Rückenwind für indigenen Widerstand

Es war ein Mammuttreffen, das vom 4. bis 9. August in dem zapatistischen autonomen Caracol (Verwaltungszentrum) La Realidad stattfand. Der Nationale Indigene Kongress (CNI), in dem sich indigene Organisationen aus ganz Mexiko organisiert haben, hatte 312 Delegierte von 32 indigenen Gruppen in den Ort am Rande der Selva Lacandona im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas entsandt. Auf Seite der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) nahmen jeweils 50 Austauschende und 50 Berichterstatter_innen teil, sowie 1.200 Hörer_innen, die die Aufgabe hatten, die gefassten Beschlüsse und geteilten Erfahrungen in ihren Gemeinden kundzutun und zu informieren.
Es ist bereits das zweite Mal, dass innerhalb weniger Monate ein derart großes Ereignis in La Realidad stattfand. Das erste datiert auf das letzte Maiwochenende diesen Jahres, als eine symbolträchtig inszenierte Trauerfeier für den ermordeten Zapatista Galeano abgehalten wurde. Ebenso entfiel auf jenes Wochenende der symbolische Tod der Medienfigur Subcomandante Insurgente Marcos, verbunden mit seinem Rücktritt als Sprecher und Militärchef der EZLN, sowie dessen Wiedergeburt als Subcomandante Insurgente Galeano (siehe LN 480).
Das Augusttreffen hatte historische Dimensionen, denn erstmals waren es die zapatistischen Basisgemeinden, welche an dem Austausch und Annäherungsprozess aktiv teilnahmen. Von weiten Teilen des Treffens blieb die Öffentlichkeit ausgeschlossen, erst für die abschließende Pressekonferenz öffneten sich die Türen für freie Medienschaffende sowie Anhänger_innen der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald (la Sexta) wieder.
Als Resultat hervorzuheben ist das gemeinsame Bekenntnis von CNI und EZLN zum Widerstand gegen neokoloniale Extraktivismus- oder neoliberale Infrastrukturprojekte. Unter den Konsequenzen dieser Projekte leiden hauptsächlich indigene ländliche Gemeinden in Mexiko. Und so ist auch die einleitenden Ansprache von EZLN-Comandante Tacho zu verstehen: „Auch 500 Jahre nach dem Versuch der Auslöschung […] leisten die indigenen Gruppen Widerstand. Sie haben ihr Ziel nicht erreicht, Beweis dafür ist, dass wir hier und heute präsent sind. Wir sind gewachsen, unter dem Mantel des Vergessens der Mächtigen, und so sind 500 Jahre vergangen, überall in unserem mexikanischen Vaterland.“ Es ist diese Mischung aus dem Anprangern gesellschaftlicher Verhältnisse und der Ankündigung eigener Prozesse und Aktivitäten, die die zapatistische Bewegung seit 1994 in der Welt so bekannt werden ließ. „Die Hoffnung, die wir haben, sind wir selbst. Niemand wird kommen, uns zu retten, niemand, wirklich niemand wird für uns kämpfen. Daher, Compañeras und Compañeros, beginnt heute der Weg und die Suche wie wir uns gemeinsam verteidigen werden, wir haben nicht mehr viel Zeit“, schließt Tacho seinen Diskurs.
Dass vor allem die zapatistischen Gemeinden in letzter Zeit Übergriffen ausgesetzt sind, zeigt der erneute Angriff auf zapatistisches Land kurz vor Beginn des Kongresses. Bewaffnete Mitglieder der kleinbäuerlichen Organisation ORCAO besetzten ein Landstück, das bis dahin als kollektives Land des Autonomen Landkreises San Manuel von den Zapatistas gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde.
Dieser Vorfall reiht sich ein in eine ganze Reihe antizapatistischer Aggressionen in den letzten Monaten, auf die das lokale Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) in einer kürzlichen Stellungnahme hinwies. Geprägt seien die Aggressionen durch „das Handeln einiger regionaler sozialer Organisationen im Dienste des Staates, welche ihnen (den Zapatistas, Anm. d. Red.) seit einigen Jahren das besetzte Land streitig machen“. Ziel sei es, „Ermüdung bei dem Teil der Bevölkerung hervorzurufen, der sich im Widerstand befindet und kämpft, der seine Lebensumstände auf Basis seiner Kultur und seiner Rechte verändert“.
So stand auch die erste der zwei gemeinsamen Abschlusserklärungen ganz im Zeichen der Repression. Sie widmet sich den neuesten Ermordeten, „Verschwundenen“ und Inhaftierten, die sich über viele Bundesstaaten des Landes verteilen. Die zweite Erklärung hingegen liest sich wie eine detaillierte geographische Karte kapitalistischer Vertreibungsprozesse und des Widerstands dagegen. Als „Spiegel“ betitelt werden 29 aktuelle Szenarien und Fälle in ganz Mexiko beschrieben. Die Struktur ist stets die gleiche, das heißt eine Mischung aus Enteignung und Vertreibung zugunsten der Durchsetzung von Energie- oder Bergbauprojekten, der damit zusammenhängende Ökozid und schließlich die unterschiedlichen Formen des Protestes der Betroffenen.
Auch wenn dies in der Erklärung nicht explizit hervorgehoben wird, so führen solche Prozesse zu einer Neustrukturierung des ländlichen Raumes. Ziel ist, jenen effektiver mit dem sogenannten globalen Markt zu verknüpfen und besagte Regionen auf Marktbedürfnisse hin zu organisieren und auszurichten. Diese zweite Erklärung besitzt eine weitere bedeutende Gewichtung: Es sind die betroffenen indigenen Akteur_innen selbst, welche in einem kollektiven Prozess die Geschichte und die Realität über ihr eigenes Leben – und letztlich den Kontext in vielen Teilen Mexikos – schreiben, benennen, kundtun und in sie gestaltend eingreifen. Und eben nicht, wie so oft, Wissenschaftler_innen oder sogenannte Expert_innen, angereist aus den Städten, die Feldforschungsarbeiten betreiben und eher in einem instrumentellen Verhältnis zu den Gemeinden stehen.
Mit Hinblick auf die 29 „Spiegel“ in der Erklärung wurde zudem das „Erste Weltweite Festival der Widerstände und der Rebellionen gegen den Kapitalismus“ angekündigt, das vom 22. Dezember diesen Jahres bis zum 3. Januar 2015 stattfinden wird. Austragungsorte werden Mexiko-Stadt sowie die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Estado de México, Morelos und Yucatán sein.
Heiß ist es in La Realidad. Brennend, drückend heiß. Unter dem aufgespannten Zelt im Caracol schiebt sich von Zeit zu Zeit ein leichter Windhauch hindurch und lässt die Luft nach tagelangem Schweiß schmecken. Die Delegierten des CNI haben sich bereits verabschiedet, als sich die freien Medien auf die Pressekonferenz der EZLN vorbereiten. Sie versammeln sich allesamt vor der großen Bühne am Basketballplatz, montieren Kameras und versuchen sich in irgendeiner chaotischen Weise untereinander zu koordinieren. Auch vier Monate nach dem Mord ist die militärische Struktur der EZLN im Caracol präsent. Nun positionieren sich die Milizionäre in einer Diagonale über den Basketballplatz, während die Medienaktivist_innen bereits seit einer knappen Stunde unter der unerbittlichen Sonne ausharren. Und wie bei der Trauerfeier für den ermordeten Galeano ertönt aus den Lautsprecherboxen plötzlich das Lied „Latinoamérica“ von Calle 13, gefolgt von „La cigarra“ der Sängerin Merecedes Sosa. Teile der Generalkommandantur kommen auf Pferden angeritten, reiten Richtung Bühne und verschwinden dahinter; zeitgleich erfolgt ein aufgeregtes Hin und Her zwischen den freien Medien, Fotos werden geschossen und sich schließlich wieder vor der Bühne versammelt. Von ihren Blicken unbemerkt tauchen 40 Meter auf der gegenüberliegenden Seite einige Sekunden darauf Subcomandante Insurgente Galeano (Ex-Marcos), Subcomandante Insurgente Moisés sowie Comandante Tacho auf, nehmen an einem Tisch Platz und schauen dem Treiben belustigt zu. Galeano ergreift das Wort, doch es dauert noch zwei, drei Minuten bis die Medienschaffenden bemerken, dass sie den Zapatistas auf den Leim gegangen sind.
In seinem folgenden Diskurs bedankt sich der neue alte Subcomandante für die überraschend große nationale und internationale Unterstützungskampagne der Anhänger_innen der Sexta im Zuge des paramilitärischen Angriffes im Mai, bei dem auch die autonome Schule und Klinik der Bewegung gänzlich zerstört wurden. Nie zuvor in diesen 20 Jahren, so Galeano, habe die EZLN eine solche Hilfe erreicht. Statt der anfangs erbetenen 200.209,00 Mexikanischen Pesos (ca. 11.200 Euro) erreichten die Bewegung umgerechnet 53.2560 Euro – also letztlich fast fünfmal so viel. Überraschend sei es für die EZLN auch deswegen gewesen, da sie wüssten, dass die Anhänger_innen der Sexta „nicht das gaben, was sie übrig hatten, sondern das, was ihnen fehlte“. Dank dieser Hilfe konnte bereits mit den Arbeiten an der neuen autonomen Schule und Klinik begonnen werden, welche voraussichtlich Ende Oktober bis Anfang November abgeschlossen sein sollen.
Ebenso gibt die EZLN-Führung bekannt, dass fortan sowohl Moisés, Galeano als auch der neue Comandante Tacho als Sprecher nach außen fungieren. Galeano verkündet darüber hinaus, dass die EZLN in Zukunft keinen Austausch mehr mit den kommerziellen Medien führen wird: „Wir wollen mit denen von oben nicht reden“. Stattdessen wollen die Zapatisten sich ausschließlich den „freien, autonomen, alternativen oder wie sie auch heißen mögen Medien“ zuwenden. Dies ist ein Resultat ihrer Analyse der kommerziellen Medien als integraler Teil des kapitalistischen Systems, welches zunehmend dafür sorgt, dass „die Medien dafür kassieren, nicht zu produzieren, das heißt, nicht zu informieren“. Folge sei, dass sich jene schließlich Schritt für Schritt in Unterhaltungsmedien konvertierten und ihrer eigentlichen Aufgabe, zu informieren, zu hinterfragen, aufzudecken und dergleichen, gar nicht mehr nachkämen. Dies führe zu einem Vakuum in der Gesellschaft, das jedoch, aus Sicht der Zapatistas, durch die freien Medien gefüllt werden könne. „Wir haben keine Hoffnung in euch, wir haben Vertrauen in euch“, wendet sich Galeano den anwesenden Medienschaffenden zu, „denn ja, es gibt viele Leute, die mehr von euch erwarten, als ihr euch vorstellt“. Und er fügt an: „Das, was uns interessiert, ist, mit euch zu sprechen und euch zuzuhören, und damit meine ich die Menschen, die durch euch uns zuhören und die durch euch mit uns sprechen“. Der Unterschied zwischen den kommerziellen und den freien Medien sei daher auch nicht zwangsläufig derjenige, dass die einen Geld hätten oder kassierten und die anderen nicht, sondern liege im Verhältnis zueinander: „Für einige sind wir eine Ware, sei es, dass sie über uns sprechen oder nicht; und für andere sind wir ein Raum des Kampfes wie derjenige, den auch sie haben und den es zu tausenden in allen Ecken der Welt gibt.“

„Die Ausbeutung von Land wird legalisiert“

Was ist das Besondere an der Energiereform?
Das Neue ist, dass sie eine grundlegende Verfassungsreform darstellt. Die Regierung hat sich bisher nie getraut, Verfassungsänderungen durchzusetzen, die der Nation den exklusiven Besitz der strategischen Ressourcen entziehen (geregelt ist diese Frage in Art. 27 der mexikanischen Verfassung, Anm. d. Red.). Es gab schon vorher gesetzliche Regelungen, die ausländischen Unternehmen die Ausbeutung von Gütern der Nation erlaubten. Aber dass sie auch deren Eigentümer sein können, ist jetzt zum ersten Mal in der Verfassung festgelegt. Damit ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem der Energiequellen, legalisiert.

Was bedeutet das in der Praxis?
Es findet eine vollständige Öffnung gegenüber dem ausländischen, privatwirtschaftlichen Sektor statt. Ausländische Unternehmen können per Vertrag Eigentümer werden. Basierend auf der Erfahrung mit transnationalen Unternehmen in anderen Ländern wird eine Bandbreite von Verträgen möglich, mit Inhalten wie geteilten Risiken, geteilter Nutzen, Erforschung der Ressourcenvorkommen und deren Abbau. Der staatliche Mineralölkonzern PEMEX und die ehemals staatliche Energiekommission CFE haben keinen exklusiven Besitz der Erdöl- und Energieressourcen mehr. Sie stellen nur noch steuerpflichtige Unternehmen dar, die unter ungleichen Bedingungen mit ausländischen Unternehmen konkurrieren sollen. Außerdem wird der Investition in die Energiegenerierung gegenüber jedweder anderen Nutzung von Land der Vortritt gegeben. Als Folge davon werden Wasservorkommen und ejidale (eine Form gemeinschaftlichen Landbesitzes; Anm. d. Red) und kommunale Landflächen abgetreten.

Welche Gesetzesänderungen sind dem bereits gefolgt?
Die Regierung von Enrique Peña Nieto hat im August alle Folgegesetze zur Energiereform erlassen und angekündigt, dass demnächst die sogenannte Landreform vorgestellt wird. Enthalten sind wichtige Regelungen im Bereich Erdöl, das Gesetz über öffentliche Dienstleistungen im Bereich Elektrizität, das Gesetz zur CFE und PEMEX.
Die Übergangs- und Folgegesetze sind sehr aggressiv. Es wird vom Gebrauch der öffentlichen Gewalt und Einsatz der Armee im Fall von Opposition gesprochen. Das passiert auch schon, wie auf der Insel Holbox vor Yucatán, wo kürzlich die Marine gegen die Leute eingesetzt wurde, die sich dort gegen ein Tourismus-Projekt stellten.

Was heißt das für die ländlichen Gemeinden?
Es ist absehbar, dass sich damit die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Territorien der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften verschärfen wird. Durch Megaprojekte wie Staudämme oder Bergbauminen werden sich die umwelt-sozialen Konflikte in den Gemeinden verschärfen. Ein Beispiel ist das Stauwerk zur Elektrizitätsgewinnung Chicoasén 2. Dort hat die Regierung den ejidatarios, die sich zur Wehr setzen, gedroht, Militär zur Räumung zu schicken.

Welche Konsequenzen ergeben sich für die Besitzverhältnisse auf dem Land, insbesondere den sozialen Landbesitz?
Die Energiereform, eine gesellschaftlich nutzlose Gegenreform, beinhaltet die Änderung des Artikels 27 der Verfassung, der die nationalen Güter wie Wasservorkommen, Energiequellen, (Agrar-) Land, die ejidos und den sozialen Besitz betrifft. In der Folge müssen andere Gesetze angepasst werden. Reformiert werden muss auch das gültige Agrargesetz, da es in vielen Punkten der Energiereform widerspricht. Ich denke, dass der juristischen Figur der „temporären Besetzung“ eine Schlüsselrolle zukommt. Denn sie ermöglicht es der Regierung, Land und Territorium indigener Gemeinschaften an ausländische Unternehmen zu übergeben, ohne dass es ein rechtliches Mittel der Verteidigung und Verhinderung gäbe. Die Gemeinden können es nicht anfechten, wenn privaten oder staatlichen Unternehmen die Nutzung eines Grundstücks vertraglich zugesichert oder zugewiesen wird. Das legen die Folgegesetze fest. Den ejidatarios bleibt ein Zeitraum von 30 Tagen, um mit dem Unternehmen eine Vereinbarung zu schließen. Tun sie das nicht, kann die Regierung mittels Einsatz öffentlicher Gewalt dafür sorgen, dass die vertraglich beschlossene Aktivität beginnt. Auch im Bergbaugesetz taucht die Regelung der „temporären Besetzung“ auf. Der Begriff „Enteignung“ wurde kürzlich aus dem Wortlaut gestrichen, denn das hat alte Erinnerungen bei den Bauern ausgelöst. Die Unternehmen sind auch nicht an Enteignung interessiert, sondern an zeitlich begrenzten Konzessionen, um die gewinnträchtigen Ressourcen auszuschöpfen und das Land danach zurückzugeben. Sonst müssten sie die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Kosten tragen.

Was ist der aktuelle Stand bei der Agrarreform?
Bereits das Agrargesetz von 1992 ermöglicht ausländische Investitionen auf dem Land, beispielsweise über Verpachtung. Auch möglich ist, dass kollektiver Landbesitz in Privatbesitz umgewandelt wird. Dazu gibt es ein bekanntes Programm – PROCEDE, jetzt FANAR – wodurch die Bauern in den Übergang von der kollektiven, eijdalen Besitzordnung des Landes zum Privatbesitz einwilligen. Die Regierung steht bereit für weitere Schritte. Kurz bevor Ex-Präsident Felipe Calderón 2012 sein Mandat beendete, schickte er eine Initiative an den Kongress – darin liegt der Schlüssel für die kommende Landreform.

Kann man daraus ableiten, wie die geplante Agrarreform aussehen wird?
Die Regierung betrachtet die ejidale Versammlung als größtes Hindernis für ihre Pläne zur Modernisierung und Marktliberalisierung. An vielen Orten ist die Versammlung eine historische Institution der indigenen Gemeinden, deren Geschichte weit über das Agrargesetz hinausgeht. Es ist jetzt einfacher, dass ein einzelner Bauer mit seiner Parzelle Opfer von Ausbeutung wird oder dass er sein Land verkauft – hier gab es eine Schranke, weil in der vorhergehenden Ordnung das Land nicht verkauft werden konnte. Das bevorstehende Agrargesetz ist einfach nur der Abschluss all dieser Reformen: die Ausbeutung von Land wird legalisiert.

Mit der Energie- und Landreform gehen weitere Reformen einher, die Einfluss auf den Landbesitz haben…
Innerhalb dieses ganzen Reformpakets wird zum Beispiel das „Schutzgesetz“ (ley de amparo) reformiert. Im gültigen Agrargesetz stand den Bauern noch der amparo als Weg der Verteidigung ihres Landes offen. Der amparo ist eine Verfassungsbeschwerde, eine Institution in Mexiko. Es ist der legale Mechanismus jedes mexikanischen Bürgers oder von Körperschaften wie der ejidalen Versammlung gegen staatlichen Machtmissbrauch und Verletzung von Verfassungsrechten vorzugehen, zum Beispiel bei der Durchsetzung von Regierungsprogrammen.
Das wird bereits unterwandert: Die Staatsanwaltschaft in Agrarsachen, deren Funktion es wäre, die Rechte der Gemeinden zu verteidigen, überzeugt stattdessen die Bauern davon, ihre Rechte abzugeben – auch mithilfe illegaler Mittel. Sie agiert damit als Vertreterin von Unternehmen oder der Regierung, die Interessen an dem Land haben.

Wie steht es um die Menschenrechte der Landbevölkerung nach den Energiegesetzen?
Die Energiereform verletzt internationale Instrumente, die Menschenrechte von indigenen Gemeinschaften schützen. Der einzige legale Mechanismus, den es für Gemeinschaften, wie ejidos gibt, um ein Programm oder Projekt auf ihrem Territorium zu auszusetzen, war bisher der amparo. Das wird sich ändern. Es wird davon gesprochen, dass der amparo nicht bei Verfassungsänderungen, das heißt der Energiereform, greift. Die Energiereform und die kommende Agrarreform entziehen den indigenen Gemeinschaften das Recht auf Land sowie auf vorherige Konsultation. Es gibt auf nationaler Ebene keinen bindenden Schutzmechanismus, da keine Regelungen darüber bestehen, wie der Prozess einer Konsultation ablaufen sollte. Die Regierung entscheidet also darüber. Sie hält zum Beispiel ein Forum ab, das sie dann als Konsultation darstellt, obwohl sie die Eingeladenen bezahlt und kontrolliert.

Manche schätzen die Energiereform als Gnadenstoß für Formen des gemeinschaftlichen Landbesitzes ein…
Ich denke vielmehr, dass sie die Legalisierung dessen ist, was schon vorher passierte. Es ist lediglich ein noch komplizierteres Szenario mit wenig Verteidigungsmöglichkeiten. Die Gemeinschaften können auf keinen Schutzmechanismus zurückgreifen. Hinzu kommt, dass auch die Richter von der Regierung kontrolliert werden. Der Oberste Gerichtshof hat gezeigt, dass er im Interesse der Regierung und Unternehmen handelt, anstatt eine unparteiische und juristische Position zu garantieren.

Wo sehen Sie Handlungsspielräume für den Widerstand?
Die Reformen zwingen die Menschen zu neuen Widerstandsformen. Wir haben die Möglichkeiten der kommunitären Konsultation noch nicht ausgeschöpft. Ich denke, hier könnten wir ansetzen. Die Gesetze verletzen die Rechte der Gemeinschaften auf Territorium. Deshalb muss die Kampfstrategie darin bestehen, selbst Mittel zur Konsultation zu entwickeln. Wir können hier keine Organisation überstülpen. Es muss ein Prozess an der Basis stattfinden, ohne dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionen oder politischen Parteien von Bedeutung ist. Die sozialen Organisationen können die Prozesse begleiten. Das ist die einzige Form, das soziale Netz wiederherzustellen.

Das produzierte Territorium

Er sieht es als göttlichen Auftrag. Dr. Albrecht Glatzle aus Filadelfia, der größten Stadt des Chaco, verteidigt den Ausbau der Viehwirtschaft im nördlichen Chacogebiet Paraguays. Er begründet dies mit der Bibel, aus der er einen „göttlichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren“ herausliest. Mit diesem Argument versucht der in Deutschland promovierte Agrarbiologe die fortschreitende Abholzung des Trockenwaldes in der Chacoregion zu rechtfertigen. Der Spezialist für tropische Viehwirtschaft erklärte in verschiedenen Leserbriefen und anderen journalistischen Beiträgen, dass die Viehwirtschaft im Chaco mitnichten die Biodiversität verringern oder der Wüstenbildung Vorschub leisten würde. Stattdessen sieht er in der Viehwirtschaft eine nachhaltige Wirtschaftsform, die Devisen und Fortschritt ins Land bringen würde. In anderen Äußerungen leugnet er auch den menschengemachten Klimawandel.
Auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, kann man nicht behaupten, dass Dr. Albrecht Glatzle nicht wüsste, wovon er spricht. Seit 1990 ist er Viehzüchter im Chaco, als Direktor eines privaten Instituts für Raumplanung und Viehzucht hat er maßgeblich zur heutigen Raumordnung des Chaco beigetragen. Für ihn ist die Integration des Chaco in die Weltwirtschaft eine Erfolgsgeschichte, die weitergeführt werden sollte: Der leere und nutzlose Raum Chaco wurde und wird durch die Viehwirtschaft in Wert gesetzt und somit auch für die Nation Paraguay erobert.
Leer war dieser Raum aber noch nie. Im Chaco leben seit tausenden Jahren Indigene verschiedener Ethnien. Während der Kolonialzeit galt die regenarme und heiße Tiefebene den aus Europa kommenden Kolonialherren als nutzlos und lebensfeindlich. Sie ignorierten das Gebiet, das etwas größer als Polen ist. Deshalb blieben bis weit ins 20. Jahrhundert viele Indigene des Chaco isoliert von der restlichen Welt; einige sogar bis heute.
Einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode vermeiden auch heute noch jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie leben als Jäger_innen und Sammler_innen und ernähren sich von Landschildkröten, Chaco-Pekaris, Wurzeln und wildem Honig. Sie verkaufen ihre Produkte nicht, sie sind nicht in den Weltmarkt eingebunden. Sie identifizieren sich weder als Paraguayer_innen, noch als Bolivianer_innen und leben außerhalb nationaler Räume.
Aus diesem Grund besitzen die Ayoreo Totobiegosode keine legalen Besitztitel des paraguayischen Staates über ihr Land. Aber Viehzuchtunternehmen wie die spanisch-argentinische Carlos Casado S.A. oder die brasilianische Yaguareté Porã S.A. besitzen sie. Carlos Casado S.A. ist seit 1886, als der paraguayische Staat die vermeintlich „leeren“ Ländereien des Chaco zu verkaufen begann, auf dem Papier der größte Landeigentümer der Region.
Insbesondere diese beiden Firmen – aber auch zahlreiche andere – dringen immer weiter in den nördlichen Chaco ein, um den artenreichen Trockenwald zu roden und vor allem Viehweiden anzulegen, aber auch um Sesam oder andere trockenheitsresistente Feldfrüchte anzubauen. Neue Technologien – schwere Bulldozer und Wasserspeicheranlagen – geben die Möglichkeiten dazu. In Loma Plata, mit etwas weniger als 6.000 Einwohner_innen eine der größten Städte des Chaco, ist eine der modernsten Viehschlachtanlagen der Welt entstanden. Sie funktioniert ausschließlich mit Regenwasser, das immer wieder aufbereitet und gereinigt wird. Der Chaco ist für die globale Agrarindustrie geöffnet und Investor_innen aus aller Welt, vor allem aus Brasilien, drängen in das vermeintliche Niemandsland.
Den Ayoreo bleibt nichts übrig, als ihre überlieferte Lebensweise aufzugeben. In den 1970er Jahren haben evangelikale Missionare aus den USA etliche Ayoreo-Gruppen – oft mit Gewalt – sesshaft gemacht. Diese Ayoreo, die sich frei zwischen den nationalen Räumen Boliviens und Paraguays bewegten, sind unter Zwang in die jeweiligen Nationen und die kapitalistische Wirtschaft integriert worden. Nur einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bleiben außerhalb der Nationen.
Doch die Integration der Ayoreo blieb unvollständig. Bis heute haben die meisten von ihnen enorme Anpassungsschwierigkeiten. Lohnarbeit ist ein Konzept, dass den ehemaligen Jäger_innen und Sammler_innen fremd ist und bleibt. In den Städten im paraguayischen Chaco und im Südosten Boliviens leben die Ayoreo in Slums unter menschenunwürdigen Bedingungen. Für die meisten Familien sind Sexarbeit und Betteln die einzigen Einnahmequellen. Bei vielen sesshaft gemachten Ayoreo grassiert eine rätselhafte Lungenkrankheit, der Tuberkolose ähnlich, die weder verstanden noch behandelt wird. Die kapitalistische Inwertsetzung des Chaco war für sie keine Erfolgsgeschichte wie für Herrn Dr. Glatzle.
Die Pionierarbeit für die wirtschaftliche Erschließung des Chaco leisteten deutschsprachige Mennonit_innen, die ab 1921 aus Kanada und der Sowjetunion den Chaco besiedelten. Hintergrund für ihre Ansiedlung war der Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay um das umstrittenen Gebiet. Die beiden Länder lieferten sich einen Wettlauf um die „Kolonisierung des Chaco“, wie dies damals genannt wurde. Das „herrenlose“ Land zwischen den beiden Staaten sollte in Nationalterritorium umgewandelt werden. Paraguay lud die Mitglieder verschiedener mennonitischer Kirchen in den Chaco ein, damit sie diesen Raum für Paraguay integrierten.
Die mennonitischen Immigrant_innen sollten im Raum die Nation repräsentieren, auch wenn die meisten bis heute in den Schulen auf Deutsch lernen und zu Hause ihren Plautdietsch genannten Dialekt pflegen. Sie gründeten die wichtigsten Städte Filadelfia und Loma, in denen auch heute viele Hinweisschilder auf Deutsch geschrieben sind. In der rassistisch geprägten Welt galten die weißen Siedler_innen dennoch als angemessenere Repräsentant_innen der paraguayischen Nation als die Indigenen, die als „barbarisch“ und „zurückgeblieben“ diffamiert wurden. Nur eine Nutzung des Raums, die in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert war, galt als legitim. Der Raum, den die Indigenen nutzen und beleben, war nicht in die Nation integriert und sollte umstrukturiert, als Nationalterritorium produziert werden.
Dieses Muster ist im Streit um die Raumnutzung des Chaco und anderer „staatsferner Räume“ in Lateinamerika bis heute erkennbar. Als 2003 das Biosphärenreservat des Chaco gegründet wurde, protestierten Farmer_innen in Filadelfia dagegen. Sie hielten Schilder hoch, auf denen stand: „Ihr wollt den Tod der Produzenten!“. Auch der Agronom Dr. Glatzle sieht das so. Er will nicht auf die „Nutzung einer Fläche von der Größe Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens“ verzichten, wegen einer „Handvoll Waldbewohner“. Die Produktion der Ayoreo Totobiegosode, auch wenn sie den Wald und seine Biodiversität schont, wird nicht anerkannt und als unangemessen dargestellt. Sie beleben ihren Raum, und doch stellen die Agrarunternehmer_innen diesen Raum weiterhin als „leer“ dar.
Staatliche Institutionen teilen meistens diese Sicht. In Brasilien stellen nationalistische Gruppen und Militärs Indigene und Umweltorganisationen in der Amazonasregion als „Feinde der Nation“ dar, da sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen. Nur kapitalistisch genutzter Raum gilt als Nationalterritorium, anderen Formen der Raumnutzung wird die Berechtigung abgesprochen.
So auch im Chaco. Das paraguayische Umweltministerium SEDAM hat im März dieses Jahres den Unternehmen Yaguarté Porã S.A. und Carlos Casado S.A. das Recht bestätigt, mit der Rodung im Chaco fortzufahren. Ministerin Cristina Morales beruft sich dabei auf die von Gerichten bestätigten Landtitel der Unternehmen. Dieses Recht ist aber strukturell rassistisch, da es die jahrhundertealte Landnutzung der Ayoreo Totobiegosode nicht berücksichtigt.
Doch selbst die legalen Landrechte der Indigenen werden nicht respektiert. Im Februar dieses Jahres drangen Bulldozer auf das Land der Ayoreo Cuyabia, dass ihnen die Indigenenbehörde INDI zugestanden hatte. Ein Vertreter des Agrarunternehmens zeigte dabei Dokumente vor, denen zufolge dieses Gebiet von der INDI auf eine Julia Beatriz Vargas Meza übertragen wurde. Laut Artikel 64 der paraguayischen Verfassung ist es illegal, indigenes Land ohne die Zustimmung der Bewohner_innen zu veräußern. Doch Agrarunternehmen haben in Paraguay die besseren Beziehungen zu Politik und Gerichten als die Ayoreo. Dagegen leisten die Indigenen des Chaco – nicht nur die Ayoreo – zunehmend Widerstand.
Im vergangenen Jahr haben Ayoreo die Transchaco-Straße, den wichtigsten Verkehrsweg der Region, blockiert, um gegen ihre weitergehende Enteignung durch Agrarunternehmen zu protestieren. Sie fordern Landtitel und den Stopp weiterer Rodungen des Chacowaldes. Sie forderten auch, dass das Land der letzten im Wald lebenden Totobiegosode respektiert wird. Sie forderten letztlich, dass die Landnutzung der Ayoreo, die den Naturraum Chaco nur wenig beeinflusst, als legitime Landnutzung anerkannt wird. Die Zeit eilt. Eine Studie der Universität Maryland vom Januar kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Ausweitung der Rinderzucht der Chaco die höchste Abholzungsrate der Welt vorweist.

Info: Survival International führt eine Kampagne zur Unterstützung der Indigenen in ihrem Kampf um ihr Land im Chaco: http://www.survivalinternational.de/indigene/ayoreo

Einseitige Justiz

Die Angeklagten waren an der Besetzung der Farm Marina Kué bei Curuguaty im Juni 2012 beteiligt. Am 15. Juni räumte die Polizei diese Besetzung. Dabei kam es zu einer Schießerei, in deren Verlauf elf Besetzer_innen und sechs Polizist_innen
starben. Den jetzt Angeklagten wird vorgeworfen, die Polizei in einen Hinterhalt gelockt zu haben. Der Vorfall führte unmittelbar zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Staatspräsidenten Fernando Lugo am 22. Juni 2012, das international als „Parlamentsputsch“ kritisiert wurde (siehe LN 457/458).
Von wem die Schüsse damals ausgingen, ist weiterhin nicht geklärt. Die paraguayische Justiz untersucht bislang auch nicht die Tötung der elf Besetzer_innen. Unter dem Motto Qué pasó en Curuguaty? („Was geschah in Curuguaty?“) hat sich inzwischen eine internationale Solidaritätsbewegung für die Angeklagten zusammengefunden. Insbesondere in Argentinien protestieren viele linke Bewegungen und Studierende für eine faire Untersuchung des Vorfalls, auch in Berlin gab es bereits Kundgebungen vor der paraguayischen Botschaft. Das international bekannte puerto-ricanische Rap-Duo Calle 13 hat sich dieser Bewegung ebenfalls angeschlossen.
Doch bislang werden nur die Besetzer_innen gerichtlich belangt. Prozesse gegen Polizist_innen, die damals völlig unverhältnismäßig vorgingen, wie die Menschenrechtsorganisation CODEHUPY in einer Untersuchung herausfand, gibt es nicht. Die angeklagten Kleinbäuerinnen und -bauern sitzen indes seit knapp zwei Jahren in Untersuchungshaft. Im März konnten sie mit einem 56-tägigen Hungerstreik zumindest bewirken, dass die Haft in Hausarrest umgewandelt wurde. Doch die Anklagen gegen die Besetzer_innen blieben bestehen.
Dabei ist umstritten, wer wirklich die Farm Marina Kué widerrechtlich besetzt hat. Der inzwischen verstorbene Agrarunternehmer Blas Riquelme beanspruchte das 2.000 Hektar große Landstück. Doch bereits 2003 kam eine parlamentarische Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dass Riquelme sich das ehemals staatliche Grundstück während der Diktatur Eduardo Strössners (1956-1989) widerrechtlich angeeignet hätte und deshalb enteignet werden müsste. Die Besetzer_innen von 2012 forderten, dass dies endlich umgesetzt und Marina Kué im Rahmen einer Landreform an die Kleinbäuerinnen und -bauern verteilt werde. Doch der Gewaltausbruch am 15. Juni 2012 verhinderte das gerichtliche Vorgehen gegen Riquelme, der eng mit der konservativen Partei ANR, den Colorados, verbunden war.
Nach einer Umfrage der paraguayischen Nichtregierungsorganisation CIRD glauben über 65 Prozent der Paraguayer_innen, dass die ganze Wahrheit des Vorfalls von Curuguaty verschleiert wird. Die paraguayische Linke vermutet, dass das „Massaker von Curuguaty“ von einer Mafia aus Polizei, Staatsanwaltschaft und privaten Sicherheitsunternehmen bewusst herbeigeführt wurde, um die Amtsenthebung von Lugo möglich zu machen. „Wie sollen 30 Kleinbauern einen Hinterhalt für 245 Polizisten gelegt haben? Das ist doch unglaubwürdig!“, erklärte Expräsident Lugo gegenüber der spanischen Nachrichtenagentur EFE.
Der ehemalige Bischof Lugo galt als Hoffnungsträger der Linken und hatte eine Landreform versprochen. Damit machte er sich bei der mächtigen Agrarlobby des Landes unbeliebt. Nach Angaben der internationalen Nichtregierungsorganisation FIAN, die sich mit dem Recht auf Nahrung befasst, kontrollieren in Paraguay 2,6 Prozent der Bevölkerung 85,5 Prozent des Landes, während 91,4 Prozent der Bevölkerung nur sechs Prozent zur Verfügung stehen. Für Lugo und viele andere Linke ist die derzeitige Regierung von Präsident Horacio Cartes, der eng mit der Agrarlobby verbündet ist, das unmittelbare Resultat des Massakers von Curuguaty. Im vergangenen Oktober erließ das paraguayische Parlament ein Gesetz, das es der Exekutive ermöglicht, ohne Parlamentsbefragung Öffentlich-Private-Partnerschaften (PPP) zu erlassen. Dieses Gesetz spielt der Agrarlobby direkt in die Hände. Mit diesem Gesetz kann die Agrarindustrie direkt Infrastruktur für die eigenen Bedürfnisse bauen, die Interessen der Kleinbäuerinnen und -bauern bleiben außen vor. Sie müssen stattdessen demnächst Gebühren für die Nutzung von Straßen und Brücken entrichten.
Insbesondere gegen dieses Gesetz organisierte ein Bündnis von linken Gruppen, Gewerkschaften und Studierenden im März dieses Jahres einen Generalstreik, dem sich mehrere zehntausend Arbeiter_innen anschlossen. Neben der Abschaffung des Gesetzes über die PPP forderten sie auch die Aussetzung der Verfahren gegen die Angeklagten von Curuguaty und eine faire und ernsthafte Untersuchung des Vorfalls. Präsident Cartes zeigte sich gesprächsbereit, doch die Gewerkschaften glaubten nicht an die Ernsthaftigkeit des Angebots und lehnten Gespräche ab.
Was sich in Paraguay abspielt, kann man als „Ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnen, also als Aneignung von Reichtümern mit unmittelbarer Gewalt. Die Agrarindustrie, die vor allem aus Brasilien kommt, expandiert enorm und baut immer mehr flex crops – also Soja, Mais und Zuckerrohr – an, die je nach Marktlage sowohl für Tierfutter, Nahrung oder Agrartreibstoff verwendet werden können. Durch den massiven Einsatz von Pestiziden werden den Kleinbäuerinnen und -bauern die Lebensgrundlagen entzogen und die letzten Regenwälder des Landes zerstört. Dazu eignet sich die Agrarindustrie immer größere Teile des Landes an, auch mit illegalen und gewalttätigen Mitteln.
Am 16. Juni dieses Jahres drangen Schlägertruppen, die das brasilianische Unternehmen La Laguna S.A. angeheuert hatte, in die indigene Gemeinde Y‘apo, ebenfalls im Department Canindeyú, ein und schossen mit Gummigeschossen auf die Bewohner_innen, um diese dazu zu bewegen, das Land zu verlassen. La Laguna S.A. will seine Viehweiden und Anbaugebiete auf dem Land der Indigenen erweitern. Auch in Marina Kué ist es wieder zu Gewalt gekommen. Am 21. Juni schossen Unbekannte mit scharfer Munition auf ein Lager der Landlosen nahe der Farm. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Von der korrupten Justiz Paraguays hat die Agrarindustrie dabei nichts zu befürchten, wie der Fall Curuguaty eindrücklich beweist.
// Thilo F. Papacek

“Frequenzen konnten vererbt werden“

Eigentlich sollte das neue Mediengesetz mehr Raum für kontroverse Debatten und kulturelle Vielfalt schaffen. Zugleich gibt es aber immer wieder auch Nachrichten darüber, dass einzelne Menschen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei ihrer Arbeit massiv behindert werden. Wie passt das zusammen?
Was in Ecuador gerade passiert, ist schon ziemlich beunruhigend. Es gibt verschiedene Beispiele, die zeigen, wie brüchig die Meinungsfreiheit ist. Ende vergangenen Jahres wurde beispielsweise die Stiftung Pacha Mama geschlossen, wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten. Bei einer Demonstration gab es einen Zwischenfall, ein ausländischer Diplomat wurde mit einem Speer verletzt. Doch anstatt wie sonst üblich einen strafrechtlichen Prozess gegen den Täter einzuleiten, nahm die Regierung den Vorfall zum Anlass, Pacha Mama zu schließen. Ihre Begründung: Als NGO hätten sie nicht das Recht, sich in die Politik einzumischen oder Wahlkampf zu machen. Und der Beleg dafür war eben die Anwesenheit von Mitarbeitern der Stiftung auf dieser Demonstration.

Gibt es auch Angriffe auf einzelne Medienschaffende, die kritisch oder zu kontroversen Themen in Ecuador arbeiten?
Ja, auch solche Übergriffe beobachten wir immer wieder. Vor einiger Zeit schrieb eine junge Journalistin aus den USA über ein Massaker an zwei Gruppen der Taromenane-Indigenen. Kurze Zeit später erklärte Präsident Rafael Correa in einer Fernsehansprache, dass diese Ausländerin kein Recht habe, sich darüber eine Meinung zu bilden und dass ihre Schilderungen nicht stimmen würden. Correa erniedrigte sie nicht nur öffentlich, einige Menschen nahmen diese Anschuldigungen auch sehr ernst. Ein Shitstorm entlud sich in den sozialen Netzwerken, eine mediale Lynchjustiz setzte ein. Ich finde es furchtbar, die Bevölkerung so gegen eine Person aufzuhetzen. Jede und jeder hat doch das Recht seine oder ihre Meinung zu sagen und an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Sind auch Personen des öffentlichen Lebens in Ecuador von solchen Hasskampagnen betroffen?
Der Fall von Jaime Guevara, der für seine Protestlieder bekannt ist, hat für Aufsehen gesorgt. Guevara machte auf einer Demo eine obszöne Handbewegung als der Wagen des Präsidenten vorbeifuhr. Daraufhin stieg Correa aus und ordnete an, den Sänger wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festzunehmen. Im Polizeibericht wurden dann diese Anschuldigungen einfach übernommen, Trunkenheit und Drogenkonsum. Einige Tage später machten Freunde des Verhafteten jedoch darauf aufmerksam, dass Guevara aus gesundheitlichen Gründen starke Medikamente nimmt und seit jeher völlig abstinent lebt. Correa entgegnete darauf, es sei ja wohl nicht seine Schuld, dass er betrunken gewirkt habe.
All diese Zwischenfälle zeigen, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem die Regierung jegliche Kritik, jede Geste sofort als einen Angriff, als einen oppositionellen Akt wahrnimmt. Es sollte doch möglich sein, ein gemeinsames Terrain zu finden und so auch wieder die positiven Seiten der aktuellen staatlichen Politik ansprechen zu können, denn die gibt es ja auch. Doch dafür ist es notwendig, dass sich die Regierung den gesellschaftlichen Debatten stellt.

Zumindest der Forderung nach einem neuen Mediengesetz scheint die Regierung ja nachgekommen zu sein. Wie verliefen die Verhandlungen?
Es war schon ein ziemlich langwieriger Prozess. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen haben wir jahrelang darauf hingearbeitet, die Kommunikationsmittel zu demokratisieren und anders als bisher zu regulieren. Gemeinsam waren wir direkt daran beteiligt, die Novellierung der Gesetze inhaltlich zu begleiten.

Und was waren Ihre konkreten Forderungen und Prinzipien, mit denen Sie die Medienlandschaft demokratisieren wollten?
Im Radiobereich griffen wir auf das inzwischen bekannte Prinzip einer paritätischen Dreiteilung aller verfügbaren Frequenzen zurück, das beispielsweise auch in Bolivien Anwendung findet: ein Drittel der Kanäle für öffentlich-staatliche Sender, ein Drittel für kommerzielle Anbieter und ein Drittel für kommunitäre Medien (wie Gemeinderadios; Anm. d. Red). Anfangs hat den staatlichen Vertretern diese Idee überhaupt nicht gefallen. Bei unserem ersten Treffen haben sie uns ausgelacht und gesagt, man könne das elektromagnetische Spektrum doch nicht wie eine Torte aufteilen. Aber dieselben, die anfangs nur lachten, machten sich später unser Argument zu eigen.

Das Problem ist doch auch, dass gerade in größeren Städten oft keine Frequenzen mehr frei sind für unabhängige, nicht-kommerzielle Projekte. Wie läuft das in Ecuador?
Die Regierung setzte eigens eine Kommission ein, die die Praktiken der Frequenzvergabe prüfen sollte. Das war ein ganz wichtiger Schritt und die dokumentierten Ergebnisse sehr plastisch. In Ecuador wurden Frequenzen schlicht und einfach verkauft, es war möglich, Frequenzen zu vererben und es gab auch spezifische Verfahren, Frequenzen an Freunde zu überschreiben. Correa sagte darauf, das sei eine Zeitbombe die sofort entschärft werden müsse. Leider verlief der danach angestrebte Reformprozess im Nichts.

Sind seit der Gesetzesreform auch neue kommunitäre Medien entstanden?
Vor dem neuen Gesetz gab es offiziell keine kommunitären Medien, nur einen TV-Sender, der von der Indigenenbewegung in Cotopaxi organisiert wurde. Nun finden kommunitäre Medien gesetzlich explizit Erwähnung und die Regierung übergab insgesamt 14 Sender an indigene Gemeinden, in Anerkennung einer historischen Schuld. Inzwischen sind weitere solche Sender entstanden. Aber es handelt sich eben nicht um einen Prozess, bei dem soziale Organisationen oder Gemeinden selbst eine Genehmigung anstrengen. Die Regierung bereitet alles vor und die späteren Träger unterschreiben nur. Auf diese Weise sind es insgesamt 54 Sender und es werden noch viele folgen. Aber sie sind Ausdruck des Regierungswillens und nicht das Ergebnis sozialer Forderungen.

Und was geschieht mit anderen Anträgen, um beispielsweise ein kommunitäres Radio legal anzuerkennen?
Mit unserer Organisation Radialistas informieren wir die Bevölkerung über ihr Recht, selbstbestimmt ein Radio organisieren zu können. Doch leider sind all diese Anträge bisher in einem Sammelordner abgeheftet worden, um zu einem späteren Zeitpunkt allen Projekten gleichzeitig ihre Lizenzen auszustellen. So heißt es von Regierungsseite. Schauen wir mal, wann das wirklich passiert, ich fürchte, dass es vielleicht gar nicht dazu kommt. Aber wir müssen trotzdem weiter Druck machen.

Worin genau sehen Sie das Problem bei den Sendern, die aktiv vom Staat geschaffen wurden?
Diese Sender wurden von Beginn an stark gefördert. Der Staat stellte jeweils das komplette Equipment zur Verfügung und zwei Techniker, denen jeweils ein monatliches Gehalt von 700 US-Dollar gezahlt wird. Die Sender funktionieren also de facto unter staatlicher Vormundschaft. Der Staat liefert alles und niemand macht sich Gedanken darüber, wie so ein Radio auch selbstverwaltet arbeiten könnte. Ich halte das für gefährlich. Klar, momentan schafft das auch viele positive Effekte für die einzelnen Gemeinden, aber was, wenn der Staat den Geldhahn irgendwann aus irgendeinem Grund zudreht?

Was für Möglichkeiten räumt das Gesetz denn den kommunitären Medien ein, um sich nachhaltig und unabhängig finanzieren zu können?
Solche Medien dürfen entgeltlich Dienstleistungen anbieten und auch Werbung senden, um mit den Einkünften ihren nicht-kommerziellen Betrieb zu gewährleisten. Aber genau das macht eben keiner der neu entstandenen Sender, da sie es wegen der staatlichen Förderung nicht nötig haben. Eine seltsame Situation. Das Gesetz hat den kommunitären Medien nur wenige Grenzen gesteckt, aber niemand erkundet diese Möglichkeiten.

In Lateinamerika wird inzwischen auch vermehrt über Radiofrequenzen als ein Gemeingut nachgedacht. Neben Radio und TV sollen sie auch eine weiterführende kommunitäre Nutzung des elektromagnetischen Spektrums im Auge haben, zum Beispiel den Aufbau nicht-kommerzieller Mobiltelefon- und drahtloser Datennetzwerke. Welche Ideen werden diesbezüglich in Ecuador diskutiert?
Unser Bündnis sozialer Organisationen tritt bei der Digitalisierung terrestrischer TV-Frequenzen zum Beispiel für die Einführung des japanisch-brasilianischen Standards ein. Der würde es erlauben, statt einem analogen Kanal, vier digitale Kanäle auf derselben Frequenz zu senden. Die Zahl der Sender könnte sich potenziell extrem vervielfältigen. Und natürlich treten wir auch im digitalen Spektrum für die bereits angesprochene paritätische Dreiteilung ein. Auch wenn wir vielleicht noch nicht die Kapazitäten für eine konkrete Nutzung haben, ist es wichtig, jetzt wachsam zu sein, um von Beginn an die Weichen für eine gerechte Verteilung zu stellen. Dieser Kampf ist von fundamentaler Bedeutung, um die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums zu demokratisieren.

Infokasten

Clara Robayo ist Mitarbeiterin der Organisation Radialistas Apasionadas y Apasionados („Leidenschaftliche Rundfunker_innen“), die sich für eine Demokratisierung der Medien, besonders des Radios, einsetzt. Mit Sitz in Quito bieten sie ihr Knowhow allen Interessierten in Lateinamerika und der Karibik an. Auf ihrer Homepage sind über 4.000 unabhängig produzierte Audiobeiträge abrufbar.
Mehr Infos: www.radialistas.net/

// DOSSIER: MIGRATION UND GRENZRÄUME IN LATEINAMERIKA

(Download des gesamten Dossiers)

Diese Bilder prägen sich ein: Ganze Familien versuchen, auf den vorbeifahrenden Güterzug aufzuspringen, auf dessen Dach schon kaum mehr Menschen passen. Sie wollen in die USA, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie überqueren Grenzen und fordern diese dadurch heraus. Ganze Generationen in Mexiko und Zentralamerika sind davon geprägt, zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen aufzuwachsen. Sie wandern in die USA ein und wieder aus, leben in der Illegalität und mit der dauernden Drohung, abgeschoben zu werden. Doch auch abseits dieser viel beachteten Migrationsroute finden Grenzbewegungen in Lateinamerika statt. Zwischen vielen Nationalstaaten Lateinamerikas leben Indigene, die sich nicht nur auf einer Seite der Grenze verorten. Auch innerhalb der Grenzen von Staaten treffen Menschen auf Räume, die ihnen verschlossen werden. Vielfach zeigt sich dies in Städten.

Diese Bewegungen zwischen den Räumen verändern nicht nur die Menschen, sondern auch die jeweiligen Gesellschaften. Sie schaffen neue kulturelle Praktiken, verwischen die Grenzen und lassen neue Räume entstehen, die sogenannten borderlands. Die Bewegung vollzieht sich mitnichten immer nur aus dem armen Süden in den reichen Norden, sie hat nicht nur eine Richtung. Die Wechselbeziehungen über die Grenzen hinweg sind ebenso komplex und wechselhaft wie die Biographien vieler Migrant_innen.

Doch Grenzen sind nicht mit der geographischen Trennung zweier Länder identisch. Auch innerhalb von Gesellschaften manifestieren sich Grenzen – mal mehr, mal weniger sichtbar. Es gibt Räume, die von sozialer Zugehörigkeit, Reichtum, Ethnizität oder Sexualität geprägt sind. Sie sind immer produziert und existieren nur, weil ein Innen und ein Außen definiert werden. Werden Grenzen geschaffen, wird notwendigerweise immer irgendjemand oder irgendetwas ausgegrenzt.

Menschen, die sich zwischen diesen Räumen bewegen, brechen Grenzen auf und geben neuen Möglichkeiten Platz. Grenzgänger_innen provozieren aber auch Widerstand – bisweilen gewalttätigen. Denn es gibt viele Menschen, die daran interessiert sind, dass die Grenzen so definiert bleiben, wie sie es sind. Doch die Vorstellung einer undurchlässigen Grenze ist immer eine Fiktion. Die Bewegungen zwischen den Räumen machen dies deutlich.

In diesem Dossier möchten die Lateinamerika Nachrichten weniger beachtete Themen und Aspekte der Bewegung zwischen produzierten Räumen in den Vordergrund rücken. Wir beleuchten konkrete Grenzräume zwischen Staaten genauer, interessieren uns aber auch für andere Formen der Ausgrenzung. Wie prägen die Migrationserfahrungen das alltägliche Leben von Menschen? Wie prägen Grenzgänger_innen ihre Umwelt? Wo stoßen Personen auf Vorurteile, Ausgrenzung und Rassismus? Wo setzen sich Menschen über Grenzen hinweg und schaffen eigene Räume? Dazu werden wir uns entgegen und abseits der üblichen Migrationsrouten bewegen. Anstatt den Blick auf die viel dokumentierte Reise der Migrant_innen durch Mexiko zu richten, legen wir unseren Fokus zunächst auf ihre Situation und ihr Leben in den USA nach dem Durchbrechen der Grenze.

Hier kämpfen die Anwältinnen Natalie Hansen und Stephanie Taylor für die Rechte von Migrant_innen und ringen mit dem US-amerikanischen Justizsystem: „Eigentlich müsste man das gesamte System abschaffen und von Grund auf neu errichten.“ Im Gespräch mit zwei ihrer Mandantinnen aus Honduras stellt sich die Willkür der Justiz dar. „Wie soll ich denn vor Gericht erscheinen, wenn ich an einem anderen Ort festgehalten werde?“, fragt Ana A. (Name von der Red. geändert).

Chicanas wie Alejandra Sanchez gehen in den USA künstlerisch und politisch mit dem Leben in borderlands um: „In meiner Arbeit versuche ich, Brücken zu bauen – zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“

Auf dem Weg durch Mexiko ruft die Karawane der Mütter verschwundener Zentralamerikaner_innen: „Lebend gingen sie – lebend wollen wir sie wiedersehen!“ In einem Auszug aus der mit dem Walter-Reuter-Medienpreis ausgezeichneten Reportage „Wo ist mein Kind?“ berichtet Emiliano Ruiz Parra über die verzweifelte Suche nach verschwundenen Familienangehörigen.

Julio César Campos Cubías und Sergio Gallardo García, Gründer des Kollektivs Migrantes LGBT in Mexiko-Stadt, berichten im Interview über die brutale Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie gegen Migrant_innen. Die beiden haben eine klare Botschaft: „Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass Menschen, die migrieren, ebenso unterschiedliche Gründe und Ziele wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben.“

Schon längst ist Mexikos Südgrenze nicht mehr nur gefährliche Durchgangsstation für Migrant_innen aus Zentralamerika. In Tapachula bleiben viele Honduraner_innen wie Nora Rodríguez, die über ihre Erfahrung mit Mexikaner_innen berichtet: „Egal wie lange wir hier schon leben, ob Jahre oder Jahrzehnte: Sie sehen uns nie einfach nur als Menschen, sondern immer als Migranten, die sie mit einem Haufen von Vorurteilen überschütten.“
Im Grenzgebiet zwischen Costa Rica und Panama kämpfen die indigenen Bribri um ihre Autonomie, auch um der Abwanderung in die Hauptstadt entgegenzuwirken. „Wir wollen das Bildungssystem ändern, es an die Realität anpassen. Darin müssen Kultur, Kosmovision und Sprache enthalten sein“, formuliert Lehrer Enos die Herausforderungen, ihre Kultur zu bewahren.

Während die Frage der Staatszugehörigkeit für die Bribri nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst ist, ist sie in der Dominikanischen Republik wieder akut aufgetaucht. Nach einem Gerichtsurteil wurde haitianischen Migrant_innen und deren Nachkommen ihre Staatsbürgerschaft entzogen. In einem Gruppeninterview berichten sechs Betroffene über ihre Erfahrung, plötzlich staatenlos zu sein: „Wenn du eine Geburtsurkunde haben willst, dann geh mit deiner Hautfarbe doch nach Haiti“, wird ihnen mitunter empfohlen.

Kolumbiens und Ecuadors Regierung stärken seit 2012 ihre militärische Zusammenarbeit im Grenzgebiet. Die Abriegelung der Grenze steht im Gegensatz zur Mobilität der indigenen Gemeinschaften, die auf beiden Seiten der Grenze leben.

Auch innerhalb von Städten schaffen Verdrängungsprozesse Grenzen zwischen Arm und Reich. In Caracas überwinden Nathaly Lemus und Jorge Sierra von der Bewegung der Pioniere diese Ausgrenzung durch Besetzungen: „Früher gab es im Zentrum nur private Parks, es gab keine öffentlichen Plätze. Jetzt gehen wir Armen ins Zentrum von Caracas. Wir sind überall, fordern das Recht auf Stadt!“

Zwischen Bolivien und Paraguay leben im nördlichen Chacogebiet die indigenen Ayoreo. Sie leben zwischen den nationalen Räumen beider Länder und ihre Art zu Wirtschaften entspricht nicht der kapitalistischen Produktionsweise. Viehzüchter_innen machen ihnen ihr Land streitig – mit dem Hinweis, dass sie kaum etwas produzieren würden. Letztlich geht es bei den Landkonflikten also darum, ab wann eine bestimmte Raumnutzung als angemessen gilt und ab wann ein Raum zu einer bestimmten Nation gehört.

Natürlich können wir mit diesen Themen nicht den Anspruch erheben, alle Dimensionen von Grenzräumen und Migration in Lateinamerika zu erfassen. Wir möchten jedoch auf bisher weniger beachtete Probleme, vor allem aber auf die Stimmen und Perspektiven einiger Grenzgänger_innen aufmerksam machen.

„Building bridges“

Felicia (Fe) Montes zupft ihr rot-blau-grün geblümtes Kleid zurecht und bindet sich das dazu passende Band um den Kopf: „Das ist ein traditionelles Kleid meiner Tarahumara- oder Rarámuri-Vorfahren. Meine Familie stammt aus Chihuahua, Mexiko.“ Es ist der 1. Mai 2011, Felicia befindet sich an der Ecke der beiden Straßen Broadway und Olympic, im Latino-Viertel der Stadt, East Los Angeles, und erklärt die Kunstfigur, die sie kreiert hat: „Das ist Raramujer, das leite ich von der Selbstbezeichnung meiner Vorfahren, den Rarámuri, ab. Außerdem ist das ein Wortspiel: Rara bedeutet auf Spanisch komisch oder eigenartig und mujer bedeutet Frau. In meiner Figur verbinde ich indigene Elemente mit modernen urbanen Lebensweisen. Ich erfinde eine selbstbewusste indigen-urbane Frau.“
Freunde helfen Felicias Fahrrad aus ihrem Pickup zu heben – ein „getunter“ schwarzer Cruiser. Am Fahrradkorb ist ein Schild mit dem Spruch „Stoppt die Polizeikontrollen!“ angebracht. Ein hilfsbereiter, Spanisch sprechender Anrainer pumpt noch etwas Luft in die dicken Weißrandreifen. Ein paar Straßen weiter hört man Trommelklänge und Trompeten, Menschen in Trachten und Uniformen eilen vorbei: ein paar Leute in weißer bestickter Huicholes-Kleidung, eine Gruppe von Männern in dunklen Zapatist_innen-Uniformen, eine Tanzgruppe mit aztekischen Gewändern und prächtigem Federschmuck. Felicia steckt ihren iPod an die mobile Musikanlage im Fahrradkorb an und macht einen kurzen Soundcheck – es kann los gehen! Mehrere tausend Menschen demonstrieren jedes Jahr bei der Mayday Parade in Los Angeles für die Rechte von Immigrant_innen und (illegalisierten migrantischen) Arbeiter_innen mit Sprüchen wie: „Lieber Geld für Arbeitsplätze und Bildung als für rassistische Abschiebungen!“
Raramujer begleitet den Demonstrationszug auf ihrem Fahrrad, sie verteilt Menschenrechtskarten und performt ihre Floetry (gerappte Gedichte) und Hip-Hop-Songs: „In meinen Texten geht es um politische Angelegenheiten, meistens um Dinge die uns Chicana-Frauen betreffen, zum Beispiel das kapitalistische System, das Freihandelsabkommen NAFTA, die Immigrationsgesetze hier in den USA, oder die Zapatist_innen-Bewegung in Mexiko. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass das persönliche Wachstum und die Veränderung Hand in Hand mit dem Engagement in politischen Bewegungen gehen.“
Felicia ist Mitbegründerin der Mujeres de Maiz (Maisfrauen), einer Künstlerinnen- und Aktivistinnenvereinigung aus Los Angeles. Die Mitglieder der Gruppe bezeichnen sich selbst als „Chicanas“ und als „Women of Color“. „Chicana-Sein bedeutet in den USA zu leben und ein mexikanisches oder mesoamerikanisches Erbe zu haben. Wir versuchen hier eine Verbindung zu unseren indigenen oder präkolumbianischen Wurzeln aufrechtzuerhalten“, sagt Felicia.
Der Begriff „Chicana“ oder seine männliche Form „Chicano“ war früher eine abwertende Bezeichnung für mexikanische oder allgemein lateinamerikanische Immigrant_innen und Gastarbeiter_innen in den USA. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der Chican@s der 1960er und 70er Jahre, erfuhr der Terminus eine positive Neubewertung. Der Begriff gewann eine politische Konnotation und galt von da an als Zeichen der Selbstbestimmung und des kulturellen Stolzes. In der Chican@-Bewegung, die sich aus der Landarbeiter_innenbewegung in Kalifornien herausentwickelte, ging es um die Ausweitung der Rechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Mexiko-Amerikaner_innen und ihres politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Status. Von Anfang an wurden die Bewegungen, ihre Streiks und Aktionen von Künstler_innen, Wandmaler_innen und Theatergruppen begleitet.
Die Einheit der Bewegung wurde damals vor allem durch eine relativ homogene Identität, ein gemeinsames Bild der Vergangenheit und nationalistische Vorstellungen verstärkt. Die Interessen und Bedürfnisse der weiblichen, homosexuellen und queeren Mitglieder wurden ignoriert. Diese Personengruppe wurde innerhalb der Bewegung nicht als gleichwertig anerkannt. Eine feministische Chicana-Bewegung spaltete sich aufgrund von patriarchalen, machistischen und homophoben Wertvorstellungen, die in der frühen Chican@-Bewegung vorherrschten, davon ab.
Für die Mujeres de Maiz bedeutet der Begriff „Chican@“ vor allem ein gemeinsames Bewusstsein beziehungsweise eine Reihe von geteilten Erfahrungen, die sich durch ähnliche soziokulturelle und historische Kontexte ergeben haben. Damit sind Diskriminierungserfahrungen gemeint, die sie zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Frau-Seins gemacht haben. Kolonialismus-, Imperialismus-, Kriegs-, und Migrationserfahrungen spielen auch eine Rolle. „Wir sind ein sehr offenes Kollektiv; eine kreative Women-of-Color-Vereinigung. Unsere Zielgruppen sind migrantische Communities, Lesben, Schwule und Transgender“, verdeutlicht Felicia Montes.
Ihren Namen Mujeres de Maiz, haben die Künstlerinnen gewählt, weil sie sich mit der Maispflanze verbunden fühlen. In Mesoamerika gilt der Mais als Lebensgrundlage, in der Mythenwelt ist er allgegenwärtig. „Wir wollen eine Austauschplattform für Women of Color schaffen. Die verschiedenen Maissorten – gelb, rot, blau, schwarz, mit spitzen, langen oder runden Körnern – stehen für die Diversität unserer Gruppe“, erklärt die Künstlerin Margaret Alarcón, ebenfalls Mitbegründerin der Aktivistinnenorganisation. Felicia Montes veranschaulicht die Situation vieler ihrer Mitstreiter_innen: „Die meisten Immigrant_innen und vor allem die Frauen unter uns, erleben sexuelle, physische oder verbale Gewalt. Gerade Frauen werden oft nicht ernst genommen, zum Schweigen gebracht, oder in bestimmte Rollenbilder gedrängt. Da kann kein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt werden.“
Laut dem U.S. Census Bureau leben zirka 53 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA. Sie bilden somit die größte ethnische Minderheit; die Mehrheit davon machen die Bürger_innen mexikanischer Abstammung aus. Die mexiko-amerikanischen Frauen wiederum stellen die größte und am schnellsten wachsende Gruppe unter den aus Lateinamerika stammenden Menschen in den USA dar. Ihr Bildungsgrad ist meist gering, demzufolge gehören sie zum ärmsten Segment der Bevölkerung.
Ende der 1990er lernten sich die Gründungsmitglieder der Mujeres de Maiz über ihr universitäres Umfeld kennen. „Wir mussten einfach einen Raum für junge Frauen schaffen, einen Raum für Bildung, Selbstbestimmung und Kunst. Sie waren unsichtbar und gerade im Kunstbereich vollkommen unterrepräsentiert“, erklärt Margaret Alarcón, und Felicia Montes führt fort: „Wir sahen nie eine Frau auf der Bühne! Wir wollten einen sicheren Zufluchtsort für Women of Color aufbauen, in dem sie sich selbst und ihre Kunst neu erschaffen können.“
Kunst sehen die Mujeres de Maiz als Mittel zur Überwindung von Diskriminierung und zur Aufarbeitung von negativen Erfahrungen. Sie nutzen die Kunst außerdem zur Vermittlung von Wissen: „Durch unsere Kunst lehren wir Aspekte der Chicana- und der feministischen Theorie, wir sprechen auf verständliche Weise über Sexismus, Rassismus und Homophobie. Wir vermitteln auch Informationen über die eigene Herkunft, Geschichte und Traditionen, sowie über die Gesetze hier in den USA. Das soll dazu beitragen, dass sich die Zielgruppe selbst kennenlernt, ein Selbstbewusstsein und einen Selbstwert entwickelt“, schildert Felicia.
Die renommierte Chicana-Schriftstellerin, Aktivistin und Philosophin Gloria Anzaldúa beschreibt die Position von Chicanas im Zwischenraum zweier oder mehrerer Länder, Kulturen und Weltanschauungen als Leben in borderlands. Das Leben an Grenzen löst einen inneren Konflikt aus und lässt ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Andersseins entstehen. Chicanas identifizieren sich mit ihrem (mestizischen) mexikanischen Erbe, sehen sich aber auch als amerikanische Bürgerinnen; sie fühlen sich nirgends, weder in Mexiko noch in den USA, richtig zugehörig. Anzaldúa beschreibt Chicanas als multiple Persönlichkeiten, die die Fähigkeit haben, auf pluralistische Weise zu agieren. Sie entwickeln Strategien, um sich in unterschiedlichen, teilweise konträren Kontexten zurechtzufinden. In Zwischenräumen erfinden sie sich und ihre Identität(en) ständig neu. Chicanas sind flexibel und entwickeln in den borderlands mehrere Perspektiven, wodurch sie als Vermittlerinnen und Übersetzerinnen agieren können.
Die Künstlerinnen und Aktivistinnen der Mujeres de Maiz jonglieren mit kulturellen und spirituellen Elementen und integrieren aztekische, indigene mexikanische, nordamerikanische sowie afrokaribische Praktiken in ihre Arbeit. Alejandra Sanchez erklärt: „In meiner Arbeit versuche ich Brücken zu bauen, zwischen privaten und Community-Räumen, zwischen Wissenschafts- und Kunstwelten, zwischen Spiritualität und Aktivismus, zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“ Im Frühjahr 2013 veranstaltete sie eine kreative Schreibwerkstatt für Frauen: Weaving Words, Creating Worlds: Healing & Empowerment as Women Storytellers („Worte weben, Welten schaffen: Heilen und Selbstbestimmung als weibliche Geschichtenerzähler“). „Ziel dieses Workshops ist es, Menschen, die keinen Zugang zu kreativen Aktivitäten haben, in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Kunst kann eine positive Veränderung für viele Menschen bedeuten. Die Frauen haben die Möglichkeit hier im East Side Café, einem autonomen Community-Raum in ihrer Umgebung, gratis an den Workshops teilzunehmen. Sie können in einem sicheren Umfeld schreiben, ihre Texte publizieren und vor einem kleinen Publikum präsentieren. Hier können sie ihre Fähigkeiten und Talente austesten. Sie können sich austauschen und negative Erfahrungen durchs Schreiben aufarbeiten”, beschreibt Alejandra die Ziele ihrer Schreibwerkstatt.
Gleich zu Beginn des Workshops schreibt Alejandra ein Yoruba-Sprichwort an die Tafel, um den Schreibprozess zu initiieren. Im weiteren Verlauf werden Geschmack-, Geruch-, und Tastsinn stimuliert und afro-kubanische und aztekische Tänze getanzt, um locker zu werden und den gesamten Körper und die Kreativität anzuspornen. „Wir arbeiten viel mit persönlichen Geschichten, mit den Erzählungen unserer Ahnen und den Erfahrungen der Community. Es geht bei diesen Workshops um persönliche Genesung, um soziale Gerechtigkeit und die Zurückerlangung von indigenen Lebensweisen“, erklärt die Workshopleiterin.
Margaret „Quica“ Alarcón versucht in ihrer bildnerischen Arbeit ebenfalls die Geschichte ihrer Ahnen visuell zu übersetzen, zu dokumentieren und neu zu interpretieren. „Ich bringe meinen Körper ins Bild und übertrage die Geschichte in einen persönlichen und zeitgenössischen Kontext.“ In ihrem Gemälde Bear Dance (Selbstporträt) bildet sie einen Bären ab, der mit seiner rechten Tatze eine weibliche Silhouette umarmt. Der Bär repräsentiert eine von nordamerikanischen Ute-Gesellschaften veranstaltete Bärentanz-Zeremonie, der sie in Kalifornien beigewohnt hat. In ihrem Werk befasst sich die Künstlerin mit der Heilung von Körper und Seele mit Hilfe antiker spiritueller Praktiken, wie dem präkolumbianischen Temazcal. Das zeremonielle Dampfbad oder die traditionelle Schwitzhütte hat therapeutische und spirituelle Funktionen und wird zur Reinigung und Heilung angewendet. Gleichzeitig stellt Margaret eine Verbindung zwischen verschiedenen traditionellen Praktiken her: „Die Form des Bären stellt das mesoamerikanische Bildzeichen Tepetl dar, das ‚Hügel‘ oder ‚heiliger Ort‘ bedeutet. Andererseits repräsentiert die Form auch ein Temazcal und ein Inipi, eine Lakota-Schwitzhütten-Zeremonie.“
„In Temazcal-Zeremonien kommt es oft zu Momenten der Selbsterkenntnis, und es können starke Emotionen hervorgerufen werden“, führt Margaret fort. Die aztekische Figur rechts unten repräsentiere Vergangenes und damit zusammenhängende Schmerzen und Traumata. „Als Überlebende menschlicher Grausamkeiten teilen wir die Traurigkeit mehrerer Generationen. Die weinende Steinfigur repräsentiert diese geteilte Traurigkeit“, so Margaret. In diesem Jahr bauen die Mujeres de Maiz unter dem Motto „Gute Kunst ist gute Medizin“ mit multimedialen Events, Ausstellungen, Workshops, (politischen) Aktionen und ihrer Publikation Flor y Canto („Blume und Gesang“) weiter an ihrer Lebenswelt im Zwischenraum – um sie anderen zu öffnen.

„Suche nach einer offeneren Gesellschaft“

In Mexiko gibt es schon viele Organisationen zur Verteidigung und Unterstützung von Migrant_innen. Wieso haben Sie nun Migrantes LGBT (Aus dem Englischen, lesbian, gay, bisexual, trans*; Anm. der Red.) gegründet?
Julio César Campos Cubías: Wir möchten die Lücke schließen, die durch die fehlenden Initiativen zum Schutz nicht-heterosexueller Migrant_innen bestehen. Deswegen haben wir uns am 21. Januar 2014 offiziell zusammengetan. Der mexikanische Staat und seine Institutionen setzen sich nicht für die Menschenrechte dieser Personen ein. Dies wäre aber aufgrund der doppelten Vulnerabilität dieser Gruppe besonders dringlich: Die Situation von Diskriminierung und Homophobie ist nämlich nicht nur Grund für ihre Entscheidung zu migrieren, sondern sie erleben sie auch konstant auf ihrem Weg nach, durch und in Mexiko.

Sergio Gallardo García: Die Organisierte Kriminalität, genauso wie die Ignoranz und Gewalt von Polizist_innen und Beamt_innen oder gar anderer Migrant_innen sind der Grund für ihre besondere Schutzbedürftigkeit. Neben Frauen und Kindern ohne Begleitung ist es genau diese Gruppe, die von gewalttätigen, vor allem sexuellen Übergriffen, Menschenhandel und alltäglichen Angriffen in den Herbergen und Institutionen betroffen ist.

Wie genau sieht die Situation der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko aus?
S.G.: Hauptbeweggrund für die Migration nicht-heterosexueller Migrant_innen ist mit Sicherheit ihre Suche nach einer offeneren Gesellschaft. Nach einem Ort, an dem sie sich nicht mehr verstecken müssen, um nicht alltäglicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Obwohl es in Mexiko, vor allem in der Hauptstadt, bereits zahlreiche Gesetze und politische Initiativen zum Schutz der LGBT-Bevölkerung gibt, ändert dies bisher wenig an der tatsächlichen Situation. Weltweit ist Mexiko das Land mit der zweithöchsten Rate an Hassmorden. Einer der Hauptgründe ist die tief verwurzelte Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie der Menschen.

J.C.: Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass viele Migrant_innen keine Papiere haben und deswegen Ausbeutung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Wenn sie nicht selbst Opfer werden, schließen sie sich oft Drogen- oder Menschenhändler_innenbanden an. Diese Situation betrifft besonders häufig nicht-heterosexuelle Migrant_innen, denen von der Gesellschaft von vornherein Arbeiten mit einem hohen Risiko, insbesondere die Prostitution, zugeschrieben werden. Deshalb sehen sie sich besonders oft gezwungen, auf der Straße zu leben oder in bestimmten Milieus zu verkehren. Dies wiederum erhöht ihre Kriminalisierung und Stigmatisierung seitens der Gesellschaft.

Wer ist Teil des Kollektivs und wie arbeiten Sie?
J.C.: Wir sind Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen. In Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft versuchen wir, die Sichtbarkeit und letztlich die Integration von nicht-heterosexuellen Migrant_innen zu fördern. Wir unterstützen insbesondere Migrant_innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die USA und bei ihrer Ankunft in Mexiko. Aber auch Geflüchtete aus anderen Ländern, die Asyl in Mexiko beantragen wollen. Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdiges Leben hat. Deswegen bietet unser Kollektiv dieser Gruppe von Migrant_innen humanitäre Hilfe an, die auf ihre spezifischen Anliegen gerichtet ist: Neben akuten Sachleistungen, leiten wir die Migrant_innen an sensibilisierte Herbergen und andere Stellen weiter, die legale und psychologische Unterstützung geben können.

Können Sie das an einem Beispiel etwas genauer ausführen?
J.C.: Es gibt verschiedene Fälle: Zum einen gibt es Personen, die mit konkreten Problemen persönlich an uns herantreten. Häufig fragen sie sich vor allem, ob sie in Mexiko bleiben oder besser versuchen sollen, ihren Weg in die USA fortzusetzen. Es gibt aber auch Fälle, die von Organisationen vertreten werden. Einer dieser Fälle ist Ender, ein 32-jähriger Salvadorianer, der nach Mexiko kam, weil er in El Salvador als politischer Aktivist für LGBT-Rechte verfolgt wurde. Obwohl Vorschriften der Nationalen Migrationsbehörde (INM) vorsehen, dass Migrant_innen nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden dürfen, verhafteten sie Ender und sperrten ihn sieben Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen ein. In Zusammenarbeit mit einer Anwältin und drei weiteren Kollektiven haben wir innerhalb eines Monats seine Freilassung erwirkt. Grundlegend war dabei nicht nur der politische und mediale Druck, den wir auf das INM, die Nationale Menschenrechtskommission und das salvadorianische Konsulat ausüben konnten, sondern vor allem auch die öffentliche Anklage in sozialen Netzwerken.

Welche weiteren Möglichkeiten nutzt das Kollektiv, um die Sichtbarkeit des Phänomens in der Gesellschaft zu erhöhen?
S.G.: Wir versuchen vor allem, durch Aktivitäten in sozialen Netzwerken die Menschen zu sensibilisieren und informieren. Außerdem organisieren wir Ausflüge zu Herbergen, Universitäten und Museen. Andere Veranstaltungen, die von uns durchgeführt werden, sind beispielsweise Filmzyklen mit anschließender Diskussion oder punktuelle Beiträge z.B. am Internationalen Tag des Kampfes gegen Homophobie oder der Demonstration für LGBT-Rechte in Mexiko-Stadt am 28. Juni.

Was müsste sich konkret verändern, damit die Rechte der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko respektiert werden?
S.G.: Wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte, die die LGBT-Bewegung in Mexiko-Stadt in den letzten Jahren erkämpft hat, für alle gelten – ob arm oder reich, indigen oder mestizisch, und eben auch für Migrant_innen. Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass ebenso wie die Migration ein vielfältiges Phänomen ist, die Menschen, die migrieren, unterschiedliche Gründe und Ziele, genauso wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben. Deswegen wollen wir Weiterbildungen für die Beamt_innen, speziell des INM und der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR) anbieten. Wir würden hier gerne gemeinsam mit ihnen eine gerechtere Migrationspolitik erarbeiten, die nicht nur nicht-heterosexuelle Migrant_innen, sondern auch andere Gruppen wie Indigene und Kinder ohne Begleitung umfasst.

„Wer Wandel will, muss sich selbst darum kümmern“

Wer in San José nach der Reiseroute nach Yorkín fragt, erntet fragende Blicke, ist dieses beschauliche Dorf im Südosten von Costa Rica doch weitgehend unbekannt. Der Weg von der Hauptstadt nach Yorkín ist nur in Etappen möglich, knappe acht Stunden dauert die Reise – und das auch nur bei gutem Wetter, wenig Verkehr und passenden Verbindungen. Die erste Busetappe führt von San José im zentralen Hochland über die pista zur Karibik, über die Provinzhauptstadt Limón nach Bribri. Ab hier befinden sich die Reisenden nun im indigenen Gebiet.
Während der ausgemusterte amerikanische Schulbus von Bribri über Schotterpisten nach Bambú fährt, ändert sich die Landschaft. Die an der Karibikküste allgegenwärtigen Bananenplantagen liegen nun rechts an den Ufern des Flusses Sixaola, während sich links die grüne Wand des Primärwaldes erhebt.
In der Trockenzeit kann Yorkín von Bambú aus im Auto, in der Regenzeit nur im Boot über den gleichnamigen Fluss erreicht werden. Letzteres ist ein Abenteuer für sich: eine Stunde gegen die Strömung in einem fünf Meter langen, niedrigen, wackeligen Holzkanu. Die zwei Flößer sind damit beschäftigt, das Boot um Felsen zu lenken, es bei zu flachen Stellen mit zwei langen Stöcken vorwärts zu bugsieren, den Motor am Laufen zu halten und mit Kübeln Wasser aus dem Heck zu schaffen. Es geht vorbei an hohen Felswänden, Stromschnellen und Grün in verschiedensten Facetten.
Wer den Fluss überquert, setzt Fuß auf panamaisches Land. So kommt es, dass im Dorf Yorkín viele Menschen beide Staatsbürgerschaften haben. Das allerdings ist erst seit ein paar Jahren möglich. Costa Rica erkennt die Bribri schon seit den 1970er Jahren als Staatsbürger_innen an, Panama wehrte sich jedoch bis ins neue Jahrtausend dagegen, immer wieder gibt es Streitfälle. Für die Bribri in Yorkín ist die Grenze von geringer Bedeutung und wird als Willkür abgestempelt. Bribri sind für sie Bribri, egal auf welcher Seite des Flusses sie leben.
Yorkín bedeutet in der Sprache der Bribri „Wasserschaum“, knapp 200 Menschen leben hier. Die Häuser sind nach traditionell indigener Art nur aus Holz und geflochtenen Palmblattdächern gebaut. Sie stehen meist einzeln, inmitten der Fincas. Dennoch gibt es in Yorkín eine Art Dorfzentrum, das aus der Schule, dem Versammlungssaal und den Gästehäusern der Organisation Stibrawpa besteht, allesamt umrahmt vom allgegenwärtigen Regenwald.
„Stibrawpa ist Bribri und bedeutet ‚Kunsthandwerkerinnen‘“, erklärt die 50-jährige Prisca, eine kleine, stämmige Frau mit funkelnden Augen. Sie gilt als eine der Chefinnen im Dorf und als Antrieb der Organisation. Da auch alle ihre acht Kinder samt Familien ihr Herzblut in Stibrawpa stecken, hat man es in der Organisation unweigerlich fast immer mit einem Sohn, einer Enkelin oder einem Neffen von Prisca zu tun. Auch im Dorf gibt es niemanden, der nicht schon einmal zusammen mit ihr gearbeitet hätte.
Zusammen mit ihrer Freundin Bernarda gründete Prisca 1976 Stibrawpa. „Das Ziel dieser Frauengruppe war es, Arbeitsmöglichkeiten zu finden, die die Leute im Dorf halten würden. Zu dieser Zeit verließen viele das Dorf, um auf den Bananenplantagen unten am Fluss oder als Saisonkräfte bei der Kaffeeernte im Hochland zu arbeiten. Hier war es sehr schwierig, Arbeit zu finden,“ erläutert Prisca die Gründe, sich zusammenzuschließen. „Wir lebten hauptsächlich vom Kakaoverkauf, aber dann kam Munilia, eine Krankheit, die zu drastischen Ernteausfällen führte. Das reichte nicht mehr aus, um Geld zu verdienen.“ Vor allem die Männer Yorkíns verließen nach und nach das Dorf, um außerhalb Arbeit zu finden. Nur wenige von ihnen schickten das versprochene Geld den Frauen, die mit ihren fünf bis zehn Kindern zu Hause geblieben waren und um ihre Existenz und Identität fürchten mussten. Aus dieser Not heraus schlossen sich immer mehr Frauen den „Kunsthandwerkerinnen“ an, um nicht länger vom Gehalt ihrer Männern abhängig zu sein und um ihren Kindern eine Alternative vor Ort bieten zu können. Die Idee wurde zur Realität. Es begann mit Armbändern und Dekorationsartikeln, dann kamen die ersten Tourist_innen und aus wenigen wurden viele, in manchen Jahren fast tausend pro Jahr.
Die 31-jährige Onik aus Costa Rica kommt schon seit drei Jahren mit nordamerikanischen Freiwilligengruppen nach Yorkín. Die Gruppen bestehen aus zwölf bis 25 Jugendlichen und arbeiten an dem, was gerade anfällt: Bäume pflanzen, Wege reinigen, eingestürzte Häuser reparieren, Dächer flicken. „Die Freiwilligen arbeiten immer mit den Menschen hier zusammen. Das ist ein interkultureller Austausch, der sehr wertvoll ist“, stellt Onik fest.
„Die Lieblingsaktivität ist und bleibt aber die Schokoladenpräsentation, in der uns ein Dorfmitglied den ganzen Prozess von der Kakaofrucht bis zur Essschokolade zeigt“, führt Onik begeistert fort. Traditionell wird die reife, orangefarbene Kakaofrucht geerntet, wenn entweder zunehmender Mond oder Vollmond ist. Dann werden die Kakaobohnen herausgepult, das Fruchtfleisch wird als Wundheilmittel verwendet oder mit anderen Früchten püriert. Sind die Bohnen getrocknet, werden sie geröstet, mit schweren Steinen gemahlen und dann gepresst.
In Yorkín wird aber nicht nur Kakao angebaut. Wer durch eine Finca läuft, sieht Bananenstauden neben Yuccawurzeln, Mais wächst neben Bohnen und dazwischen laufen Hühner und Schweine herum. Für die Menschen hier ist Massentierhaltung weit weg und fremd. Einem Tier Medikamente zu füttern, sei so absurd, wie Chemie auf einen Baum zu sprühen, sagt Prisca mit Blick auf die giftige Bananenproduktion unten im Tal.
Nahrung ist von enormer Bedeutung, die Küche ist in jedem Haus das Zentrum des Geschehens. Hier steht der traditionelle Feuerherd, ein Holzgestell, auf dem Metallplatten liegen, worauf das Feuerholz gestapelt wird. Darüber verbinden zwei bis drei stabile Metallstäbe die Seiten des Holzgerüstes und bilden so die Herd-„Platten“. Je nach Größe passen zwei bis drei Töpfe darauf und wer backen will, funktioniert den Herd einfach um. So wird der traditionelle pudin, der hauptsächlich aus (über)reifen Bananen und Mehl besteht, roh in einen großen Topf gegeben und dann in die Glut gestellt. Um ihn gleichmäßig zu backen, werden einige Holzscheite auf eine dünne Metallplatte gelegt, die den Topf bedeckt.
Neben Süßspeisen gibt es eine Vielzahl traditioneller Gerichte, die meisten haben Reis, Bohnen und Fleisch als Basis. Vor allem bei den Kindern ist guacho, eine Mischung aus Reis, Fleisch und verschiedenem Gemüse, sehr beliebt. Als Delikatesse gilt außerdem xuchi woki, zubereiteter Schweinekopf, den es nur bei besonderen Angelegenheiten und Festen gibt. Bei letzteren darf natürlich der Alkohol nicht fehlen und so wird in Yorkín und in vielen weiteren indigenen Territorien wie in denen der Cabécares chicha, ein Schnaps aus fermentiertem Mais, zubereitet.
„Die Natur ist unsere Basis, ohne sie sind wir nichts“, erklärt Prudencio, ein 42-jähriger Bribri aus einem Nachbardorf. „Unsere Großeltern, unsere Vorfahren haben uns beigebracht, die Natur zu respektieren und sie zu schützen. Wir dürfen unsere Mutter Natur nicht zerstören, sie nicht ausnutzen, sondern müssen dafür sorgen, dass unsere Nachfahren auch noch in ihr leben können.“
Im Glauben der Bribri wird Irriria, ein junges Mädchen, bei einem Fest des Mondes Siwö zertrampelt. Erst durch ihr Blut, das sich auf der ganzen Erde verteilt, können Flora und Fauna entstehen. So wird Irriria auf grausame Weise Mutter Erde, deren Aufopferung Ehrfurcht entgegengebracht wird. „Unser Glaube an Siwö und seine Schöpfung sind ein Beispiel für unsere Kosmovision“, hält Prudencio fest. „Diese ist ein Teil der Autonomie einer jeden ethnischen Gruppe. Wenn wir Sprache, Bräuche, Kunst und diese Kosmovision erhalten, spricht das für unsere Unabhängigkeit.“
Vor allem die Sprache Bribri ist von essentieller Bedeutung. Prudencio ist überzeugt: „Meiner Meinung nach müssen innerhalb einer Gemeinschaft alle, von den Jüngsten bis zu den Ältesten, ihre Sprache beherrschen, da sie ein wesentlicher Ausdruck der Kultur ist. Ohne den Erhalt unserer Sprache können wir nicht von Autonomie sprechen“. Er beschreibt damit jedoch eine Wunschvorstellung, die erst langsam wieder Realität wird: Als in den 1970er Jahren im Zuge einer massiven Alphabetisierungskampagne Lehrkräfte aus der Hauptstadtregion in die entlegenen indigenen Gebiete geschickt wurden, verboten sie Bribri als Sprache in den Schulen und rieten auch den Eltern, von nun an nur noch Spanisch zu sprechen. Eine Generation wuchs heran, die Bribri nicht mehr lernte. In Yorkín gibt es daher viele Familien, in denen zwar die Großeltern noch Bribri sprechen, deren Kinder jedoch kaum oder gar nicht.
Enos, ein kräftiger Mitte-Dreißiger, ist Teil dieser „verlorenen Generation“. Der Lehrer der Sekundarschule Yorkíns spricht kein Bribri und versteht es nur, wenn langsam gesprochen wird. Als er damals die Schule abschloss, begann der Staat auf die ersten Forderungen, Bribri zumindest in den Grundschulen zu lehren, einzugehen. Auch in Yorkíns Grundschule ist Bribri ein Schulfach, im colegio, der Sekundarstufe, jedoch nicht. „Wir müssen uns nach dem Lehrplan des Staates richten“, erklärt Enos. „Demnach gibt es ein einziges Lehrkonzept für ganz Costa Rica, ich muss einem Schüler hier also das Gleiche beibringen wie einer Schülerin in San José. Ich finde das sehr schwierig, da die Kinder hier in einer anderen Realität leben, sie leben und lernen in und von der Natur.“
Von Autonomie im Bildungsbereich sind die Bribri also noch sehr weit entfernt. Enos und andere Lehrkräfte im Territorium fordern daher schon seit Jahren, dass der Staat endlich die Zügel lockert und einem indigenen, flexiblen Lehrplan zustimmt. „Wir wollen das Bildungssystem ändern, es an die Realität anpassen. Darin müssen Kultur, Kosmovision und Sprache enthalten sein. Es muss klar sein, dass es nicht das Gleiche ist, hier oder in San José aufzuwachsen“, fordert Enos.
Zumindest gibt es nur eine „verlorene Generation“, heute sprechen die Jugendlichen in Yorkín meistens fließend Bribri, auch wenn sie es in Alltagskonversationen mit Spanisch mischen, so dass ein neuer Slang entsteht. Der 22-jährige Minor, einer von Priscas Enkeln, spricht Spanisch mit seiner Mutter, Bribri mit seiner Oma und den Slang mit seinen compas. Er fühlt sich wohl in seinem Dorf und sieht keine Notwendigkeit fortzugehen, außer um zu studieren. Das aber auch nur, wenn es Nutzen für seine Heimat bringt.
„Ich will hier bleiben, als fester Bestandteil dieses Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Hier, wo ich die Natur um mich habe, wo ich in die Berge gehen kann. Hier habe ich keine Probleme mit irgendwem, ich brauche keine Angst davor zu haben, dass mich jemand überfällt. Die einzige Angst, die ich hier habe, ist, von einem Jaguar angefallen zu werden“, schmunzelt er.
Leider ist dieser Frieden nicht ungetrübt. Momentan gibt es Probleme in der Gegend, vor allem Umweltverschmutzung, Raubbau und Staudammprojekte. „Wasserkraftwerke an den Flüssen Sixaola und Telire lehnen wir Bribri ab,“ erläutert Minor. Erfahrungen in anderen Landesteilen, die Verschlammung und Einbetonierung von Flussläufen, bestärken die Indigenen in ihrer Ablehnung. Der Fluss Sixaola ist mit dem Yorkín verbunden.Wenn ein Wasserkraftwerk den Sixaloa aus dem Gleichgewicht bringt, wirkt sich das auf den Yorkín aus. Fische sterben, Wälder werden überschwemmt, es kommt vermehrt zu Erdrutschen.
Das Land im Territorium der Bribri wird jedoch nicht nur von solchen Projekten bedroht, sondern auch von Nicht-Indigenen, die sich mit ihren Fincas auf indigenem Gebiet niederlassen, auch wenn ihnen das eigentlich verboten ist. Fidelia, Minors Mutter, verurteilt die nicht indigenen Siedler_innen dafür. „Die bleiben da, wo es ihnen gerade passt, meistens im Grenzgebiet zu Panama. Sie glauben, sie wären die Besitzer dieses Landes, was einfach nicht stimmt. Dieses Land gehört uns. Und die Probleme häufen sich jeden Tag, weil sie nie genug kriegen und sich immer weiter ausbreiten. Die haben uns gegenüber kein bisschen Respekt!“
Die einzige Instanz, die dann etwas ausrichten kann, ist ADITIBRI, die lokale, aber vom Staat ins Leben gerufene Organisation zur Integrierten Entwicklung des Indigenen Territoriums der Bribri. Doch auch da gibt es Probleme: Fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung, Korruptionsvorwürfe, Staatsaffinität. Die Organisationen zur Integrierten Entwicklung des Indigenen Territoriums (ADII) entstanden im Zuge des Indígena-Gesetzes von 1977 und auf Basis der ILO-Konvention 169 – als einzige staatlich anerkannte Vertretung der Indigenen in ihren Territorien. Aber die ADII respektieren nicht notwendigerweise die Besonderheiten der Gemeinden, die sie vertreten sollen. Ältestenräte, die es in vielen Territorien gibt, werden meist vom Staat und von den ADII ignoriert. In der Praxis ist das ein Legitimitätsproblem: Oft hat nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung überhaupt einen Bezug dazu, viele kennen die Institution nicht einmal.
Für Prisca ist klar, dass die Lage der lokalen ADII zwar nicht ideal ist, dass es aber momentan keine andere Möglichkeit der Repräsentation gibt. „Der Staat und seine Institutionen stehen uns bei Problemen wie Landraub nicht wirklich bei. Wenn also jemand mein Land annektiert, ist da wenigstens ADITIBRI, die einschreiten und die Polizei holen kann.“
Den Menschen in Yorkín ist aber auch klar, dass solche und andere Probleme nicht einfach an die ADII abgegeben werden können, sondern dass es an ihnen selbst liegt, tätig zu werden. Vor allem Frauen haben in Yorkín bei Dorfangelegenheiten das Sagen. Das liegt insbesondere an der tief verwurzelten Bedeutsamkeit der Frau bei den Bribri. So übernimmt beispielsweise immer die Mutter die Rolle des Familienoberhaupts. „Alles basiert auf der Frau“, erklärt Minor. „Warum? Weil es die Mutter ist, die sich um das Kind kümmert, die es auf die Welt bringt, die ihm unsere Sprache beibringt. Der Vater hilft natürlich mit, aber in unserer Kultur ist es die Mutter, die die Familientraditionen an ihre Kinder weitergibt“
Prisca ist jedoch das beste Beispiel dafür, dass die Situation der Frau in Yorkín nicht immer so rosig war. „Früher war es sehr schwierig für Frauen, das Haus zu verlassen. Wenn sie mir sagten, ich sollte zu einem Treffen gehen, musste ich mir immer etwas Gutes ausdenken, um die Erlaubnis zu bekommen. Da hat sich viel geändert. Heute ist es nicht mehr seltsam, wenn ein Vater auf seine Kinder aufpasst, während die Frau bei einer Besprechung ist.“ Prisca schaukelt in ihrer Hängematte, streicht gleichmäßig über die Köpfe ihrer zwei friedlich schlafenden Enkelinnen und sieht rundum zufrieden aus. „Natürlich könnte vieles besser sein, natürlich gibt es Probleme, aber auch damit kommen wir zurecht.“
Vielleicht ist das Autonomie. Das selbstbewusste Lächeln von Prisca, die unverrückbar an die Beständigkeit von Yorkín glaubt. Die Zuversicht des Lehrers Enos, der für einen indigenen Lehrplan kämpft. Der warme Blick von Fidelia, wenn sie Geschichten von Siwö erzählt. Der Stolz von Prudencio, der den Tourist_innen seine Welt erklärt. Und zu guter Letzt die Überzeugung des jungen Minor, nicht aus seinem Dorf fortzugehen: seinem Yorkín, el pueblo en la esquina del mundo, dem „Dorf am Rand der Welt“, wie er es nennt.

Unangemessene Grenzen

Eine Kommission aus Vertreter_innen Ecuadors und Kolumbiens untersucht derzeit die Markierung des Grenzverlaufs zwischen den beiden Ländern. Als Erstes soll die Grenze in der Andenregion, in der die Grenze gemäß dem Vernaza Muñoz Suárez-Vertrag aus dem Jahr 1916 abgesteckt wurde, neu definiert werden. Das erneuerte Interesse an einer Festlegung des Grenzverlaufs seitens der Streitkräfte von Ecuador und Kolumbien steht im Gegensatz zu dem Strom an Menschen, die die Grenze in beiden Richtungen überqueren. In der Region leben indigene Gruppen, die sich nicht nur auf diese beiden Länder, sondern teilweise auch auf ein drittes Land verteilen. Die Indigenen sind ein gutes Beispiel für Mobilität über die ecuadorianisch-kolumbianische Grenze hinweg. Die klassisch eng gefassten Begriffe von „Grenze“ und „Staatsterritorium“ sind hier der Lebensrealität der Bevölkerung völlig unangemessen.
Die gegenwärtige Absteckung der Grenze ist die erste, die durch die Streitkräfte beider Länder nach gemeinsam definierten Kriterien erfolgt. Ecuador und Kolumbien wollen dem Drogenhandel sowie dem Schmuggel von Treibstoff und Waffen ein Ende bereiten. Im Rahmen der Strategie COMBIFRON zerstörten die Streitkräfte Kolumbiens und Ecuadors seit September 2013 zahlreiche illegale Grenzübergänge. Das Militär baute eine neue Grenze, aber nicht in Gestalt einer Mauer, wie es zwischen anderen Staaten der Fall ist. Durch Aushebungen des Bodens wurde ein Graben geschaffen. Statt einer Wand verhindert nun ein Abgrund den Grenzübertritt zu Fuß. In anderen Fällen wurden Behelfsbrücken zerstört, über welche die örtliche Bevölkerung den Handel mit ihren Agrarprodukten betrieb. Die Brücken dienten aber auch zum Transport für den illegalen Handel mit Treibstoff, Waffen oder anderen Gütern. Zwischen Ecuador und Kolumbien gibt es lediglich drei internationale Brücken: Rumichaca, Tufiño und San Miguel. Die gesamte ecuadorianische Provinz Esmeraldas verfügt über keinen einzigen Grenzübergang nach Kolumbien.
Zum Teil hat diese Entwicklung mit dem Aufbau einer politisch-militärischen Allianz zwischen Ecuador und Kolumbien seit Dezember 2012 zu tun. Infolge der Vereinbarungen, die beim binationalen Treffen in der ecuadorianischen Grenzstadt Tulcán im Dezember 2012 getroffenen wurden, sind 43 illegale Grenzübergänge identifiziert worden. Elf davon wurden zerstört, vier legalisiert und an den übrigen 28 die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Im November 2013 fand ein zweites Treffen der Kabinette beider Länder statt, bei dem erneut eine Erklärung verabschiedet wurde. Der seit 1916 umstrittene Verlauf der Meeresgrenze zwischen den beiden Ländern wurde im Februar 2012 festgelegt. Möglich machte all dies das erneuerte Verhältnis zwischen den beiden Präsidenten – undenkbar zu Zeiten der Präsidentschaft von Álvaro Uribe in Kolumbien. Aufgrund von Grenzzwischenfällen brach Ecuador seinerzeit die Beziehungen zu Kolumbien ab.
Die Außenministerien von Ecuador und Kolumbien haben eine gemeinsame technische Kommission gegründet, die sich mit Angelegenheiten indigener und afrikanischstämmiger Bevölkerungsgruppen befasst. Konkrete Verbesserungen für die Menschen, die im Grenzgebiet leben, sind bisher jedoch noch nicht erzielt worden. Es gibt indigene Gruppen, die im Grenzgebiet leben, aber ausschließlich auf ecuadorianischer oder kolumbianischer Seite. Im Fall Ecuadors sind dies zum Beispiel die Chachi, im Fall Kolumbiens die Inga. Die indigenen Gemeinschaften der Siona, Cofanes, Awá, Pastos und Eperara Siapidara leben dagegen auf beiden Seiten der Grenze. Ihr Territorium wird durch die ecuadorianisch-kolumbianische Grenze geteilt, während sie sich eher über die Verwandtschaft als über eine Nationalität definieren. Man versteht sich etwa als eine große Familie der Awá, und nicht als Ecuadorianer_innen oder Kolumbianer_innen.
Für Gruppen, die in mehreren Staaten oder auf zwei Seiten einer Grenze leben, haben die Begriffe „Staat“ und „Nation“ keinen Bezug zu ihrer Realität. Gegen die Teilung des indigenen Territoriums und der indigenen Kultur bildet man eine gemeinsame politische Front gegenüber den Nationalstaaten. Einige der Treffen indigener Gruppen in Ecuador und Kolumbien erhalten die Unterstützung wichtiger regionaler oder nationaler indigener Interessenvertretungen, wie zum Beispiel der Indigenen Dachorganisation Ecuadors CONAIE. Zusammenkünfte und andere Aktivitäten haben es erlaubt, eine politischen Agenda zu formulieren.
Indigene, die in zwei Staaten leben, sind bis heute Leidtragende kolonialer Grenzziehungen. Hinzu kommt, dass die Mobilität des Menschen, ob als Migrant_in oder als Geflüchtete_r, Grenzen als überholt erscheinen lässt. Angebracht wäre es daher, das Verständnis territorialer Grenzen zu überdenken.
Das Beispiel der Grenze zwischen Kolumbien und Ecuador zeigt, wie diese im Laufe der kolonialen, republikanischen und neokolonialen Geschichte einem statischen Verständnis folgend von oben auferlegt wurde. Dieses muss mit der heutigen Mobilität geradezu in Konflikt geraten. Die Eperara Siapidara zum Beispiel leben nicht nur in Ecuador und Kolumbien, sondern auch in Panama – Folge des Nomadenlebens der Vorfahren. Daher können sie sich kaum als „Migrant_innen“ oder „Geflüchtete“ bezeichnen, lebte ihr Volk doch traditionell nomadisch über ein riesiges Gebiet verteilt. Der Geschichte der Eperara Siapidara ist es viel angemessener, sich als eine große Familie zu verstehen und als solche aufzutreten. Eine Familie, die über nationalstaatliche Grenzen hinweg lebt.
Die Möglichkeit, selbst über das eigene Territorium und die indigene Identität entscheiden zu können, hat für sie enorme Bedeutung. Während die Grenze für sie kolonialen Charakter hat, berufen sich Politik und Militär darauf, dass eine klare Absteckung von Staatsgebiet notwendig sei. Diese beiden Verständnisse stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis. Wer Grenzen territorial definiert, bezeichnet Menschen, die sie überschreiten, folgerichtig als „Geflüchtete“, „Migrant_innen“ oder „Illegale“. Wer aber die Angehörigen jener indigenen Gruppen, die in zwei oder mehreren Staaten leben, als solche bezeichnet, teilt nicht deren Verständnis von Territorialität.

„Wir sind es, die die Stadt erbauen“

„Und dann haben wir das Büro des Zentrum Simón Bolívar (städtisches Unternehmen für Stadtentwicklung; Anm. d. Red.) besetzt, bis wir den Besitztitel für das Gelände bekommen haben!“ Die 26-jährige Nathaly Lemus hat eine Tochter, arbeitet und macht eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Zusammen mit 80 anderen Familien baut sie kollektiv ein Haus. Nathaly ist Mitglied des Movimiento de Pioner@s (Bewegung der Pioniere), der Teil des Movimiento de Pobladores (Bewegung der Bevölkernden) ist. Dieser wurde 2002 als Plattform von verschiedenen Recht-auf-Stadt-Bewegungen in Venezuela gegründet. „Die Menschen wohnten zur Miete, wurden zwangsgeräumt und es gab kein Gesetz, das sie schützte. Deshalb wurde die Bewegung der Bevölkernden gegründet“, erklärt Nathaly. An diese Plattform angebunden ist die Bewegung der Pioniere, in der sich an den Stadtrand Verdrängte und Landlose organisieren, um sich städtischen Raum wieder anzueignen.
Das Ziel der Bewegung der Pioniere ist, selbstverwalteten Wohnraum in kollektivem Besitz zu schaffen – so wie im Campamento Kai Kashi in der Hauptstadt Caracas. Nathaly beschreibt, wie es zur Besetzung des Geländes im Viertel La Vega im Jahr 2011 kam: „Wir haben im Katasteramt nachgeguckt, dass das Gelände der Stadt gehörte und der vermeintliche Besitzer das Gelände sehr billig gemietet hat.“ Eigentlich gab es einen Bebauungsplan, aber das Gelände wurde als Depot und als Parkplatz für Lieferwagen genutzt. Zunächst besetzte die Bewegung der Pioniere das Gelände und suchte für die Lieferwagen einen anderen Parkplatz. Daraufhin folgte die Besetzung des städtischen Zentrum Bolívar. „Es war kein leichter Kampf“ zwischen vulnerabler Bevölkerung auf der einen und dem Mieter und der Stadt auf der anderen Seite.
Der Besitz kollektiver Eigentumstitel ist der große Erfolg, davor baut die Bewegung nicht. Denn nur so ist sicherer Wohnraum garantiert. Niemand kann mehr geräumt werden und alle sind verantwortlich für die Wohnungen. In Venezuela gibt es ein Gesetz, dass die Vergesellschaftung von schlecht genutzten oder brachliegenden Flächen ermöglicht. Unter Beteiligung der Nachbarschaft kann kommerziell genutztes Gelände kollektiviert und für soziale Zwecke genutzt werden. Solche Flächen können enteignet werden, sogar ohne dass der Staat Entschädigungen zahlen muss.
Auch das Campamento Kai Kashi wurde so enteignet, auf dem auch Jorge Sierra Machado wohnt. Der 23-Jährige ist Vater von zwei Söhnen, studiert Politik- und Verwaltungswissenschaften und ist wie Nathaly ebenfalls Pionier von Kai Kashi. Kai Kashi bedeutet in der Sprache der Wayúu (Indigene in Kolumbien und Venezuela; Anm. der Red.) „Sonne und Mond“. 80 Familien, etwa 450 Personen, werden gemeinsam in diesem zukünftigen Wohnkomplex leben. „Wir sind keine Wohnungsbewegung. Wir konstruieren Bewusstsein, Gemeinschaft, Organisation und Sozialismus!“, erklärt Jorge das Projekt.
In Caracas gibt es insgesamt 15, auf nationaler Ebene 46 Campamentos. Noch mehr warten auf Genehmigung, erst eines der Projekte ist komplett abgeschlossen. Alle anderen befinden sich noch im Bau, auch wenn einige Häuser teilweise schon bewohnt werden. „Der staatliche Fond für Territorien leiht uns das für den Bau notwendige Geld. Später zahlen wir es zurück, damit auch andere Familien davon profitieren können“, so Jorge, und nennt als Ziel: „eine sozialistische Gemeinschaft“. Dazu gehört, dass die Bewegung der Bevölkernden selbstverwaltet ihre Stadt aufbaut. Laut Jorge lässt der Staat Häuser von schlechter Qualität bauen. Es werde viel Geld an private Unternehmen gegeben: „Wir haben schlechte Häuser, die Unternehmen das Geld“, resümiert er. Das staatliche Programm Große Mission des Wohnungsbaus sei eine Politik des Assistenzialismus, also eine Politik kurzfristiger, karitativer Leistungen statt langfristieger, emanzipatorischer Alternativen für die armen Bevölkerungsgruppen. Aber immerhin habe die alltägliche Politik von Chávez die Bevölkerung ermutigt, für ihre Rechte einzutreten. „Wir sind es, die die Stadt erbauen. Es ist notwendig, für das Recht auf Stadt zu kämpfen“, sagt Jorge.
Die Menschen kommen aber in der Regel nicht politisiert zur Bewegung der Pioniere, sondern weil sie eine Wohnung brauchen. Jeden Samstag findet ein Plenum statt, das die Beteiligten zu einer Gruppe zusammenwachsen lässt. Außerdem gibt es Versammlungen mit Delegierten aus jeder Familie zur Selbstorganisierung und auch politische Treffen. „Die größte Politisierung findet in der Bewegung statt, durch die Versammlungen“, meint Jorge. Nathaly erklärt zum Umgang mit Konflikten: „Zentral ist, die Unterschiede beiseite zu lassen und uns wegen dem zu treffen, was uns verbindet“.
So entstehen im Campamento Kai Kashi nicht nur Wohnungen. Am anliegenden Hang gibt es auch eine Anbaufläche. Durch die eigene Produktion von Lebensmitteln wollen die Bewohner_innen unabhängiger von Marken sein, zudem ist es günstiger. „So können wir entscheiden, was unsere Grundbedürfnisse sind, was wir brauchen und konsumieren nicht das, was uns die Firmen vorsetzen“, erläutert Nathaly. In Kai Kashi sollen später zum Beispiel auch Geschäfte und ein Kindergarten entstehen.
Ein weiterer Bewusstseinswandel lässt sich mit Hinblick auf die Geschlechterrollen beobachten: „Wenn es an die Arbeit auf der Baustelle geht, arbeiten wir genauso wie die Männer!“meint Nathaly. „Durch die Arbeit im Campamento haben die Leute gelernt, die kämpferische Frau wertzuschätzen.“ Jorge ergänzt: „In der Bewegung lernen Männer, die Frauen für andere Fähigkeiten anzuerkennen.“ Wenn die Männer sähen, dass eine Frau auch Ziegelsteine tragen könne, würden sie merken, dass sie selbst auch Geschirr spülen könnten. Das gemeinsame Essen kochen jetzt auch Männer. „Es gibt einen kleinen Wettbewerb zwischen den Frauen und den Männern, wer leckereres Essen zubereitet. Aber es ist ein gesundes Wettstreiten“, findet Jorge.
Nathaly und Jorge haben den Eindruck, dass in Deutschland die Menschen darauf warten, dass die Regierung die Straßen in Stand setzt. In Venezuela sei das anders, dort seien die Menschen politisiert. In den 15 Jahren Bolivarischer Revolution habe sich in der Stadt schon viel verändert, wie Jorge erläutert. „Früher gab es im Zentrum nur private Parks, es gab keine öffentlichen Plätze. Jetzt gehen wir Armen ins Zentrum von Caracas, wir sind überall, fordern das Recht auf Stadt. Und es gibt immer mehr Zugang!“
Deshalb wollen die Aktivist_innen, dass das, was die Bewegung der Pioniere durchführt, nicht eine persönliche Erfahrung bleibt. Sie verbinden es mit der politischen Forderung, dass es Gesetze gibt, die die erkämpfte Sicherheit garantieren und der Staat eine entsprechende Politik macht. Die Aktivist_innen wünschen sich, dass die Nachbar_innen des Campamentos Kai Kashi und der anderen Campamentos in Venezuela sehen, was sie durch die Selbstorganisation erreicht haben. Dass es bislang unpolitische Nachbar_innen motiviert, sich auch zu organisieren und sich so Stück für Stück die Stadt verändert.

„Wir können noch gewinnen“

Wie kam es dazu, dass das ecuadorianische Umweltministerium dem staatlichen Konzern Petroamazonas Ende Mai die Genehmigung für die Erdölförderung der Felder Tambococha und Tiputini im Yasuní erteilte?
Spätestens seit unsere Regierung die Yasuní-ITT-Initiative am 15. August 2013 aufgekündigt hat, macht sie sowohl öffentliche als auch geheime Schritte, um die Erdölförderung der Quellen Ishpingo, Tambococha und Tiputini (Kürzel ITT) vorzubereiten. Unsere Regierung geht dabei sehr strategisch vor, um einen riesigen Konflikt zu verhindern. Diesen könnte es aus mehreren Gründen geben. Zum einen haben wir eine Verfassung, die die Rechte der Natur und der Indigenen Völker schützt. Der Yasuní-Nationalpark ist ein hochsensibles Biosphärenreservat und gleichzeitig Territorium von Indigenen, die in freiwilliger Isolation leben. Zum anderen gibt es ein großes gesellschaftliches Bewusstsein für die Bewahrung des Yasuní.

Welchen Entscheidungsspielraum hat das Umweltministerium?
Wichtig zu erwähnen ist, dass das ecuadorianische Umweltministerium seit 2013 nicht mehr unabhängig ist. Seither ist es dem Ministerium für die Koordinierung Strategischer Bereiche untergeordnet. Somit wurde das Umweltministerium zum Anhang eines Ministeriums, bei dem die Produktivität des Landes im Vordergrund steht und hierzu die Förderung von allen Ressourcen geprüft wird. Wir sprechen also von einem Umweltministerium, das immer schwächer wird. Es nimmt jetzt nur noch die Funktion wahr, Umweltlizenzen für Gebiete zu vergeben, in denen laut Verfassung keine Ressourcenförderung stattfinden soll, also in Naturparks und geschützten Gebieten.

Wie ist die Regierung vorgegangen, um die Erdölförderung im Yasuní zu ermöglichen?
Zunächst hat die Regierung das Parlament aufgefordert, das „nationale Interesse“ an der Erdölförderung der ITT-Quellen zu prüfen. Damit hat sie dem Artikel 407 unserer Verfassung entsprochen, der die Erdölförderung in Nationalparks und geschützten Gebieten explizit verbietet, jedoch Ausnahmen von diesem Verbot festlegt, sofern ein „nationales Interesse“ vorliegt. Das Parlament hat dieses „nationale Interesse“ bestätigt. Anschließend hat die Regierung die Schritte eingeleitet, die die Erdölförderung vorbereiten – unter anderem die Ausarbeitung der Umweltlizenz. Die Lizenz konnte jedoch nicht umgehend verabschiedet werden, da das YASunidos-Bündnis ein Volksbegehren initiierte. Dieses Volksbegehren machte der Nationale Wahlrat Anfang Mai unmöglich, indem er die Unterschriften ganz massiv diskreditierte.

Mit welcher Konsequenz?
Nachdem der Nationale Wahlrat öffentlich bekannt gab, dass die eingereichten Unterschriften für ein Referendum nicht ausreichten, dauerte es nur noch ein paar Tage, bis um 22. Mai, bis die Umweltlizenz verabschiedete wurde. Aufgrund der Schnelligkeit, mit der die Lizenz verabschiedet wurde, und ihres Wortlauts wird deutlich, dass schon viel früher daran gearbeitet wurde. Mit der Veröffentlichung wurde lediglich gewartet, bis die Initiative der YASunidos für ein Referendum erstickt werden konnte.

Wie reagierten Sie und die YASunidos auf die offizielle Verabschiedung der Genehmigung?
Wir sind bestürzt, weil diese Genehmigung in vielen Teilen ungenau ist und dadurch allgemeinen Umweltstandards für die Erdölförderung nicht gerecht wird. Es ist unfassbar, dass ein Umweltministerium eine solche Genehmigung verabschiedet hat. Unsere Verfassungsartikel zu den Rechten der Natur und der Völker in freiwilliger Isolation werden noch nicht mal erwähnt. Diese Genehmigung wird ihrem Namen einer „Umweltlizenz“ nicht gerecht, denn eine Umweltlizenz muss den Umweltschutz garantieren.

Warum werfen die YASunidos dem Nationalen Wahlrat Betrug bei der Prüfung der Unterschriften vor?
Aus vielen Gründen. Beispielsweise war die Nichtanerkennung von über 30 Prozent der Unterschriften nicht rechtmäßig, weil diese aus rein formalen Gründen zurückgewiesen wurden. Beispielsweise weil ein Papier fünf Millimeter kleiner als DIN A4 war. Eine unabhängige Kommission von der Politisch-Technischen Universität Quito ist mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen, dass die YASunidos rund 680.000 gültige Unterschriften eingereicht haben. Damit hätte das Volksbegehren nicht abgewiesen werden dürfen, denn unsere Verfassung verlangt 584.000 Unterschriften.

Wie wird es nun mit dem Protest gegen die Erdölförderung weitergehen?
Momentan gehen wir rechtlich gegen den Nationalen Wahlrat vor und fechten seine Ergebnisse an. Hierbei machen wir Gebrauch vom habeas data. Dies ist ein individuell einklagbares Recht, von staatlichen Stellen Auskunft über dort gespeicherte persönliche Daten zu erhalten. Im nächsten Schritt kann dann die Berichtigung der Daten gefordert werden.

Haben Sie noch Hoffnung, die Erdölförderung im Yasuní doch noch zu stoppen?
Die Lage ist höchst kompliziert. Unsere Regierung hat uns gezeigt, dass sie die Erdölförderung um jeden Preis durchsetzen. Es gibt einen riesigen Druck auf die Regierung, unsere natürlichen Ressourcen auszubeuten. Dies hat auf der einen Seite mit neuen Mächten zu tun, wie Unternehmen, die vom Rohstoffabbau abhängig sind und Einfluss auf unsere Regierung ausüben. Auf der anderen Seite ist unsere Regierung schon internationale Verpflichtungen eingegangen, die die Ausbeutung der Erdölreserven anheizen. Zum Beispiel hat Ecuador etliche Schulden bei China und hat versprochen, einige davon direkt mit Erdöllieferungen zu bezahlen. Neben diesem Druck, der auf die Regierung ausgeübt wird, gibt es aber einen großen zivilen Rückhalt für die Bewahrung des Yasuní. Deshalb denke ich, dass wir den Kampf noch gewinnen können. Es ist natürlich ein steiniger Weg. Aber wenn wir zurückdenken, ist dieser Weg schon seit sieben Jahren steil und steinig: Damals kämpfte die Zivilgesellschaft für die Bewahrung des Yasuní und die Regierung rief daraufhin die Yasuní-ITT-Initiative aus. Dieser Kampf ist bisher unglaublich erfolgreich verlaufen. Ohne ihn wäre der Yasuní jetzt schon seit Langem ausgebeutet.

Infokasten

Esperanza Martínez ist eine der bekanntesten ecuadorianischen Umweltaktivist_innen. Seit 28 Jahren arbeitet sie für die Nichtregierungsorganisationen Ökologische Aktion und Oil Watch-Ecuador. Aktuell unterstützt sie das Bündnis YASunidos, in dem sich Umweltschutzgruppen, Indigene und Jugendliche zusammengeschlossen haben.

Die Realität aus der Sicht der Zapatistas

„Es wird Gerechtigkeit geben“, kündigt Comandante Tacho am frühen Samstagnachmittag des 24. Mai an. Während die Hitze in diesem Teil des lakandonischen Dschungels, unweit der mexikanischen Grenze zu Guatemala, weiterhin unerbittlich brütet, spricht Tacho im zapatistischen autonomen Caracol (Verwaltungszentrum) La Realidad vor knapp 3500 Basisaktivist_innen. Weitere 1000 Sympathisant_innen, freie Medienaktivist_innen und Anhänger_innen der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald (la Sexta) sind in einer Solidaritätskarawane angereist. Zu diesen hingewandt fügt er hinzu: „Wir wollen nicht, dass ihr provoziert!“
Tacho ist Teil des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandatur (CCRI-CG) der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), das in diesen Tagen beauftragt wurde, einen zuvor erfolgten paramilitärischen Angriff zu untersuchen. Dass die militärische Befehlsebene der zapatistischen Bewegung auf zivilem Boden agiert, erfolgt auf ausdrückliche Bitte seitens der zivilen Autoritäten. Das ist ungewöhnlich – genau wie die aus vielen Bundesstaaten angereiste Karawane. Alles andere als ungewöhnlich sind hingegen die Einschüchterungen, Aggressionen sowie Attacken bis hin zu Mord an zapatistischen Aktivist_innen. Zusammen mit Sozialprogrammen und sogenannten Armutsbekämpfungsplänen bilden sie die Eckpfeiler der seit dem 1. Januar 1994 allgegenwärtigen staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie.
Der 2. Mai, ein Freitag, ist anders. Anders ist die Organisierung, anders die Durchführung. Anders ist auch, dass die Wahrheit über die erfolgten Geschehnisse nicht irgendwo zwischen den unterschiedlichen Aussagen der beteiligten und betroffenen Parteien liegt. Noch weniger liegt sie in den publizierten Nachrichten der renommierten kommerziellen Massenmedien – darunter auch vermeintlich kritische Medien wie die Tageszeitung La Jornada oder das Recherchemagazin Proceso – die als Erste von den Ereignisse berichteten. Zwischen diesen Darstellungen und der erst Tage später erfolgten Pressenachricht des in Chiapas tätigen und breit anerkannten Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) liegen Welten. Es ist das Frayba, das in diesen Tagen aufgrund der Spannungen in La Realidad als neutrale Vermittlungspartei ständig anwesend ist. Erst nach der Pressenachricht kommt es zu einer Stellungnahme seitens der Junta der Guten Regierung von La Realidad; aus Respekt vor der Unparteilichkeit des Menschenrechtszentrums, heißt es.
Während die Massenmedien erneut das Szenario eines internen Gemeindekonfliktes hervorrufen, in dem Zapatistas und Mitglieder der ebenso in La Realidad präsenten indigenen bäuerlichen Organisation CIOAC-Histórica bewaffnet aufeinander losgehen, zeichnen die Darstellungen vom Frayba ein ganz anderes Bild.
Demnach erfolgten im Caracol Konfliktverhandlungen zwischen der Junta der Guten Regierung und Repräsentanten der CIOAC-H – die Tageszeitung La Jornada spricht hierbei von einer Entführung des Delegierten – als außerhalb des Caracols anwesende Mitglieder der CIOAC-H, der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) sowie der Partei der Nationalen Aktion (PAN) die 150 Meter entfernte autonome Schule und Klinik der Zapatistas zerstören. Kurze Zeit darauf werden am Dorfeingang 68 angereiste zapatistische Basisaktivist_innen aus dem Hinterhalt mit Waffen, Macheten und Steinen von CIOAC-H Mitgliedern angegriffen. Als daraufhin der Zapatist José Luis Solís López, unbewaffnet und in der Bewegung besser bekannt unter dem Namen Galeano, aus dem Caracol eilt, um Hilfe zu leisten, gerät er in einen weiteren Hinterhalt der Angreifer. Er wird von 15 bis 20 Personen umzingelt. Eine Kugel trifft ihn in den rechten Fuß, eine weitere dringt in seine linke Brust ein. Mit Macheten schlagen sie auf ihn ein, auf den Rücken, über den Mund. Schließlich gibt ihm jemand den Gnadenschuss. Der tote Körper wird danach 80 Meter durch das Dorf geschleift. Galeano war in der Region von La Realidad zuständiger Lehrer in dem vor weniger als einem Jahr gestarteten Projekt der „kleinen zapatistischen Schule“ (Escuelita Zapatista), zu der bisher mehrere tausend interessierte Menschen aus aller Welt angereist sind, um den Autonomieprozess aus nächster Nähe kennen zu lernen. Es war kein Zufall, dass sich die Angreifenden auf ihn stürzten.
„Wir weisen ausdrücklich alle Anschuldigungen zurück, die behaupten, dass wir bewaffnet waren. Wenn dem so gewesen wäre, dann wäre das Ergebnis ein anderes“ heißt es in der Stellungnahme der Junta der Guten Regierung. Es ist keine Überraschung, dass deren Aussagen mit der Pressenachricht des Frayba wie die Faust aufs Auge zusammenpassen. Die Medien stehen keineswegs außerhalb des Szenarios. Sie reproduzieren nämlich das Bild, welches der Staat versucht zu verbreiten: Auf der einen Seite der neutrale, nach Aussöhnung suchende Staat, auf der anderen die sich bekriegenden Gemeindemitglieder.
Vor den stechenden Sonnenstrahlen durch einen großen Pavillon geschützt und auf weitere Ankündigungen seitens der Kommandantur der EZLN wartend, erklärt Pedro Faro Navarro vom Menschenrechtszentrum, dass der Mord an Galeano nur die „Spitze des Eisberges“ der Aufstandsbekämpfungsstrategie gegen das zapatistische Autonomieprojekt sei. Er berichtet, dass die Vereinnahmungsversuche der letzten Jahrzehnte seitens der mexikanischen und der chiapanekischen Regierung allmählich Früchte zeigten. Vermehrt wurden Anführer_innen bäuerlicher und indigener Organisationen erfolgreich gekauft. So wurde langsam aber stetig eine „staatliche Kontrolle der sozialen Bewegungen und ihrer Aktionsmodi“ erreicht.
Wenngleich Faro Navarro die CIOAC-H nicht als paramilitärische Organisation im eigentlichen Sinne bezeichnet, seien für ihn die gelegten Hinterhalte sowie die gezielte Ermordung Galeanos Zeichen einer paramilitärischen Organisierung. Zudem stechen deren engste Verflechtungen mit Politiker_innen und politischen Parteien auf lokaler, regionaler und bundesstaatlicher Ebene hervor.
Nach dem Mord wurde eilig innerhalb von einer Woche eine Karawane geplant; nach der expliziten Einladung der EZLN. Für viele fing die Reise in Mexiko-Stadt oder noch weiter nördlich an. Die knapp 1000 Kilometer lange Strecke aus der Hauptstadt nach Chiapas wurde in gut 44 Stunden zurückgelegt. Bereits vor der Ankunft in La Realidad sind am Straßenrand der zapatistischen Territorien Schilder zu erkennen, auf denen „Galeano lebt. Wir wollen Gerechtigkeit, keine Vergeltung!“ zu lesen ist. Im Caracol zeigt sich den Angereisten Unerwartetes: Rund um den Basketballplatz haben sich die Milizen der EZLN formiert. Es ist das erste Mal seit 1996, dass sich die Bewegung derartig präsentiert – ein Warnsignal, dass, obwohl das zapatistische Autonomieprojekt auf Gewaltverzicht, Dialog und den Ausbau ziviler Prozesse setzt, die militärischen Strukturen nach wie vor vorhanden und aktiv sind. Angesichts der sich häufenden Aggressionen und Attacken könne nicht tatenlos zugeschaut werden.
Mittlerweile füllt sich der Platz mit tausenden vermummten Zapatistas. Aus jedem der fünf Caracoles ist eine Delegation angereist, aus allen fünf Regionen werden Gedenkkränze für Galeano überreicht. Die Milizen bilden die äußerste Reihe. Tausende Augen haben ihren Blick auf die Angereisten gerichtet, die auf Bänken unter dem Pavillon Platz gefunden haben. Befehle werden gerufen und die Milizionär_innen schließen ihre Reihen, ziehen sich Klappen über ihre rechten Auge, haken sich ein und marschieren langsamen Schrittes in Richtung Pavillon. Plötzlich ist das Lied ‚Latinoamérica‘ der Band Calle 13 zu hören und Subcomandante Insurgente Marcos kommt auf einem Pferd angeritten. Er salutiert, reckt die linke Faust in die Höhe und streckt den Mittelfinger aus. Es erscheinen weitere Befehlsträger auf Pferden, unter ihnen Comandante Tacho sowie Subcomandante Insurgente Moisés. Sie salutieren ebenfalls, gehen ab und die beeindruckende, symbolhaft aufgeladene Inszenierung ist zu Ende.
Als Subcomandante Insurgente Moisés ein Kommuniqué verliest und sich die freien Medien vor der großen Bühne tummeln, auf der Marcos steht, erfolgt eine symbolische Verbindung zwischen den Anhänger_innen der Sexta und den Zapatistas. Während erstere auf dem Basketballplatz sieben Reihen bilden, werden sie von den tausenden anwesenden zivilen Zapatistas umringt – dies erfolgt weitaus disziplinierter als die Bildung der sieben Reihen der Angereisten. Schließlich passieren alle, sowohl Zapatistas als auch die Angereisten, das Grab von Galeano. Es befindet sich nicht auf dem Friedhof des Dorfes, sondern hinter dem Haus seiner Familie. Auf dem Grab türmen sich Blumen und unzählige kleine Steine.
Das Zusammentreffen in La Realidad ist nicht nur eine kollektive Trauerfeier oder die Präsentation von Stärke der Bewegung. Es ist vielmehr auch die symbolische Aufhebung des Todes von Galeano: „Und zum Schluss werden jene, die verstehen, wissen, dass nicht geht, wer niemals da war und dass nicht stirbt, wer nicht gelebt hat.“ Dies sind die letzten Worte von Subcomandante Insurgente Marcos in dieser Nacht – eine mediale Figur, geschaffen für die Kommunikation nach außen, die als nicht mehr notwendig erachtet wird. Damit Galeano weiter lebt, wird der Tod der Figur von Marcos nun als Subcomandante Insurgente Galeano vollzogen. Wiederbelebt durch tausende Stimmen, die in der Nacht zum Sonntag, ausrufen: „Wir sind Galeano.“ Gerechtigkeit wurde gesprochen; Gerechtigkeit, wie sie die Zapatistas verstehen: „Und der Tod wird sich betrügen lassen von einem Indigenen mit dem Kampfnamen Galeano und in diesen Steinen, die sie auf sein Grab legten, wird er wieder schreiten und wird jene, die das zulassen wieder das Basiswissen über Zapatismus lehren, das da heißt, sich nicht verkaufen, nicht aufgeben, nicht wanken.“

Nachtrag

Auf der Rückreise von La Realidad kam es zu einem Unfall, bei dem zwei mitgereiste Anhänger_innen der Sexta verletzt wurden. Einer von ihnen, David Ruiz García, erlag vier Tage später seinen Verletzungen. Der 25-jährige lebte und kämpfte in San Francisco Xochicuautla, Estado de México, gegen ein geplantes infrastrukturelles Großprojekt, welches die Abholzung der Wälder vorsieht. David war darüber hinaus im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) aktiv gwesen. Eine Woche nach der Trauerfeier im lakandonischen Dschungel wurde viele hundert Kilometer nördlich davon in den Bergen die Totenfeier für David abgehalten.

Ende einer Ära

Die Überraschung war groß am 24. Mai in der Regenwaldgemeinde La Realidad im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas: Am Ende der großen Trauerfeier für José Luis Solís López, genannt Galeano, einen Aktivisten der zapatistischen Bewegung, der am 2. Mai von regierungsnahen Paramilitärs erschossen wurde (siehe Artikel ab S. 30), ergriff Subcomandante Marcos das Wort. Der bekannte Sprecher und Militärchef der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) kündigte nach über 20 Jahren im Amt nicht weniger als seine sofortige Ablösung und sein „Verschwinden“ an.
Seit dem 1. Januar 1994, als die EZLN ihre Rebellion gegen die Einparteienherrschaft, das neoliberale Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, die Ausbeutung, den alltäglichen Rassismus, die tief verwurzelte Benachteiligung der Frauen und die Plünderung der indigenen Ländereien begann, stürzten sich die Medien regelrecht auf den wortgewandten Sprecher.
In seinem aktuellen Abschiedsbrief erinnert Marcos, einer der wenigen Mestizen der Bewegung, an die rassistische Arroganz der politischen Klasse und der Mainstream-Medien, die nicht in der Lage seien, die indigenen Menschen als Akteur_innen zu begreifen: „Sie waren es gewohnt, die Indigenen von oben herab zu betrachten, sie waren gewohnt, uns erniedrigt zu sehen, ihr Herz hat unsere würdevolle Rebellion nicht verstanden“. Daraufhin sei nach einer kollektiven Entscheidung der mehrheitlich indigenen Führung der EZLN die Kunstfigur Marcos geschaffen worden, um die Anliegen der Bewegung für die Dominanzgesellschaft zu übersetzen.
Eine taktisch geschickte Auseinandersetzung mit den Medien gelang Subcomandante Marcos und anderen Persönlichkeiten der EZLN immer wieder. Seine humorvollen, analytisch-poetischen Kommuniqués und Briefe sowie seine bildreichen Erzählungen vom weisen indigenen „Alten Antonio“ sowie vom rebellischen antikapitalistischen Käfer „Don Durito“ wurden weltberühmt.
Unvergessen ist das „Intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit“ von 1996, als über 3000 Aktivist_innen aus mehr als 40 Ländern in La Realidad im Aufstandsgebiet der EZLN zusammenkamen, um eine „Internationale der Hoffnung“, eine horizontale Bewegung von unten gegen die Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus aufzubauen. Das Treffen gilt bis heute als einer der Grundpfeiler der globalisierungskritischen Bewegungen.
Große Aufmerksamkeit zog 2001 auch der „Marsch von der Farbe der Erde“ von Subcomandante Marcos und der EZLN-Kommandantur nach Mexiko-Stadt auf sich, der mit dem Auftritt von Comandanta Ester im mexikanischen Parlament endete, bei dem sie für eine Verfassungsänderung zugunsten der Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen warb. Vor dem Parlament demonstrierten damals 250.000 Menschen für die Forderungen der EZLN.
Doch die Fixierung auf Marcos war nie unproblematisch: Teile der Linken verstiegen sich in einen übertriebenen Personenkult, sahen in Marcos eine Art postmodernen Che Guevara und verloren dadurch die soziale Basis und die emanzipatorische Programmatik der Bewegung aus dem Blick. Die etablierte Politik und die Rechte freilich hassten den „Sub“, da die zapatistische Bewegung nicht ins System integriert werden konnte und unabhängig blieb. Die kommerziellen Medien degradierten Marcos zum Pop-Star und gewöhnlichen Politiker, der die Indigenen verführe, und liefern bis heute ein schiefes Bild von der Bewegung der Zapatistas: Gab es keine Auftritte, Briefe oder Kommuniqués von Marcos, wurde davon ausgegangen, dass die Bewegung geschwächt sei oder nicht mehr existiere und dass Marcos längst den Regenwald verlassen habe oder krank oder tot sei. Marcos selbst stellte mehrfach klar, dass seine Rolle zu groß geworden war und zog sich in den vergangenen Jahren zunehmend zurück.
Im Verlauf des Jahres 2013 wurden die bisherigen Aufgaben von Subcomandante Marcos an Subcomandante Moisés weitergereicht. Der Tzeltal-Indigene, der seit den 1980er Jahren in der EZLN aktiv ist, sieht die politisch-militärische Organisation in der Pflicht der zapatistischen Basis und betonte bei der Trauerfeier für Galeano einmal mehr, dass die EZLN ihren Gemeinden gehorche und sich nur einbringe, wenn sie dazu aufgefordert werde.
In seinem Abschiedsbrief betonte Marcos, dass es heute eine neue Generation von Zapatistas gebe, die bereit stehe, die Geschicke der Bewegung souverän in die Hand zu nehmen: „Es ist unsere Überzeugung und unsere Praxis, dass man für Rebellion und Kampf keine charismatischen Anführer oder Chefs braucht, keinen Messias und keinen Erlöser. Um zu kämpfen, braucht man nur ein wenig Anstand, etwas Würde und viel Organisation. Alles Weitere nutzt dem Kollektiv oder eben nicht“. Nach der Verlesung des Briefes verschwand Marcos in der Dunkelheit. Seine Figur wurde damit offenbar endgültig dekonstruiert.
Kurz darauf meldete sich eine Stimme aus dem Off: „Guten Tagesanbruch, wünsche ich Euch Compañeras und Compañeros. Mein Name ist Galeano, Subcomandante Insurgente Galeano. Heißt hier noch jemand Galeano?“ Daraufhin riefen viele Stimmen: »Wir alle sind Galeano!« Darauf „Galeano“ weiter: „Ah, deshalb haben sie mir gesagt, wenn ich nochmals geboren würde, dann würde ich es im Kollektiv tun. So soll es sein. Gute Reise. Passt gut auf Euch auf. Passt auf uns auf. Aus den Bergen des Südostens von Mexiko. Subcomandante Insurgente Galeano.“

Links:
Homepage der EZLN: enlacezapatista.ezln.org.mx (spanisch)
Chiapas98 (Infos rund um die zapatistische Bewegung): www.chiapas.eu (deutsch)

Lesetipp:
Marcos, Subcomandante: Die anderen Geschichten / Los Otros Cuentos, Unrast-Verlag Münster 2010

Widerstand hinter Gittern

Es herrscht eine bunte Geräuschkulisse aus Musik, Familien, die mit Essen vollgestopfte Tüten mitbringen, und grölenden Glücksspielern. Die Sonne knallt auf bekritzelte Wände, aufgehängte Wäsche und einzelne Tortillas, die in der Hitze trocknen. Und auf einen kleinen Pavillon, unter dem in ein paar bunten Plastikbechern Kaffee vor sich hindampft.
Uns gegenüber dieses markante Gesicht, eindrucksvoll geprägt von seiner Geschichte, etwas müde, aber trotzdem mit einem Leuchten in den Augen. Es gehört zu Alejandro Díaz Santis, der seit 1999 zu Unrecht eingesperrt ist. Der mittlerweile 33-jährige lebte zu dem damaligen Zeitpunkt vom Verkauf von Süßigkeiten in den Straßen der Küstenstadt Veracruz und, wie ein Großteil der indigenen Bevölkerung, mit gerade genug Einkommen, um von Tag zu Tag zu leben. Eines Abends geht er mit seiner Frau einkaufen. Seine 19 Monate alte Stieftochter bleibt mit seinem Cousin in der gemeinsamen Unterkunft. Bei der Rückkehr findet das Ehepaar das Kind am Fuß der Treppe, bereits tot. Der Cousin ist verschwunden. Als Alejandro sich aufmacht, einen Krankenwagen zu suchen, und zurückkehrt, wird er von Polizist_innen festgenommen, geschlagen und aufs Revier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt spricht Alejandro nur Tzotzil, die indigene Maya-Sprache, jedoch kein Wort Spanisch. Als man ihm am nächsten Tag der Vergewaltigung und Ermordung seiner Stieftochter beschuldigt, hat er keinerlei Möglichkeit zu verstehen, geschweige denn sich zu verteidigen. Aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln bleibt ihm auch das Recht auf einen Anwalt verwehrt. Er wird zu 29 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Von da an beginnt eine Odyssee durch verschiedenste Gefängnisse in den südmexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Chiapas. Bis er im Januar 2010 in das Gefängnis Cereso 05 nahe San Cristóbal verlegt wird. Hier sitzen wir nun und lauschen wie Alejandro uns all das mit unglaublicher Ruhe und Ausführlichkeit erzählt. Und heute in perfektem Castilla, wie die Indigenen das Spanisch nennen. Dies sei nur durch die Begegnung mit Alberto Patishtán hier im Cereso 5 möglich geworden, erzählt er.
Patishtán, Lehrer aus Chiapas und ebenfalls Tzotzil, wurde in den letzten Jahren zum Gesicht einer Kampagne, die die sozialen Missstände, die Ungerechtigkeit und Verstöße gegen die Menschenrechte in Mexiko, besonders gegenüber der indigenen Bevölkerung und politischen Häftlingen, anprangert. Aus dem Gefängnis setzte er sich permanent und kontinuierlich für eine Veränderung und einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sowohl außerhalb als auch innerhalb des Gefängnisses ein. Patishtán wurde 2013 nach 13 Jahren politischer Haft aus dem Gefängnis entlassen (siehe LN 474).
„Patishtán“, so Alejandro, „hat mir beigebracht stets die Wahrheit zu sagen, und die Dinge stets öffentlich zu machen. Denn wer schweigt, macht sich zum Komplizen.“ Die Tatsache, sich als Unschuldiger in der isolierten Gesellschaft der Inhaftierten wiederzufinden und die Begegnung mit Patishtán hätten ihm die Augen geöffnet. In all den Jahren habe er gelernt, was Ungerechtigkeit sei, was die Abwesenheit von Recht bedeute, wie die Autoritäten in verschiedensten Positionen ihre Macht missbrauchten. Und auch was es heißt, zu kämpfen, sich einzusetzen für einen Wandel, für Gleichheit, für eine umfassende Gerechtigkeit.
Es versammeln sich mehr Leute am Tisch. Einer von ihnen ist Roberto Paciencia, der uns erzählt, wie er im Mai letzten Jahres aus dem Nichts festgenommen wurde, beschuldigt der Entführung einer Person, die er nie gesehen hat. Gefoltert, um ein falsches Geständnis zu erpressen, befindet er sich jetzt hier. Leider keine Ausnahme. Viele der 400 Insassen im Cereso 05 haben so oder ähnlich ihren Weg hier hinein gefunden. 90 Prozent von ihnen sind Indigene, die oft kein oder kaum Spanisch sprechen. Da große Teile der indigenen Bevölkerung in ärmsten Verhältnissen leben, kaum das Castilla beherrschen, von der Gesellschaft diskriminiert werden und ihre Rechte nicht kennen, sind sie leichte Beute, falls einmal ein Schuldiger gebraucht wird. In dem korrupten System bezahlt häufig der wahre Schuldige eine Geldsumme und man sucht sich willkürlich irgendeine Person, die dessen Strafe absitzt. Das sei, so Alejandro, eine etablierte Strategie der Ministerien und der Staatsanwaltschaft.
Leider nicht nur hier in Chiapas, sondern in großen Teilen Mexikos, Mittel- und Südamerikas. In einem Bericht, den die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte am 13. März veröffentlicht hat, wird die katastrophale Situation der mexikanischen Gefängnisse und deren Insassen aufgeführt: Mexiko ist nach den USA und Brasilien der Staat mit der höchsten Anzahl an Inhaftierten. Aktuell sind es 242.000 Häftlinge in 419 Strafvollzugsanstalten im Land. Diese sind durchschnittlich zu 26 Prozent überfüllt. Allein in den letzten fünf Jahren sind mehrere Tausend geflohen und mehr als 600 nahmen sich im Gefängnis das Leben. Von den 242.000 befinden sich 40 Prozent, also mehr als 100.000 Menschen, in vorübergehender Untersuchungshaft – ohne Urteilsspruch, allerdings in den gleichen Gefängnissen, unter den gleichen miserablen Bedingungen. Es ist eine weit verbreitete Meinung, die in der Gesellschaft herrscht: Je mehr Festnahmen, desto sicherer sei es. Unter dem Vorwand, eine Lösung für Kriminalität und Unsicherheit in Mexiko zu kreieren, wurden von der Politik diverse Gesetze modifiziert, um die vorläufigen Festnahmen ohne Untersuchung und Beweise zu legalisieren. Dies führte zu einem extremen Anstieg der Festnahmen in den letzten Jahren.
Bei einem Rundgang durch das Gefängnis bekommen wir ein Bild von der verrückten Welt, in der sich die Häftlinge bewegen und leben. Ich fühle mich wie im Film Carandiru von Hector Babenco über das berüchtigte Gefängnis von São Paulo. Wir schlängeln uns durch engste Gänge, vorbei an freundlich grüßenden Budenbesitzern, die Chips und Zigaretten verkaufen, kleinen Gasküchen und tätowierten Kartenspielern mit traurigen Gesichtern. Wir kommen in winzige Zellen mit bis zu zehn Häftlingen, jede mit einem ein mal zwei Meter großen Bett, das zugleich Kleiderschrank und Wohnraum ist.
Seit Patishtán im Oktober vergangenen Jahres schlussendlich aus der Haft entlassen wurde, nimmt Alejandro Díaz die Rolle ein, die Missstände im Gefängnis anzuprangern – wie zum Beispiel das Fehlen von desinfizierendem Alkohol für medizinische Behandlungen oder die korrupten Strukturen. Im Gefängnis selbst fungiert er als eine Art Ratgeber, um seine Erfahrungen zu teilen und ist Vorbild für den politischen Aktivismus eines Inhaftierten. Die Fortsetzung dieses Kampfes nach der Freilassung Patishtáns und neun weiterer indigener politisch Inhaftierter am 4. Juli 2013 zeigt, dass deren Bemühungen nicht umsonst waren und anderen Kraft gegeben haben.
Alejandro Díaz strahlt. Am 11. Mai sind es 15 Jahre, die er unschuldig im Gefängnis sitzt. Er sei zufrieden, sagt er. Zufrieden über die Freilassung seiner compañeros. Zufrieden damit, im Gefängnis gelandet zu sein. Hier, hinter den Gitterstäben, habe er andere Freiheiten gefunden. Obwohl eingeschlossen, so hätten sich ihm doch ganze Welten eröffnet: das erlernte Spanisch, die gewonnenen Erkenntnisse über die Ungerechtigkeit, der politische Aktivismus und Widerstand. Es sei kein Kampf für eine persönliche Gerechtigkeit, sagt er, sondern für eine allumfassende. Hier zwischen der aufgehängten Wäsche, den Tortillas, die in der Sonne trocknen und dem Kaffee, der inzwischen aufgehört hat zu dampfen.

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