das Gegenteil tun. Wenn der “Bruder Eduardo” (Eduardo Menem) und die anderen Abgeordneten von ihrer Arbeit leben müßten, hätten sie Blei in den Armen und würden kaum ihre Hand heben, um ihre Stimme zugunsten der Übereinkünfte der Regierung mit den “Grupos Económicos” abzugeben. Die Korruptionsbekämpfung ist an sich gesund, denn sie dient tendenziell dazu, die Gesellschaft mit ihren Repräsentanten zu versöhnen. Aber das neoliberale Modell erlaubt dies bloß in einem sehr begrenzten und effektheischenden Rahmen, denn eine tiefgehende Bekämpfung dieses Übels würde die Grundlagen des Modells selbst in Frage stellen.”

Die Antillen-Connection

Das ideale Sich zur Ruhe setzen: knietief im Karibischen Meer mit einem Piña Colada in der Hand. Die Niederländischen Antillen und Aruba sind das Häuschen Abendrot für eine erhebliche Zahl der NiederländerInnen. Außer Sonne und Meer zieht vor allem das sympatische Steuerklima dieser tropischen Inseln an. Aber die “Merengue-Gesellschaft” hat im Laufe der Jahren auch von KolumbianerInnen und ItalienerInnen zweifelhafter Gestalt Besuch bekommen. Aruba und Sint Maarten sollen schon in Händen der Mafia sein.
Die Telefonistin des Antillenhauses, der antillianischen Vertretung in Den Haag, hat eine gute Auffassungsgabe. Die Frage zielte auf Auskünfte über Steuernzahlungen auf den Antillen und Aruba. “Sie meinen natürlich Auskünfte über keine Steuern bezahlen”. Diese Informationen kann das Antillenhaus schon geben. Zwei Tagen später rutscht die “Niederländisch Antillische Rentenregelung”, die sogenannte Penshonadoregelung, in den Briefkasten. Aruba und die Antillen versuchen die ausgeschiedenen niederländischen Geschäftsleute, Künstler oder Medien-tycoons anzuziehen.
Kees Brusse, Schauspieler, gibt während der Werbung im Fernsehen ein Beispiel: knietief im schwülen karibischen Meerwasser, Piña Colada in der Hand, den Schirm glatt über seinen Augen. Viele NiederländerInnen folgen seinem Beispiel. Dazu ist Ausscheiden ein relativer Begriff; auch NiederländerInnen, die schon weit vor dem Erreichen des pensionberechtigten Alters ihre Schäfchen im Trockenen haben, lassen sich einige Monate pro Jahr auf den karibischen Inseln nieder. Weit weg, aber trotzdem vertraut. TV-Personalities, wie André van Duin und Corrie van Gorp (die niederländischen Fernseh-Clowns), Rijk de Gooier, Schauspieler, und Adèle Bloemendaal, Kleinkünstlerin und Schauspielerin, können sie an dem weißen Strand von Aruba und Bonaire bewundern. Jan des Bouvries (erfolgreicher Innenarchitekt) hat dort eine Wohnung und auch der Präsident der Niederländischen Bank, Duisenberg, konnte sich dem Reiz der Palmen von Bonaire nicht entziehen.
Sie haben alle das Steuerparadies der Überseegebiete Hollands natürlich nicht entdeckt. Die Niederländischen Antillen und Aruba sind wirtschaftlich durch einen einfachen Notar aus Curaçao ausgebeutet worden: Ton Smeets. Als der Zweite Weltkrieg vor dem Ausbruch stand, waren in den USA europäische Betriebe mit einer amerikanischen Filiale außerhalb der Kriegswirtschaft, vom “Fighting with the Enemy Act” bedroht. Dieses Gesetz schrieb vor, das sich in den USA befindliche Eigentum von Betrieben aus von Deutschland besetzten Gebieten, zu konfiszieren. Smeets hat den niederländischen Betrieben die Möglichkeit geboten, ihr Domizil per Adresse auf Curaçao zu wählen. Verschiedene Betriebe, darunter Philips, vermochten so den Verlust ihrer Besitzungen in der USA zu vermeiden. Der Betrieb von Smeets CITCO (Curaçao International Trust Company) verwaltet die “Briefkästen” der Betriebe im Exil.
CITCO ist heute ein bekannter Name auf den internationalen Finanzmärkten. Der Firmensitz befindet sich immer noch auf den Antillen (am Plaza Smeets, nach dem Firmengründer benannt), aber hat, wie der Sprecher von CITCO-Niederlande, J.H. Wiggers, erzählt, jetzt fast schon in jedem Land, wo es steuerlich günstig ist, eine Filiale. In den Niederlanden residiert die Firma in einem riesigen Bürokomplex des World Trade Centers Amsterdam. “Wir denken uns die Steuerkonstruktionen nicht selber aus”, sagt Wiggers. Wir sind eine Trustkompanie (Vermögensverwaltungsgessellschaft). Wenn mensch viel Geld hat, 10 oder 20 Millionen, dann verwalten wir das für sie an einer günstigen Stelle. Oder wenn sie einen Betrieb haben, dann regeln wir eine Niederlassung in einer Region, in der die Steuern minimal sind.”

Briefkastenfirmen

Im Laufe der Jahre sind viele Betriebe auf die Antillen gezogen. Auf dem Höhepunkt der Offshore-Industrie hatten mehr als dreißigtausend Unternehmen eine Filiale auf den kleinen Inseln, die zusammen gerade etwas größer als tausend Quadrat-Kilometer sind. Trustkompanien, wie CITCO, haben gute Geschäfte gemacht. Die Verwaltung einer Briefkastenfirma kann schon mehrere hunderttausend Dollar pro Jahr einbringen. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Trustkompanie mehr als tausend Firmen betreute und dabei rollte ganz schön der Rubel. Kein Wunder, daß die niederländischen Institutionen sich ohne Hemmungen auf den Inseln niederließen. CITCO hatte den Vorteil, die Erste zu sein, aber andere niederländische Finanzgiganten wie ABN Amro Trust, Holland Intertrust, ING Trust, F van Lanschot Management Company, Mees Pierson Trust und Rabobank Curaçao sind dem Beispiel schnell gefolgt.
Greg Elias, Vorsitzender der Vereinigung der Offshore Interessen auf Curaçao, hat in der Zeitschrift “Quote” bekundet, daß in besseren Zeiten mindestens zweihundert Milliarden Dollar pro Jahr auf die Inseln flossen. Elias: “Wir haben das Wachstum der amerikanischen Nachkriegswirtschaft finanziert.” Wenn wir die ganze Karibik zusammen nehmen, dann werden die Beträge unwahrscheinlich groß. The Latin America & Carribean Review beschreibt, daß im karibischen Offshore-Business, inklusive des Versicherungswesens, jährlich so ungefähr neuntausend Milliarden Dollar den/die EigentümerIn wechseln.
Die Regierungen der karibischen Inseln bekommen nur einen kleinen Teil dieses Betrages. 1985, im Spitzenjahr, haben die Antillen mehr als fünfhundert Millionen Gulden an Offshore-Steuergewinn eingenommen. Nur ein Klacks für die einzelnen Betriebe, aber für die antillischen Behörden hat dieser Betrag ein Viertel des Gesamthaushalts gedeckt.
Die wichtigste KundInnen haben die Antillen schon vor einigen Jahren verloren. 1987 haben die USA das Steuergesetz mit den Antillen nicht verlängert. Dieser Vertrag legte fest, daß im Vertragsland vollzogene Transaktionen nicht noch einmal im Heimatland besteuert werden. Günstig war das vor allem für in bezug auf europäischen Wertpapiere, die sogenannten “Eurobonds”, die durch das US-amerikanische Finanzministerium mit 30 Prozent besteuert werden, aber bei einer Tochterfirma auf den Antillen steuerfrei sind. Der Steuervertrag mit den Antillen wurde abgelehnt, weil die USA die Steuergelder nicht entbehren wollen.
Der Rückzug US-amerikanischer Unternehmen brachte den Antillen einen Einnahme-Verlust von mehr als 100 Millionen Gulden pro Jahr. Die halbe Milliarde Gulden, die 1985 noch gutgeschrieben werden konnte, war 1991 auf knapp zweihundert Millionen geschrumpft. Hans van Weeren, geschäftsführender Direktor des Ministeriums für Niederländisch-Antillianische und Arubanische Angelegenheiten (Kabna) sagt dazu: “Ich kann es dir sagen: Ein Verlust der Einnahmen in solcher Größenordnung bei einem Gesamthaushalt von zwei Milliarden Gulden ist ein erheblich größerer Rückschlag, als wir in den Niederlanden gewohnt sind.”
Der Einnahmenverlust wird immer größer werden, wenn die Inseln mit den Maßnahmen gegen die Drogengelder konfrontiert werden: Die Niederlande und die USA haben den Austausch von Steuer-Informationen vereinbart. Außerdem haben sie beschlossen, die Steuerpraktiken der Individuen als auch der Firmen zu untersuchen. Die Frage ist, ob die niederländischen Überseegebiete auch in das Abkommen miteinbezogen werden. Die USA wollen eigentlich nur Einblick in die “Insel-Geschäfte” ihrer BürgerInnen bekommen. Die EinwohnerInnen der Antillen sehen dem Abkommen mit Zittern und Zagen entgegen. Der vorher erwähnte Greg Elias: “Wenn der Vertrag verabschiedet wird, sind wir verloren.”

Das Jugendproblem

Offshore und Öl haben die Inseln zu dem wirtschaftlichen Wunder der Gegend gemacht. Beide haben aber viele Verluste erlitten. Vor allem der Verlust der Ölindustrie bedeutete einen harten Schlag für die Mittelklasse auf den Inseln. Bei einer Volkszählung Ende 1992 stellte sich heraus, daß die Hälfte der Erwachsenen auf Curaçao unter dem Existenzminimum leben. Die Kluft zwischen der verarmten einheimischen Bevölkerung und der augenscheinliche Reichtum der Steuer-Flüchtlinge ist gewaltig. Vor allem die Jugend hat jede Zukunftsperspektive verloren. Ein amtlicher Arbeitsausschuß bekannte im Dezember 1992: “Wir müssen leider zugeben, daß die gesamte Jugend gefährdet ist” Und: “Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß Probleme wie Drogenabhängigkeit, Teenager-Schwangerschaft, Kriminalität, Drop-Outs, Aids usw. eine große Bedrohung darstellen und schwer zu lösen sind.” Kurze Zeit nach der Veröffentlichung des Berichtes entstanden die Gerüchte von den “Problemjugendlichen”, die mit Unterstützung der lokalen Behörden zum Mutterland transportiert werden. Ob es die Wahrheit ist oder nicht, das Problem bleibt ebenso wie die Machtlosigkeit der Behörden etwas dagegen zu tun. Ein “One Way Ticket” zur Haupstadt Amsterdam ist zweifellos billiger als ein Betreuungsprogramm. Und wenn die antillianischen Behörden das Flugticket nicht selber finanzieren, dann gibt es auch noch Mittelklässler, die gerne etwas Geld übrig haben, um einem lästigen “Choller” (Obdachloser, Drogensüchtiger) zu einem Flugticket nach Amsterdam zu verhelfen. Wozu die reichen AusländerInnen natürlich beifällig zuschauen, weil ein/e “RuheständlerIn” keine Lust auf ein Rotlicht Viertel um die Ecke hat.
Eine Briefkastenfirma kann vielleicht schlafen oder inaktiv sein, aber der Chef muß ab und zu mal vorbei kommen. Curaçao hat deswegen auch einige Stellen, wo sich die niederländischen Geschäftsleute begegnen. Die Atmosphäre in dem Avila Beach Hotel ist leicht mit der im zehntausend Kilometer weit entfernten “barretje Hilton” an der Herbergierenstraat in Amsterdam zu vergleichen. Albert Heyn (Supermarkt Gigant), die Königsfamilie Van Oranje Nassau: sie übernachten alle im Avila Beach und wie im Amsterdamer Hilton mischen sich die ehrwürdigen Eliten problemlos mit wohlhabenden Leuten von zwielichtiger Gestalt.

Die vorteilhaften steuerlichen und finanziellen Konditionen, die Nähe zur USA, Lateinamerika und natürlich die Beziehung zu Europa haben auch zwielichtige Firmen angezogen. Der französische Journalist, Fabrizio Calvi, veröffentlichte im vorigen Jahr das Buch “Das Europa der Paten”, worin er einige Passagen der Präsenz der italienischen Mafia widmet. “Die Inseln sind schon völlig von der Mafia übernommen worden”, schreibt Calvi. “Sie lagern Drogen und verschicken sie wieder. Sie investieren ihr schmutziges Geld und waschen es weiß. Sie besitzen Kasinos, Hotels und Betriebe und da ist niemand da der “Nein” sagen kann. Sie haben die Inseln zu ihrem eigenen Territorium gemacht, auf ähnliche Weise wie Palermo das ist.(…) Jede/r profitiert davon, jede/r hat mehr oder wenig damit zu tun und wie auf Sizilien redet niemand darüber.
Die italienischen Zeitung “Corriera della Sera” nannte Aruba, den ersten Staat, der von den Bossen der “Cosa Nostra” (italienischer Mafia-Clan) aufgekauft worden sei. Der Zeitung zufolge sind sechzig Prozent der Insel in den Händen der italienischen Familien Cuntrera und Caruana, mit dem Beinamen “Die Rothschilds des Drogengeschäfts”. Auch sollen die Familien die Wahl von Premier Nelson Oduber sicher gestellt haben.
Einiges wird beschrieben im Buch “Schuldenboemerang” (Schuldenbumerang). Die niederländischen Autoren Joost Oorthuizen und Tom Blickman zitieren den nordamerikanischen Anwalt Jack.C.Blum, der für den US-amerikanischen Senat die “Geldwäschereien” von Panamas Manuel Noriega erforscht hat: “Die Niederländer sollten der Tatsache mehr Aufmerksamkeit widmen, daß ihre Übersee-Inseln zu Freihäfen für international operierende Gangster geworden sind. Wenn man Aruba zum Beispiel nimmt, sieht mensch, daß diese Insel vom Medellín-Kartell und der sizilianischen Mafia überschwemmt wurde: sie bringen mehr Geld auf dem Insel als die ganze Tourismusindustrie. Ein Land kann solche finanziellen Transaktionen nicht unter der Bezeichnung Freihandel weiterwuchern lassen.
Den Autoren gemäß sind die Konstruktionen von Steuerhinterziehung und das Weißwaschen von “Dinero Caliente” (durch zweifelhafte Geschäfte verdientes Geld) identisch. Die renommierten Banken, die ihre Filialen auf den Inseln errichtet haben, um Philips und Albert Heyn bei ihren Geschäften zu unterstützen, haben jetzt auch mehrere lateinamerikanischen KundInnen. Oorthuizen und Blickman: “Bei Verhören vor der Kommission des US-amerikanischen Senats erklärte eine vormalige Mitarbeiterin von Noriega, daß die niederländische ABN-Bank einer der favorisierten Banken des panamesischen Diktators war”. Das sind ernsthafte Anklagen. Bei dem Centralen Recherche Inlichtingendienst, CRI (Auskünftedienst) wollte Pressesprecherin Irma Vogel “keine Mitteilungen” dazu geben. Auch die einfache Frage, ob eine Untersuchung zu diesen merkwürdigen Geschäften eingestellt wurde, wollte der CRI nicht beantworten.

Friendly Island

Auf der kleineren und übersichtlicheren Insel Sint Maarten ist es schon schief gelaufen. Auf dem ausgewachsen Atoll verzehnfachte sich die EinwohnerInnenzahl in einigen Jahrzehnten. Die Tourismusindustrie, die von den täglich in Philipsburg anlegenden Kreuzfahrtschiffen profitiert, ist die Triebfeder in der Inselwirtschaft. Aber mit diesen TouristenInnendollars kam die Korruption und damit war die Hölle los. Wer Sint Maarten sagt, denkt an Korruption. Albert Claudius (Claude) Wathey (67) ist der ungekrönte König von Sint Maarten. Mit seiner Demokratischen Partei Sint Maarten hat er schon viele Jahrzehnte “the friendly island” mit Kleptokratie regiert.
Ursprünglich arbeitete er in dem Betrieb seiner Familie, in der Schiffahrt, Luftfahrt, Versicherungen und Tourismus. Diese Interessen wußte er ohne Probleme mit seiner Mitgliedschaft im Inselrat und als Mitglied in der Inselföderation zu verbinden In den letzten Jahren sind verschiedene dubiose Geschäfte in der niederländischen Presse veröffentlicht worden und immer wieder wird dabei der Name von Wathey erwähnt. Der alte Boß ist guter Freund mit den ItalienerInnen, die ein Einkaufszentrum, Kasino oder Hotel nach dem anderen auf dem Felsenboden errichten. Nur wenig Leute zweifeln daran, daß die benötigten Millionen “caliente” sind und ein Teil davon erhält der Wathey-Clan. In der niederländischen Zeitschrift, Vrij Nederland, hat der Publizist Thomas Ross geschrieben, daß Wathey und seine Freunde 250 Millionen Gulden pro Jahr an dem Kasino-Tourismus verdienen. Ein Betrag, der die 10 Millionen niederländische Entwicklungshilfe bei weitem übersteigt.
Jahrelang ließ Wathey sich von niemanden beirren. Die Niederlande hatte damit keine Probleme. “They come to wine and dine” sagen die InselbewohnerInnen spöttisch über die niederländischen PolitikerInnen, die die letzten Jahrzehnten zur Kontrolle kamen. Ein Essen hier, eine Fahrt mit einem Schiff dort, ein Glückspiel im Kasino und die niederländischen PolitikerInnen gehen wieder zufrieden nach Hause: verabschiedet von ihren antillianischen FreundInnen, die sich gleich wieder ihren italienischen oder kolumbianischen GeschäftspartnerInnen fügen.
Die Bestürzung war groß, als der Justizminister Hirsch-Ballin sich als ein steifer, konservativer “Macamba” entpuppte, der nicht an der Genußsucht der “Merengue-Gesellschaft” interessiert war. “Professor Hip Hop” oder “King Tiptoe” wird der Minister wegen seines hüpfenden Schrittes genannt. Professor Hiphop hat kein Gras über die Sache wachsen lassen. Seit Juli 1992 werden die Inseln ganz gut beobachtet. Jede Ausgabe über 25 Tausend Gulden muß von dem Gouverneur in Willemstadt bewilligt werden. Im Februar dieses Jahres wurde der Aufsichtstatus durch den Status von Kuratele ersetzt. Durch diesen wurde ein spezieller Aufsichtsführer beauftragt auf den Inseln nach dem Rechten zu sehen. Damit hat der Hirsch-Ballin übrigens ein beträchtlichen Fehler gemacht. Sein Aufsichtsführer Russel Voges hatte bei Ankunft auf Sint Maarten fast gleich eine Beziehung mit der Anwältin von Claude Wathey. Zufall oder nicht, seitdem hat die Bevölkerung dem Aufsichtsführer keine Aufmerksamkeit mehr geboten.
Wathey hat sich in Februar 1993, beleidigt wegen des Mißtrauens aus Den Haag, aus der Öffentlichkeit der Insel zurückgezogen. Niemand zweifelt daran, daß der “Ölmann” alle Fäden immer noch fest in der Hand hat.
Die Nähe der italienischen Mafia oder der kolumbianischen Kokainbarone bedeutet für das internationale Geschäftsleben kein Hinderungsgrund, sich auf den Inseln niederzulassen. Für nordamerikanische Betriebe ist die große Anziehungskraft der Insel überwiegend verschwunden, aber für die niederländischen Betriebe lohnt die Antillen-Konstruktion immer noch. Auf den Antillen niedergelassene Betriebe brauchen keine oder nur sehr wenig Steuern auf Einnahmen, die sie außerhalb des Insels erzielen, zu bezahlen.
Die niederländische Behörden versuchen eilig das Loch in der Steuergesetzgebung der Inseln zu stopfen. Zur Zeit zirkuliert ein Vorentwurf eines Gesetzes unter Sachverständigen und BeamtInnen, mit der Absicht in Zukunft einen “Fair Share”(gerechten Anteil) des Steuergewinns zu erhalten. Vor allem der Umzug einer Firma in ein anderes Land versucht die niederländische Regierung zu erschweren. Das bedeutet ein neuer Schlag für die antillianische Offshore-Industrie. Für den einfachen Millionär oder den/die “geschätzte BürgerIn” gibt es dann immer noch die “Ruhestands-Regelung”.
Um in deren Genuß zu kommen, darf mensch fünf Jahre vor Inkrafttreten der Regelung nicht auf den Inseln gelebt haben, muß auf den Antillen ein Haus im Wert von mindestens 225 000 Gulden (1 Gulden ca. 0.95 DM) besitzen, muß eine nicht-antillianische Pension beziehen und muß eine/n AntillianerIn für mindestens dreißig Stunden pro Woche zum Beispiel als HaushälterIn anstellen.
Ein Mindestalter gibt es nicht. Es gibt auf den Antillen RentnerInnen, die um die zwanzig Jahre alt sind.
Wenn mensch den Bedingungen entspricht, ist der/die “RentnerIn” in der Karibik herzlich willkommen und bezahlt er oder sie nicht mehr als 5 Prozent Einkommenssteuer mit einem Maximum von 66 000 Gulden (erreicht bei einem Einkommen von mehr als 1,32 Millionen). Wenn überhaupt Steuern bezahlt werden. Bis heute sind 350 000 Steuerveranlagungen noch nicht eingetrieben.

Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald

Die Geschichte des Erdöls und ihrer Ölmultis

Ecuador gehört zu den erdölexportierenden Staaten und war von 1971 bis 1992 Mitglied der OPEC. Zwischen den Anden und der östlichen Landesgrenze zu Peru ist es zu finden, das schwarze Gold. Dieses Gebiet, genannt “Oriente” oder “Amazonasregion”, war bis Anfang der 70er Jahre von der “Zivilisation” verschont geblieben. Besiedelt vom Indígena-Volk der Huaorani (auch unter dem Namen Aucas bekannt) hatte der Regenwald und die dort lebenden seltenen Tiere nichts zu befürchten. Nach der Entdeckung des Erdöls in der Amazonasregion vergab die damalige Militärregierung die Konzessionen zur Ausbeutung vor allem an die US-amerikanische Gesellschaft Texaco. Straßen wurden gebaut, SiedlerInnen zogen nach, breitangelegte Rodungen begannen und somit die Natur und damit der Lebensraum der Indígenas zerstört. Texaco unterlag kaum einer Kontrolle und dementsprechend ist auch heute der Zustand des Gebietes. Texaco, City (eine Gesellschaft mit Sitz auf den Bahamas) und die staatliche PETROECUADOR sind die Hauptakteure im Ölgeschäft Ecuadors und auch die Hauptverantwortlichen der entstandenen Umweltschäden. 1992 lief die Ölförderkonzession von Texaco aus. Mittlerweile wird der Multi verklagt, und inzwischen fordern nicht nur Ökologie- und Indígenagruppen Schadensersatz, sondern auch die ecuadorianische Regierung.
Der Ölexport hat eine große Bedeutung für Ecuador. Er macht 60% der Exporterlöse aus und finanziert zu 48% den Staatshaushalt. In dem Amazonasgebiet operieren heute außer PETROECUADOR etwa ein Dutzend ausländischer Ölkonzerne. Die Umweltauflagen und Gesetze zum Schutz des Regenwaldes sind nicht ausreichend oder werden umgangen. 30% des ecuadorianischen Amazonasgebietes wurden schon zerstört. Naturreservate und Nationalparks werden nicht ausgenommen, die letzten Bioreservate Ecuadors werden geopfert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht allerdings: die Ölreserven Ecuadors im Amazonasgebiet werden im Jahre 2010 erschöpft sein.

MAXUS und der Yasuni-Nationalpark

MAXUS operiert schon seit 20 Jahren im Yasuni-Nationalpark. Der Ölmulti hat nicht nur die Förderrechte von CONOCO übernommen, sondern auch den “Plan ambiental de CONOCO para el Bloque 16 dentro del Parque nacional de Yasuni” (Umweltrichtlinien für den Block 16 im Yasuni-Nationalpark). Das Vorlegen eines derartigen Planes ist für alle ausländischen Ölkonzerne zwingend vorgeschrieben. Nach einer Studie des Comité Ecológico-ESPOL ist der besagte Plan allerdings völlig unzureichend für den Schutz des Nationalparks, der von der UNESCO zur “Reserva Mundial de la Biosfera” deklariert wurde.
Die von CONOCO begonnene Zubringerstraße (vgl. LN 235) wird von MAXUS weitergebaut und soll im Jahre 1998 beendet sein. Nach dem offiziellen Plan wird mit dem Bau der Straße eine Waldfläche von 1050 ha zerstört werden. Das entspricht etwa einem Sechstel des gesamten Nationalparks.
Der Ölmulti MAXUS operiert außer in seiner Heimat Dallas/Texas noch in weiteren zwölf Ländern. In der Vergangenheit benutzte er den Namen “Diamond Shamrock Corporation” (Sitz: New Jersey) Nach Angaben der ecuadorianischen Zeitschrift “Infotrop” produzierte die Firma zwischen 1951 und 1969 Herbizide und Entlaubungsmittel, die im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. 1984 wurden er zu einer Schadensersatzzahlung an die sogenannten “Agent Orange”-Opfer von 23 Millionen Dollar verklagt. Nur fünf Jahre später “verdienten” er allerdings bei der Reinigung und Entgiftung der Produktionsstätten 26 Millionen Dollar. Die Negativschlagzeilen in diesem Zusammenhang veranlaßten die Manager, eine Namensänderung vorzunehmen. Der Yaruni-Nationalpark wird bei dieser Firma, ob nun MAXUS oder “Diamond Shamrock Corporation” keine großen Überlebenschancen haben.

Anmerkung: In den LN 235 gaben wir die Adresse von CONOCO an, wohin ihr Protestschreiben senden solltet. Da dieser Ölmulti aus dem Amazonasölgeschäft ausgestiegen ist, erledigt sich natürlich das diesbezügliche Protestschreiben. Protestschreiben daher bitte jetzt an:
MAXUS
717 N.- Harwoodstreet

75202 Dallas
USA

Kasten:

Indígenas wehren sich gegen Ölverseuchung

Auf dem Internationalen Kongreß zur Situation indigener Völker in Lateinamerika, der im Dezember 1993 in Berlin stattfand, berich¬tete Galo Villamil von der Verseuchung der Gewässer von 18 indiani¬schen Gemeinschaften. Die Gemeinschaften, die sich im Amazonasgebiet, in der Provinz Pastaza be¬finden, müssen nun Regenwasser sammeln, um nicht zu verdursten. Dort bohrt seit nunmehr einem Jahr die US-amerikanische Firma ARCO nach Öl. Mitglieder einer Indígena-Organisation von Pastaza namens OPIP besetzten nun dieses Erdölfeld, den Block 10 (siehe Schaubild). Ihnen war ein Gespräch mit der Firma ARCO zugesagt worden, um die sozialen und ökologischen Bedingungen der Ölförde¬rung abzuklären. Dieses Gespräch war jedoch in dem Moment abgesagt worden, als große Ölfunde gemacht wurden. Seit 1967 – als erstmals Öl im ecuadoreanischen Amazonasgebiet gefunden wurde – hat dort eine zunehmende Zerstörung um sich gegriffen. 1972 wurde eine 500 km lange Pipeline zu den Raffinerien an der Pazifikküste fertiggestellt. Durch sie floß bisher der Inhalt von eineinhalb Mil¬liarden Fässern Rohöl zum Pazifik. Mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes wird durch die Einnah¬men aus dem Ölgeschäft bestritten. Die Folgen für die Umwelt sind immens: Zwischen 1972 und 1989 sind insgesamt 16,8 Millionen Gallonen Öl aus der Pipeline ausgetreten, d.h. die dreifache Menge des beim Exxon-Valdez-Unglück ins Nordmeer geflossenen Öls. Und die Erschließung neuer Ölfelder geht weiter. Gegenwärtig werden auf einer Fläche von 3 Millionen Hektar Probebohrungen vorge¬nommen. Des weiteren werden mit Probesprengungen lohnende Gebiete seismologisch ausfindig ge¬macht. Dafür hat mensch 1300 Hubschrauberlandeplätze im tropischen Regenwald angelegt.

Vom Metall des Teufels zum “Eldorado”?

Die Tendenz, in die Goldminen zu investieren, zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ab. Vor allem der Zufluß ausländischen Kapitals richtete sich nicht wie erhofft auf den Aus- und Umbau der traditionellen Zinnminen, sondern fand im Bereich Gold statt. So investierte “Inti-Raimi” (nordamerikanisches Kapital) 1992 150 Mio US-Dollar, um den “Kori-Kollo” (Berg des Goldes) im Dep. Oruro mit verbesserter Technologie ausbeuten zu können und neue Abbauebenen zu erschließen. Die Produktion konnte daraufhin auch auf 120 kg pro Monat gesteigert werden. Neben Inti Raimi ist auch die COMSUR (Companía Minera del Sur) des neuen Präsidenten Gonzales de Lozada im Goldabbau tätig. Der Hauptteil der Produktion jedoch wird von sogenannten Kooperativen gefördert.
Die Gesamtproduktion von Gold wird in den offiziellen Statistiken mit drei bis vier Tonnen jährlich (1990) angegeben. Die Federación de Mineros beziffert die Mengen Gold, die das Land in den letzten fünf Jahren auf dem Schmuggelweg verließen, auf annähernd 28 Tonnen, so daß insgesamt von einer weit höheren Fördermenge ausgegangen werden muß.
Die Produktion der letzten 30 Jahre wurde zu etwa 60 Prozent von den Kooperativen erarbeitet, zu 38 Prozent von den Minengesellschaften (vor allem von Inti Raimi und COMSUR) und zu einem verschwindend geringen Teil von der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL (Cooperativa Minera Bolivianer). Interessant hierbei ist die Verteilung der Schürf- und Eigentumsrechte. Von den Kooperativen werden insgesamt 50.000 Parzellen von jeweils etwa einem Hektar bearbeitet, das sind 3,4 Prozent der gesamten Eigentumsrechte. 9 Prozent teilen sich die Minengesellschaften, aber 87,6 Prozent sind nach wie vor in den Händen der COMIBOL. Diese Verteilungspraxis wird stark von den Kooperativen kritisiert, deren Situation sich seit 1985 permanent verschlechtert hat. Per Dekret wurde 1985 der Handel mit Gold freigegeben, der zuvor der staatlichen Kontrolle unterlag und damit den Händlern die Preisgestaltung in die Hände legte. Zwar sollten 1,5 Prozent Steuern vom Gesamterlös abgeführt werden, durch den immensen Schmuggel entgeht dem Staat jedoch diese Einnahmequelle. Darüber hinaus sind die Mitglieder der Kooperativen dem Preisdiktat der Goldaufkäufer stärker ausgeliefert als zuvor. Allein in der Provincia Lareja, der “Goldregion” im Departamento La Paz, sind über 200 Händler tätig, und ihre Zahl steigt nach der Liquidation der Banco Minero, die den Goldaufkauf zu festen Preisen im Auftrag des Staates tätigte, ständig an.

Die große Versuchung

Gold hatte in der Geschichte schon immer eine besondere Anziehungskraft. Geologischen Studien weisen praktisch auf dem gesamten Territorium Boliviens Goldvorkommen nach, so im Departamento Santa Cruz, im Pando, im Amazonastiefland, aber auch im Hochland und den subtropischen Gebieten nördlich von La Paz. Eine der traditionellen Regionen war und ist die Provinz Lareja und hier vor allem Tipuani, am gleichnamigen Fluß gelegen. Tipuani, 560 Meter über dem Meer und ca. 180 km von La Paz entfernt, mit subtropischem Klima, liegt zu Füßen der Cordillera Real. Durch Tipuani führt der legendäre Inkapfad, der sich von Sorata über Yani, Chusi und Llipi bis Paititi zieht. Die Indígenas zogen vor und während der Kolonialzeit in langen Pilgerreisen an den Goldfluß, von wo sie glänzende Kleinode mitführten, die die Spanier dazu animierten, in die Region vorzudringen, um nach Gold zu suchen.
Bis in die 30er Jahre arbeitete die bolivianische Gesellschaft “BOLGO” mit modernster Technologie in den Minen der Region. Später gingen die Schürfrechte an die Companía Aramayo (Aramayo = einer der sog. “Zinnbarone”). Aufgrund der unmenschlichen Arbeitsbedingungen – den Quellen läßt sich entnehmen, daß die Bergarbeiter nackt in der Mine arbeiten mußten und schärfsten Kontrollen unterzogen wurden – , vor allem aber aufgrund des Vorwurfes, die Gesellschaft schmuggle hohe Goldmengen außer Landes, sah sich das Parlament 1951 gezwungen, den Mineneingang zu sprengen, um die weitere Förderung zu verhindern. Nach 1952 übernahm die Federación de Mineros die Kontrolle über die Goldminen von Lareja.
Bereits 1959 gründeten sich die ersten Kooperativen, die heute in den 7 Produktionszentren allein dieser Region auf über 200 angewachsen sind und etwa 10.000 Mitglieder zählen. Auch diese Zahlen sind nur ein vager Anhaltspunkt, da die Zahl derer, die auf eigene Faust oder auch nur tageweise in den Stollen oder in den Flußbetten arbeiten, seit 1985 – nach der ersten Welle der Entlassungen in den Zinnminen – stark zugenommen hat.
In der Region wird 30 Prozent der Gesamtproduktion von Gold gefördert, größtenteils mit rudimentären Mitteln. Die Methode des Abbaus in den Minen hat sich seit 1954 nicht wesentlich geändert; man arbeitet in Terassen oder Plattformen und die Stollen werden vertikal geschlagen. Laut FERRECO (Federación de Cooperativas) arbeitet zur Zeit keine Mine rentabel. Zudem ist die Hierarchie innerhalb der Kooperativen in den Goldzentren noch stärker ausgeprägt als in den Kooperativen der Zinnminen. So trifft man hier oft auf GesellschafterInnen, die sich in die Kooperative “einkaufen”, dann aber Wanderarbeiter für sich arbeiten lassen, die bis auf einen geringen Anteil der Goldproduktion alles an die GesellschafterInnen abliefern müssen. Um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Kooperativenmitglieder zu verbessern, fordert FERRECO ein der aktuellen Situation angepaßtes Gesetz für die Minen, das den Zugang zu den Schürfrechten klärt und die Vermarktung regelt. Darüber hinaus werden Kredite gefordert, um die Technologie anpassen zu können und den Ausbau der Infrastruktur, vor allem den Straßenbau, der den Zugang zur Region erleichtern soll, voranzutreiben.
Problematisch für die gesamte Region sind die negativen ökologischen Auswirkungen des Goldabbaus. Allein in der Region Lareja werden für die Goldförderung mehr Benzin und Diesel verbraucht, als in allen anderen Sektoren. Monatlich werden annähernd zwei Millionen Liter benötigt, um die Bagger und anderen schweren Maschinen zu betreiben.

Der Erdrutsch in Llipi

Noch kein Jahr ist vergangen, seit der Bergbau Boliviens von einer seiner größten Katastrophen heimgesucht wurde. Am 7. Dezember 1992 gegen fünf Uhr morgens wurde Llipi, eine Goldarbeitersiedlung nahe bei Tipuani, am Fuß des gleichnamigen Berges, nach schweren tagelangen Regenfällen von einer Lawine aus Geröll, Steinen und Erde verschüttet. Die Zahl der Toten konnte nie ermittelt werden. Nach Einstellung der Bergungsarbeiten, fünf Tage später, zählte man 200 Tote und hunderte Verletzte. Die Zahl der noch Vermißten wurde mit 200-400 angegeben. In dem Camp befanden sich zur Zeit des Unglücks etwa 1200 Menschen. Durch die nicht nachprüfbare Zahl der sogennante “flotantes”, die sich den Kooperativen nur tageweise anschließen und auf eigene Faust nach Gold suchen und die nicht genau feststellbare Zahl von Händlern wird man die genaue Zahl der Toten nie ermitteln können. Die meisten der 400 Überlebenden waren Bergarbeiter, die sich zur Zeit des Erdrutsches in der etwa einem km entfernten Mine auf Schicht befanden. Von den 120 Häusern blieben noch 30 stehen. Die Rettungsarbeiten gestalteten sich äußerst schwierig, da auch Llipi nur über Wege erreichbar ist, die von den Kooperativen selbst angelegt wurden. Männer und Frauen, Erwachsene, Jugendliche und Kinder treibt die Hoffnung, Gold zu finden, ohne Rücksicht auf die schlechten Lebensbedingungen in die Region. In Llipi gab es weder Strom noch eine Schule oder eine Krankenstation. Die Häuser sind völlig ungesicherte Konstruktionen an Berghängen und Flüssen. Durch das Schlagen von Stollen an den verschiedensten Stellen des Berges wird dieser unterminiert und die Gefahr von Erdrutschen bei den jährlichen, zum Teil sehr starken und anhaltenden Regenfällen erhöht. Viele Camps liegen auch direkt an Flußufern und die Menschen dort sind der Gefahr durch Überschwemmungen ausgeliefert. Die Bedingungen in Llipi sind keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel in den Goldgräberorten.
Durch die nun bevorstehenden Umsiedlungen wird sich die Zahl der Kooperativen und die Zahl derer, die für sich selbst arbeiten, in den nächsten Monaten noch immens erhöhen. Die Kooperativen gelten als Auffangbecken für Arbeitslose, vor allem von Ex-Minenarbeitern aus dem Zinnbergbau – so kann die Regierung die offizielle Arbeitslosenstatistik nach unten korrigieren.
Zwischenzeitlich dringen die Goldsucher entlang der Flüsse weit bis in die Tiefen des Amazonasbeckens, in die Territorien der Indígenas des Tieflandes vor, was neue Konflikte vorprogrammiert. Immer neue geologische Studien werden vor allem von US-amerikanischen Firmen, die die “große Chance” wittern, in Auftrag gegeben. Es bleibt abzuwarten, wie die neue Regierung das Problem des Bergbaus lösen wird, und ob nach der Ära von Silber und Zinn nun die Stunde des Goldes für Bolivien schlagen soll.

Mit der Machete gegen die Korruption

Am 28. November entschieden die HonduranerInnen über den Präsidenten, drei Vizepräsidenten, 128 Parlamentsabgeordnete, 291 BürgermeisterInnen sowie – ein Novum – 20 Abgeordnete für das Zentralamerikanische Parlament. Die PL mit dem 67jährigen Reina an der Spitze gewann die Wahlen mit 53 Prozent der Stimmen und wird mit 71 von 128 Parlamentssitzen über eine sichere Mehrheit verfügen. Der 46jährige Ramos Soto von der PN konnte dagegen nur 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Auch bei den Kommunalwahlen lagen die Liberalen vorn. Auf die KandidatInnen der traditionell schwachen kleinen Parteien entfielen nur wenige Prozente. Somit setzt sich die honduranische Tradition des “Bipartidismo” fort. Bei einer für Honduras geringen Wahlbeteiligung von 60 Prozent waren aber die NichtwählerInnen die größte Gruppe. Die am Vorabend der Wahl getroffene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, denjenigen BürgerInnen, die nicht in die amtlichen WählerInnenlisten eingetragen waren, die Stimmabgabe zu verweigern, verwehrte etwa 200.000 AnhängerInnen der Oppositionsparteien die Teilnahme. Häufig schafft es die marginalisierte Landbevölkerung nicht, auf die WählerInnenlisten zu gelangen, da hierfür gültige Dokumente, Zeit und Geschick im Umgang mit der Bürokratie erforderlich sind.

Eine schmutzige Kampagne

Honduras verfügt nicht gerade über die sauberste Wahltradition. Bei den letzten Wahlen 1989 gelang die illegale Registrierung von damals 100.000 im Lande lebenden Flüchtlingen und Contras aus El Salvador und Nicaragua. Diesmal behauptet das nationale Wahlgericht jedoch, die WählerInnenregister seien, unter Mitwirkung von 119 BeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sorgfältig von Verstorbenen, Minderjährigen, DoppelgängerInnen, Fiktivpersonen und (nicht wahlberechtigten) Militärs bereinigt worden. Wenn damit die Wahlpraxis auch verbessert wurde, wird es jedoch noch immer, zumindest auf dem Land, Stimmenkauf und Stimmdruck gegeben haben.
BeobachterInnen sprechen vom schmutzigsten und teuersten Wahlkampf in der jüngeren Geschichte des Landes. So sollen die PN und PL zusammen 28 Mio. US-Dollar für den Wahlkampf ausgegeben haben. Statt Sachfragen zu diskutieren, hätten die Kandidaten vorwiegend Beleidigungen ausgetauscht. Ramos nannte Reina einen Kommunisten, der die Kirchen schließen und ein marxistisches Regime errichten wolle. Der Beleg: Ein Foto aus dem Jahre 1960, auf dem Reinas Bruder zusammen mit Che Guevara zu erkennen ist. Reina dagegen konterte, Ramos sei ein korrupter Vertreter der extremen Rechten; er sei bereit, mit dem Teufel zu paktieren und Honduras in die Zeit der Todesschwadrone zurückzuversetzen. Ramos war tatsächlich in den Jahren, als diverse StudentenführerInnen und GewerkschafterInnen spurlos verschwanden, Rektor der Nationaluniversität von Tegucigalpa und gehörte, wie Ex-Präsident Callejas der seit 1983 verbotenen rechtsradikalen “Asociación para el Progreso de Honduras” (APROH) an, die zusammen mit den Militärs Anfang der 80er Jahre den “schmutzigen Krieg” gegen die Bevölkerung initiierte. Obwohl verschiedene Seiten gefordert hatten, die Verschwundenen der 80er Jahre nicht zum Wahlkampfthema zu machen, begann eine makabre Aufrechnung nach dem Motto: “Während in unserer Regierungszeit ‘nur’ 50 Linke abgeschlachtet wurden, waren es bei Euch 100”.
Noch kurz vor der Wahl kam es zu einer Krise, weil sich beide großen Parteien gegenseitig verschiedener Fehler bei der Volkszählung bezichtigten. Trotz der Furcht vor gewalttätigen Zwischenfällen verlief der Wahltag dann aber ruhig. Nur in der “boom town” San Pedro Sula im Norden des Landes detonierten zwei Sprengsätze. Immerhin wurde die Hälfte der insgesamt 27.000 honduranischen Soldaten eingesetzt, um einen ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen zu garantieren.

Keine Chance für kleine Parteien

Die sozialdemokratische Reformpartei PINU (Partido de Innovación Nacional y Unidad) und die christdemokratische PDC (Partido Demócrata Cristiano) wurden vor etwa 20 Jahren als Protestbewegungen gegen das Duopol von Nationalen und Liberalen gegründet. Die PINU kommt aus der intellektuellen Mittelschicht, während die PDC vor allem Unterstützung aus der Bauernbewegung erhält. Beide Parteien haben jedoch keine große Basis und erreichen zusammen kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen. Sie haben dem Interessenfilz und der erprobten Organisation der beiden Traditionsparteien wenig entgegenzusetzen und sind eher intellektuelle “pressure groups” als ein Machtfaktor. Dies gilt noch mehr für die Partido Comunista de Honduras (PCH), die Partido Comunista Marxista-Leninista und die Partido Socialista (PASO). Diese Parteien kommen zusammen auf kaum mehr als ein Prozent der Stimmen. Nachteilig für die kleinen Parteien wirkt sich auch die Regelung aus, nach der Präsident und Parlamentsabgeordnete mit einer Einheitsstimme gewählt werden. SozialreformerInnen und linke Kräfte haben sich in Honduras historisch eher in Interessengruppen als in Parteien organisiert.
Auch die Gründung neuer Parteien ist schwierig: So sind eine Reihe rechtlicher Formalitäten erforderlich, die Kosten von etwa 130.000 US-Dollar verursachen.

Ex-RebellInnen gründeten politische Partei

Das Parlament verabschiedete Ende September ein Gesetz, das der von ehemaligen linken Rebellengruppen gebildeten Partei der Demokratischen Vereinigung (PUD) die offzielle Registrierung ohne die üblichen aufwendigen Formalitäten ermöglichte. Die regierungskritische Tageszeitung “El Tiempo” wertete dies als außergewöhnliche Öffnung, die nur dank des Zerfalls der kommunistischen Welt möglich sei. Diese Partei schaffe Raum für Intellektuelle und Anhänger sozialistischer Ideen. Die PUD darf allerdings erst 1997 an den allgemeinen Wahlen teilnehmen. Schon vor zwei Jahren hatten sich die Guerilleros von den Volksbefreiungsbewegungen “Cinchoneros” und “Lorenzo Zelaya” vom bewaffneten Kampf losgesagt. Die Regierung Callejas verzichtete im Gegenzug auf eine strafrechtliche Verfolgung der etwa 300 aus dem Exil in Kuba und Nicaragua zurückgekehrten Rebellen. 1982 gelang den “Cinchoneros” mit der Geiselnahme von 100 Industriellen in einem Hotel in San Pedro Sula die spektakulärste Aktion, die mit Lösegeldzahlung und Freiflug nach Havanna endete.

El Presidente

Reina ist schon seit Mitte der 60er Jahre Führungspersönlichkeit des linken Parteiflügels, der Liberalen Volksallianz ALIPO. “Unter uns Liberalen sind die Kämpfe oft härter als mit den Konservativen”, klagte Reina im Wahlkampf 1985, als er wieder einmal Spitzenkandidat seiner Partei werden wollte. Tatsächlich wurde die ALIPO häufig innerparteilich ausmanövriert, 1984 sogar durch Manipulation unter konservative Führung gebracht, was Reina veranlaßte, ALIPO zu verlassen und eine neue Faktion, die radikalere sozialdemokratische M-LIDER zu gründen. Diese forderte unter anderem den Rückzug Honduras aus den regionalen Kriegsvorbereitungen, die Revision des alten Bündnispaktes mit den USA und die Rücknahme der Steuergeschenke an die Multis, die weite Teile der honduranischen Wirtschaft kontrollieren.
1993 war Reina endlich der unbestrittene Kandidat der Liberalen. Der angesehene Jurist und Universitätslehrer, der in London und Paris studiert hatte, war schon Ende der 50er Jahre stellvertretender Außenminister von Honduras und in den frühen 60er Jahren Botschafter in Frankreich. Während der Militärdiktatur saß er mehrfach im Gefängnis. Im Zeitraum von 1979 bis 1985 war er zunächst Richter, dann Vorsitzender des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte in San José. 1992 agierte er als honduranischer Vertreter beim Rechtstreit mit El Salvador vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Beide Staaten beanspruchten Grenzgebiete (“bolsones”) die nach dem Urteil des Gerichtshofes weitgehend Honduras zugesprochen wurden.

Das Volk an die Macht?

Reina bestritt den Wahlkampf mit den Losungen “Das Volk an die Macht” und “Es ist Zeit für eine moralische Revolution”. Er versprach, vor allem die Korruption im Lande zu bekämpfen. “Keine Schurken mehr in die öffentliche Verwaltung!” rief er der jubelnden Menge zu. “Wenn Ihr einen diebischen Beamten kennt, laßt es mich wissen. Ich habe eine Machete, um ihm die Finger abzuschneiden”. Reina kündigte an, einen Ehrenkodex für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten einzuführen und die Schlüsselinstitutionen wie Justiz und Wahlorgane moralischer zu gestalten. So solle der Wahlzensus gründlich erneuert und das Wahlgericht reformiert werden – er werde keinen Haushaltsposten “Geheimes” dulden. Weiter sagte er, Honduras solle ein “demokratischer Leuchtturm” werden, an dem sich Zentralamerika ausrichten solle. Als Vorbild für Demokratie und Entwicklung nannte er Costa Rica.
Für die armen Bevölkerungsschichten versprach er Sozialprogramme (besonders für Gesundheit und Bildung), “die viel Geld kosten werden”. Das unter Callejas begonnene Projekt des neoliberalen Umbaus will Reina fortsetzen.
Der obligatorische Wehrdienst soll abgeschafft, der Verteidigungshaushalt gekürzt werden und die Kontrolle der Polizei in zivile Hände übergehen – die Reformen sollen aber in Übereinkunft mit den Militärs getroffen werden. Außerdem will Reina den Drogenschmuggel bekämpfen und den Tourismus vorantreiben.

Ein Blick zurück

Nach zwei Jahrzehnten Militärherrschaft wurde 1980 mit der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung ein Prozeß der Redemokratisierung in Gang gesetzt. Die beiden seitdem abwechselnd regierenden großen Parteien entstammen der Oligarchie. Dennoch lassen sich ihre Programme nicht klar definierten Interessen zuordnen, und in beiden Parteien finden sich Vertreter aller sozialer Gruppen, die vom wirtschaftlichen und sozialen status quo profitieren. Im Gegensatz zur PN stand jedoch die PL der Armee traditionsgemäß distanziert gegenüber und ihr Meinungsspektrum war etwas breiter.
Der nach langer Zeit erste frei gewählte Präsident Suazo Córdova vom rechten Flügel der PL (1981 bis 1985) teilte sich die Macht in Wirklichkeit mit Reagans Botschafter und dem Armeechef. Der US-Botschafter gab häufig Regierungsentscheidungen bekannt, bevor sie überhaupt getroffen worden waren. In dieser Zeit wurde Honduras im Zusammenhang mit den Konflikten in Nicaragua und El Salvador zum Flugzeugträger der USA ausgebaut. Auch das Regierungsprogramm von Präsident Ascona (1986-1989), ebenfalls von der PL, wurde von Washington bestimmt. Durch politisch motivierte Zahlungen aus Washington wurde die ökonomische Schieflage Honduras über einen langen Zeitraum kaschiert: Rund 200 Mio. US-Dollar$, genau der Betrag, der den Staatshaushalt auszugleichen vermochte, flossen Jahr für Jahr ins Land. Als das Interesse der USA an der Region abnahm, und sie ihre Zahlungen drastisch reduzierten, wurde der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Auslandsverschuldung deutlich. Weite Bevölkerungsteile stellten daher Heilserwartungen an den stets lächelnden und als Reaganomic bekannten Kandidaten der PN, Callejas, dem sie 1989 zum triumphalen Wahlsieg verhalfen. Mit dieser sicheren Mehrheit versuchte Callejas, ein von Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank (BID) formuliertes wirtschaftliches Strukturanpassungsprogramm durchzusetzen.

Hungern für die Schuldenrückzahlung

Callejas “paquetazo” erzielte zwar ansatzweise die erwünschte Stabilisierung: Sanierung der Staatsfinanzen und der Auslandsschulden. Jedoch nur durch eine Abwertung der Währung, Preissteigerungen und erhöhte Arbeitslosigkeit. Ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung blieb aus. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit 1991 etwas stärker anwächst als die Bevölkerung, dümpelt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen der rund 5,4 Mio. HonduranerInnen noch immer bei 660 US-Dollar vor sich hin und ist damit neben dem Nicaraguas und Haitis das niedrigste der westlichen Hemisphäre. Während die Produktion für den Binnenmarkt zurückging, sprießen die für die USA produzierenden Maquiladora-Industrien wie Pilze aus dem Boden. Bis 1995 werden hier mehr Arbeitsplätze vorhanden sein als in den traditionellen Industriesektoren Honduras’. Auch die Exporte können seit 1990 infolge der niedrigen Weltmarktrohstoffpreise die magische Zahl von jährlich 800 Mio. US-Dollar nicht mehr deutlich überschreiten, schon gar nicht seit Einführung der hohen EU-Zölle für “Dollarbananen”, von denen Honduras traditionell einen Löwenanteil lieferte. Dieser Beschluß bedeutet für Honduras voraussichtlich einen Verlust von 200 Mio. US-Dollar und 14.000 festen Arbeitsplätzen in drei Jahren. Die Kosten für die Strukturanpassung sind hoch: Nach Zahlen der Vereinten Nationen gelten 72 Prozent der Bevölkerung als arm und verelendet. Über 60 Prozent der Erwerbspersonen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Auch weite Teile der Mittelschichten fallen in die Armut zurück. Hunger ist mittlerweile weit verbreitet. Immer häufiger werden völlig unterernährte Kinder in Krankenhäuser eingeliefert. Das Modernisierungsprogramm für die Landwirtschaft führt zur Aufgabe der Agrarreform und zur Reprivatisierung der Wälder. Fast ein Drittel der honduranischen Bevölkerung ist von Vertreibung und Verlust ihrer Subsistenzgrundlage bedroht. Den Großgrundbesitzern ist dagegen ein Waldvermögen von ca. 3 Mrd. US-Dollar in die Hände gefallen. Skandalös ist das Verhalten der Weltbank, die ganz offen eine “unfreiwillige Umsiedlung” der Bevölkerung aus den in Wert zu setzenden Waldgebieten forderte.
Warum kam es nicht zu breiteren Aufständen gegen dieses Programm? Geschickt förderte die Regierung regierungsfreundliche Parallelstrukturen in Gewerkschaften und Interessenverbänden – die Organisationen wurden unterwandert und bespitzelt, und teilweise wurden ihre Vorsitzenden aus den Ämtern manipuliert. Länger andauernde Streiks wurden mit militärischer Gewalt beendet. Weiterhin wurde versucht, den gravierendsten sozialen Problemen mit nur kurzfristig wirkenden Hilfsprogrammen entgegenzutreten.
Der wachsende Unmut der Unter- und Mittelschichten, die Kritik von UnternehmerInnen an einer Schwächung der Binnennachfrage und die Sorge der Militärs um ihren Machterhalt brachten die Callejas-Regierung zum Ende ihrer Amtszeit jedoch in arge Bedrängnis.

Unlösbare Aufgaben für die neue Regierung

Die wirtschaftliche Ausgangslage für die neue Regierung ist schlecht: Wie in Lateinamerika üblich, sind in Honduras aus taktischen Gründen in den Monaten vor den Wahlen die Preise mit Hilfe von Subventionen und der Ausgabe von hochverzinsten Staatspapieren künstlich tief gehalten worden. Nach den Wahlen ist ein umso größerer Teuerungsschub zu erwarten. Das Budgetdefizit liegt wieder bei fünf Prozent.
Das Militär hat die Macht nie wirklich aus der Hand gegeben hat. Daher ist kaum zu erwarten, daß die Militärs die angekündigte politische und finanzielle Schwächung hinnehmen. Eine soziale Abfederung der Strukturanpassung ist unter den herrschenden Weltmarktbedingungen nur über die Aufnahme neuer Kredite finanzierbar – das will aber niemand. Also bleibt die Notwendigkeit einer enormen sozialen Umverteilung. Daran hat sich aber in der Geschichte des Landes bisher noch niemand gewagt. Abzuwarten bleibt, wie stark Reinas Rückhalt in der eigenen Partei ist und welche programmatischen Zugeständnisse er dem konservativen Flügel vor seiner Nominierung machen mußte. Zumindest besteht Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung.

Reformen ja – neue Verfassung nein

Anfang Januar schloß die U.N.O.-Führung zwei Parteien aus der Allianz aus, weil sie sich mit der FSLN über eine Teilreform der Verfassung geeinigt und zur Beteiligung an den Parlamentssitzungen entschlossen hatten. Dabei handelt es sich um die Konservative Volksallianz (APC) und die Demokratische Nicaraguanische Bewegung (MDN). Vorher war bereits die Christdemokratische Union (UDC) aus dem gleichen Grund von der U.N.O.-Führung verstoßen worden. Der turnusmäßige U.N.O.-Koordinator Eli Altamirano (Kommunistische Partei, PCN) und andere U.N.O.-Führer bekräftigten, sie wollten “bis zum Letzten” für die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung kämpfen. Diese sollte eine völlig neue Verfassung beschließen, über die Absetzung der Präsidentin und die Neubildung der Staatsgewalten entscheiden. Dafür will die U.N.O. jetzt im Rahmen einer “Mobilisierung des Volkes” zwei Millionen Unterschriften von UnterstützerInnen sammeln. Altamirano warf den jüngst ausgeschlossenen Parteien vor, die U.N.O. “verraten” zu haben. Der PLC-Vorsitzende Arnoldo Aleman nannte die ehemaligen U.N.O.-Abgeordneten, die sich für eine Teilreform der Verfassung entschieden hatten, eine “schamlose Bande”.
Aber die U.N.O.-Scharfmacher können sich inzwischen nicht einmal mehr der einhelligen Unterstützung ihrer jeweiligen Parteien sicher sein. In der Sozialdemokratischen Partei (PSD) sind viele unzufrieden. Nur mit knapper Not konnte PSD-Generalsekretär Alfredo César Anfang Januar eine erneute Abstimmung im Parteivorstand verhindern, bei der sich neun der 16 Vorständler gegen eine Verfassungsgebende Versammlung und für die Rückkehr zur Parlamentsarbeit entschieden hätten. Zu ihnen gehört der PSD-Vizevorsitzende Adolfo Jarquín. PSD-Vorsitzender Guillermo Potoy beschuldigte Jarquín, ebenso wie andere abtrünnige U.N.O.-Abgeordnete “mit ausgestreckter Hand auf die Knie gesunken” zu sein.
Die Frauen-Arbeitsgemeinschaft in der PSD kritisierte in einem Kommuniqué die Linie Césars und Potoys: “Es ist unglaublich, daß ein Neuling wie Alfredo César, der in seiner dreijährigen Parteikarriere eine Reihe von Intrigen zu verzeichnen hat, die PSD auf extremistische, antipatriotische Positionen bringt. Noch unglaublicher ist, daß sich andere Führungsmitglieder mit längerer Laufbahn für dieses Spiel hergeben, das nur diesem Herrn alleine nutzt.”

Rest-U.N.O. spielt mit dem Feuer

Die Verfechter einer Verfassungsgebenden Versammlung scheinen tatsächlich auf verlorenem Posten zu stehen. Das legen Meinungsumfragen nahe, und selbst der erzkonservative Kardinal Miguel Obando y Bravo ist nicht mehr bereit, den Minderheitenflügel der U.N.O. in dieser Frage zu stützen. Auch der reaktionäre Unternehmerverband COSEP forderte die Rest-U.N.O. auf, sich wieder an der Parlamentsarbeit zu beteiligen. “Verfassungs-änderungen können nicht das einzige Ziel ihres Kampfes sein. Sie (die U.N.O.) sollte sich an den Reformen beteiligen, um zu zeigen, daß sie nicht ausreichen”, empfahl der COSEP-Vorsitzende Ramiro Gurdián.
Eine “patriotische Haltung” zeigte nach Meinung der Tageszeitung “Barricada” auch der bisherige Parlamentspräsident Gustavo Tablada (Sozialistische Partei). Anfang 1993 für zwei Jahre gewählt, trat er jetzt zur “Halbzeit” von seinem Amt zurück, um die Neuwahl des Parlamentspräsidiums zu ermöglichen. “In einer Zeit, in der sich führende Politiker an ihr Amt klammern, ist es ungewöhnlich, wenn jemand politischen Verpflichtungen nachkommt”, schrieb die Barricada. Ein einigermaßen normal funktionierendes Parlament nach 16 Monaten Notstand wäre zweifellos ein guter Einstieg ins neue Jahr: Aber die Rest-U.N.O.-Parteien, die über wenig politische Kapazität, aber ein beträchtliches Talent als politische Brandstifter verfügen, setzen weiter auf Krisengewinn. “Die U.N.O. hält sich an die Erfahrungen des politischen Kampfes im letzten Jahrzehnt. Durch Druck und eine Verschärfung der Krise werden wir die erwarteten Ergebnisse erreichen”, erklärte das Führungsmitglied Jaime Bonilla von der Liberalen Partei (PLC).

Newsletter abonnieren