“Homo Elendsviertel” in Peru

“Der dritte Sendero: Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen” hat der Züricher Rotpunktverlag die deutsche Übersetzung betitelt. Ein vielversprechen­der Auftakt für alle, die weder im Terror Sendero Luminosos noch im hemmungs­losen Kapitalismus Fujimoris eine demo­kratische Perspektive entdecken können. Nur hält das Buch nicht, was der Titel verspricht. Zunächst einmal schreibt Jean-Michel Rodrigo nur über Lima, die Pro­vinz ist kein Thema. Sendero Luminoso wird ebenso in einem Unterabschnitt ab­gehandelt wie die Regierungszeit von Fu­jimori. Letzteres kann nicht überraschen, baut Rodrigo doch den größten Teil des Buches auf einem längeren Peru-Aufent­halt Ende der 80er Jahre auf, noch vor dem Regierungsantritt Fujimoris. Daraus resultiert auch die große Schwäche seiner Beschreibungen Limas. Der Reportagestil suggeriert Aktualität, aber wenn Rodrigo von Hyperinflation und von Spekulation mit Lebensmitteln berichtet, ist das längst Geschichte und hat mit den Problemen des täglichen Lebens im heutigen Lima nicht mehr viel zu tun.
Jean-Michel Rodrigo geht es in bester lin­ker Tradition um “das Volk”. Die vier Ka­pitel beschäftigen sich mit den Landbeset­zungen in Lima und mit der Organisation des Überlebens. Kapitel 3 trägt die schwülstige Überschrift “Die wiederge­fundene Ehre der Frauen”, und im letzten Kapitel “Die Wegkreuzungen” erscheinen schließlich auch die Akteure, die Peru in den letzten Jahren geprägt haben: die Neoliberalen und Sendero Luminoso.
Susan George, Leiterin des “Transnational Institute Amsterdam”, schreibt in ihrem Vorwort: “Sie werden in diesem Buch …[keine] kindliche Linksromantik fin­den…”. Sie muß ein anderes Buch gelesen haben, denn sobald es um “das Volk” geht, romantisiert es heftig auf fast jeder Seite. Da beschwört Rodrigo mit Ausru­fungszeichen “die Solidarität des bäuerli­chen Kollektivs”, die auch in der Stadt funktioniere, und das für seine Selbstver­waltung berühmte limenische Stadtviertel Villa El Salvador wird “von 300.000 un­beugsamen Menschen bewohnt”. Asterix läßt grüßen. “Sieben Jahre lang bin ich durch die Elendsviertel von Lima gezo­gen”, so Rodrigo, “In diesem Buch lasse ich die Menschen so oft wie möglich zu Wort kommen. Ich habe mich bemüht, die Spontaneität ihrer Berichte zu respektie­ren… .” Lange Originalzitate hat Rodrigo zwar in seinen Text eingebaut, aber er re­duziert die existierenden Menschen zur Schablone, eben zur Gattung “Homo Elendsviertel”: eine Schablone für die Träume eines linken Intellektuellen vom “guten und solidarischen Volk”. Eine Schablone, die nichts über Peru, aber viel über einen Jean-Michel Rodrigo aussagt, der in sieben Jahren offenbar nur gesehen hat, was er sehen wollte.
Gerade einmal in Randbemerkungen er­scheinen zum Beispiel die heftigen Kon­flikte zwischen StraßenhändlerInnen um die guten Standplätze, wie sie in Lima an der Tagesordnung sind. Mit keinem Wort erwähnt Rodrigo, wie viele Bewoh­nerInnen der pueblos jóvenes die linken politischen Sprüche nicht mehr hören können, wie tief ihr Mißtrauen gegen alle “Politik” ist, weil sie gerade von denen, die ständig von Solidarität und Kampf re­deten, so oft enttäuscht worden sind. Ver­geblich warten die LeserInnen auf Erhel­lendes, wie angesichts der Krise der “Volksbewegungen” die von ihnen ausge­hende Alternative aussehen könnte. Eine Krise im übrigen, die nicht erst mit Fuji­mori begann, sondern 1989 längst schon offensichtlich war. Jean-Michel Rodrigo stört es nicht. Er konstruiert Heldinnen und Helden, solidarisch und kämpferisch: Sozialkitsch pur.
Der Anspruch, die BewohnerInnen der Vorstädte Limas als Menschen ernst zu nehmen, bleibt dabei auf der Strecke. Ge­meinsamen Kampf um Land und Wasser, um das Recht, auf der Straße zu verkaufen und um Bildung gibt es immer noch, trotz aller Krise der “Volksorganisationen”. Aber Rodrigo stellt sich gar nicht erst die Frage, unter welchen besonderen Bedin­gungen, aus welchen individuellen Strate­gien heraus solches kollektives Handeln entsteht. Oder eben auch oft nicht entsteht. Was im “Dritten Sendero” übrigbleibt, ist nur noch schwärmerische Verklärung, ein Mythos, aber kein Bild von Realität.

Jean Michel Rodrigo: “Der Dritte Sendero. Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen”. Rotpunkt­verlag, Zürich 1993

Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit

“Modernisierungserfolge”

Die Diktatur leitete einen Prozeß der Mo­dernisierung der Außenwirtschaft und Di­versifizierung der Abnehmermärkte ein, der von der demokratisch legitimierten Regierung Aylwin fortgesetzt wurde. Die Inflationsrate konnte seit 1990 kontinuier­lich gesenkt werden. Wer an andere la­teinamerikanische Staaten denkt, die nach wie vor mit extremem Geldwertverfall zu kämpfen haben, wird diesen Erfolg und seine sozialen Konsequenzen nicht unter­schätzen dürfen. Als eine der bedeutenden Früchte der Anpassungspolitik wird zu­dem das Schrumpfen des aufgeblähten Staatsapparates angesehen.
Römpczyk weist jedoch darauf hin, daß trotz der Diversifizierung etwa bei agrari­schen Exportprodukten nach wie vor etwa 50Prozent der Deviseneinnahmen des Landes aus der Kupferproduktion kom­men. Da­gegen stellt Chile nur 9Prozent seiner Investiti­onsgüter selbst her. Neben Kupfer stützen sich die Exporterlöse vor allem auf Obst, Holz und Fischmehl. Ge­rade in diesen dy­namischen und einträgli­chen Sektoren entstehen jedoch auch die höchsten öko­logischen Kosten. Zudem wird hier die allgemein wachsende Kapitalkonzentra­tion am deutlichsten sichtbar. Die Schrumpfung des Staatsap­parates hat zur Erhöhung der Erwerbslo­sigkeit auf 15 Prozent beigetragen. Und die lange er­sehnten und inzwischen stei­genden Aus­landsinvestitionen beruhen bisher zu ei­nem Großteil auf Unterneh­menskäufen.

Akzeptanz auch in der Linken

Was viele ChilebesucherInnen und insbe­sondere aus dem Exil heimkehrende Chi­lenInnen überrascht, ist die weitgehende Akzeptanz, auf die das Wirtschaftsmodell im Land selbst stößt. Bis weit hinein in die Linke sieht man keine Alternative zum herrschenden Entwicklungsmodell. Die “Modernisierungserfolge”, wie sie der Autor selbst nennt, scheinen zu blenden. Oder sind nach langen Jahren der politi­schen Verfolgung, Korruption und Infla­tion nun Zeiten gekommen, in denen man froh sein muß über Wachstumsraten und die Tatsache, zumindest einige öko­nomische Früchte ernten zu können? Muß man sich nicht gar über die innenpoliti­sche Stabilität und angesichts der immer noch starken gesellschaftlichen Stellung der Streitkräfte über das Gelingen des de­mokratischen Übergangs freuen? Die Mehrheit der chilenischen Linken defi­niert die aktuelle Situation als eine des Übergangs (“transición”). Von manchen wird das momentane Fehlen eines alter­nativen Politikmodells zumindest offen zugegeben. Mit Eintritt in die Regierungs­verantwortung haben, so stellt Römpczyk kritisch fest, Politiker der sozialistischen Partei zunehmend den Kontakt zu Nicht-Regierungs-Organisationen verloren, aus denen sie selbst einmal hervorgegangen sind.

Hohe Umwelt- und Sozialkosten

Im Zentrum der Veröffentlichung steht die Untersuchung zweier Politikfelder: der Umwelt- und Sozialpolitik. Bedeutender Indikator für die sozialen Verhältnisse ist zunächst die Einkommensverteilung. Im heutigen Chile verfügen 25Prozent der Bevöl­kerung über 75Prozent der Ein­kommen, wäh­rend umgekehrt weitere 25Prozent der Bevölke­rung über nur 5Prozent der Einkommen verfü­gen. Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Die Verantwor­tung für die öffentlichen Schulen ist den Kommu­nen zugewiesen worden, gleich­zeitig ste­hen diesen jedoch nicht die nöti­gen Mittel zur Verfügung. Mehr denn je schickt, wer es sich leisten kann, seine Kinder auf Pri­vatschulen. Außer für die Zöglinge des gutverdienenden Bevölke­rungsviertels muß von einem Bildungs­notstand gespro­chen werden. Zudem stellt Römpczyk fest, daß die berufliche Bil­dung nicht auf die Modernisierungserfor­dernisse abge­stimmt sei.
Besonderer Sprengstoff liegt in der Neu­regelung des Gesundheitssektors. Auch hier wurde die Verantwortung auf die Kommunen abgewälzt. Sie sollen für die medizinische Grundversorgung der Be­völkerung aufkommen, dabei reichen die Mittel vorne und hinten nicht. Die staatli­che Sozialversicherung wurde privatisiert. Die eingezahlten Beiträge werden von wenigen großen Versicherungsgesell­schaften kontrolliert, die wie Banken da­mit wirtschaften und spekulieren. Die spätere Rente eines Versicherungsneh­mers ist damit von den wirtschaftlichen Entscheidungen weniger privater Versi­cherungsunternehmen abhängig gewor­den. Für die Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei allerdings blieb das öf­fentliche Versicherungssystem bestehen. Insgesamt ist heute der reale Anteil der Arbeitnehmer mit Versorgungsansprüchen an die privaten Rentenversicherungsträger niedriger als 1980 der bei den staatlichen Pensionskassen.
Im umweltpolitischen Bereich wird zwar inzwischen eine umfangreichere Gesetz­gebung entwickelt, einleitend stellt Römpczyk jedoch fest, daß über so zen­trale Bereiche wie die wachsenden Um­weltkosten in Chile keine öffentliche Dis­kussion stattfindet. Zwar wurde die Insti­tutionalisierung der Umweltpolitik mit der Gründung der Nationalen Umweltkom­mission CONAMA 1990 eingeleitet, die entscheidenden Kompetenzen blieben je­doch sehr zersplittert auf verschiedene Ministerien verteilt. Von der neugewähl­ten Regierung Frei ist nicht zu erwarten, daß ein Umweltministerium eingerichtet wird. Ein Umweltrahmengesetz wird seit Anfang 1993 im Kongreß beraten. Zwar wird damit der Versuch gemacht, die um­weltrechtlichen Bestimmungen zu bün­deln und die Umweltpolitik konsistenter zu gestalten. Römpczyk kritisiert jedoch die Konzentration auf den nachsorgenden Umweltschutz und das Fehlen politischer Steuerungsinstrumente. Eine Analyse der größten Herausforderungen für die chile­nische Umweltpolitik läßt dagegen die gewaltigen Probleme erkennen, denen sich die chilenische Politik gegenüber­sieht: Überfischung, Überforstung, indu­strielle Verschmutzung, Umweltzerstö­rung durch die modernen Agroindustrien, eine “verkrüppelte” Energiepolitik, Um­weltschäden durch die Kupferproduktion, Fehlnutzung von Wasser sowie die Zer­störung kultureller Lebensräume und der Indianerkulturen – die hier aufgelisteten Problembereiche sind hinreichend Beleg für die geringe Dauerhaftigkeit und feh­lende Nachhaltigkeit des chilenischen Wirtschaftsmodells.

“Chance als Modelland besteht”

So Römpczyks These schon zu Beginn des Buches. Dazu müsse der Staat aller­dings in Zukunft eine aktivere Rolle ein­nehmen. Ihm müsse die Außensteuerung der nationalen Wirtschaft zugestanden werden. Eine zweite Exportphase müsse eingeleitet werden, die auf den Export weiterverarbeiteter Produkte setze. Die natürlichen und menschlichen Ressourcen müßten dazu in Zukunft anders genutzt werden.
Bezugnehmend auf die neue Linie der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) steht für Römpczyk die “wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit” auf der Tagesordnung. Zum Leitbild wird ein “Kapitalismus des XXI. Jahrhunderts” jenseits eines rein neoliberalen Konzepts bedingungsloser Öffnung zum Weltmarkt, wie es die Dik­tatur lange betrieben hatte. Die Freie Marktwirtschaft dürfe nicht Ziel, sondern solle zum gestaltenden Instrument wer­den, mahnt der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung die politische Klasse Chi­les.
Ansätze zum Erreichen eines “sozial und ökologisch balancierten Kapitalismus” sieht Römpczyk in der wachsenden politi­schen Autonomie der Gemeinden und dem Aufbau eines nationalen Kommunal­verbandes, der zunehmenden Politisierung und Modernisierung der Gewerkschafts­politik, der Modernisierung der Berufsbil­dung, einer an Nachhaltigkeit orientierten Entwicklungspolitik sowie ei­ner gestärk­ten Zivil­gesellschaft und pro­fes­sio­nalisierten NGO-Arbeit. Als ein gutes Zei­chen für das politische Klima sei die Tat­sache zu werten, daß der Christde­mokrat Frei einen entideologisierten Wahlkampf ge­führt habe und zu erwarten sei, daß die Linke das Regierungsbündnis mittelfristig mit­tragen werde. Offensicht­lich erwartet sich Römpczyk von der Re­gierung Frei einen pragmatischen Kurs und die Fähigkeit zur sozialen Reformpo­litik.
Trotz der zuvor konstatierten konservati­ven Grundströmung in der chilenischen Politik, des nach wie vor konfliktiven Verhältnisses zwischen Streitkräften und Zivilgesellschaft, der bisherigen Alterna­tivlosigkeit der Linken und der Demobili­sierung der sozialen Bewegungen setzt Römpczyk auf die Reformfähigkeit des chilenischen Modells. Überraschend er­scheint daher im nachhinein, daß der Titel des Buches nicht mit einem Fragezeichen beendet wurde. Zu optimistisch erscheint die abschließende Bewertung, daß die tö­nernen Füße des “Modells Chile” gegen einen “soliden Unterbau aus Sozialver­träglichkeit und Umweltverträglichkeit” eingetauscht werden könnten. Zweifel an der Umsetzung einer ökologischen und sozialen Reformpolitik und ihrer Durch­setzungsfähigkeit gegen bestehende Inter­essen scheinen dagegen allzu berechtigt. Und: Wie lange würde ein sozial und ökologisch reformiertes Exportmodell bei den bestehenden Weltmarktstrukturen wohl konkurrenzfähig sein?

Elmar Römpczyk: Chile – Modell auf Ton, Horle­mann Verlag, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1994, ISBN 3-927905-88-7.

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Eine Antwort, kein Friedensver­trag

Manuel Camacho Solis:
1. und 2. Von den 34 Punkten des Forderungskata­loges sind die beiden, die sich auf die Demokratie auf nationaler Ebene bezie­hen, nicht Teil der Verhand­lungen, sind aber klar beantwortet wor­den. Statt die Konfrontation an einen Punkt voranzu­treiben, von wo aus es kei­nen Ausweg mehr gibt, sollten wir alle Teil eines Pro­zesses der institutionellen politischen Ver­änderungen sein, die in­nerhalb der Instan­zen der zivilen Gesell­schaft ausgehandelt werden müssen: in den politischen Par­teien, in den Organen des Zentralstaates und in der öf­fentlichen Meinung. Die Ankündigung, daß es mit Zustim­mung aller Parteien eine außeror­dentliche Kongreßperiode geben soll, um Reformen zu entwickeln, die die Unpar­teilichkeit der Wahlbehörden ga­rantieren und die Betei­ligung der Bürger, ist ein wichtiger Schritt auf einen demo­kratischen Wandel hin, der zum Frieden in Chiapas beiträgt.
3. Der Geist der politischen Verpflichtung für einen würdigen Frieden und die kon­krete Friedensübereinkunft in Chiapas ge­ben der EZLN volle Garantien und ge­währleisten denjenigen eine würdige und respektvolle Behandlung, die sich in die­sen Prozeß integrieren. Es wird bei der EZLN liegen, über die Art und Weise ih­rer zukünftigen sozialen und politischen Beteiligung zu entscheiden. Wenn man davon ausgeht, daß diese im Respekt ge­genüber der Verfassung der Republik er­folgt, wird die Regierung jede Form der legalen Registrierung erleichtern, die von der EZLN oder ihren Mitgliedern bean­tragt wird.
4. Den Forderungen der Gemeinden, die die politisch, wirtschaftlich und kulturell au­tonomen indianischen Kommunen bil­den werden, soll mit der Einsetzung eines “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinden” entsprochen werden. Die Gesetzesinitiative wird die traditionellen Institutionen, Autoritäten und Organisationen der indianischen Ge­meinden und ihre Kontrollfunktion als gültig im Sinne der Rechtssprechung an­erkennen. Das gleiche gilt für die Schritte auf dem Weg zur Annahme dieses Geset­zes, wenn es um indigene Gewohnheits­rechte, Bräuche und Traditionen, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen, den inneren Handel, die Sanktion von Fehl­verhalten, Fragen des Grundbesitzes und der landwirtschaftlichen Nutzung ihrer Güter geht. Dies gilt auch für die Gestal­tung der traditionellen Organe selbst, so­fern sie nicht gegen die fundamentalen Rechte ihrer Mitglieder oder die öffentli­che Ordnung verstoßen. Auch müssen sie mit den Festlegungen der Verfassung, der Erklärung der Universellen Menschen­rechte und der Internationalen Konvention über indigene Völker und Stämme über­einstimmen. Letzere wurde in Genf be­schlossen und von Mexiko im August 1990 unterzeichnet.
Das neue Gesetz wird das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache anerken­nen, sowohl im Bereich von Amtshandlun­gen, in Bildung, Kommuni­kation und in den Beziehungen zu Dritten. Beim Kon­takt mit kommunalen bundes­staatlichen oder regionalen Autoritäten muß Indí­genas ein Übersetzer zur Verfü­gung ge­stellt werden.
5. Im Bundesstaat Chiapas werden allge­meine Wahlen abgehalten, an denen alle politischen Kräfte der Region legal teil­nehmen können. Um die Transparenz die­ses Prozesses zu gewährleisten, wird ein neues Wahlgesetz geschaffen, das die er­forderlichen Maßnahmen enthält, um die Unparteilichkeit des Wahlprozesses zu ga­rantieren. Um die gleichmäßige Reprä­sentanz der Ethnien im Kongreß von Chiapas zu gewährleisten, werden die Wahlbezirke neu eingeteilt.
Sowohl die Verfassung des Bundesstaates Chiapas als auch das Gesetz über die kommunalen Organe werden reformiert, um auf dem gegenwärtigen Territorium von Ocosingo und Las Margaritas neue Kommunen zu bilden. Hiermit soll eine bessere Vertretung der Bevölkerung und eine größere Nähe zwischen den Autori­täten und dem Volk ermöglicht werden.
6. Die Programme zur Elektrifizierung der ländlichen Gemeinden sollen dop­pelt so schnell vorangehen wie bisher.
7. Binnen 90 Tagen wird eine sorgfältige Erhebung über die verschie­denen produk­tiven Aktivitäten in Chiapas vorliegen, insbesondere in Bezug auf die indiani­schen Kommunen. Von dieser Un­tersuchung ausgehend, werden unter Mit­wirkung der Kommunen Konzepte zur be­ruflichen Weiterbildung entwickelt, die produktive Aktivitäten und Beschäftigun­gen, Anpassungsprozesse und neue For­men der Vermarktung betreffen.
8. In Chiapas wurde der Prozeß der Agrarre­form der Mexikanischen Revolu­tion nicht voll realisiert. Es ist notwendig, eine Lö­sung für die zahlreichen Agrarkon­flikte zu finden, indem den Kleineigentü­mern Ga­rantien gegeben werden. Der Pro­zeß, um dies zu erreichen, ist mit der Dis­kussion, Verabschiedung und Bekannt­gabe des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinschaften” ver­bunden – einem Gesetz, das ausgehend von den Forderungen, Meinungen, Sorgen und der Zustimmung der indianischen Kommunen in Chiapas und anderen Tei­len des Landes, vorbereitet wird.
Dieses Gesetz wird beinhalten:
– Die Etablierung geeigneter Maßnah­men, Bräuche, Bestände und Bestim­mungen in Bezug auf Ländereien, Was­ser und Wälder.
– Die notwendigen Vorgänge für eine Aufteilung der Latifundien.
– Die Festlegung von Fällen, in denen die Enteignung und Besetzung von Privat­eigentum von öffentlichem Nutzen ist.
– Der Schutz des Eigentums und des Zu­sammenhaltes der gemeinschaftlichen Ländereien der indigenen Kommunen.
– Die Rückerstattung von Land mit Hilfe einer objektiven Schätzung, die sich der Ausplünderung von Ländereien und Gewässern entgegensetzt, welche den indianischen Völkern oder Kommunen zugesprochen werden sollen.
Dieser Prozeß soll in einem ständigen und direkten Dialog mit der EZLN und ande­ren sozialen Organisationen in Chiapas er­folgen.
Es wird eine Initiative für ein “Landwirtschaftliches Gesetz im Staat Chiapas” vorbereitet, das drei Haupt­aspekte enthalten soll:
Bei den Anstrengungen für eine Diversifi­zierung der Produktion werden die Maß­nahmen im Bereich der Infrastruktur und die langfristigen Finanzplanungen von be­sonderer Wichtigkeit sein, um die Kapita­lisierung der Kommunen und ejidos zu fördern.
9. Um die Probleme im Gesundheitsbe­reich zu bekämpfen, sollen da, wo Krankenhäu­ser vorhanden sind, diese so schnell wie möglich instandgesetzt und mit komplet­ten chirurgischen Abteilungen ausgestattet werden. In den Orten, wo keine Hospitäler oder Kliniken existieren, sollen Investitio­nen getätigt werden, die das Basisversor­gungsnetz stärken.
Im Zuge einer vollständigen Reorganisa­tion des Gesundheitssystems in Chiapas soll ein Notprogramm vorangetrieben werden. Die Gesundheitskampagnen sol­len neu organisiert werden, um die Be­treuung aller Kinder zu gewährleisten, in­klusive derjenigen, die in den entlegensten Teilen des Landes leben. Im März werden Kampagnen zur Bekämpfung von Mala­ria, Cholera und Infektionskrankheiten ge­startet.
10. Es wird die Erlaubnis erteilt, einen von der Regierung unabhängigen indigenen Sender einzurichten.
11. Es wird ein Spezial­programm gestar­tet, um den Bau und die Verbesserung von Wohnungen in den in­digenen Kommunen zu fördern, ebenso wie die Einrichtung ei­ner Basis­versorgung mit Elektrizität, Trinkwasser, Straßen und Kontrollstatio­nen im Umwelt­bereich. In diesem Pro­gramm werden ebenfalls Un­terstützungsmaßnahmen für Sport und Kultur enthalten sein.
12. Es soll eine unmittelbare Übereinkunft zwischen den Lehrern der verschiedenen öffentlichen Einrichtungen und ihren ge­werkschaftlichen Sektionen erreicht wer­den, um ein Programm zur Verbesserung der Qualität der öffentlichen Bildung in der Region zu schaffen. Die Entwicklung zweispra­chiger Bildungsmöglichkeiten im mittle­ren und höheren Bereich soll unter­stützt werden. Das gleiche gilt für den Bau von Grundschulen, Mittelschulen und techni­schen Schulen oder Vorbereitungs­kursen in den indigenen Kommunen.
Um den Zugang der Indí­genas zur mittle­ren und höheren Bildung zu erleichtern, wird ein System staatlicher Stipendien ge­schaffen, die aus öffentlichen und privaten Quellen finan­ziert werden. Dies beinhaltet auch die Unterstützung künstlerischen Schaffens und der wissenschaftlichen Entwicklung junger Talente in den indige­nen Kommunen.
13. Die zweisprachige Erziehung in den indi­genen Gemeinschaften wird in dem “Allgemeinen Gesetz über die Rechte der indigenen Gemeinschaften” verankert, in den staatlichen Gesetzen und im Erzie­hungs- und Bildungsprogramm des Bun­desstaates Chiapas.
14. Die Forderung nach einer Respektie­rung der Kultur und Tradition, der Rechte und der Würde der indigenen Völker ist das Rückgrat des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indigenen Gemeinschaf­ten”, und wird seinen kon­kreten Nieder­schlag in den verschiedenen Bereichen von Regierung, Verwaltung, Justiz und Kultur finden.
15. Um die Diskriminierung und Verach­tung der indigenen Völker zu vermeiden, ist der beste Weg eine Veränderung der Wertvorstellungen von Kindern und Ju­gendlichen. Daher mußder Erziehung in diesem Bereich eine besondere Aufmerk­samkeit geschenkt werden.
Es wird eine Gesetzesinitiative vorbe­reitet, um in unserem Rechtssystem erst­mals die Diskriminierung von Privatper­sonen gegenüber Indígenas unter Strafe zu stellen, und um die staatlichen Institutio­nen zu verpflichten, die gesetzliche Gleichheit effek­tiv umzusetzen. Dies be­inhaltet auch die Schaffung einer Staats­anwaltschaft zur Verteidigung der Rechte der Indígenas.
16. Dieser Punkt wird mit dem Allgemei­nen Gesetz über die Rechte der indiani­schen Kommunen, mit der Verfassungsre­form des Bundesstaates Chiapas, mit der neuen Wahlkreisaufteilung, mit den diver­sen Refor­men der Justizverwaltung, mit der Steuer­übereinkunft zwischen der Regie­rung und den Kommunen in Chiapas und mit der Schaffung neuer Gemeinden in­nerhalb der jetzigen Landkreise Oco­singo und Marga­ritas beantwortet.
17. Es werden Reformen der Verfassung von Chiapas vorangetrieben werden, Refor­men des Gesetzes, das die Organe der Rechtsprechung in Chiapas regelt, Refor­men der Landespolizei in Chiapas und an­dere Verordnungen mit dem Ziel:
– Gerichtsstandorte festzulegen, die mit der Gebietsaufteilung der indigenen Kommunen zusammenfallen. Ziel ist, daß die örtlichen Richter auf Vorschlag der Gemeinden selbst ausgewählt wer­den. Dadurch soll garantiert wer­den, daß die Richter Indígenas sein können, oder von ihnen respektierte Ju­risten, die die Gesetze und gleichzeitig die Ge­wohnheiten und Ge­bräuche kennen und diese bei ihrer Entscheidung mit einbe­ziehen.
– [Paralleles auch für öffentliche Dienste und Arbeitsgesetzebung]
– Es wird eine Verwaltung zur Verteidi­gung der Indígenas geben. [Indígena-Beauftragter] Deren Leitungsgremien müssen zweisprachig sein und die indi­genen Rechte genau kennen. Der Be­auftragte wird durch das Landesparla­ment von Chiapas auf Vorschlag der indigenen Kommunen gewählt.
– Es wird eine vollständige Überprü­fung der rechtlichen Situation jener Personen geben, die als Ergebnis sozi­aler Kon­flikte im Gefängnis einsitzen, ebenso in allen Fällen von Indígenas, deren rechtliche Situation eine baldige Frei­lassung ermöglicht.
18. Die Existenz würdiger Arbeitsplätze und gerechter Löhne hängt von der Verbesse­rung der Ausbildung ab, von den Investi­tionen zur Steigerung der Produkti­vität, der verbesserten Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer.
Ein ebenso wichtiger Faktor ist eine ver­besserte Organisation und Verteidigung der legitimen Rechte der Landarbeiter.
19. Es werden Entscheidungen getroffen, wie in den indigenen Kommunen teil­weise die Auswirkungen plötzlicher Ver­änderungen des Weltmarktpreises für landwirtschaftliche Produkte ausgeglichen werden können.
Dazu werden, ausgehend von den beste­henden Erfahrungen, Projekte nationaler und internationaler Vermarktung geför­dert, die den Zwischenhandel aus­schalten und in Form von Genossen­schaften die Vermarktung der chiapaneki­schen Agrar­produkte organisieren.
20. Für Chiapas, für Mexiko und für die inter­nationale Gemeinschaft ist die Verpflich­tung zum Schutz der natürlichen Ressour­cen der Region sehr bedeutsam.
Auf diese Pflicht werden die Bundesregie­rung und die internationalen Institutionen, Stiftungen und Ökologie-Gruppen mit ei­ner koordinierten Hilfsaktion zum Tech­nologie-Transfer, Projekten der nachhalti­gen Entwicklung und der Finanzierung des Umweltschutzes reagieren. Ausgangs­punkt ist die Pflege der Umwelt durch die indigenen Kommunen.
21. [Der Punkt ist nicht genau zu verstehen, ohne den Wortlaut der zapati­stischen For­derung Nr. 21 zu kennen. Es geht noch einmal um die Sicherung der Ar­beitsplätze, d.Ü.]
22. Zusammen mit den sozialen Organisatio­nen, den Gemeinden und der Regierung wird ein Programm durchge­führt werden, daß die Ernährungslage von Kindern bis sechs Jahren mit deutlichen Mangeler­scheinungen verbessert. Grund­lage ist die lokale Landwirtschaft. Mit der Verbesse­rung der Infrastruktur und des Transports von Waren durch die indige­nen Gemein­den selbst soll die Versorgung verbessert werden. Gemeinschaftliche Einkaufslä­den, die die Zwischenhan­delsmargen minimieren und daher ge­rechtere Preise anbieten können, werden gefördert.
23. Am Tage nach der Unterzeichnung ei­nes Friedensabkommens wird das Amnestie­gesetz in Kraft treten. Darunter fallen alle Personen, gegen die aufgrund des Kon­fliktes in Chiapas ein Strafverfah­ren er­öffnet wurde. Es werden alle not­wendigen Maßnahmen getroffen, um die betroffenen Personen innerhalb einer Wo­che nach In­krafttreten des Gesetzes auf freien Fuß zu setzen.
Des weiteren wird eine Kommission eine vollständige Überprüfung der Fälle aller Indígenas und Bauernführer vornehmen, die sich in Haft befinden und nicht unter das Amnestiegesetz fallen. Sie wird die rechtlichen Schritte empfehlen, um die Fälle zu lösen, deren rechtliche Situation eine baldige Freilassung erlaubt.
24. [Bezugnahme auf vorangegangene Punkte zur Durchsetzung allgemeiner Rechte der Indígenas]
25. Als Teil der Friedensvereinbarungen wer­den die Opfer, die Witwen und Wai­sen, die der Konflikt hinterlassen hat, finan­zielle Unterstützung erhalten.
26. [Hierzu sagt Camacho nur, die Forde­rung Nr. 26 sei durch alle anderen angespro­chenen Punkte erledigt, d.Ü.]
27. Der derzeitige Strafkatalog des Bundes­staates Chiapas wird aufgehoben. Es wird ein neuer ausgearbeitet, dessen Zielset­zung der Respekt vor den individu­ellen und politischen Rechten ist, und der zu ih­rer Ausübung volle Rechtssicherheit bie­tet.
28. In das neue Strafrecht wird die Vertrei­bung von Indígenas aus ihren Ge­meinden aufgenommen werden. Durch schnellen und effektiven Dialog oder durch die An­wendung des Rechtes werden neue Ver­treibungen verhindert werden.
29. Eine der wichtigsten Impulse, die heute aus Chiapas kommen, ist, die Situa­tion der Bäuerinnen und Indígena-Frauen zu verbessern. Von der Situation in der Familie und bei der Arbeit bis zur Be­teiligung an der Gemeinschaft und der kulturellen Entwicklung.
A Kliniken im Rahmen des schon vorge­stellten Gesundheitsprogrammes
B Mit den Kommunen zusammen werden Kindergrippen aufgebaut werden.
C [Lebensmittelprogramm]
D [Einrichtung von Volksküchen]
E [Aufbau von Mühlen und Backöfen]
F [Förderung der Kleintierzucht]
G [Kleine Bäckereien]
H [Förderung des Kunsthandwerks]
I [Technische Ausbildung der Indígena-Frauen]
J [Bau von Vorschulen]
K [Förderung des Transportwesens und damit der Selbstorganisation der Frauen]
30. Mit diesen Übereinkünften sollen die ent­standenen Spannungen überwunden wer­den. Der Geist des Friedens und der Ver­ständigung soll alle Chiapaneken bei der Lösung politischer Fragen einbezie­hen.
31. Mit dem Friedensabkommen, den in die­sem Angebot enthaltenen Entscheidun­gen und dem Amnestiegesetz wird nicht nur das Leben der Mitglieder der EZLN re­spektiert, sondern es wird auch garan­tiert, daß es keine Strafprozesse oder repressi­ven Aktionen gegen EZLN-Mit­glieder, Kämpfer, Sympathisanten oder Kollabo­rateure geben wird.
32. [Betrifft die Menschenrechte:] Es ist meine Meinung, daß die Bildung der Na­tionalen Menschenrechtskommission (CNDH) in der Art, wie die Verfassung und die Gesetze sie vorsehen, ein wichti­ges Instrument für die Verteidigung der Rechte gewesen ist.
Weitergehende Fortschritte bei der Einbe­ziehung der Zivilgesellschaft in der CNDH oder in anderen Modalitäten zum Schutz der Menschenrechte werden Teil eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses ab Dezember 1994 sein.
33. Unter noch festzulegenden Bedingun­gen wird die Regierung die Bildung einer “Nationalen Kommission für einen ge­rechten und würdigen Frieden” unterstüt­zen. Diese Kommission wird eine Schlüs­selrolle spielen und die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachen.
34. Humanitäre Hilfe für die Opfer des Kon­fliktes wird über die Vertreter der indige­nen Kommunen verteilt werden.

Nachtrag:
A: Zur Bearbeitung ähnlicher Forderun­gen aus anderen indigenen Regionen des Landes wird die “Nationale Kommission für die integrale Entwicklung und die so­ziale Gerechtigkeit der Indigenen Völker” in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Bundesstaaten und den betroffenen Kommunen ähnliche Programme ausar­beiten.
B: Die bundesstaatlichen und kommuna­len Regierungen werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit die indige­nen Kommunen in grundlegender Weise an der Definition der sie betreffenden Entwicklungsprogramme teilnehmen kön­nen. Bei der Überwachung der ihnen zu­gedachten Ressourcen sollen soziale Kontrollorgane geschaffen werden, die von den Betroffenen kontrolliert werden.
C: Für die Erfüllung der Übereinkünfte, die sich auf die regionalen Entwicklungs­projekte beziehen, wird durch eine Verfü­gung des Prä­sidenten eine dezentrale und autonome öf­fentliche Institution geschaf­fen.
Diese Institution wird über ein Regie­rungsorgan verfügen, das sich aus den Vertretern der indianischen Kommunen zusammensetzt, Vertretern der Bundesre­gierung und aus Bürgern von anerkanntem moralischem Prestige und erwiesenem Engagement in der Arbeit mit indiani­schen und ländlichen Kommunen.

Bauern machen mobil

Von einem “vollen Erfolg” der Demon­stration sprechen die Bauernorganisatio­nen. An diesem Tag haben sich rund 25.000 Menschen in der Hauptstadt Asun­ción versammelt. Fünf Stunden dauerte die Kundgebung vor dem Parlamentsge­bäude, auf der die Bauern eine Agrarre­form, bessere soziale Versorgung und vor allem höhere Baumwollpreise forderten. Baumwolle ist, neben Soja, das Hauptex­portprodukt des Landes. Ein direkter Ver­kauf ihrer Ernte, etwa an brasilianische Zwischenhändler, ist den Kleinbauern und -bäuerinnen nicht erlaubt, die Preise wer­den von nationalen ExporteurInnen und der Regierung diktiert. Derzeit erhalten sie etwa 67 Pfennige (700 Guarani) pro Kilo. Um ihre Existenz zu sichern, verlangen die Bauern jedoch mindestens 95 Pfennige (1000 Guarani) für ein Kilo. Weiterhin setzen sie sich für die Freilassung jener Gefangenen ein, die bei Protesten gegen die Agrarpolitik festgenommen wurden.
Begonnen hatten die Aktionen der Bauern am 11. und 12. Februar, als sie den Groß­grundbesitz des früheren Vorsitzenden der Colorado-Partei, Blas Riquelme, im De­partment San Pedro besetzt hatten. Nach­dem die Polizei mit Tränengas und Schrotflinten gegen die Campesinos vor­gegangen war und etwa hundert Besetzer festgenommen hatte, begann eine Reihe von Demonstrationen und Straßenblocka­den. Bei blutigen Auseinandersetzungen wurde ein Mensch getötet und 200 weitere wurden verletzt. “Unsere Geduld ist er­schöpft”, sagt Bauernführer Rafael Ruiz Diaz. Diese Geduld hat lange gewährt. Seit 1958, als die Diktatur mit Militär ge­gen Demonstranten vorgegangen war, hat es keinen Protestmarsch gegeben, der mit der Demonstration im März vergleichbar wäre. StudentInnen- und SchülerInnenver­tretungen, die drei Gewerkschaftszentra­len und auch die katholische Kirche schlossen sich den Bauern und Bäuerin­nen in der Hauptstadt an.
Noch im Februar hatte der Bischof von Coronel Oviedo, Claudio Silvero, die fehlende Selbstorganisation der Bauern beklagt – heute warnen die Medien vor “Unruhen” wie in Chiapas. Sollte der Funken übergesprungen sein?

Regierung in Zugzwang

Die Regierung signalisiert Gesprächsbe­reitschaft. Schon mußte der Chef des Landreforminstituts, Cancio Urbieta sei­nen Hut nehmen. Präsident Juan Carlos Wasmosy hat angekündigt, eine Agrarre­form durchführen und die landwirtschaft­liche Produktion wieder ankurbeln zu wollen. Auf einem Treffen mit Bauern­vertreterInnen im Department Caaguazu jedoch versuchte er wieder einmal, sich mit fehlenden finanziellen Mitteln heraus­zureden. Mit seinem Kabinett wird Was­mosy, der, wie auch Ex-Diktator Stroess­ner, der Colorado-Partei angehört, die geforderte Landreform kaum durchführen können. Dort sind die Interessen der Mi­litärs und der GroßgrundbesitzerInnen, zu denen auch der Präsident selbst zählt, zu stark vertreten. Aus dem Abgeordneten­haus, in dem die Opposition die Mehrheit stellt, sind ganz andere Töne zu hören. Der Parlamentspräsident, Francisco de Vargas, versprach die Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen und ein neues Agrargesetz. Ebenso wolle er sich für Straffreiheit für die demonstrierenden Kleinbauern und -bäuerinnen einsetzen. Inwieweit er sich damit durchsetzen kann, ist jedoch fraglich. Die Regierung war je­denfalls bisher nicht zimperlich und tat alles, um ein Gelingen der Aktion vom 15. März zu verhindern: Das Verkehrsmi­nisterium, das “Institut zum Wohl des ländlichen Sektors” (Instituto de Bienestar Rural) und die “Paraguayische Baumwoll­kammer” (Cámara Algodonera del Para­guay) drohten mit Sanktionen, falls die Bauern und Bäuerinnen an den Protesten teilnähmen. Mit einer Planierraupe, einem Lastwagen, Eisenstangen und “mi­gue­li­tos” (“Krähenfüßen”, die Autorei­fen durchlöchern) versuchte das Ver­kehrs­mi­nisterium außerdem, die Zufahrts­straßen zur Hauptstadt zu blockieren. Un­ter dem anhaltenden Druck der Bauern und Bäu­e­rinnen erbat sich Wasmosy 90 Tage Zeit, um die Probleme zu lösen. Wenn er es wirklich ernst meint, wird er viel zu tun haben: 76 Prozent der para­guayischen Fa­milien mit Agrarbesitz leben in Armut, während nur ein Prozent der Bevölkerung mehr als 70 Prozent des Bo­dens besitzt. Die Zahl der Landlosen wird von Bauern­organisationen gar auf 200.000 geschätzt. Dem Präsidenten bleibt nicht viel Zeit, die Bauern und Bäuerinnen je­denfalls schei­nen nicht bereit, so bald wieder in Pas­si­vi­tät zu verfallen.

Kasten:

Aufruf zur Unterstützung

In der deutschen Medienlandschaft taucht Paraguay praktisch nicht auf. Die Was­mosy-Regierung soll jedoch wissen, daß es auch hier Menschen gibt, die die Forde­rungen der Campesinos unterstützen und das repressive Vorgehen von Seiten des Staates verurteilen. Schreibt also massenhaft Protestbriefe und schickt sie an folgende Stellen:

                     Presidente de la República del Paraguay,
                         Ing. Juan Carlos Wasmosy, Fax: 00595-21-498809
                     Ministro de Agricultura y Ganadería,
                         Ing. Raúl Torres, Fax: 00595-21-419951
                     Ministro del Interior,
                         Carlos Podesta, Fax: 00595-21-44004
                     Presidente del Instituto de Bienestar Rural,
                         Ing. Hugo Halley Merin, Fax: 00595-21-44633
                     Cámara de Diputados,
                         Francisco de Vargas, Fax: 00595-21-49887
                     Cámara de Senadores,
                         Evelio Fernández Arevalo, Fax: 00595-21-448100

Anti – Lula verzweifelt gesucht

Die Nummer 1 der Bürgerlichen, Fer­nando Henrique Cardoso, allgemein als FHC ab­gekürzt, war bisher Wirt­schaftsminister und hat jetzt seine Kandi­datur offen ver­kündet. In einem anderen, längst vergan­genen Leben war FHC ein leibhaftiger Vordenker der Dependenz­theorie und scharfer Kriti­ker des brasilia­nischen Kapitalismus. Heute jedenfalls ist er die erste Wahl bei der Besetzung der Rolle des “Anti-Lulas”. Er kandidiert für die PSDB, die Partei in Brasilien, die sich am inten­sivsten um ein “modernes” und “sozialdemokratisches” Image bemüht und die für viele in der PT als der wichtigste potentielle Bündnispartner angesehen wird. Im Augenblick bahnt sich allerdings ein ganz anderes Bünd­nis an. Die PFL (“Partei der liberalen Front”) biedert sich recht unverblümt an. Ein problematischer Bündnispart­ner für das moderne Image der PSDB, denn das inhaltliche Profil der PFL ist schwer auszumachen. Als Ab­spaltung der Partei der Militärs wurde sie erst 1985 gegründet, so daß sie rechtzeitig den Absprung schaffte, um mit der dama­ligen Opposition 1985 die erste zivile Re­gierung zu übernehmen. Architekt des un­erwarteten Bündnisses ist der Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes, ein wahrer Überlebenskünstler der brasiliani­schen Politik. Noch 1992 ge­hörte er zu den letzten, die den korrupten Collor im Amt halten wollten.
Die Avancen der PFL werfen ein Schlag­licht auf die politische Situation Brasi­liens. Sie sind Ausdruck dafür, wie schwierig es für das rechte Lager ist, einen populären Kandidaten ins Rennen zu schicken. Alle Umfragen deuten darauf hin, daß kein Kandidat, der klar dem kon­servativen Lager zuzuordnen ist, in einem wahr­scheinlich notwendi­gen zweiten Wahl­gang eine Chance gegen Lula hätte. Die PFL will an­scheinend auch eine Lehre aus dem Desaster von 1989 ziehen. Da­mals hatte die Zer­strittenheit des bürgerli­chen Lagers dazu geführt, daß sich nur noch der linke Lula und der “newcomer” Collor als Alternative stellten. Lula ist also nur mit ei­nem Kandi­daten zu schla­gen, der in den zweifelhaf­ten politischen Zuord­nungen zumindest imagemäßig das Mitte-Links Spektrum repräsentiert.
Dafür ist FHC ideal. Ein jovialer Intel­lektueller mit linker Vergan­genheit, ein erfahrener Politiker und be­sonnener Ver­mittler, eben ein “concilador” (“Ver­söh­ner”); beliebt bei der Presse, den Unter­nehmerInnen und weiten Teilen der Mit­telschicht. Das große Pro­blem FHCs ist, daß sich mit diesem Image zwar Sympa­thie, aber kein Wahl­kampf gewinnen läßt. Das war die deutliche Lehre von 1989 für die PSDB. Über die Aussichten FHCs wird letzlich nur eins entscheiden: der Er­folg des Wirtschaftsplanes (vgl. LN 237), der seinen Namen trägt. Gelingt es dem Nachfolger FHCs im Amt des Wirt­schaftsministers, mit Hilfe des Plans die Inflation zu senken, ohne das Land in eine schwere Wirtschaftskrise zu stür­zen und ohne allzu drastische Einkommensver-luste, dann hat FHC sehr gute Chancen, Lula zu schlagen. Doch sollte der Plan ins Schlingern geraten, ist der hoffnungs-vollste “Anti-Lula” erledigt und damit wohl auch die Chancen des bürgerlichen Lagers, den Wahlsieg Lulas zu ver­hindern.
Die entscheidende Phase des Wirt­schaftsplans beginnt im Mai, wenn aus der an den Dollar gebundenen Rech­nungseinheit URV die neue Währung Brasiliens werden soll. Im Grunde läuft der Plan auf eine abgefederte Dollari­sierung hinaus. Er wird, und das unter­scheidet ihn von der Situation in Argenti­nien, von einer Regierung durchgeführt, die sich in den letzten Monaten ihrer Amtszeit befindet, der ein schwacher und unentschlossener Präsident vorsteht, und deren wichtigste personelle Stütze nun in den Wahl­kampf zieht. Die Gefahren für den Plan sind also insbesondere politi­scher Natur. Gegenwind im Parlament würde der Plan nicht überleben. Die of­fene Unterstützung von Präsident Itamar Franco für Cardoso macht die Sache nicht einfacher: Die Regierung steht im Wahl­kampf und braucht gleichzeitig politische Unterstützung. Nun wird auch klar, warum die PSDB das Angebot der PFL kaum ablehnen kann: Ohne schlag­kräftige Unter­stützung aus dem rechten Lager hat der Wirtschaftsplan (und damit die Kandi­datur von Fernando Henrique Cardoso) wenig Chancen. Problema­tisch ist aller­dings für die PSDB, daß damit ihr “mo­dernes” Image erheblich angekratzt wird und ein Teil der Partei wohl diese Kehrt­wende nicht mit­macht. Immerhin, alle an­deren Kandi­daten haben große Chancen, über­haupt kein Risiko für Lula zu werden.

Nr. 2 und 3: Die Problemkinder

Die PMDB, hervorgegangen aus der MDB, der legalen und offiziösen Opposi­tionspartei zu Zeiten der Mili­tärdiktatur, ist nach wie vor die größte politische Par­tei Brasiliens. Aber aus einer Bewegung, die einst auch große Teile der linken Op­position vereinte, ist inzwischen ein kon­turloser Wahl­verein geworden, der aber noch in vielen Teilen des Landes die lo­kalen Eliten organisiert. Es ist nur na­türlich, daß die größte Partei Brasiliens einen eigenen Kandidaten präsentiert. Und sie hat einen Politiker, der mit aller Macht Kandidat der Partei sein will: Orestes Quercia, Ex-Gouverneur von Sao Paulo. Und Quercia ist das große Problem der PMDB. Er ist vielleicht der geschickteste Politiker Brasiliens, sicherlich aber einer der skrupellose­sten und korruptesten. Galt er nach seiner recht populären Amtszeit in Sao Paulo als absolutes Schwergewicht in der brasilianischen Politik, so machen ihm seit zwei Jahren nachträgliche Enthüllun­gen der Presse das Leben schwer. Insbe­sondere hängt ihm ein Waffengeschäft mit Israel nach, bei dem für hunderte von Millionen US-Dollar überteuerte Waffen für die Polizei von Sao Paulo gekauft wurden.
Aber Quercia ist zäh und beherrscht große Teile des Apparates der PMDB. Nur ist seine Kandidatur in Zeiten, in denen nach den traumatischen Erfah­rungen mit Collor Politiker gefragt sind, die nicht korrupt sind, äußerst verwundbar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die PMDB sich wieder einmal selbst im Wege steht: Der Machiavellist Quercia hat große Chancen, sich in der Partei durchzusetzen, aber nicht beim Wahl­volk. Außer­dem ist klar, daß eine Kandidatur Quercias die Partei spalten würde, da der “progressive” Flügel wohl eher FHC als Quercia unterstützen würde.
Dabei könnte gerade dieser Flügel der Partei den idealen “Anti-Lula” auf­bieten: Antonio Britto, der als Arbeitsminister der jetzigen Regierung einen ausgezeichneten Eindruck machte, liegt bei den meisten Umfra­gen schon auf Platz zwei hinter Lula. Viele halten eine Liste FHC/Britto für unschlagbar. Und Britto hätte den Vorteil, ungefähr das gleiche Image zu verkörpern wie FHC, ohne aber so stark von dem Erfolg des Planes ab­hängig zu sein. Einziger Haken: Er ist nicht Kandi­dat und hätte es wohl auch schwer, sich in der PMDB gegen Quercia durchzusetzen. Der schießt auch schon mit hartem Kali­ber ge­gen Britto, bezeichnet ihn als Gau­ner und ließ ermitteln, Britto sei als fünfzehnjähri­ger(!) wegen eines angebli­chen Dieb­stahls von der Schule geflogen. Britto selbst will anscheinend lieber Gouver­neur in einem Bundesstaat werden, als sich auf das Abenteuer Präsident­schaftswahlkampf einzulassen. Geriete aber FHC frühzeitig ins Schlingern, könnte er doch noch als Joker des “Mitte-Links Lagers” ins Ren­nen ge­schickt wer­den.
Ein anderer hingegen zweifelt nicht und ist Kandidat. Paulo Maluf, Bür­germeister von Sao Paulo und starker Mann der PPR, die aus der Partei der Militärs hervorge­gangen ist. Er reprä­sentiert den rechten Flügel des bürger­lichen Lagers und profi­liert sich durch einen lautstarken “law and order”-Dis­kurs. Er ist sicherlich die unerfreulich­ste Erscheinung im Wahl­kampf, und glücklicherweise reicht seine Populari­tät kaum über Sao Paulo hinaus. Aber wenn es ihm gelingt, die Wahlen mit Hilfe des Themas “Innere Sicherheit” zu polarisieren, könnten seine Wahlchancen doch noch steigen. Die Strategen im bür­gerlichen Lager befürchten allerdings, daß Maluf im zweiten Wahlgang die allerwe­nigsten Chancen gegen Lula hätte.

Die PT: Streits und Hetze

Es kann nicht verwundern, daß das bür­gerliche Lager mit schweren Ge­schützen auf Lula schießt. Ein Gewerkschafter, Ar­beiterführer und Chef einer Partei, die sich zum Sozia­lismus bekennt, als künfti­ger Präsident Brasiliens?! Nachdem eine Schmutz­kampagne gegen den der PT naheste­henden Gewerkschaftsverband CUT – ein Mord wegen persönlicher Aus­einandersetzungen sollte der PT in die Schuhe geschoben werden – nicht recht greifen wollte, schwenkt die Presse auf eine andere Linie ein. Lula, der als Super­star dargestellt wird (Luis Ignacio “Sinatra” da Silva), ist zwar po­litisch un­erfahren (kein administratives Amt bis­her), aber eigentlich ein guter Kerl. Böse hingegen sind die Radika­len in der PT, die “Schiiten”, welche die Partei beherrschen und Lula dominie­ren wollen. Die inner­parteilichen Aus­einandersetzungen, die es in der PT zweifelsohne gibt, werden von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet.
Dem hat die PT auch durch nutzlose Streitigkeiten Vorschub gelei­stet. Zuerst ging es um die Frage der Bündnisse, vor allem mit der PSDB. Der “rechte” Flügel der Partei wollte unbedingt schon im er­sten Wahlgang eine Allianz mit dem bür­gerlichen La­ger eingehen, die aber schon aus man­gelndem Interesse der anderen Seite gar nicht zur Debatte stand. Zum an­deren wollte die Parlamentsfraktion der PT unbedingt an der Verfassungsre­form mitwirken, die die Partei boykot­tiert. Re­sultat: ein endloses Gezerre zwischen Fraktion und Parteivorstand, ein gefun­denes Fressen für die Presse.
Die Hauptlinie aber zeichnet sich schon ab: Die PT soll als Partei eines archai­schen und gescheiterten Sozia­lismus er­scheinen, deren Machtergrei­fung ein Abenteuer wäre, das Brasilien auf jeden Fall erspart werden müßte. Und die PT reagiert da bisher eher negativ: Insbeson­dere Lula (“Lula 94”) versucht sich als se­riös und moderat zu verkaufen: Die Suche nach der Mehr­hit bestimmt die Politik.

Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten

Bisher war mehr von Image- und Design­fragen die Rede als von Inhal­ten. Nicht ohne Grund. Tatsächlich sind inhaltliche Differenzen im bürger­lichen Lager in den großen Fragen kaum noch auszumachen. Der Präsi­dent der PFL, Jorge Bornhausen (Ex-Minister unter den Militärs und Col­lor) beschreibt die programmatischen Grundlagen seiner Partei folgender­maßen: “Wir wollen die Verkleinerung des Staa­tes. Wir wollen die Privatisie­rung. Wir wollen einen modernen Staat, in dem der Bürger respektiert wird, und der sich um Erziehung, Ge­sundheit und Sicherheit kümmert.” Hinter diesem Mainstream­motto steht wohl das gesamte bür­gerliche Lager. Die relativ beliebi­gen Bündnisse zeigen schon die fehlenden inhaltlichen Konturen. Zerstritten bleibt das bürgerli­che Lager, aber dabei geht es eben darum, Macht und Einfluß zu sichern, und nicht um gesellschaftliche Grundkon­zepte.
Aus diesem Schema bricht – trotz al­lem – die PT deutlich heraus. Sie be­müht sich um eine breite programma­tische Diskus­sion innerhalb der Partei und sucht ernst­haft nach ein Konzept für linke Politik heute in Brasilien. Sie hat deshalb mehr verdient als süffisante Randbemerkungen. Zum 1. Mai wird auf einem Parteitag der PT das Regie­rungsprogramm des Kandi­daten Lula diskutiert und verabschiedet werden.

Sleeping with the enemy?

Im November 1993 lud die PT zu ei­nem “Nationalen Seminar” ein, um das Pro­gramm einer Regierung Lula zu diskutie­ren. Ein Thema lautete “Die Streitkräfte in den neunziger Jahren”. Am Tisch saßen zwei Militärs von der ESG (Escola Su­perior de Guerra), dem “think-tank” der Streitkräfte, ein Ex-Militär, der nun an der angesehenen Universität von Campinas Vordenker für strategische Fragen ist (Geraldo Cavagnari) und Marco Aurelio Garcia, verantwortlich in der PT für Interna­tionales.

Nationalismus = Antiimperialismus?

Die Thesen der Militärs, dem staunenden PT-Publikum vorgetragen, lassen sich stichwortartig folgender­maßen zusam­menfassen:
* Der konstituierende Grund für die Exi­stenz von Streitkräften ist die Bedro­hung durch einen äußeren Feind.
* Die Gewährleistung “Innerer Sicher­heit” ist Aufgabe anderer (bewaffneter) Seg­mente des Staatsapparates, vor al­lem der Polizei. Die Streitkräfte kön­nen diese höchstens unterstützen. Gäbe es keinen äußeren Feind, wären die Streit­kräfte letztendlich überflüssig.
* Ist Brasilien aber durch einen äußeren Feind bedroht? Die klare Ant­wort lau­tet: Ja. Und wer ist es? Die An­maßung der reichen Länder, überall zu inter­venieren, stellt eine Bedrohung für Bra­silien dar. Der “pax boreal”, der nörd­liche Friede, ist eine Gefahr für die Ent­wicklung im Süden.
* Ist diese Gefahr aber für Brasilien real? Auch hier lautet die Antwort “ja” und die angeblich bedrohte Souverä­nität Amazo­niens muß als Illustration her­halten.
* Um ein nationales Projekt gegen den “borealen Frieden” entwickeln zu kön­nen, brauchen die Streitkräfte natürlich zum Beispiel atomgetrie­bene U-Boote und vor allem Geld…
Cavagnari setzte noch einen drauf: “Das Projekt ‘Brasilien – große Na­tion’ der Miltärs war ein Schwindel. Eine große Nation erbaut man nicht über Deklaratio­nen und nationalisti­sche Propaganda, son­dern über eine Vereinigung des Volkes, die auf Gleichheit und sozialer Gerechtig­keit beruht.” Lula als Führer von “Brasil- grande nacao” mit antiimperalistischer Ausrichtung – ist das kein Lockange­bot? Die anwesenden PTlerInnen je­denfalls waren sichtlich beeindruckt.

Von Einigkeit weit entfernt

Der folgende Artikel stellt die internen Gegensätze dar, die die haitianische De­mokratiebewegung seit Jahren kennzeich­nen. Wir haben den Beitrag in leichtge­kürzter Fassung der US-amerika­nischen Wochenzeitschrift NACLA (Reports on the Americas) vom Januar/Februar dieses Jahres entnommen.
An einem kalten Wochenende im vergan­genen Oktober scharten sich die Führungspersönlichkeiten der haitiani­schen Basisbewegungen um den exilierten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, um eine Bestandsaufnahme ihrer Bewegung zu machen. Ihre Überlegungen mündeten in durchaus unterschiedliche Einschätzun­gen. Einerseits war es durch ihre Wider­stand und Mobilisierungskraft gelungen, daß die Wiederherstellung der Demokratie in Haiti auch noch zwei Jahre nach dem Staatsstreich an der Spitze der internatio­nalen Tagesordnung steht. Doch wie be­grenzt die Stärke der Bewegung ist, kann andererseits daraus abgelesen werden, daß die Militärjunta nach wie vor die Macht in den Händen hält, eine Welle brutaler Un­terdrückung die Volksorganisationen vollkommen in den Untergrund zu drän­gen droht und alle Strategien zur Lösung der Krise ohne die Beteiligung der Basis in Konferenzsälen ausgearbeitet werden.

Die Anfänge der Lavalas-Bewegung

Ein häufig zitiertes haitianisches Sprich­wort sagt: “Hinter diesem Berg liegen noch mehr Berge.” Dieses Sprichwort spiegelt die Geschichte der haitianischen Volksbewegung wider. Aus dreißig Jahren des Terrorregimes Duvalier ging die Be­wegung mit einem geringen Organisa­tionsgrad hervor und kämpft auch heute noch gegen ein als schier unüberwindbar erscheinendes Vermächtnis der Marginali­sierung an. Die Bewegung entstand aus Zusammenschlüssen basiskirchlicher Gruppen, bäuerlicher Organisationen, Gewerkschaften, studentischen Interes­senvertretungen und Nachbarschaftsverei­nigungen. Die Mobilisierung der Massen wurde stets als Mittel angesehen, um re­volutionäre Veränderungen herbeizufüh­ren und eine wahrhaft partizipative De­mokratie durchzusetzen. Mit Hilfe von Demonstrationen, Streiks, Landnahmen, geschriebenen und audio-visuellen Publi­kationen sowie dem gelegentlichen Ge­brauch der “Volksgerechtigkeit” haben die Basisorganisationen Forderungen vertre­ten, die von einer Landreform bis zur Autonomie der Universitäten reichen.
Die Wirksamkeit der Bewegung wurde durch eine Mischung aus direkter Verfol­gung, chronischer Geldnot und politi­schem Opportunismus geschwächt. Hinzu kommt die Strategie der USA zur Verein­nahmung von Führungspersönlichkeiten der Basisbewegungen und das Fehlen einer politischen Partei oder Organisation, die notwendig wäre, um die Forderungen in eine gezielte Strategie umzusetzen.
Neben diesen Hindernissen leidet die haitianische Basisbewegung unter der Auseinandersetzung mit dem reformi­stisch orientierten Teil der breiter ange­legten “demokratischen” Bewegung in Haiti. Dem Lager der ReformistInnen, das aus PolitikerInnen, Intellektuellen und Mitgliedern der wirtschaftlichen Elite be­steht, geht es vor allem darum, eine Formaldemokratie im Zuge von Wahlen und oberflächlichen Reformen durch­zusetzen. Obwohl die ReformistInnen sich der Duvalier-Diktatur widersetzten, teilen sie doch nicht die langfristig auf radikale Veränderungen ausgerichtete Vision des neuen Haitis, wie sie von der Basis ver­treten wird.
Nach Monaten unverminderter Massen­mobilisierung setzte sich am 7. Februar 1986 Jean-Claude “Baby Doc” Duvalier in einem US-Jet nach Frankreich ab. Erneut strömten die Massen auf die Straßen – die­ses Mal, um zu feiern. Das gemeinsame Fest drückte die Mannigfaltigkeit der aus taktischen Gründen geschlossenen Allianz gegen die Diktatur aus. Landlose Bäuerin­nen und Bauern tanzten an der Seite von Großgrundbesitzern, und BewohnerInnen von Armenvierteln feierten neben Indu­striellen.
Nach dem Sturz der Diktatur schien alles möglich. Der Geschmack nach Freiheit steigerte den Appetit auf Gerechtigkeit und den Wunsch, gemeinsam für grundle­gende Veränderungen zu sorgen. Zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren fanden die Forderungen der verarmten Bevölke­rungsmehrheit Widerhall in einer Fülle von Basisorganisationen, die neu gegrün­det wurden oder aber aus dem Untergrund kamen. Um den Einfluß der verhaßten AnhängerInnen Duvaliers zu brechen, wurde ein Zusammenschluß über alle ideologischen und sozialen Schranken hinweg angestrebt.

Das Erbe der Duvalier-Diktatur

Selbstverständlich endete die Diktatur nicht mit der Flucht Duvaliers. Baby Doc hatte den Stab an den “Duvalieristischen Nationalen Regierungsrat” (CNG) weiter­gegeben, einer sechsköpfigen Junta unter der Leitung des Generals Henri Namphy. Noch immer regierten lokale Militär­machthaber in ländlichen Gebieten, ohne juristisch für ihr Terrorregime belangbar zu sein. Die öffentliche Verwaltung war durchsetzt mit korrupten zivilen Ange­stellten, und die paramilitärischen tontons macoutes verfügten nach wie vor über Schlüsselpositionen in der Regierung. Fritz, ein bekannter Kämpfer während der vergangenen zwanzig Jahre, erklärt: “Wir alle wurden Zeugen von Duvaliers Ab­gang. Theoretisch war dies das Ende von Diktatur und Gewaltherrschaft. Doch dann bemerkten wir, daß Duvalier nur die Spitze des Eisberges gewesen war und daß wir in allen Bereichen mit der Mobilisie­rung fortfahren mußten.”
Eines der Instrumente in dieser Mobilisie­rung war Dechoukaj. Wörtlich übersetzt heißt das “entwurzeln” und wird oft gleichgesetzt mit der sogenannten “Halskrause”, der Hinrichtung durch einen brennenden Autoreifen. Dechoukaj bein­haltete mehr als die Volksjustiz in den Straßen. Tatsächlich war sein wichtigster Aspekt politischer Natur. Bauern und Bäuerinnen schlossen sich zusammen, um die Gewaltherrschaft der Militärs in den ländlichen Gebieten zu beenden. Stu­dentInnen kämpften darum, den staatli­chen Einfluß auf die Universitäten zu bre­chen. Die Bevölkerungsmassen strömten nicht nur zusammen, um die tontons macoutes zu beseitigen, sondern auch die politische Maschinerie, die diese genährt hatte.
Die Mitglieder der Volksbewegungen wa­ren davon überzeugt, daß Dechoukaj helfen könnte, die reale Macht den An­hängerInnen Duvaliers, sowie den Eliten des Landes zu entreißen. Tatsächlich waren es diese Überlegungen, die das re­formistische Lager am meisten ver­schreckten. Dessen SympathisantInnen zogen aus dem damaligen status quo ihren Nutzen und fürchteten, von der militante­ren Basis zur Rechenschaft gezogen zu werden, sollte sich Dechoukaj als politi­sches Instrument durchsetzen. Im Verein mit den von Duvalier ernannten Bischöfen begannen die ReformistInnen mit einer Öffentlichkeitskampagne, in der sie vor allem den Aspekt der Straßen-Justiz un­terstrichen und zu nationaler Versöhnung aufriefen. Bevorteilt durch die Verfü­gungsgewalt über größere Ressourcen und durch die Kontrolle der Medien ver­mochten sie es, Dechoukaj zur Mitte des Jahres 1986 zum Halten zu bringen. “Immer wenn die Leute mobilisiert wa­ren”, beklagt sich Fritz, “waren diese Ty­pen eher dazu bereit, hinter verschlosse­nen Türen mit den Militärs zu verhandeln, anstatt unmißverständlich zur Tat aufzuru­fen. Anstelle von Aufrufen an das Volk, weiterhin Druck mit ihren Forderungen auszuüben, gaben sie versöhnliche Erklä­rungen ab. Manchmal hatten wir den Ein­druck, sie würden in uns größere Feinde als die Macoutes sehen.”
Demokratisches Kleinbürgertum gegen sozialrevolutionäre For­derungen
Eine haitianische Volksweisheit warnt davor, daß ein leckes Haus zwar die Sonne, jedoch nicht den Regen betrügen könne. Anfang 1987, ein knappes Jahr nach dem Sturz Duvaliers, wurden die Gegensätze zwischen den revolutionären Idealen des militanten Lagers und den kleinbürgerlichen Tendenzen der Refor­mistInnen offenbar. Während Einigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer neuen Landesverfassung und von Neu­wahlen bestand, wurde darüber gestritten, ob diese Schritte auch unter dem repressi­ven Klima der noch unter Duvalier eingesetzten Militärjunta unternommen werden sollten.
Im Januar 1987 wurde ein breites Spek­trum demokratischer Gruppen zur Teil­nahme am Kongreß der “Demokratischen Bewegung Haitis” (KONAKOM) eingela­den. Dieser Kongreß, der den Grundstein für eine politische Mitte-Links-Partei legte, erarbeitete eine Plattform, in der eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung gefordert wurde. Der militante Teil der Volksbewegung war skeptisch und erkannte in den Forderungen nach einer neuen Verfassung und nach Neu­wahlen ein Manöver, um grundlegende Veränderungen zu verhindern. Im März rief die kurz zuvor gegründete “Nationale Volksversammlung” (APN) zum Boykott der Wahlen und der Volksabstimmung über die neue Landesverfassung auf. Andere Gruppen, wie beispielsweise die “Bewegung der Bauern von Papay”, be­fürworteten die neue Verfassung trotz all ihrer Schwächen.
Nachdem die neue Verfassung im März verabschiedet worden war, drehte sich die interne Auseinandersetzung um die für den November vorgesehenen Wahlen. Selbst diejenigen, die sich für die Wahlen aussprachen, zweifelten an der Aufrich­tigkeit der Militärjunta. Das Massaker an über dreihundert für eine Landreform streitenden Bäuerinnen und Bauern aus Jean Rabel im Juli bestätigte dieses Mißtrauen und verstärkte die Forderungen nach einem völligen Boykott des Wahl­prozesses. Kirchliche Basisgemeinden aus Port-au-Prince forderten die Menschen dazu auf, “weiterhin gegen die Wahlen mobilisiert zu bleiben, deren Ergebnisse niemals die grundlegenden Probleme des Volks lösen werden.” Doch je näher der Wahltermin rückte, desto mehr veränderte sich diese Haltung, bis dazu aufgerufen wurde, mit den AnhängerInnen der Dik­tatur durch Wahlen aufzuräumen.

Armee erstickt Wahlen im Kugelhagel

Die Armee reagierte mit ihrer ganz spe­ziellen Art des Aufräumens, indem sie WählerInnen massakrierte, die ihre Wahl­scheine abholen wollten. Während die Volksbewegung kurzfristig zurückwei­chen mußte, brachte der Abbruch des Wahlprozesses die Volksbewegung in ihrem langfristigen Kampf voran, denn nur allzu deutlich wurden die Grenzen der reformistischen Strategie in der Auseinan­dersetzung mit den AnhängerInnen der Duvalier-Diktatur. “Die Reformisten brauchen die Mobilisierung auf den Straßen immer dann, wenn sie unter Druck stehen”, sagt Fritz. “Doch sobald sie den Rücken frei von den Macoutes haben, suchen sie den Schulterschluß mit der Bourgeoisie, um jeden tiefergehenden Wandel zu blockieren. Immer sagen sie Dir, daß es nicht darum gehe, Dich zu bremsen. Sie sagen, Du seist unrealistisch, ein Extremist, ein Purist. Aber wenn die Macoutes wieder auftauchen, schreien sie ganz schnell nach Hilfe.”
Zwei Militärstreiche und eine gefälschte Wahl hatten stattgefunden, ehe die Volks­bewegung im März 1990 die Straßen er­neut eroberte und den damaligen Macht­haber General Prosper Avril aus dem Amt jagte. Doch wiederum war der Sieg nur von kurzer Dauer. Die entstandenen poli­tischen Freiräume wurden von den Re­formistInnen besetzt, die eine unheilige Allianz mit der Interims-Präsidentin Ertha Pascal-Trouillot, einer Duvalieristin, eingingen.
“Nachdem wir uns den Kugeln der Mili­tärs ausgesetzt hatten und der Aufruhr Avril gekippt hatte, nahmen diese Schlips- und Anzugtypen das Steuer in die Hand”, erklärt Calixte, eine Führungspersönlich­keit der “Koordinierung der Volksorgani­sationen”. “Sie teilten uns mit, daß unsere Teilnahme im Demokratisierungsprozeß beendet sei und die Sache von nun an in klimatisierten Räumen verhandelt werde, in denen wir nicht willkommen seien.” Ein zwölfköpfiger vorübergehender Staatsrat, der gemeinsam mit Trouillot re­gierte, wurde gegründet, um Wahlen vor­zubereiten. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, den Forderungen der Bevölkerungsmehr­heit zu entsprechen, verlor diese Regie­rung sehr schnell jegliches Vertrauen.
Nach all den gesammelten Erfahrungen trug diese neue Erfahrung zur weiteren Radikalisierung der Volksbewegung bei. Da die politischen Eliten in erster Linie damit beschäftigt waren, sich für die Zeit nach den Wahlen einzurichten, ließ sich die Bevölkerungsmehrheit nicht ködern und verhielt sich gleichgültig gegenüber den Wahlen.

Aristides Kandidatur verleiht Volksbewegung neuen Schwung

Als Aristide in letzter Minute das Rennen um die Präsidentschaft aufnahm, änderte sich diese Haltung. Nur sieben Monate zuvor hatten sich die ReformistInnen noch geweigert, den populären Geistlichen zum Kandidaten zu machen. Angesichts der Rückkehr des exilierten Duvalier-Hardli­ners Roger Lafontant und der mit Geld aus den USA finanzierten Wahlkampagne des ehemaligen Weltbankmitarbeiters Marc Bazin griffen die ReformistInnen nun auf Aristide zurück. Diese Entschei­dung erwies sich als brillanter Schachzug, denn die Zahl der registrierten WählerIn­nen stieg mit über einer Million sprung­haft um das Doppelte an.
Dies war die Geburtsstunde der “Operation Lavalas”, die von Anfang an ein Zweckbündnis zwischen der Volks­bewegung, aus der Aristide kam, und den gegen die tontons macoutes gerichteten Eliten war. Die wichtigste Organisation dieser Eliten war die “Nationale Front für Wandel und Demokratie” (FNCD), deren legalen Status Aristide auf seinem Weg zur Präsidentschaft benutzte. “Was zählt”, so Aristide bei der Verkündigung seiner Kandidatur, “ist zu wissen, wann die Stunde zu einer taktischen Übereinkunft gekommen ist, um den tontons macoutes Einhalt zu gebieten.”
Es überraschte nicht, daß innerhalb der Lavalas-Allianz sehr bald erste Spannun­gen auftraten. Der ursprünglich von der FNCD vorgesehene Kandidat, Victor Benoit von der “Demokratischen Bewe­gung Haitis”, kritisierte Aristide wegen dessen angeblichen “politischen Abenteu­rertums” und rief die Parteimitglieder dazu auf, sich aus dem Vorbereitungspro­zeß für die Wahlen zurückzuziehen. Die­ses Mal behielt jedoch das militante Lager die Oberhand. Mit einem legitimierten Vertreter der Volksmassen, der in die politische Debatte eingriff, war es den Re­formistInnen nicht länger möglich, die Vorgehensweise der Allianz zu bestim­men. Während die FNCD danach trach­tete, eigene KandidatInnen im Wind­schatten Aristides in öffentlichen Ämtern unterzubringen, sahen die Volksorganisa­tionen den Urnengang als ein Vehikel zur Mobilisierung an und ließen keinen Zwei­fel an ihrer Bereitschaft, die Wahlen im Zweifelsfall zu boykottieren. “Entweder werden wir auf ganzer Linie siegen, oder aber die Wahlen kategorisch ablehnen”, warnte Aristide.

Formaler Bruch mit dem Klein­bürgertum

Am 4. Februar 1991 – drei Tage vor seiner Amtseinführung – kündigte Aristide den Übergang von der “Operation Lavalas” zur “Organisation Lavalas” an. Seine Ab­sicht war deutlich: der Aufbau einer unab­hängigen politischen Struktur aus der Massenmobilisierung des Volkes heraus. Dies bedeutete den Bruch mit der FNCD, die nun der Gefahr ausgesetzt war, ihren Einfluß an eine konkurrierende Partei zu verlieren, die den Wahlerfolg sich alleine zuschreiben würde. Da die Führungsper­sönlichkeiten der reformistischen FNCD die Geschicke des Bündnisses nicht länger bestimmen konnten, verwandelten sie sich in erbitterte GegnerInnen Aristides, und hatten maßgeblichen Anteil an der Desta­bilisierung der neuen Regierung.
Nach dem Amtsantritt der ersten demo­kratisch gewählten Volksregierung Haitis war die Zeit reif Strukturen der Basisor­ganisationen zu stärken. Ben Dupuy, stellvertretender Direktor der Wochenzeit­schrift Haïti Progrès und Gründungsmit­glied der “Nationalen Volksversammlung” (APN) erklärt: “Unter Aristides Präsident­schaft bestand das Ziel der APN darin, den Menschen bewußt zu machen, daß obwohl wir formal die Macht errungen hatten, die fortschrittsfeindlichen Kräfte noch immer stark waren, und daß es keine Garantie für den Bestand der damaligen Situation gab. Die Menschen mußten also die neugewonnenen Freiräume tatsächlich nutzen, anstatt nach schnellen Lösungen zu suchen oder persönliche Ziele zu ver­folgen.” Trotz des Vorteils, den Präsiden­ten zu stellen, stand die Bewegung bald neuen Schwierigkeiten gegenüber. Ver­führt von persönlicher Eitelkeit oder Geld, verließen verschiedene Führungspersön­lichkeiten die Volksbewegung, um Posten im Regierungsapparat zu übernehmen. Obwohl immer mehr Basisorganisationen entstanden, mangelte es vielen, insbeson­dere in der Hauptstadt, an einem tatsächli­chen Rückhalt in der Bevölkerung. Viel­fach wurden sie von OpportunistInnen geleitet, denen in erster Linie an Macht und Status gelegen war.

Putsch verbannt die Massen aus der politischen Arena

Der Staatsstreich vom September 1991 kam gnadenlos. Sein wichtigstes Ziel bestand darin, die Volksbewegung zu zer­schlagen und die Massen aus der politi­schen Arena zu verbannen. Um der Re­pression zu trotzen, griff das haitianische Volk auf die marronage zurück, eine Form des Widerstands aus dem Untergrund heraus, die tief in den geschichtlichen Wurzeln des Kampfes gegen die Sklaverei verwurzelt ist. Nach der Exilierung des Präsidenten, der damit den Kontakt zur Basis verlor, beherrschten die reformisti­schen Strömungen innerhalb der Lavalas-Bewegung zusehends die politischen Geschicke. Sie setzten nahezu ausschließ­lich auf international vermittelte Ver­handlungen zur Bewältigung der Krise. Viele innerhalb der Volksbewegungen waren sehr argwöhnisch gegenüber dieser Strategie. Ein Sprecher der Bewegung der Landbevölkerung, Chavannes Jean-Baptiste unterstreicht: “Nur die Hitze der massenhaften Mobilisierung wird den Topf der internationalen Verhandlungen zum Kochen bringen.” Nathan, ein Stu­dent aus Petit Grove, erklärt resigniert: “Immer dann, wenn wir bereit waren los­zuschlagen, verstärkte die internationale Gemeinschaft ihre Verhandlungsbe­mühungen, und wir alle wurden zurück in den Untergrund geschickt, um abzuwar­ten. Wenn es nicht gerade irgendwelche Sanktionen waren, wurde eine Beobach­terdelegation der Vereinten Nationen oder der Organisation der Amerikanischen Staaten entsandt, und das Spiel des Ab­wartens begann aufs Neue.”

Kritik an Aristides Verhand­lungsführung

Als die internationale Diplomatie Aristide zu immer weiteren Zugeständnissen drängte, wuchs auch die Kritik an dessen Verhandlungsführung. Die Volksbewe­gungen empfanden vor allem das Schwei­gen der ReformistInnen zu Plänen einer internationalen militärischen Intervention als bedrohlich. Als das Abkommen von Governor’s Island unterzeichnet wurde, das den Rücktritt der Anführer des Staats­streiches sowie die Rückkehr des exilier­ten Präsidenten vorsah, drückte die Volksbewegung einerseits ihre Unter­stützung für Aristide aus. Andererseits kritisierte sie das Abkommen und bezwei­felte die Bereitschaft des haitianischen Militärs und der internationalen Staatengemeinschaft, den Vertrag auch tatsächlich zu erfüllen.
Das Scheitern des Abkommens bestärkte die Überzeugung der Volksbewegung, daß es unmöglich sei, auf Hilfe von außen zu warten, anstatt die eigenen Kräfte zum Sturz des Militärregimes zu mobilisieren. Diskussionen über neue Formen des Kampfes und einen aktiveren Widerstand spielen eine immer gewichtigere Rolle bei der Suche nach Möglichkeiten, Resigna­tion in die Bereitschaft zum entschlosse­nen Vorgehen zu verwandeln, um auch die internationale Solidarität neu zu bele­ben. Die ReformistInnen stehen nun vor dem Dilemma, entweder mit einer vor allem eigene Interessen verfolgenden in­ternationalen Gemeinschaft zu paktieren, oder aber ein taktisches Bündnis mit den Volksbewegungen einzugehen, die sich immer mehr radikalisieren. Während die ReformistInnen in früheren Zeiten immer wieder die Massen dazu benutzten, die Macht zu erobern, schrecken sie heute vor dem Rückgriff auf diese Strategie zurück. Sie spüren, daß die beiden Jahre des Widerstands die militanten Kräfte inner­halb der Lavalas-Bewegung gestärkt haben und befürchten, die Forderungen nach tiefgreifendem Wandel nach dem Sturz des Militärregimes nicht unter Kon­trolle halten zu können.
Der Gegensatz zwischen den beiden großen Tendenzen innerhalb der Lavalas-Bewegung dauert fort. Es ist jedoch die Volksbewegung, die an Stärke gewinnt. Ein Bauernführer drückt es so aus: “Mit zunehmender Repression nimmt auch unser Kampf unterschiedliche Formen an – je nach den entsprechenden Umständen. Sollte die Straße dornenreich sein, wissen wir, welche Schuhe zu tragen sind. Gelan­gen wir an einen Fluß, sind wir bereit zu schwimmen. Aber vor allem werden wir den Kampf nicht aufgeben, denn er ist unsere einzige Chance auf eine bessere Zukunft.”

“Wie schwer es ist, Gott zu sein”

Auf der Suche nach dem Schwert der Wahrheit

Die Kinder der betrogenen Sinnen auf Rache

Wie so oft in unserem Land muß man bis zu den Anfängen zurückgehen. Die Entstehung Perus und den Triumph der Eroberer könnte man unter anderem als Ergebnis ei­ner Manipulation der Kommunikation sehen. Bei der Begegnung von Cajamarca, die dieses Land 1532 entstehen ließ und besser als Hinterhalt von Cajamarca zu bezeichnen wäre, erscheint Pater Valverde mit einem Buch, der Bibel, in der Hand und sagt zu Atahualpa: “Dies ist das Wort Gottes”. Der Inka, des Lesens und Schreibens unkundig, hält sich das Buch ans Ohr, hört kein Wort, wirft die Bibel auf den Boden und “rechtfertigt” für die Spanier mit dieser Tat die Eroberung.
Vom ersten Augenblick an diente so die Beherrschung der spanischen Sprache, das Lesen und Schreiben als Instrument der Herrschaft. Es gibt eine Überlieferung von Ricardo Palma, über die Max Hernández berichtet: Ein Konquistador, der in Pachacá­mac Melonen anbaut, schickt einige reife Früchte als Geschenk an einen in Lima lebenden Freund. Den damit beauftragten Indios gibt er einen Brief mit und warnt sie davor, von den Melonen zu essen, der Brief würde sie verraten. Auf halbem Wege, versucht durch Hunger und den Duft der unbekannten Frucht, verstecken die Indios sorgfältig das Papier und essen einige Melonen im Vertrauen darauf, daß der Brief es ja nicht gesehen haben konnte. Die Überlieferung schließt mit dem Erstaunen dieser Indios über die Kraft des geschriebenen Wortes, als der Empfänger ihnen genau sagt, wieviele Melonen sie gegessen haben.
So entsteht eine Gesellschaft, die auf Betrug beruht, ermög­licht u.a. durch das Monopol derer, die die spanische Sprache in Wort und Schrift beherrschen. Seitdem schwanken die unterworfenen Völker zwischen Resignation und Rebellion, zwei extreme Pole, die in Wirklichkeit höchst ambivalent auftreten.
Die Resignation hat sogar in Mythen Eingang gefunden. Eine Variante des Inkarrí-Mythos sagt zum Beispiel, die “mistis”, die mestizischen Provinzeliten, seien ein Betrug der Schöpfung. Sie seien die letz­ten Söhne Gottes und bildeten sich viel darauf ein. Gott habe ihnen die Gabe gegeben, Spanisch zu sprechen, zu lesen und zu schreiben. Dadurch “können sie tun, wozu sie Lust haben”. Ihre Herrschaft ist also willkürlich, sie ist die totale Beherr­schung.

Mit Prometheus Spanisch lernen

Die andere Haltung ist die der Rebellion, die sich ihrerseits zwischen zwei gegensätzlichen Polen bewegt: dem Rückzug der Andenkultur auf sich selbst, also die Ablehnung des “Okzidents”, oder der Aneignung der Herrschaftsinstrumente der Sieger. Beide Elemente lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Bewegung des Takiy Onqoy zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellt ein Beispiel für den Rückzug dar. Aber mit der entgegengesetzten Haltung gibt es zum Beispiel Manco Inca II., der versucht, eine Kavallerie aufzustellen und im Kampf gegen die Spanier Feuerwaffen einzusetzen. Túpac Amaru II steht ebenfalls dieser Position näher, Túpac Katari, der ersteren. Der entscheidene Punkt ist, daß im 20. Jahrhundert die Form der Rebellion vorherrscht, die versucht, sich die Machtinstrumente der Herrschenden anzueignen, darunter auch ein Schlüsselinstrument: die Erziehung. Den “mistis” das Monopol ihrer Kenntnisse zu entreißen, kommt der Tat des Prometheus gleich, den Göttern das Feuer zu rauben. Hier und heute nimmt die Bevölkerung des Hochlandes denen, die sich wie Götter aufführten und so die totale Herrschaft ausübten, ihr Monopol auf die spanische Sprache.
Die Vehemenz, mit der die andine Bevölkerung im Laufe dieses Jahrhunderts die Eroberung der Bildung betreibt, ist außergewöhnlich. Nach Zahlen von CEPAL (1985) über die Reichweite des Bildungssektors, rückt Peru unter den lateinamerikanischen Ländern vom 14. Platz im Jahr 1960 auf den 4. Platz 1980 auf. In den nach Definition der UNO etwa 70 “Ländern mit mittlerem Entwicklungsstand” steigt der Prozentsatz der Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren mit höherer Schulbildung zwischen 1960 und 1980 von 17 auf 52 Prozent an, im gleichen Zeitraum steigt er in Peru von 19 auf 76 Prozent. Dieser Bildungsschub übertrifft nicht nur weit die Anstrengun­gen des Staates, sondern entwickelt sich zu einer Gegenströmung zur Rückzugstendenz des Staates, denn seit Mitte der 60er Jahre nehmen die Aufwendungen des Staates für den Bildungssektor relativ ab (Degregori 1989). Wir gehen also von der Hypothese aus, daß der Drang nach Bildung in der andinen Bevölkerung stärker ist als in den kreolischen Unterschichten.

Was zählt, ist die Wahrheit

Aber was sucht diese andine Bevölkerung in der Bildung? Sicherlich suchen sie praktische Instrumente für ihren Kampf gegen die “mistis” und die lokalen Machthaber und wollen sich einen Platz in der “nationalen Gesellschaft” verschaffen. Sie wollen lesen, schreiben und rechnen lernen. Aber darüberhinaus suchen sie die Wahrheit. Verschie­dene Zeugnisse, die gerade in Ayacucho, dem Ursprungsort des Leuchtenden Pfades, während einer für unser Thema sehr wichtigen Phase gesammelt wurden, können diese Behauptung untermauern. 1969 entstand in Ayacucho und Huanta eine bedeu­tende Bewegung, die die Wiedereinführung des kostenlosen Unter­richts forderte, der von der Regierung Velasco abgeschafft worden war. So waren die jungen Oberschüler der Auslöser, aber auf dem Höhepunkt der Bewegung nahmen Bauern die Stadt Huanta ein, und in Ayacucho fand ein massiver Aufstand der städtischen Unterschichten statt. Kurz darauf fragte Aracelio Castillo einen Bauernführer aus Huanta, wie er die Situation der Bauernschaft sehe. Dieser antwortete:

Klar, verglichen mit den Zusammenstößen in früheren Zeiten ist es heute schon etwas besser. Aber es ist Schulung nötig, jemand müßte eine Orientierung geben, Ausbildungskurse müßten stattfinden …., um zu sehen, wie wir am besten vorankommen und gegen den Betrug und die Entrechtung vorgehen können, sonst werden wir arm und ausgebeutet bleiben.”

Sich weiterbilden bedeutet also soviel wie “sich vom Betrug befreien”. Bildung bekommt damit einen systemsprengenden Charakter. Ein Führer aus einem Vorort von Ayacucho sagt Castillo kurz nach der Bewegung von 1969:
“Es hat Mobilisierungen gegeben, als sie unsere Universität San Cristóbal de Huamanga schließen wollten. Andere nennen die Universität einen Ort, an dem gute Christen verdorben werden… anstatt zu sagen, daß die Universität uns die Augen öffnet, daß wir dort etwas Neues, etwas Objektives lernen. Das gefällt ihnen nicht, es paßt den anderen absolut nicht, weil sie wollen, daß wir weiterhin betrogen werden…”
Diesem Betrug, der auf die Eroberung und Kolonialisierung zurückgeht, würde sich die “objektive Wahrheit” entgegenstellen, zu der man durch die Bildung gelangen kann. Als die Bewegung für den kostenfreien Unterricht in vollem Gange war, erschien in einem Kommuniqué der “Front zur Verteidigung des Volkes von Ayacucho” folgende Formulierung:
“Die Militärjunta hat den kostenlosen Unterricht abgeschafft, weil sie genau weiß, daß, wenn die Kinder der Arbeiter und Bauern ihre Augen öffnen, ihre Macht und ihr Reichtum gefährdet sind”
Die traditionelle Macht, die nicht nur auf dem Monopol der Produktionsmittel, sondern dazu auf dem Monopol des Wissens und dessen betrügerischem Gebrauch beruht, zerfällt in dem Maße, wie die Beherrschten beide Monopole brechen. Deswegen erscheint die Schulbildung als Überwindung des Betrugs und folglich als Aufstand und “Gefahr” für die Herrschenden.
Auch wenn der Kampf für den Unterricht auf sozialer Ebene offensichtlich demokratisierende Effekte hat, bringt er nicht notwendigerweise einen demokratisch qualitativen Fortschritt in allen politischen und kulturellen Bereichen mit sich. Wenn wir zum Beispiel auf die Äußerungen des Führers aus Huanta zurückkommen, sehen wir, daß die Landbevölkerung “Schulung benötigt”, daß von einem implizit Außenstehenden “Orientierung gegeben werden muß”. Die alte hierarchische Ordnung wird so auf die Beziehung Lehrer (Mestize/Städter) – Schüler (Bauer/Indio) übertragen. Die massive Vermittlung von Bildung läßt sich also durchführen, ohne substanziell die Vorstellung der traditionellen Gesellschaft aufzugeben. Das Resultat wäre keine befreiende, son­dern eine autoritäre Erziehung.

Wissen = Fortschritt = Tugend

Als Castillo denselben Bauernführer fragt: “welche Ziele würden Sie der bäuerlichen Bevölkerung von Huanta wünschen?”, wird die Komplexität der bäuerlichen Vorstellungen noch deutlicher:
“Das oberste Ziel ist der Fortschritt der Landbevölkerung. Das hieße eben, daß ihre Mitarbeiter oder besser gesagt ihre Führer eine Richtung vorgeben würden, um den Fortschritt zu erreichen, nach meiner Vorstellung, und dabei die Laster zu vermeiden, die die Bauern haben, die Laster wie Schnaps, Coca und Zigaretten, wenn es damit so weitergeht, werden wir nie ein besseres Leben erreichen.”
Die Assoziation von Unwissen und Laster hielten wir für ein Erbe der oligarchischen Ideologie, aber wir sehen, daß sie auch Teil der bäuerlichen Denkweise sein kann, wo sich das vehemente Fortschrittstreben mit der Forderung nach einer konservativen moralischen Ordnung (Ablehnung von Alkohol, Coca und Zigarretten) und Vorstellungen von der Notwendigkeit eines “Führers” vermischt, der sie zu den angestrebten Zielen führen möge. In welchem Maße liegt es an der Gesprächssituation mit dem Professor Castillo, daß der Bauer die Notwendigkeit einer Orientierung von außen betont? Wir wissen es nicht, aber in jedem Fall scheinen diese Wünsche sowohl durch die Angebote einiger protestantischer Gruppierungen als auch durch den Leuchtenden Pfad befriedigt werden zu können.
Fest steht, daß die logische Folge der Forderung nach einem Führer von außen die Entwicklung eines Caudillo-Lehrer-Modells ist, wie es von Sendero Luminoso repräsentiert wird. Nach diesen Äußerungen sind auch der moralisierende Charakter Senderos und seine Strafen für Ehebrecher und Trinker besser zu verstehen. Ebensowenig verwundert der Erfolg, den in den 70er Jahren die Marxismus-Handbücher, so z.B. von Politzer, Martha Harnecker und besonders von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, an den Universitäten des Landes hatten. Denn es sind die Kinder der Betrogenen. – junge Leute andiner Herkunft aus den Provinzen -, die damals massenweise an die Universität gehen und dort auf den Marxismus-Leninismus in einer stark vereinfachten Version treffen, definiert als einzige “wissenschaftliche Wahrheit” und legitimiert durch die Bezugnahme auf die Klassiker (“Lehrer”) des Marxismus als Prinzip der Autorität. Diese Wissenschaft fordert eine neue, aber strikt hierarchische Ordnung, in der sie durch den Beitritt zur Partei und ihrer Wahrheit von der Basis bis zum Gipfel der sozialen Pyramide aufsteigen können (Dies betrifft auch die Pyramide des Wissens, handelt es sich doch um Studenten).

Neue Gottheit Wissenschaft

Wir könnten uns fragen, ob sich nicht in diesem so großen Bedürfnis nach Ordnung und Fortschritt in einem noch teilweise ständischen, traditionellen Kontext eine der Wurzeln der fast religiösen Wissenschaftsgläubigkeit bei Sendero Luminoso findet. Für Sendero ist “die Ideologie des Proletariats… wissenschaftlich, exakt und allmäch­tig” oder, wie es in offiziellen Dokumenten formuliert wird: “allmächtig, weil sie wahr ist”. Hier liegt eine der Wurzeln des Personenkultes und der religiösen Überhöhung des “pensamiento Gonzalo”, des Denkens des Vorsitzenden. Der Caudillo-Lehrer ist die fleischgewordene Bildung und damit Führer, Wahrheit und Tugend, weil nach Sendero die proletarische Ideologie, wie man sieht, quasi göttliche Züge trägt. Somit stehen wir einer neuen Gott­heit gegenüber, die fähig ist, diese alten Götter Wiracochas zu stürzen, die die Menschen jahrhundertelang der “totalen Herrschaft” unterworfen haben.
Wenn generell der Zugang zur Bildung bedeutet, den Betrug zu durchbrechen, suchen die Studenten an der Universität mit großem Einsatz noch mehr als die Wahrheit, nämlich Kohärenz. Warum?

Revolution in der Revolution

In welchem Maße hat die US-Politik einen Ein­fluß auf die Veränderun­gen, die in Kuba gerade vonstatten ge­hen?
Valdes: Historisch betrachtet haben die USA immer auf zwei Wegen ihre Macht auf Kuba ausgeübt: aktiv und mit der Macht des Vetos. Seit Beginn dieses Jahr­hunderts heißt aktive Politik im wesentli­chen: Die USA haben alle Antworten; sie stülpen Kuba einfach ihre rechtlichen Rahmenbedingungen, ihre politischen Ziele und Werte über. Selbstverständlich kann man realistisch betrachtet einer an­deren Gesellschaft nicht einfach etwas überstülpen, für dessen Verwirklichung man selbst Jahrhunderte benötigte. Ich glaube, eine ganze Reihe Menschen ten­diert dazu, das zu vergessen.
Der andere Ansatz der USA ist die Macht des Vetos. Das heißt folgendes: Immer dann, wenn die USA versuchen, Kuba ein bestimmtes Muster aufzudrängen, die so­ziale Wirklichkeit in Kuba das aber nicht erlaubt und Kuba dann versucht, seinen ei­genen Weg fortzusetzen, setzt die Macht des Vetos ein. Die USA sagen dann ein­fach:”Wir werden es nicht zulassen”.
Das Ergebnis ist in beiden Fällen das­selbe: Die tragische bilaterale Geschichte von Kuba und den USA verdichtet sich zu einem Gleichgewicht des Scheiterns. Ku­banischer Nationalismus kann immer wie­der von den USA mit einem Veto gekon­tert werden. Kuba ist einfach nicht stark genug, um dieses Veto zu überrollen. Auf der anderen Seite sind die USA nicht stark genug, um ein Kuba nach ihren Vorstel­lungen zu schaffen. Die kubanische Wirk­lichkeit wird immer darauf aufbauen, US-Ideale zu besiegen.
Es erscheint vielleicht etwas merkwürdig, aber die einzige Möglichkeit, die den USA bleibt, kubanischen Nationalismus zu absorbieren oder zu integrieren, liegt darin, ihm die Hand zu reichen. Die USA sind schon viel länger Regionalmacht als Kuba. Man muß sich einfach klarmachen: Kuba ist erst seit 34 Jahren wirklich unab­hängig, vor 1959 war es das nie. Die Un­abhängigkeit der USA geht zurück bis ins Jahr 1776, also über 200 Jahre. Deshalb sollten die USA als die “Älteren” dem ge­rade mal 34 Jahre jungen Kuba die Hand reichen.

Nach 34 Jahren scheinen die USA nun einige ihrer Ziele in Kuba erreichen zu wollen. Ist unter der neuen Clinton-Re­gierung so etwas wie eine neue Politik sichtbar geworden?
Die Clinton-Administration folgt einer Politik, die im Grunde genommen wäh­rend der Reagan-Jahre praktiziert wurde. Damals gab es eine dramatische Wende in der US-Politik gegenüber Kuba.
Vor 1981 (dem Amtsantritt Reagans, LN) richtete sich die US-amerikanische Kuba-Po­litik danach, ob Kuba gewisse Vor-bedin­gungen für normale Beziehun­gen erfüllte. Diese Vorbedingungen ori­entierten sich am Verhältnis Kubas zum Rest der Welt. Die USA sagten damals: “Uns stehen Ent­schädigungen für den Be­sitz zu, den ihr verstaatlicht habt” oder “Ihr müßt Eure Truppen aus Angola ab­ziehen” oder “Ihr müßt Eure Beziehungen zur Sowjetunion abbrechen”.
Es gab niemals eine Situation, in der die USA sagten: Wir werden die Beziehungen mit Kuba nur verbessern, wenn das wirt­schaftliche, soziale und politische System Kubas ein Ende findet. Nicht einmal unter den konservativsten Regierungen der US-Nachkriegszeit, auch nicht unter Eisen­hower oder Nixon, machten die USA die Normalisierung der bilateralen Beziehun­gen von Veränderungen in Kuba abhän­gig. Aber als Reagan sein Amt antrat, än­derte sich das. Er machte die Normalisie­rung der Beziehungen von fundamentalen inneren Veränderungen auf der Insel ab­hängig. Seine Politik basierte auf präsi­dialen Anweisungen und Kabinettsbe­schlüssen, Gesetze gab es noch keine. Die kamen erst mit dem Cuban Democracy Act, den Bush 1992 unterzeichnete. Damit wurde die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kubas zu einer Politik, an die sich sowohl Republikaner als auch Demokraten halten mußten – denn nun ist sie Gesetz.
Das bedeutet, auch wenn Clinton gern eine andere Politik gegenüber Kuba ma­chen wollte, müßte er zuerst dieses Gesetz ändern. Zwar verfügt er über einen gewis­sen präsidialen Spielraum, aber er ist den­noch in einer sehr schwierigen und unge­wöhnlichen Position.

Gibt es dennoch Bruchstellen innerhalb der US-amerikanischen Außenpo­litik? Gibt es Alternativvorschläge, die diese Zwangsjacke in Frage stellen?
Beinahe jede bedeutende Analyse zu Kuba erkennt an, daß die US-amerikani­sche Kuba-Politik nicht funktioniert. Auch stimmen die meisten darin überein, daß, selbst wenn diese Politik “funktionieren” würde, Kuba aller Voraussicht nach vor einem Bürgerkrieg stünde und eine Mas­senflucht in die USA einsetzen würde. Sie werden Leute im Außenministerium und im Nationalen Sicherheitsrat finden, die mit der augenblicklichen Kuba-Politik nicht gerade zufrieden sind.
Das Problem ist, daß die Kuba-Politik nicht von den Profis aus dem Außenmini­sterium oder dem Nationalen Sicherheits­rat gemacht wird, noch wird sie von der aktuellen Lage in Kuba bestimmt. Kuba-Politik wird bestimmt von den alle vier Jahre wiederkehrenden Präsidentschafts­wahlen und den alle zwei Jahre stattfinden Kon­greßwahlen. Sie ist eine Geisel des ameri­kanischen Wahlkampfes. Florida zum Beispiel ist wegen seiner vielen Wahl­männerstimmen gerade im Präsi-dent­schaftswahlkampf äußerst wich­tig. Diese Aus­gangslage geht weit über die Tatsache hinaus, daß die Cuban Ame­rican National Foundation, CANF, den Wahl­kampf Clintons durch Spenden mit­finanzierte (die CANF mit dem Exilkuba­ner Jorge Mas Canosa an der Spitze ver­körpert die unversöhnliche Anti-Castro Hardliner-Po­sition, LN). Die Essenz ist: Es gibt zu viele mit verbrieften Interessen, die am meisten gewinnen, wenn die Poli­tik so weitergeführt wird wie bisher. Verände­rungen in Kuba, von Kubanern initiiert, werden also keinen signifikanten Einfluß auf die US-Politik haben.
Man muß sich klar machen, welche Inter­essen hier im Spiel sind. Ist es im Inter­esse des Staates Florida, ein freies Kuba vor der Haustür zu haben, mit dem man um Touristendollars konkurrieren müßte? Ist es im Interesse der Immobilienmakler des Großraums Miami, in eine Situation zu geraten, in der Strandhäuser in der Nähe von Havanna zum Billigstpreis zu bekommen sind? Ich bezweifle das. Was würde mit dem Wert von Immobilien in Südflorida passieren, was mit dem Glücksspiel in New Jersey, wenn sich Kuba öffnet? Was macht die Drug En­forcement Agency (die us-amerikanische Anti­drogenbehörde, LN), wenn Kuba ein offenes Land würde? Wird sie mehr oder weniger zu tun haben? Wenn die “kubanische Bedrohung” verschwände, was würde mit dem Budget des Pentagon oder der CIA passieren? Was würde mit den Zuckerexporten der Dominikanischen Republik geschehen? Ich denke, es gibt zu viele verbriefte Interessen, die besser ge­sichert sind, wenn Fidel nicht gestürzt wird und sich die bilateralen Beziehungen nicht entscheidend verbessern. Die aus­weglose Situation kommt diesen Kreisen gerade recht und dient ihren Interessen. Für Kuba ist es besser, damit fortzufahren, wie bisher ins 21. Jahrhundert zu hinken.

Was müßte passieren, damit es eine Än­derung der US-Politik gibt?
Zuerst müßte sich das Weiße Haus endlich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß innerhalb der kubanischen Gemeinde in den USA die konservative Perspektive nicht die einzige ist. Genauso wie konser­vative US-Amerikaner die CANF zu dem gemacht haben, was sie heute ist, könnte das Weiße Haus den Aufbau einer libera­len, vielleicht leicht nationalistischen, ku­bano-amerikanischen Organisation unter­stützen, die sich für eine solche Änderung einsetzte. Dann müßte die kubanische Re­gierung die Organisation als legitimierten Gesprächspartner anerkennen. Entschei­dend wäre die Etablierung einer Verbin­dung, die einen Prozeß des Gebens und Nehmens auf beiden Seiten erlauben würde. Beide Länder müßten eine Priori­tätenliste entwickeln und sich zusammen­setzen, um diese abzugleichen. Ein Bei­spiel: Nehmen wir an, es wäre den USA wirklich wichtig, daß Kuba eine freie Presse hat. Die USA könnten Gelder be­reitstellen, damit Kuba Papier zum regel­mäßigen Druck der Tageszeitung Granma kaufen kann, was zur Zeit nicht immer möglich ist. Ein bestimmter Prozentsatz des Gedruckten müßte dann aus Meinun­gen bestehen, die nicht von den offiziellen Stellen stammen.

In welchem Ausmaß gibt es Risse oder Fraktionen in den Strukturen der kuba­nischen Exilgemeinde, die solche Pro­zesse in Gang setzen könnten?
Die kubanische Exilgemeinde war, poli­tisch betrachtet, immer sehr facettenreich. Vor den Achtzigern gab es über 200 poli­tische Gruppierungen: Anarchisten, Sozi­aldemokraten, Konservative und sogar ei­nige Fidelistas. Die Exilgemeinde ist ins­gesamt sehr interessant und vielfältig. Po­litisch konservativ ist sie in Bezug auf Kuba. Aber sie ist nicht konservativ, wenn es sich zum Beispiel um soziale Werte dreht.
Die CANF wurde 1981 mit dem Machtaufstieg Reagans geboren. Sie ist eigentlich eine sehr merkwürdige Organi­sation, fast eine Mißbildung innerhalb der kubano-amerikanischen Gemeinde. Zum Beispiel mit der Vorstellung des freien Marktes, wie sie die CANF hat, identifi­zieren sich nicht viele Kubano-Amerika­ner. Die CANF ist eine Kreation der Neuen Rechten, der Moral Majority, der Reagan-Revolution und all diesen Dingen. Sie hatten die Tür zum Weißen Haus ge­öffnet und Jorge Mas Canosa reingezogen. Es ist eben nicht so, daß er genug Kraft gehabt hätte, seinen Weg ins Weiße Haus selbst zu gehen. Sie haben ihn aufgebaut, darauf vorbereitet.
In diesem Sinne müßte die Clinton-Admi­nistration nun die Türen im linken Flügel des Weißen Hauses öffnen und einige Ku­bano-Amerikaner aus diesem Teil der Gemeinde hereinziehen.
Was, wenn die kubanische Regierung an­erkennen würde, – und das wäre weit ent­fernt vom augenblicklichen bilateralen Verhältnis – daß es in den USA eine kuba­nische Gemeinde gibt, die in gewissem Sinne Teil Kubas ist? Sie weiß, daß es in­nerhalb dieser Gemeinde einige sehr kon­servative Menschen gibt, die die Revolu­tion und alles, wofür sie steht, zerstören wollen. Aber sie weiß auch, daß nicht alle Kubano-Amerikaner so sind. Die kubani­sche Regierung könnte beginnen mit die­sen Teilgruppen zu reden. Sie könnte ih­nen helfen, innerhalb der kubano-ameri­kanischen Gemeinde einflußreicher zu werden.
Ich denke, wenn die kubanischen Stellen dies tun würden, wäre Clinton mit einer neuen Realität konfrontiert, und er könnte gezwungen sein, entsprechend zu ant­worten. Auch wenn sonst nichts dabei herauskäme, müßte er sich dann wenig­stens mit den zwei Strömungen auseinan­dersetzen, wie sie sich in Miami und an­derswo herausbilden und gegenseitig wi­dersprechen – anders als jetzt, wo die CANF das Monopol auf die ganze Show hat.

Gibt es denn Anzeichen dafür, daß die kubanische Regierung bereits solche Annäherungsversuche an die Exilge­meinde gestartet hat?
Ja, es gibt Anzeichen, man muß nur war­ten, was daraus wird. Zum Beispiel be­steht eine Möglichkeit darin, daß die ku­banische Regierung nicht nach einem po­litischen Pendant in den USA sucht, son­dern sich nach einer ganzen Reihe ver­schiedener Stimmen umsieht: aus unter­schiedlichen Gemeinden oder auch ein­zelne Persönlichkeiten. Fragen wie die nach den Bedürfnissen und Interessen von Kubano-Amerikanern, die nach Kuba ge­hen wol­len, könnten ein Aspekt sein. Rei­sen, Le­bensmittel, humanitäre Hilfe, Familienzu­sammenführung – die Liste ließe sich fort­setzen.
Es kann gut sein, daß die kubanische Re­gierung nur wünscht, die Beziehungen zwischen dem kubanischen Staat und den Kubano-Amerikanern zu normalisieren und es dann dabei zu belassen; also den ökonomischen Nutzen einzustreichen, aber den nächsten Schritt nicht zu gehen: die politischen Kosten zu bezahlen. Denn die kubano-amerikanischen Gesprächs-partner würden sich wohl nicht nur über ihren Einfluß in Washington freuen, son­dern könnten Ansprüche stellen, den Weg in Kuba mitzubestimmen.
Kuba steht vor dem Problem, daß es einer politischen Front bedarf, wenn es das Em­bargo loswerden will. Diese Front muß aus den Reihen der Kubano-Amerikaner gebildet werden.
Kuba könnte all dies tun, um eine Aufhe­bung des Embargos zu erreichen, aber es kostet seinen Preis: Dem, daß die Kubano-Amerikaner in gewisser Weise mitbe­stimmen, was in Kuba passiert.

Basisprojekte auf Jamaica

Die BPCA – Gemeindeprojekt in Bluefields

Bluefields ist ein kleiner Ort in Westmo­re­land im Südwesten Jamaicas. Fischfang bildet die Haupteinkommensquelle. Vom wachsenden Tourismus profitieren in er­ster Linie ausländische – bzw. nicht ortsansässige Investoren. Beschäftigungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sind dem-entsprechend rar gesät.
Bis 1980 gab es in Bluefields eine kleine Klinik. Nach dem Ende des “Demokrati-schen Sozialismus” durch den Wahlsieg Edward Seagas über Michael Manley wurde sie dem Verfall preisgege­ben. Um diesem bedauerlichen Zustand abzuhelfen, trafen sich seit 1989 Mitglie­derInnen der Gemeinde, um in einer Serie von öffentlichen Meetings über die zu­künftige Verwendung zu diskutieren. Die Diskussion führte schließlich zur Grün­dung der Bluefields People Communica­tion Association (BPCA). Zum Direktor des inzwischen 16köpfigen Managements, darunter 7 Frauen, wurde der 37jährige Rastafari Terry Williams gewählt. Terry Williams war mit zwölf Jahren nach Großbritannien ausgewandert. Als Er­wachsener kehrte er nach Jamaica zurück. Die dort vorgefundene Situation ließ für ihn soziales Engagement unabdingbar er­scheinen und in Bluefields sah er ein sinnvolles Betätigungsfeld. Nach dem gewonnenen Rechtsstreit mit dem West­moreland Parish Council (Distriktsre-gierung) bezüglich des Gebäu­des und dem Erhalt eines Mietvertrages, konnte flugs mit den Renovierungsarbei­ten begonnen werden. In einem Treffen mit Trevor Spence von der Canadian Co­operation Office konnte Terry Williams eine finan-zielle Unterstützung des Gemeindepro-jekts durch die Canadian High Commis-sion erreichen. Die erforderlichen Bau-maßnahmen konnten so finanziert werden, und der Eröffnung am 5. Juni 1991 stand nichts mehr im Wege.

Programme des BPCA

Als erstes Programm wurde das Early Childhood Education Program (ECEP) gestartet. Dieses kostenlose Trainingspro­gramm soll Mütter auf mehreren Gebieten unterstützen. Erziehungsratschläge, Mut­terschaftsberatung sowie die Herstellung von Spielzeug aus Abfällen (z.B. Autos aus Tetra Paks) stehen dabei im Mittel­punkt. Organisiert wird das Programm vom Women’s Comittee. Bisher noch auf Bluefields begrenzt, soll das Programm in naher Zukunft auf die umliegenden Ge­meinden ausgeweitet werden. Der Bedarf ist groß, zumal die jamaicanischen Mütter oft selbst noch sehr jung sind.
Beschäftigungs- und Ausbildungsmög­lichkeiten sind für Frauen in Bluefields so gut wie überhaupt nicht vorhanden. Grund genug, im März 1992 eine Nähkoopera­tive zu initiieren. Waren es anfangs ledig­lich drei Nähmaschinen, so sind es inzwi­schen acht. Gestiftet wurden sie von der jamaicanischen Entwicklungsorganisation United Way, denn Geld ist weiterhin knapp. So erhalten die ausschließlich weiblichen Näherinnen auch keinen Lohn. Die Möglichkeit ein nützliches Handwerk zu lernen, bietet anscheinend genügend Anreiz, so daß, wenn auch mit unter­schiedlicher Präsenz, zwischen 10 und 15 Mädchen und Frauen täglich in der Ko­operative tätig sind. Im Produktionssorti­ment spielten ursprünglich Strandtaschen die Hauptrolle. Inzwischen ist die Pro­duktion von Schuluniformen das Kern­stück. Ergänzend werden Topflappen, Mützen und Kinderkleider hergestellt.
Die Grundziele der BPCA sind mit der Entwicklung eines kritischen Bewußtseins und sich selbst tragender ökonomischer Betriebe umschrieben. In diesem Kontext steht auch das Permaculture-Projekt. Per­maculture ist ein landwirtschaftliches Konzept, das sich beim Bemühen um Ener­gieoptimierung an den natürlichen Stoffkreisläufen und Energieflüssen ori­entiert. Um dieses Projekt durchführen zu können, werden im Moment Verhandlun­gen mit der Regierung zwecks Landzu­teilung geführt. Bisher wurden schon Fortbildungsprogramme für InteressentIn­nen angeboten und frequentiert.

Langfristige Projektziele

Bis 1996 sind noch mehrere Vorhaben an­visiert. Die Errichtung eines Marktplatzes in unmittelbarer Nähe des Gemeinde­hauses genießt dabei Priorität. Um Be­schäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, sind eine Krabben- und eine Hummer-Farm sowie eine Fischer-Kooperative ge­plant. Eine Volkshochschule (Community College) soll die Bildungsmöglichkeiten verbessern und last but not least soll eine Kreditgenossenschaft Finanzierungsmög­lichkeiten für neue gemeinsame Projekte schaffen.

Rasta-Schule als Bildungsalternative

Als Alternative zu den öffentlichen Schu­len erfreuen sich private Rasta-Schulen mittlerweile immer größerer Beliebtheit. Zum einen sind die öffentlichen Schulen in manchen abgelegenen Regionen nur schwer zu erreichen, so daß trotz Schul­pflicht viele Kinder dem Schulbesuch nicht nachkommen, zum anderen vermit­teln die Rasta-Schulen begehrte praktische Kenntnisse (z.B. Kräuterkunde, Trom­meln).
Die Content Model School im Nordosten Jamaicas nahe des Küstenortes Hope Bay hat dabei bereits überregionalen Ruf er­langt. Erst 1989 von der USA-Rückkehre­rin und Rasta-Frau Sista P. gegründet, ha­ben ihre SchülerInnen bereits dreimal den nationalen Schulmusikwettbewerb sowohl im Bereich der Musikaufführung als auch beim Trommelwettbewerb gewonnen. Drei Mitglieder der fünfköpfigen Trom­melgruppe haben inzwischen gar eine Einladung von der Harlem School of Arts in New York erhalten.
Wenngleich die Leistungen auf musikali­schem Gebiet allgemeine Akzeptanz er­fuhren, verweigert das jamaicanische Er­ziehungsministerium dem Abschluß der Content Modell School seine Anerken­nung. Begründet wird dies mit den abwei­chenden Lehrinhalten der Schule. Im Ge­schichtsunterricht wird dort vornehmlich afrikanische und karibische Geschichte gelehrt, weil darin die Voraussetzung für die Entwicklung schwarzen Selbstbewußt­seins gesehen wird. Ein krasser Gegensatz zu den öffentlichen Schulen, in denen die jamaicanischen Kinder absurderweise hauptsächlich mit englischer Geschichte traktiert werden.
Die Finanzierung der Schule verläuft bis­her größtenteils über private Spenden meist ausländischer Provenienz. So wurde die erste in Content tätige Lehrerin über einen jamaicanischen Freund von Sista P. in New York finanziert. Jährlich werden etwa 20.000 US-Dollar benötigt, um den Schulbetrieb aufrecht zu erhalten.

Kasten:

Geschichte der Rastafari-Bewegung

300.000 Menschen auf Jamaica, 700.000 weltweit werden der Rastafari-Bewegung zugerechnet. Rasta ist, wer sich als Rasta fühlt. Angesichts dieser Subjektivität sind sowohl die eben genannten Zahlen, als auch die folgende Verwendung des Begriffs Rastafari-Bewegung mit Vorsicht zu genießen.

Die Rastafari-Bewegung nahm 1930 ihren Anfang. Am 2. November jenen Jahres wurde in Äthiopien der einer Adelsfamilie entstammende Ras Tafari Makonnen zum Kaiser Haile Selassie (Macht der Dreieinigkeit) ge­krönt. Mit den Worten “Schaut nach Afrika; auf die Krönung eines schwarzen Königs; er wird der Erlöser sein” soll der Verfechter der “Back to Africa”-Ideo­logie, Marcus Mosiah Garvey, dieses Ereignis im Jahre 1914 auf Jamaica prophezeit haben. Im selben Jahr wollte Garvey mit der Grün­dung der Universal Negro Improvement Association (UNIA) den Interessen der “schwarzen Rasse”, insbesondere der Rückkehr nach Afrika, zur Durchsetzung verhel­fen. Seine AnhängerIn­nen in Jamaica sahen in Haile Selassie den ersehnten schwarzen Messias, der die Rückkehr ins gelobte Land Afrika ermöglichen werde. Genährt wurde dieser Glaube von Haile Selassie insofern, als er sich mit bibli­schen Namen schmückte (“König der Könige”, “Löwe vom Stamme Juda”) und sich zudem als di­rekten Nachkommen König Salomos auswies.

Diesen biblischen Bezügen zufolge, wird der Rastafa­rianismus in die millenarisch-messianischen Bewegun­gen eingeordnet. Die religiösen Überzeugungen der Ra­stas, ihre Symbole und Rituale sind dabei aus der Bi­bel des “schwarzen Mannes”, der “Holy Piby”, abgelei­tet, die der ursprünglichen, in der äthiopischen Schriftsprache Amharisch abgefassten, Bibel am näch­sten käme. Die originäre Bibel sei vom “weißen Mann” verfälscht worden, um die Minderwertigkeit der Schwarzen und deren Versklavung zu legitimieren. Nach 300 Jahren Unterdrückung durch die Weißen hiel­ten die Rastas mit der Krönung Haile Selassies die Zeit der Erlösung und der Rück­kehr nach Afrika für gekommen.

Der Rastafarianismus ist indes mehr als Religion und besser als sozioreligiöse Bewe­gung zu verstehen. Das Spektrum reicht von streng religiös orientierten Sek­ten bis hin zu sozialem Wandel verpflichteten Organi­sationen. Insgesamt bestimmt anstelle des “Back to Africa” inzwischen das Motto “Liberation before mi­gration” (Befreiung vor Auswanderung) das Denken der Mehrzahl der Rastas.

Seinen starken Einfluß auf die jamaicanische Gesell­schaft und die Expansion der Bewegung auf die USA, Großbritannien, Kanada und die ostkaribischen Inseln, läßt sich vor allem dadurch erklären, daß der Rastafarianismus mit der Rückbesinnung auf afrikani­sche Traditionen und dem Aufbau schwarzen Selbstbe­wußtseins dem Bedürf­nis der unterdrückten “schwarzen Massen” nach Selbstwert, Ausdruck verleiht. Dieser Ausdruck findet sich insbesondere im Bereich der Mu­sik (Reggae), Malerei und Lite­ratur auf Jamaica, in denen die Rastafaris eine herausragende Stellung ein­nehmen. In den anderen Ländern, in denen der Rastafa­rianismus Verbreitung gefunden hat, spielt in erster Linie der Protest eine Rolle – Rastafari als sozial­kritische Weltanschauung, die die bestehende Gesell­schaftsordnung ablehnt, weil sie eine wachsende An­zahl von Menschen ins gesellschaftliche Abseits drängt.
M.L.

WELTstadt – STADTwelt

Warum wachsen die Städte? lautete die Leitfrage für die verschiedenen Beiträge, die sich mit Spontansiedlungen in Cara­cas, der Öko-Modell-Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, dem Phänomen der Straßenkinder und schließlich der Zukunft von “Dritte-Welt”-Städten befaßten. Wer sich mit der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problematik von Städten in Lateinamerika auseinandersetzt, der muß zunächst den Ursachen für die Landflucht auf den Grund gehen. Am intensivsten gelang dies Uwe Pollmann vom “Dritte-Welt”-Haus in Bielefeld in seinem Beitrag zu Straßenkindern in der “Dritten Welt”. Das traditionelle Problem der ungerechten Landverteilung, neuere Entwicklungen zur modernisierten Plantagen- und extensiven Weidewirtschaft sind Auslöser für die ökologische Zerstörung sowie die soziale Misere der Landbevölkerung und Ursache für Migration. Die überwiegend jungen Leute, die oftmals völlig mittellos in der Stadt ankommen, bauen auf freiem Ge­lände zunächst einfache Wellblech- oder Papphütten . Im Laufe der Zeit, so be­schrieb Prof. Pachner von der Universität Tübingen am Beispiel von sogenannten Spontansiedlungen, deren Entwicklung er seit über 20 Jahren begleitet, werden die einfachen Hütten jedoch ausgebaut. Strom- und Wasserzuleitung werden zunächst illegal beschafft, später offiziell eingerichtet. Am Ende stehen oftmals an­sehnliche, stabile Häuschen, die an die In­frastruktureinrichten angeschlossen sind. Heute leben in den Metropolen La­teinamerikas zwischen 40 und 60% der Bevölkerung in solchen Siedlungen. Ent­scheidende Gründe dafür, daß Pachner die Bezeichnung “Slum” für diese Viertel ab­lehnt, sind die heterogene Bevölke­rungsstruktur und eine sehr unterschiedli­che infrastrukturelle Ausstattung. Hinzu kommt die Tatsache, daß hier neben der Mehrzahl der BewohnerInnen, die im in­formellen Sektor ihr Einkommen sichern, auch Menschen mit teilweise langjähriger Integration in den formalen städtischen Arbeitsmarkt zu finden sind. Interessant wäre es gewesen, zu verfolgen, wie sich die Entwicklung für Neuankömmlinge in den Krisenjahren der vergangenen Dekade vollzog oder wie sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der seit längerem in Spontansiedlungen lebenden Menschen durch die De-Industrialisierung verändert haben. Leider gelang es dem Tübinger Geographen jedoch nicht, seine teilweise sehr intensiven empirischen Untersuchun­gen etwa zur Wohnsituation in Spontan­siedlungen zu neueren ökono­mischen und politischen Prozessen in Be­ziehung zu setzen. Die oftmals in diesen Siedlungen verwurzelten barrio-Organi­sationen, über die Sozialwissenschaftle­rInnen unter dem Begriff “neue soziale Bewegungen” dis­kutieren, wären eine ge­sonderte Betrach­tung wert gewesen. Ihre Rolle für die Eta­blierung und Entwicklung der Siedlungen selbst kann gar nicht über­schätzt werden.

Modellstadt Curitiba

Bemerkenswert ist, daß in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, dem Teil der “Dritten Welt” mit der intensivsten Ver­städterung, der Wanderungsdruck auf die Metropolen in den letzten 10 Jahren nach­gelassen hat. Es sind heute vor allem mit­telgroße Städte, die ein überproportionales Wachstum aufweisen. Zu diesen mittel­großen Städten zählt das inzwischen etwa 1,3 Millionen EinwohnerInnen beherber­gende Curitiba im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. Über die Grenzen Brasiliens hinaus hat sie sich inzwischen den Ruf einer Öko-Modell-Stadt erwor­ben. Folgt man den Ausführungen von Gilberto Calcagnotto vom Institut für Ibero­amerikakunde in Hamburg, steht hinter dieser Erfolgsgeschichte vor allem ein Mann: der dreimalige Bürgermeister Jaime Lerner. Lerner, der damals als poli­tisch unerfahrener Technokrat galt, wurde unter der Militärdiktatur vom Provinzgou­verneur Paranás auf den Posten des Bür­germeisters gehievt. Doch der gelernte Architekt entwickelte sich zu einem Er­neuerer mit großer Sensibilität für Um­weltprobleme. Auf seine Initiative geht das moderne Bussystem mit zahlrei­chen Expresslinien und eigenen Spuren, das mit einer Verbundnetzkarte befahren werden kann, zurück. Damit konnte der Treib­stoffverbrauch der Stadt um nahezu 25 Prozent verringert werden. Die zuvor überdurchschnittlich hohe Zahl von Ver­kehrstoten wurde drastisch gesenkt. In den letzten Jahren wurde zudem ein cambio verde genanntes Müllsammelsystem ein­gerichtet, bei dem von der Stadtverwal­tung im Tausch gegen wiederverwertbares Material Gutscheine für Schulbücher, Fahrscheine oder Gemüse ausgegeben werden. Der neue Bürgermeister scheint das Werk Lerners fortsetzen zu wollen. Momentan stehen so ehrgeizige Projekte wie die Erneuerung des Abwassersystems auf der Tagesordnung.
Intention der Kongreßleitung war es, ne­ben Fragen der Stadtentwicklung und -planung auch das Phänomen des wach­senden städtischen Elends anzusprechen. Es war die Aufgabe Uwe Pollmanns vom “Dritte-Welt”-Haus Bielefeld, das sich seit Beginn der 70er Jahre in der Internationa­lismusarbeit engagiert und inzwischen ne­ben dem Schwerpunkt Öffentlichkeits­arbeit mehrere Straßenkinder-Projekte unterstützt, dies am Beispiel einer Stadt der “Dritten Welt” zu tun. “Straßenkinder in Recife” lautete sein Thema, und einmal mehr zeigte sich die Schwierigkeit, Elend oder soziale Mißstände vor einem west­lich-industriellen Wohlstandspubli­kum differenziert und mit einer ausrei­chenden gefühlsmäßigen Distanz zu prä­sentieren. Das Thema legt den Blick auf dunkelhäu­tige, zerlumpte Gestalten, zu früh gealterte Kindergesichter nahe, die bald nur noch Mitleid erregen. Dabei wurde eigentlich sehr kenntnisreich und sensibel über den täglichen Überlebens­kampf auf der Straße informiert. Pollmann gelang es zugleich den Bogen zur bundes­republikanischen Konsumgesellschaft zu schlagen, die von niedrigen Kaffee- und Orangenpreisen profitiert, die auf die Ausbeutung von Kinderarbeit zurückzu­führen sind.
Daran besteht kein Zweifel: Wer sich über Städ­tewachstum Gedanken machen will, der muß zunächst sehen, was auf dem Land passiert. Zentrale Ursache für Städte­wachstum ist die Landflucht.
Zukunftsorientierte Stadtpolitik beginnt also auf dem Land. Hier bedarf es grund­legender ökonomischer und sozialer Re­formen. Pragmatisch gesehen mag die Aufgabe der StadtplanerInnen auf den Umgang mit weiterem Wachstum oder die Steuerung innerstädtischer Prozesse kon­zentriert bleiben. Hier können sie sich im besten Fall die Frage stellen, wie sie die Stadt wachsen lassen wollen. Aus ökolo­gischer und sozialer Sicht lautet das Lö­sungswort “Verdichtung”. Gerade Städte in Nord- und Südamerika, die mit ihrer auf den Autoverkehr ausgerichteten Ent­wicklung nahezu grenzenlos ins Um­land gewuchert sind, während sie inner­städtische Bereiche verkommen lassen, bieten hier prinzipiell große Handlungs­spielräume. Unzweifelhaft zeigen wie­derum Erfahrungen aus Nord- wie Süd­amerika, daß alles andere als die invisible hand des Freien Marktes diese Probleme lösen wird. Vielmehr bedarf es konkreter Markteingriffs- und Planungsinstrumente, die jedoch von politischer Macht und Durchsetzungskraft abhängen. Wo und wie diese entwickelt werden kann, konnte allerdings nicht auch noch Thema dieser Tagung sein.

The Latin American City

Die in ihrer Mehrzahl von Portugiesen und Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert gegründeten lateinamerikanischen Städte haben ihren entscheidenden Wachstums­schub nach 1950 erlebt. Lateinamerika wandelte sich in rasendem Tempo von ei­nem ruralen zu einem urbanen Kontinent. Erst in den achtziger Jahren verlangsamte sich dieser Prozeß aufgrund der ökonomi­schen Krise. Trotzdem können MigrantIn­nen in vielen Ländern bis heute ver­gleichsweise bessere Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsräumen vor­finden als auf dem Land. In diesen Unter­schieden ist das entscheidende Mo­tiv für die Landflucht zu suchen. Vor allem für Frauen und junge Erwachsene, die eine Schulbildung und berufliche Fähigkeiten erworben haben, resultiert der Weg in die Städte aus einer rationalen Entscheidung. Dabei handelt es sich um eine rationale Ent­scheidung zwischen Alternativen, die mehrheitlich von jungen Erwachsenen und Frauen, die bessere Schulbildung und ge­wisse berufliche Fähigkeiten erlernt ha­ben, getroffen wird.
Gilbert wendet sich gegen die Über-Städ­terungs-Thesen, nach denen die Zunahme der Bevölkerung als dem Beschäfti­gungswachstum im industriellen Sektor nicht angemessen kritisiert wurde. Wäh­rend Städte in westlichen Industrienatio­nen als industrielle Wachstumspole funk­tional gewesen seien, wurden “Dritt-Welt-Städte”, in denen es zu einer “Tertiarisierung”, einem aufgeblähten Dienstleistungssektor kam, als “parasitär” klassifiziert. Nach dieser, nach wie vor von vielen KommunalpolitikerInnen und StadtplanerInnen geteilten Betrachtungs­weise gibt es einfach zu viele Menschen in der Stadt. Begründet wird der Mißstand gerne mit einem zu hohen Bevölkerungs­wachstum, als umgekehrt mit einer zu ge­ringen Anzahl stabiler und qualifizierter Arbeitsplätze. Die Antwort auf die beson­ders in den achtziger Jahren steigenden Arbeitslosenraten, ist der heute für uns so typische und das Stadtbild der meisten la­teinamerikanischen Metropolen prägende informelle Sektor. Zur Straßenszene gehö­ren die Schuhputzer ebenso wie die am­bulanten Händler. Informelle Beschäfti­gung geht jedoch darüber weit hinaus. Ihr kommt zudem im Hinblick auf den soge­nannten modernen Sektor eine besondere Rolle zu, denn sie sorgt für niedrigere Lohn- und Reproduktionskosten. Beson­ders auf Export ausgerichtete Industrien profitieren davon, wie die Erfahrungen mit den Maquiladora-Industrien an der US-mexikanischen Grenze zeigen.
Duldung “wilder” Siedlungen
Ebenso wie der informelle Sektor die Ar­beitswelt lateinamerikanischer Städte prägt, kennzeichnen favelas, poblaciones oder villas miserias ihre Siedlungsstruk­tur. Landbesetzungen und der Aufbau spärlicher Hütten wurden über lange Zeit geduldet und konnten in ökonomischen Wachstumsphasen Schritt für Schritt durch die städtische Infrastruktur er­schlossen werden. Aus Wellblech- und Holzhütten wurden in Eigenarbeit oder kollektiver Anstrengung feste Häuser. Daß dabei oftmals den Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechende Wohnun­gen entstanden sind, als es bei professio­nell geplanter Bebauung der Fall gewesen wäre, überrascht eigentlich nicht. Nur durch politische Mobilisierung oder Zuge­ständnisse an lokale politische Repräsen­tantenInnen konnte sich die rasch wach­sende städtische Bevölkerung ein Dach über dem Kopf erstreiten. Die Stadtver­waltung hatte dazu aufgrund fehlender Mittel für einen umfassenden sozialen Wohnungsbau keine Alternative. Stadt­viertel wurden ans Elektrizitäts- und Was­sernetz angeschlossen, Siedlungen legali­siert. Heute besitzt ein wesentlich höherer Prozentsatz von Familien ein – wenn auch bescheidenes – Eigenheim als noch zwan­zig oder dreißig Jahre zuvor.
Betrachtet man das rasante städtische Wachstum ist es ein Wunder, daß die oft wegen ihrer schlechten Administration zu­recht gescholtenen öffentlichen Einrich­tungen nicht völlig zusammengebrochen sind. Sie scheinen, so Alan Gilbert, wohl doch besser als ihr Ruf. Prekär sind für viele die Versorgungsverhältnisse trotz­dem geblieben. Neuere Siedlungen warten seit Jahren auf Wasser und Elektrizität. Neben der Bevölkerungszunahme hat auch das für Städte der sogenannten ent­wickelten Welt typische Auseinanderfal­len von Arbeiten und Wohnen zu einem enormen Verkehrswachstum geführt. Öf­fentliche Verkehrssysteme sind völlig überlastet; ihr Ausbau, der lange von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert wurde, scheint heute, wie so manches U-Bahn-Projekt zeigt, nicht mehr tragbar. In öko­nomischen Krisenzeiten wird die Auf­rechterhaltung öffentlicher Infrastruktur immer schwieriger. Die Tarife wurden in den letzten Jahren drastisch angehoben. Um so stärker trat die soziale Ungleichheit bei der Versorgung hervor. In Argenti­nien, Kolumbien und Mexiko versucht man verstärkt, durch Privatisierung die oft defizitären öffentlichen Unternehmen los­zuwerden. Auf dem gesamten südlichen Kontinent ist jedoch außer Telefon- und Telekommunikationsunternehmen deren große Mehrzahl bisher nicht in private Hände übergegangen.
Leider behandelt Gilbert die ökologischen Probleme nur als Unterpunkt in seinem Kapitel zur städtischen Infrastruktur. Er greift mit seiner Kritik an der bisher im­plementierten Umweltpolitik auch deshalb zu kurz, weil er die gesundheitliche Pro­blematik in den Vordergrund stellt. Flächen-, Energie- und Ressourcenver­brauch hätten hier stärker im Vordergrund stehen müssen.
Gilbert ist besonders daran gelegen, mit einem gerade in Europa gerne gepflegten Klischee über die politische Bedeutung städtischer sozialer Bewegungen auf­zuräumen. Obwohl diesen sicher seine Sympathie gilt, stellt er klar, daß eher po­litischer Konservatismus vorherrscht. Linke Parteien oder gar radikale linke Gruppierungen erreichen in Lateinamerika seit jeher keine Massenbasis. Die Tendenz von barrio-Bewegungen, mit lokalen Po­litikerInnen in Verhandlungen einzutreten oder sich gegen Zugeständnisse in Wahl­zeiten kooptieren zu lassen, kann auch kaum geleugnet werden. Strukturelle Ver­änderungen des Systems stehen meist hinter lokal begrenzten Verbesserungen für die eigene barrio-Bewegung zurück. Schließlich darf aber nicht unterschätzt werden, daß es auf diesem Wege oft ge­lungen ist, die realen Lebensbedingungen zu verbessern. Ganz im Gegensatz jedoch zum allseits beliebten Bild der Sozialre­volte war selbst in Stadtvierteln, in denen sich eine rege Interessenvertretung gebil­det hatte, die Beteiligung der Betroffenen oft sehr begrenzt geblieben. Verantwort­lich dafür sind, so Gilbert, neben dem po­litischen Verständnis der Gemeinschaften selbst, Klientelismus, Kooptation, populi­stischer Führungsstil und Repression durch die politisch Herrschenden.
Enttäuschend und inkohärent bleiben die abschließenden Aussagen über die Zu­kunftsperspektiven der “Latin American City”. Das Urteil des Autors fällt überra­schend positiv aus. Nach einer Fülle de­taillierter Informationen und kritischer Re­flexion bisheriger Veröffentlichungen über städtische Entwicklung muß den Le­ser / der Leserin erstaunen, wie konven­tionell dieser Ausblick ausfällt. Die Ten­denz des sinkenden Bevölkerungszuwach­ses der Metropolen läßt Gilbert ebenso hoffen, wie der Erfolg diversifizierter Ex­portstrategien und positiver, entbürokrati­sierender Effekte neoliberaler Strukturan­passung. Wirtschaftswachstum wird schließlich zum Schlüssel der Probleme und damit, so macht es der Autor gerade an der Entwicklung neuer Wachstumspole an der US-Grenze Mexikos deutlich, ist in erster Linie industrielles Wachstum ge­meint. Chile oder das NAFTA-Mitglied Mexico als Erfolgsmodelle auch für an­dere Länder? Hier fällt der Autor in eine Denkweise zurück, die er am Beispiel der Tertiarisierungsthese zuvor mit Recht kri­tisiert hatte. Voraussetzung für eine Zu­kunft der Stadt sei natürlich politische Stabilität, also die Fortsetzung der Demo­kratisierungsprozesse, aber auch eine ge­rechtere Verteilung der Einkommen und wachsende Aufwendungen für staatliche soziale Leistungen. Daß gerade Struktur-anpassungsprogramme soziale Verbesse­rungen für die Masse der Bevölkerung unmöglich gemacht haben und diese auch in den Erfolgsländern kaum am Wachs­tum partizipieren, ist jedoch eine bittere Lektion der achtziger und beginnenden neunziger Jahre. Wirtschaftswachstum an sich als entscheidende Voraussetzung für strukturelle Verbesserungen städtischer Infrastruktur und Umwelt anzusehen, spricht zudem den Erkenntnissen einer kritischen Umweltdiskussion Hohn.

Alan Gilbert – The Latin American City. Latin Amerika Bureau, London 1994. ISBN 0906156823. Zu beziehen bei: Lateinamerika Nachrichten Vertrieb, Gneisenaustr. 2, 10961 Berlin

Ein dunkles Lächeln über Chiapas

Ihr zweiter Roman “Das dunkle Lächeln der Catalina Diaz” erschien schon 1962 unter dem Orginaltitel “Oficio de tinieblas”, welcher wesentlich treffender ist, da er vielfältig zu deuten ist und außerdem auf eine der ältesten Liturgien der katholi­schen Kirche anspielt. Es handelt sich da­bei um eine Karfreitags-messe in den ersten Jahren des Christen-tums, die in Katakomben, also in völliger Dunkelheit gefeiert wurde. Die Hoffnung auf Erlö­sung ist auch das Leitmotiv des Romans, der erst vor kurzem bei uns erschienen ist. Rosario Castellanos schildert die Aus­beutung durch die reichen Haciendabesit­zerInnen und die Lebensbedingungen der Indígenas, aus denen sie sich letzlich durch eine Revolte zu befreien versuchen. Die Autorin bezieht sich dabei auf die histori­sche Tatsache eines Aufstands in Chiapas um 1868, den sie aber in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts verlegt hat. In dieser Zeit, unter der Präsidentschaft Cárdenas’, wurde den MexikanerInnen eine Ära des ökonomischen Liberalismus, der politi-schen Reformen und die Realisierung des höchsten Zieles der Revolution verspro-chen: Tierra y Libertad. Versprechen, die bis heute nicht eingelöst wurden und die von Rosario Castellanos in ihrem Buch als politische Rethorik bloßgestellt werden.
Der Roman spielt in zwei verschiedenen geographischen Szenerien – in dem Dorf San Juan Chamula und Ciudad Real, dem heutigen San Cristóbal de las Casas. Er stellt zwei verschiedene Personengruppen, die versklavten Indígenas – vorwiegend Tzotziles – und die herrschenden Weißen gegenüber. Im Blickpunkt steht eine Indígena, die seherische Fähigkeiten hat und deshalb von ihrem Volk verehrt wird. Sie ist aber auch eine ganz normale Frau, die unter ihrer Unfruchtbarkeit leidet. Der Zufall kommt ihr zu Hilfe: Eine andere Indígena, die von einem weißen Gutsbe­sitzer vergewaltigt worden ist, überläßt ihr die Erziehung und Sorge für den kleinen Domingo, ihrem unge­wollten Kind. Als Seherin erneuert sie den alten Kult ihres Volkes, mobilisiert die alten Götter und erweckt dadurch bei den lethargischen, dem Alkohol verfallenen Tzotziles das Bewußtsein ihrer verloren­den kulturellen Identität zu neuem Leben. Der katholische Priester sieht den Einfluß seines Gottes schwinden und zerstört des­halb die Götzen der Indígenas. Diese Arroganz kostet ihn sein Leben. Der my­stische Kult und die Wiedererlangung des indigenen Stolzes finden ihren Höhepunkt in der Kreuzigung des kleinen Domingo. Er, “der zur Sonnenfinsternis Geborene” soll die Macht der Indígenas stärken – nun haben sie einen Gott der dem Gott der Weißen ebenbürtig ist und auch starb wie er. “Der Schrei mit dem Domingo seinen letzten Atemzug am Kreuz tat, drang bis in die entlegensten Winkel der von Tzotziles bewohnten Gegend”. Dies ist der Beginn der Revolte. Plündernd und mordend ziehen sie los, von Hacienda zu Hacienda in Richtung auf Ciudad Real. Sie lassen sich sogar erschießen, da ihr Glaub ihnen die Überzeugung gibt, un­sterblich zu sein. Auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit überfallen sie zu guter Letzt eine Karfreitagsmesse von weißen Frauen, Kindern und Greisen und richten ein Mas­saker an.
Rosario Castellanos stellt die Indigenas als grausam und brutal dar. Die Weißen dagegen kommen bei ihr sehr viel besser weg. Dadurch entsteht der Eindruck, daß sie selbst die indigene Bevölkerung für dumm und abergläubisch hält. Das Ende ist vorhersehbar und wurde deshalb wohl auch in einem rückblickenden, fast repor­tagemäßigem Schreibstil verfaßt. Damit blendet sie geschickt die brutale Vernich­tung und Vertreibung der Indígenas durch die GutsbesitzerInnen aus. Verbrannte Erde, verwüstete Dörfer, tote Frauen und Kinder sind alles was übrigbleibt. Die we­nigen Überlebenden haben sich in die Dunkelheit der eisigen Gebirgshöhlen ge­flüchtet. Lethargie und Resignation haben sie wieder vollständig in Besitz genom­men. Nur ein religiöser Ritus hält sie noch zusammen. Ein Buch, dem magi­sche Kräfte nachgesagt wird und das sie auf ihrer Flucht mitgenommen haben, ist ihr einziger Hoffnungsschimmer. Kei­ner von ihnen ist in der Lage es zu lesen, aber sie verehren es wie eine Reliquie. Es ist Ausdruck ihrer Hoffnung und ein Ver­sprechen für die Nachwelt. Nur wir als LeserInnen wissen, daß es sich dabei um das Militärreglement zur entgültigen Aus­rottung der indigenen Bevölkerung von Chiapas handelt. Der Anfang des Buches trifft besonders, wenn er noch einmal zum Schluß gelesen wird. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus dem Popol Vuh, dem heiligen Buch über die Geschichte und die Mythen der Maya.

” Da längst schon verloren euer Ruhm;
da auch eure Macht euch genommen,
soll eine Weile noch herrschen euer Geschlecht …
-wenn auch ohne viel Recht auf erbarmen-.
Alle Söhne des Morgens und alle Enkel des Morgens,
werden euer nicht sein;
die großen Erzähler nur werden sie euch lassen.
Die des Leids, des Kampfes und des Elends,
ihr, die ihr unrecht tatet,
beklagt es.”

Rosario Castellanos: Das dunkle Lächeln der Catalina Díaz. Europa-Verlag, Wien 1993. 408 Seiten 39,80 DM

“Fresa y chocolate” und der Sozialismus

Rebeca Chávas: Wie ist das Projekt “Fresa y chocolate” entstanden?
Tomás Gutiérrez Alea: Es entstand aus einer Inspiration – wie alle meine Filme. Du siehst eines Sache, liest et­was, und be­ginnst nachzudenken. So war es mit der Geschichte “Der Wolf, der Wald und der Neue Mensch” von Senel Paz. Diese Er­zählung fand eine große Resonanz. Bereits jetzt existieren vier Theaterversionen und einige Buchausgaben.
Aber es war nicht diese Resonanz des Textes, aufgrund derer ich mich dazu ent­schloß, diesen Film zu machen. Ich las das Manuskript, bevor es prämiert wurde, be­vor es überhaupt bekannt war. Nach dem Lesen sagte ich mir: Hier gibt es einen ab­gerundeten, geeigneten Filmstoff, der interessant sein könnte, und rief Senel an. Er war einverstanden. Wenn – wie in die­sem Fall – der Eindruck sehr stark ist, und alles zusammenpaßt, kommt das Pro­jekt voran. Wir diskutierten viel dar­über, wie das Drehbuch weiterentwic­kelt werden könnte. Und heute scheint mir, als könnte der Film nicht nur für mich, meine Kar­riere und meine Filmographie interessant sein. Es ist ein Film, der sehr gut in die Situation paßt, in der wir zu Zeit leben, wo es darum geht, sich der vielen Irrtümer bewußt zu werden, die im Laufe der Jahre begangen wurden. In vieler Hin­sicht ist ein Wandel vonnöten; und dieser Film skizziert einen dieser Aspekte: das intole­rante Verhalten, das lange Zeit gegenüber einem Teil der Bevölkerung herrschte, den Homose­xuellen. Schließlich läßt die Into­leranz in einem Bereich auf die Intoleranz gegenüber anderen Dingen schließen.
Aber man macht keine Filme, um die Re­alität zu transformieren oder etwas zu ver­ändern. Filme werden in erster Linie pro­duziert, weil das Kino Genuß bringen soll. In diesem Sinne kann der Film sehr at­traktiv sein, bewegend, mit Humor und gleichzeitig einem sehr starken Gefühls­gehalt.

Senal hat sehr präzise darauf hinge­wiesen, daß das Thema seiner Erzäh­lungen die Intoleranz ist. Ist dies auch das Thema des Films?
Ja. Toleranz, die sich sowohl gegen­über den Homosexuellen als auch ge­genüber so vielen Bereichen äußert, die außerhalb der etablierten Normen, Schemata oder engstirnigen Wegen lie­gen.

Denkst du, daß diese Intoleranz in der heutigen kubanischen Gesellschaft vor­handen ist?
Ja, auf jeden Fall existiert sie weiter­hin. Die Erzählung und auch der Film spielen vor zwanzig Jahren, als die Schwulen­feindlichkeit und die Verfol­gung von Ho­mosexuellen noch schär­fer waren als heute. Damals kam es wirklich zu extre­men, abscheulichen Situationen, was glücklicherweise heute in dieser Form nicht mehr passiert. Trotzdem manifestiert sich weiterhin eine bestimmte Zurückwei­sung und eine Verständnislosigkeit ange­sichts dieses Phänomens – und das nicht nur in dieser Gesellschaft, sondern in allen Teilen der Welt. In einigen Ländern ist man schon etwas weiter fortgeschritten in dem Bewußtsein, daß Homosexua­lität weder eine Krankheit noch eine Abartig­keit oder Degeneration ist. Es ist eine Art und Weise des Anders­seins, die man ak­zeptieren muß.

Ein Schwulenfilm?
Nein. Wenn ich von dem Unverständ­nis rede, geht es mir um das gegensei­tige Un­verständis – auch von Seiten der Homose­xuellen. Was man zuweilen rechtfertigt, da Art und Weise der Wahrnehmung sich verzerren, wenn die Leute sich in ein Ghetto gedrängt sehen. Ich bin es leid, Homosexuelle zu erleben, die denken, daß im Grunde genommen alle Welt schwul sei, die alle anderen von ihrem Standpunkt überzeugen wollen. Dies ist auch eine Art, die Realität zu verzerren.
Von daher erscheint es mir übertrie­ben, von einem Schwulenfilm zu reden, bloß, weil er von dem Thema handelt. Der Film ergreift weder für die Ho­mosexuellen Partei noch ist es ein Film, der für die Homosexualität wirbt. Nein, darum geht es nicht, es geht darum, eine Situation der Verständnis­losigkeit zu zeigen.

Warum spielen die Frauen in deinen Filmen keine wichtige Rolle?
Ehrlich gesagt, kann ich dir diese Frage nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Es stimmt sicher, daß ich in meinem Werk weibliche Rollen nicht in der gleichen Weise entwickelt habe wie männliche. Das ist eine Welt, die ich vielleicht nicht ausreichend durch­drungen habe, auch wenn ich Versuche unternommen habe.

Seit deinem Film “Memorias del sub­desarrollo” hat die Stadt Havanna keine so herausgehobene Rolle mehr gespielt…
Havanna ist eine herrliche Stadt und bildet einen Teil des Kontextes, in dem sich die Spielhandlung von “Fresa y chocolate” entwickelt. Ich hoffte, die Stadt würde häufiger in Filmen auf­tauchen. Havanna ist meine Stadt, eine Stadt, die ich im Laufe der Jahre im­mer mehr zu genießen gelernt habe. Der gegenwärtige Prozeß der Ver­wahrlosung, den die Stadt erleidet, schmerzt mich sehr. Gefühlsmäßig be­deutet Havanna mir sehr viel, und ich würde am liebsten alles fotografieren, Sa­chen konservieren, um zumindest an die Leute zu appellieren, damit sie sich be­wußt werden, was verlorengeht. In dem Film versuchen wir dies auch direkt zu sagen. Ich weiß nicht, ob dies hinreichend gelingt, und ob wir es schaffen, etwas von diesem Glanz zu vermitteln, der auf so schmerzhafte Weise verloren geht.

Kuba durchlebt zur Zeit eine besondere Phase. Wird dies ein harter, polemi­scher Film werden?
Hart?

Der Film wird die Leute mit Realitäten konfrontieren, in denen sie sich bewe­gen, die sie aber nicht wahrnehmen wollen…
In diesem Sinne schon. Das wird für mich das Interessanteste sein. Ich bin mir der Inhalte, die wir mit dem Film vermitteln wollen, sicher. Ich weiß, daß es Leute gibt, die dies nicht verstehen, und ich denke, daß der Film dazu bei­tragen kann, daß viele von diesen Din­gen verständlich werden.

Du wirst immer mit kritischen Positio­nen in Verbindung gebracht…
Ich habe immer eine kritische Haltung ge­habt. Ich glaube, das war das Pro­duktivste, was ich in meinem Leben tun konnte. Dieser Filmemacher befaßt sich mit dem, was er glaubt, was im Sozialis­mus schlecht ist. Jemand hat mir gesagt – und ich bin damit voll einverstanden – daß das Drehbuch für den Sozialismus exzel­lent ist, aber die Inszenierung einiges zu wünschen üb­rig läßt, und von daher Ob­jekt der Kritik sein muß. Das ist die beste Art, zu seiner Verbesserung beizutragen.

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