Fortschreitende Katastrophe

In Altamira ist nichts wie es mal war. Massen von Menschen sind von einem Tag auf den anderen in die Provinzhauptstadt des nordbrasilianischen Bundesstaates Pará gekommen. Große Bauinvestor_innen bauen moderne Hotels und neue Geschäfte stellen in ihren Schaufenstern luxuriöse Modeartikel zur Schau. Doch der Schein von Reichtum und Fortschritt trügt. Nur die lästige bräunliche Lehmschicht, die die Stadt bedeckt, zeigt das wahre Gesicht Altamiras. Hier wird seit 2011 Belo Monte, das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt, gebaut. Und nicht nur der viele Lehm, der überall in Altamira zu sehen ist, zeugt von diesem Bauprojekt: Ganze Viertel der Stadt müssen in Kürze umgesiedelt werden, um für den Stausee Platz zu schaffen. 40.000 Menschen werden von der Umsiedlung betroffen sein. Im Januar fielen bereits die ersten Holzhäuser den Motorsägen zum Opfer.
All dies zeigt Count-Down am Xingu IV, ein Dokumentarfilm von Martin Keßler, der den Kampf um Belo Monte am Fluss Xingu seit Jahren beobachtet und dokumentiert. Bereits 2009 legte er mit Eine andere Welt ist möglich – Kampf um Amazonien einen ersten Film über das Thema vor, als das Staudammprojekt noch in der Planungsphase war. Es folgten die ersten drei Teile der Reihe Count-Down am Xingu, nun hat er Teil IV der Öffentlichkeit vorgestellt.
Der Bau von Belo Monte wurde 2011 ohne abschließende Umweltgutachen und trotz der mehrfachen Einsprüche der brasilianischen Staatsanwaltschaft begonnen. Er wurde gegen den Willen der indigenen Bewohner_innen des Amazonasgebiets und ohne Rücksicht auf Natur und Regenwald durchgesetzt. Und so wird er auch fortgesetzt.
Umgerechnet 10 Milliarden Euro öffentliche Gelder werden in das Projekt gepumpt, aber die betroffenen Menschen müssen sich mit einer geringen Abfindung zufrieden geben. Die Betonhäuser, die der Energiekonzern Norte Energia für sie bereitgestellt hat, zeigen schon jetzt Risse in den Wänden. Das soziale Umfeld der Menschen und ihre Lebensweise werden zerstört und die Möglichkeit, dass ihnen – wie im Film immer wieder erwähnt wird – „das Haus auf den Kopf fällt“, scheint alles andere als an den Haaren herbeigezogen.
Proteste gegen das Wasserkraftwerk werden mit der Sonderpolizei bekämpft und indigene Bewohner_innen von der Regierung gegeneinander ausgespielt. 130 Quadratkilometer Regenwald sollen unter dem Stausee verschwinden. Die Folgen für die Umwelt sind unabsehbar.
Selbst im europäischen Parlament wird das Thema Belo Monte diskutiert, allerdings ohne nennenswerte Ergebnisse (siehe LN 475). In der Zwischenzeit lässt die Regierung von Dilma Rousseff ihre unterbezahlten Arbeiter_innen eifrig weiter bauen. Abgesehen von den bereits erbauten Wasserkraftwerken plant die brasilianische Regierung in den kommenden Jahren den Bau von 150 weiteren Staudämmen.
„Was können wird dagegen tun?“, fragt ein Zuschauer nach der Filmvorstellung von Count-Down am Xingu IV im Berliner Kino Odeon im Gespräch mit Martin Keßler. Die Frage geht weit über Altruismus, Solidarität oder Sympathie mit den Betroffenen in der Region hinaus. Denn die Konsequenzen einer nicht auszuschließenden Wüstenbildung eines Teiles des Amazonasgebiets und der Klimawandel, der damit vorangetrieben werden könnte, betreffen letztendlich uns alle.

Martin Keßler // Count-Down am Xingu IV // Dokumentarfilm // 73 Minuten // 2014 // http://neuewut.de

Etappensieg für YASunidos

„Wir haben es geschafft: Sage und schreibe 757.623 Ecuadorianer_innen haben für das Referendum zur Rettung des Yasuní unterschrieben!“, rief Francisco Hurtado von den YASunidos in die tobende Menge auf den Straßen Quitos. Am 12. April 2014 waren tausende Bürger_innen zur offiziellen Übergabe der Unterschriften zum Nationalen Wahlrat gezogen. Mit Trommeln, Umzugswagen und Musik feierten Umweltaktivist_innen, indigene Gruppen und Feministinnen den Erfolg ihrer sechsmonatigen Arbeit. Sie hatten sich im September 2013 zum YASunidos-Bündnis zusammengeschlossen, um einen Volksentscheid über die Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark zu initiieren. Dies war die direkte Antwort der Zivilgesellschaft auf die Entscheidung von Präsident Rafael Correa im August desselben Jahres, die Yasuní-ITT-Initiative zu beenden. Deren Vorschlag bestand darin, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl in den Ölfeldern Ishpingo, Tambococha und Tiputini (ITT) des Yasuní-Gebiets zum Schutz der Natur und der dort lebenden indigenen Gruppen unangetastet zu lassen. Als Ausgleich sollte die internationale Staatengemeinschaft Kompensationszahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar leisten. Bis Mitte 2013 kam jedoch nur ein Bruchteil der Gelder zusammen. Correa zufolge habe „die Welt“ Ecuador „im Stich gelassen“. Im „nationalen Interesse“ müsse daher nun mit der Ölförderung im Yasuní-ITT begonnen werden (siehe LN 477, 471/472). Dagegen begehrte die YASunidos-Bewegung auf. Sie beruft sich auf die ecuadorianische Verfassung, die als einzige weltweit die Rechte der Natur festschreibt und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in geschützten Gebieten untersagt. 40 Jahre Erdölförderung habe die Armut im Land nicht beseitigt, stattdessen aber Krankheiten und verseuchte Landschaften hinterlassen. „Wir wollen keinen neuen Fall Chevron-Texaco. Unser Ziel ist es, den Traum vom ‚Guten Leben‘, den viele Menschen dieses Landes haben, ohne Öl zu verwirklichen“, meint Patricio Chávez, ein Sprecher des Bündnisses.
Konkret kämpfen die YASunidos für ein Referendum mit der Frage: „Sind Sie damit einverstanden, dass die Regierung das Rohöl im ITT, bekannt als Block 43, auf unbestimmte Zeit im Boden belässt?“ Es wäre das erste Referendum weltweit zur Verteidigung der Rechte der Natur und zum Schutz indigener Völker. Damit die Zivilgesellschaft ein solches einberufen kann, müssen laut Verfassung binnen eines halben Jahres knapp 600.000 Unterschriften gesammelt werden. Das entspricht fünf Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung.
Tausende Freiwillige sammelten in ganz Ecuador in den letzten Monaten tagtäglich Unterschriften. Ein solches von unten, durch die Bürger_innen initiiertes Referendum ist für Ecuador ein Novum. Auch international hat dies Seltenheitswert. Einfach war es nicht, die Unterschriften zusammenzubekommen. Für die Unterschriftensammlung erhielten die YASunidos von staatlicher Seite gerade einmal zwei Exemplare der offiziellen Formulare, auf denen jeweils acht Unterschriften Platz finden. Finanzielle oder logistische Unterstützung für die restlichen Kopien oder weitere Materialien gab es nicht. Im Gegenteil. Umständliche Regeln beim Sammeln der Unterschriften sollten es den freiwilligen Helfer_innen schwer machen.
Darüber hinaus war die Bewegung Schikanen und Repressionen ausgesetzt. Die Regierung ließ beispielsweise eine Mitgliedsorganisation des Bündnisses aus fadenscheinigen Gründen schließen. Sie drohte Studierenden außerdem den Verlust ihrer Stipendien an, sollten sie sich bei den YASunidos engagieren. Aktivist _innen wurden bis nach Hause verfolgt und eingeschüchtert. Ein YASunidos-Mitglied wurde sogar festgenommen, stundenlang verhört und nach seiner Freilassung von Unbekannten verprügelt.
Eine Desinformationskampagne sollte mutmaßlich die Bürger_innen in die Irre führen. Bürgermeister_innen von Correas Regierungspartei Allianza País sammelten ebenfalls Unterschriften zur Initiierung eines Referendums – allerdings für die Ausbeutung des Erdöls im Yasuní-ITT. Vor ein paar Wochen plagiierten sie das Design von Zeitungseinlagen der YASunidos und warben damit für ihr eigenes Referendum. Daneben tauchte eine Gruppierung auf, deren Name dem einer Mitgliedsorganisation der YASunidos zum Verwechseln ähnelt. Auch sie strebt ein Referendum an und sammelte Unterschriften, angeblich gegen jegliche Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Ecuador. Nicht nur YASunidos-Aktivist_innen vermuten hinter dieser Initiative staatliche Funktionäre.
Correa selbst beschimpfte die YASunidos in seinen wöchentlichen Fernsehansprachen als „faule Jugend“ oder „Lügner“. Mindestens 30 Prozent ihrer Unterschriften seien aufgrund von formalen Fehlern ohnehin ungültig, behauptete er. Und tatsächlich, wenige Tage nach der Unterschriftenübergabe, verkündete der Nationale Wahlrat, das YASunidos-Bündnis habe zu wenige Ausweiskopien von den Unterschriftensammler_innen eingereicht. Dadurch könnten hunderttausende Unterschriften annulliert werden. Allerdings zeigt ein Video, dass der Nationale Wahlrat gesetzliche Verfahrensregeln brach, als er in Abwesenheit von YASunidos-Delegierten versiegelte Dokumente öffnete. Auch die Überprüfung der Unterschriften begann ohne unabhängige Beobachter_innen.
Der friedliche Protest von YASunidos-Aktivist_innen gegen den Transport der Unterschriften vom Nationalen Wahlrat zu einer abgelegenen Militärbasis endete mit dem Einsatz von Tränengas durch Polizei und Militär. Patricio Chávez von den YASunidos sagte dazu: „Wir verstehen nicht, dass die Unterschriften in ein Militärzentrum gebracht wurden, wo sie während des Überprüfungsprozesses von der Armee bewacht werden. Bisher wurden solche Prozesse immer im Hauptgebäude des Nationalen Wahlrat durchgeführt“.
Seitdem fordern die YASunidos ein transparentes und demokratisches Verfahren zur Überprüfung ihrer Unterschriften. Des Weiteren verlangen sie den Stopp der Unterschriftenzählung hinter verschlossenen Türen. „Eine große Mehrheit der Bürger_innen hat sich in Umfragen für dieses Referendum ausgesprochen. Viele Menschen wollen auch nach dem Ende der Yasuní-ITT-Initiative keine weiteren Erdölbohrungen im Yasuní“, erklärt Antonella Calle von den YASunidos und versichert: „Wir werden jede Unterschrift wie unsere eigenen Kinder verteidigen“.

Umkämpfte Gegenwart in Brasilien

Stefan Zweig zeigte sich begeistert. Der österreichische Schriftsteller beschrieb Brasilien 1941 als „Land der Zukunft“. Vor dem geschichtlichen Hintergrund des Rassenwahns in Europa schien ihm sein Exilland geradezu den Rassismus überwunden zu haben. Bis heute wirkt der Mythos der sogenannte Rassendemokratie (democracia racial), in der die Nachfahren weißer Europäer_innen, schwarzer Versklavter und Indigener vermeintlich friedlich vereint die brasilianische Gesellschaft bilden. Das Bild vom „Land der Zukunft“ hält sich ebenso. Während die einen den diesjährigen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer nun in dieser Zukunft angekommen zu sehen glauben, spotten andere seit jeher, Brasilien werde das ewige Land der Zukunft bleiben.
Die schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeografin Verena Meier zählt eher zu den ersteren. In ihrem informativen und ansprechend geschriebenen Buch Brasilien. Land der Gegenwart kombiniert sie fundierte Hintergrundinfos zu Landeskunde, Geschichte, Kultur und Wirtschaft mit persönlichen Eindrücken. Ihr Streifzug führt durch die am Reißbrett entstandene Hauptstadt Brasilia, über eine Gated Community in São Paulo und eine Favela in und Rio de Janeiro bis ins Hinterland des Bergbau-Staates Minas Gerais und das Hafenviertel der nordöstlichen Metropole Recife. Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin Natur und Menschen im Amazonasgebiet. Wenngleich sie auch auf die Schattenseiten von Brasiliens wirtschaftlichem Aufstieg wie beispielsweise die Macht des Agrobusiness‘ und die krassen Einkommensunterschiede eingeht, überwiegt ein optimistischer Blick auf das „Land der Gegenwart“.
Thematisch andere Schwerpunkte setzt der Sammelband Widerständigkeiten im ‚Land der Zukunft‘. Die Herausgeber_innen Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt und Lisa Tschorn greifen Zweigs Bild mit dem Ziel auf, es kritisch zu hinterfragen. Autor_innen aus Brasilien und Deutschland beleuchten in insgesamt fast 30 Texten Identitäten jenseits des Mythos‘ der Rassendemokratie, beschreiben Brasiliens Stellung in der Weltpolitik sowie die Brüche und Kontinuitäten seit der Militärdiktatur. Auch die etwas aus der Mode gekommene Forderung nach einer integralen Landreform wird breit thematisiert. Angesichts der Tatsache, dass etwa 32.000 Großgrundbesitzer_innen über eine Fläche verfügen, die viermal so groß wie Deutschland ist, bleibt das Thema hochaktuell. Ein umfassendes Kapitel handelt von städtischen Kämpfen und politischen Umstrukturierungen in den Favelas. Wer den wissenschaftlichen Duktus nicht scheut, in dem viele der Texte geschrieben sind, findet in dem überaus lesenswerten Sammelband Themen, die im Jahr der Fußball-WM wohl nicht im Zentrum des medialen Interesses stehen werden. Ob Brasilien nun in der Zukunft angekommen ist oder nicht: Seine Gegenwart bleibt umkämpft.

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn // Widerständigkeiten im „Land der Zukunft“. Andere Blicke auf und aus Brasilien // Unrast-Verlag // Münster 2013 // 336 Seiten // 18 Euro

Verena Meier // Brasilien. Land der Gegenwart // Rotpunktverlag // Zürich 2013 // 256 Seiten // 29,90 Euro

Nicht eine Ermordete mehr in Chiapas!

Wie ist die Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas entstanden?
Die Kampagne entstand aus der Besorgnis mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Einzelpersonen aufgrund des Anstiegs der Feminizide und der feminiziden Gewalt im Bundesstaat Chiapas. Die Kampagne existiert nicht nur, um die Ermittlung und Sanktion der Verantwortlichen der Feminizide einzufordern, sondern auch um der feminiziden Gewalt vorzubeugen. Wir halten die Feminizide für vermeidbare Todesfälle. Wir organisieren daher Informations- und Bildungsaktionen mit dem Ziel, dass wir Frauen keine Beziehungen akzeptieren, die unsere Rechte verletzen und unser Leben aufs Spiel setzen.

Was zeichnet den Kontext der feminiziden Gewalt in Chiapas im Unterschied zu anderen Bundesstaaten mit hohen Feminizidraten wie Chihuahua oder Estado de México aus?
Chiapas ist der zweitärmste Bundesstaat Mexikos, 86 Prozent der Bevölkerung leben in Armut oder extremer Armut. Ein Drittel der Bevölkerung ist indigen. Soziale Netzwerke sind zerrüttet, die Scheidungsraten sind hoch. Die Folge davon ist eine steigende Zahl alleinstehender Frauen in der Funktion von Ernährerinnen, die große Lohnbenachteiligungen erfahren und doppelte oder dreifache Arbeitszeiten haben. Dazu kommen der fehlende Zugang der Frauen zum Gesundheitssystem sowie zu Land- und Territoriumsrechten. Weitere Probleme sind Alkoholismus, Zwangsprostitution, Drogenabhängigkeit, Waffen-, Organ- und Menschenhandel, Megaprojekte wie Palmöl- und Pinienmonokulturen, Repression von Protesten, Straflosigkeit und Militarisierung. All das ist Ausdruck der strukturellen Gewalt mit direkten Konsequenzen für Frauen.

Inwiefern unterscheiden sich die Feminizide in Chiapas von den Frauenmorden in anderen Bundesstaaten?
Die Agressoren sind den Opfern nahestehende Personen, insbesondere (Ex-)Partner, Ehemänner, Liebhaber, Freunde, Verehrer. Es sind Personen, zu denen die Frauen ein Vertrauens- und Liebesverhältnis gehabt haben. Für den Zeitraum Januar bis Oktober 2013 betrifft das 55 Prozent der gewaltsamen Tode. Weitere 15 Prozent der Frauen wurden von einem Familienmitglied ermordet.

Auf welchen Quellen beruhen die Zahlen, die ihr anführt?
Die Daten zu Feminiziden werden von COLEM (Frauengruppe San Cristóbal, Anm. d. Red.) bereitgestellt, die diese seit 2011 auf Basis von Pressenotizen erheben – erstens, weil die Staatsanwaltschaft von Chiapas keine vollständigen Daten verfügbar hat und zweitens, da innerhalb dieser keine eindeutigen Kriterien bestehen, die die Identifikation von Feminiziden ermöglichen würden.

Wie erklärt ihr den Anstieg der gewaltsamen Tode und Feminizide?
Wir sehen einen Grund in der vom neoliberalen System angestoßenen Veränderung der Geschlechterrollen. Frauen sind immer mehr in den Arbeitsmarkt eingebunden und füllen Funktionen aus, die bis vor einigen Jahrzehnten als den Männern vorbehaltene betrachtet wurden. Gerade angesichts der wachsenden Migration männlicher Familienmitglieder und der ökonomischen Krise in Chiapas übernehmen Frauen in der Familie die Rolle der Versorgerin. Damit wird ein Gefühl der Herausforderung der maskulinen Stärke ausgelöst. Um die eigene Vormachtstellung zu behaupten, wird dies mit einem immer extremeren Gewaltgebrauch gegenüber Frauen beantwortet.

Welche spezifischen Fälle hat es in Chiapas gegeben?
Ein emblematischer Fall ist das Massaker von Acteal an 33 Frauen (durch Paramilitärs unter Zustimmung des Staates im Jahr 1997, Anm. d. Red.). Seine Aktualität liegt in der Straflosigkeit der Täter und der Gleichgültigkeit des Staates angesichts der Ermordung der Frauen (siehe LN 423/424).

Was sind die Ziele der Kampagne? Worin besteht eure Arbeit?
Zum einen präventives Bewusstsein in der Bevölkerung und besonders den Jugendlichen über die Risiken der feminiziden Gewalt und Feminiziden zu schaffen. Zum anderen, dass wir alle gegenüber der Gewalt die Rolle von verändernden Subjekten übernehmen. Außerdem die Forderung, dass der Staat auf allen drei Ebenen seine Verpflichtung erfüllt, das Leben der Frauen zu schützen und die Straflosigkeit zu beenden, mit der die Feminizide begangen werden. Dabei strukturieren sich unsere Aktivitäten entlang von vier Achsen:
Frauen: Wir setzen jeder Form von Gewalt vom ersten Moment an ein klares „Stop“ entgegen. Jugendliche: Wir konstruieren respektvolle Beziehungen, ohne Machismus, Dominanz und Unterordnungen. Wir treffen und erfüllen klare partnerschaftliche Abmachungen. Agressoren: Die Gewalt an Frauen und die Feminizide sind Strafbestände und ziehen Bestrafung nach sich. Gesamtbevölkerung: Die feminizide Gewalt tötet, sie bezieht uns alle mit ein, wir müssen ihr mithilfe sämtlicher Medien verbeugen und sie anzeigen.

Am 25. November 2013 präsentierte die Kampagne den Antrag auf Untersuchung des Alarmzustands geschlechterspezifischer Gewalt für Chiapas vor dem nationalen System zur Vorbeugung, Betreuung, Sanktionierung und Eliminierung der Gewalt gegen Frauen. Was ist der Alarmzustand geschlechterspezifischer Gewalt?
Es handelt sich um einen Mechanismus, der im allgemeinen Gesetz des Zugangs der Frauen zu einem Leben ohne Gewalt festgehalten ist. Er hat zum Ziel, die Sicherheit der Frauen und die Beendigung der Gewalt gegen sie zu garantieren sowie die Ungleichheiten zu beseitigen, die durch eine Gesetzgebung hervorgebracht werden, die ihre Menschenrechte verletzen. Dies impliziert konkrete Handlungen von verschiedenen Instanzen des Staates. Außerdem muss bei Bewilligung des Antrags eine Analyse der Situation durch ein interinstitutionelles und multidisziplinäres Team durchgeführt werden. Die Erklärung des Alarmzustandes ist zulässig, wenn in einem bestimmten Gebiet der soziale Frieden aufgrund von Delikten gegen das Leben, die Freiheit, Integrität und Sicherheit der Frauen beziehungsweise durch Ungleichbehandlung von Frauen gestört wird. Stimmt das nationale System dem Alarmzustand zu, wird er vom Innenministerium ausgerufen.

Wie hat der Staat auf den Antrag reagiert?
Die Antwort des nationalen Systems bestand in der Verneinung der Untersuchung ohne Durchführung einer ernsthaften Analyse der Informationen, die von den Antragstellern sowie der Staatsanwaltschaft erhoben wurden. Das bekräftigt das Klima der anhaltenden Straflosigkeit angesichts ungenügender staatlicher Maßnahmen. Nur der Bundesstaat Tabasco und die Hauptstadt stimmten für die Untersuchung.

Seit 2009 haben acht mexikanische Bundesstaaten einen Antrag auf Alarmzustand eingereicht. Alle wurden abgelehnt. Wie interpretiert ihr die negative Antwort des Staates?
Die Antwort ist zynisch und zeigt einmal mehr die Weigerung des Staates, seine Verantwortlichkeit für die feminizide Gewalt und die Feminizide zu akzeptieren.

Wie werdet ihr auf die Absage reagieren?
Auf juristischem Wege haben wir am 17. Februar einen Antrag vor einem Distriktsrichter in Mexiko-Stadt eingereicht – mit der Absicht, dass die Anordnung der von uns beantragten Untersuchung erfolgt. Auf politischer Ebene werden wir die Kam­pagne fortführen, indem wir uns in permanentem zivilen Alarmzustand erklären und die folgenden Aktionen realisieren: erstens, die Denunzierung der Unterlassung des Staates bezüglich seiner Verpflichtung zum Schutz des Lebens der Frauen, in der Öffentlichkeit wie auch vor internationalen Menschenrechtsinstanzen. Zweitens, die breite Information der Bevölkerung über die negative Antwort des Staates und die neu entstandenen Situationen der Gewalt, damit sich diese der Kampagne anschließt. Drittens, die Realisierung eines Treffens zum 8. März (Internationaler Frauentag, Anm. d. Red.), um die erlebte Gewalt zu denunzieren und dagegen zu protestieren.

Infokasten

Gloria Guadalupe Flores Ruiz arbeitet für das Zentrum für Frauenrechte in Chiapas. In der Kampagne gegen Gewalt an Frauen und Feminizide in Chiapas haben sich Nichtregierungsorganisationen, Kollektive und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um die Verantwortung des Staates einzufordern sowie präventive Aktionen zu realisieren.

Ein Urwalddorf im Wandel

Eine Mittagspause im November. Der Lehrer Benigno Rodríguez nimmt auf einem Kinderstuhl Platz, welcher im Schatten der Betonbaracke steht, die als Schule dient. Sein eines Auge, auf Gegenwart und Zukunft gerichtet, überwacht seine Schüler_innen – die stehen aufgereiht bei der Essensausgabe an oder tollen in ihren kurzen Uniformen im nassen Gras umher, einen Moment Freiheit genießend –, sein anderes Auge, nach innen gekehrt, ruft Bilder herbei aus der Vergangenheit.
Wir befinden uns im Dorf Nabasanuka (ca. 400 Einwohner_innen, alle Indigene der Warao), dessen Zentrum sich entlang des Nordwestufers des Caño Nabasanuka erstreckt, einer der gewaltigen Arterien des fächerförmigen Orinoko-Flussdeltas. Sumpf und Wildnis umgeben uns auf allen Seiten, aber die Siedlung Nabasanuka selbst ist weniger sumpfig und weniger wild als man erwarten würde: Viele Einwohner_innen dösen zu Hause vor sich hin oder haben die Fernseher eingeschaltet, um ihre geliebten Telenovelas zu sehen. Ein paar liegen auf den Türschwellen ihrer langsam in sich zusammenfallenden Hütten und blinzeln den Himmel an. Der Staat hat ihnen irgendwann genormte Holzbaracken gebaut und zahlt den Unterstützer_innen der Regierungspartei überdies ein regelmäßiges Salär für Posten im öffentlichen Dienst, die fast alle ausschließlich auf dem Papier existieren. Außerdem braucht niemand für seine Kinder zu kochen, da es Schulessen gibt.
Benigno Rodríguez hebt an: „Um 1925 kamen europäische Missionare aus Spanien ins Delta und gründeten die Mission Araguaimujo mit dem Ziel, uns ihre Sprache, das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen und – zu taufen. In jener Zeit verstand kaum ein Warao Spanisch. Die Missionare holten Warao-Kinder aus dem gesamten Delta nach Araguaimujo, um sie zu unterrichten und zu disziplinieren. In vielen Fällen hielten sie sich nicht lange damit auf, elterliches Einverständnis zu erbitten. Sie sagten einfach: ‚Du kommst mit uns!‘, hoben das Kind ins Boot und fuhren ab. Andere Kinder kamen freiwillig: Sie sahen es für sich als Chance, europäische Bildung zu erlangen.
In der Mission schliefen alle in Schlafsälen und folgten strengen Regeln von Zucht und Ordnung. Jungen und Mädchen wurden getrennt. Wenn ein Junge 18 war, sagten die Missionare zu ihm: ‚Nun, du solltest jetzt Araguaimujo verlassen und heiraten!‘ Die gleichen Worte bekamen die Mädchen zu hören. Das Prozedere, sich eine Frau zu suchen, bestand darin, Briefe hin und her zu schreiben und so die Zusage eines Mädchens zu erhalten, welches ebenfalls in der Mission unterrichtet worden war.“
Benigno Rodríguez‘ Darstellung wird bestätigt von zwei ehemaligen Zöglingen, die heute am Caño Guiniquina wohnen. Raúl Zapatá und seine spätere Ehefrau wurden 1962, als Elfjährige, nach Araguaimujo gebracht, wo sie sich kennenlernten. Raúl Zapatá erinnert sich an diese Zeit: „In Araguaimujo wurde ich von den Padres unterrichtet, bis ich zwanzig Jahre alt war. Meine Frau erhielt Unterricht von Nonnen. Ich sah sie und mochte sie sofort, also tat ich das, was jeder andere, der sich in einer gleichartigen Lage befand, auch machte: Ich schrieb einen Brief, in dem ich sie bat, mich zu heiraten, und gab diesen Brief meinem Padre. Der Padre gab ihn weiter an die Nonne. Die Nonne gab ihn meiner Frau. Nun war sie an der Reihe: Sie schrieb ihrerseits einen an mich gerichteten Brief: ‚Ja, ich will dich!‘, gab diesen Brief der Nonne, und die Nonne gab ihn dem Padre. Der Padre gab mir den Brief. Der Rest war simpel: Ich heiratete meine Frau, wir verließen die Mission, bauten ein Haus und bekamen Kinder. Ich kenne nicht das Datum, an dem ich geboren wurde. Aber jedes Jahr erinnere ich mich unseres Hochzeitstages: Es ist der 8. September.“
Doch zurück zu Benigno Rodríguez‘ Bericht: „Indem die Missionare das Leben ihrer Zöglinge festen Regeln entsprechend gestalteten, verfolgten sie eine ganz bestimmte Strategie: die Erschaffung von Dorfgemeinschaften. Bevor die Missionare im Delta Einfluss gewannen, lebte noch kein Warao in einem festen Dorf. Praktisch jeder war Nomade. Meine Großmutter erzählte mir, wie sie und ihre Familie die ganze Zeit umherzogen. Sie wohnten nicht am Ufer der großen Flüsse sondern ausschließlich im Dschungel, wo sie sich vom Sago, den Früchten und Larven der Moriche-Palmen ernährten.
Nun aber wurde alles anders: Junge Leute, aufgezogen in der Mission Araguaimujo, heirateten unter der Obhut eines katholischen Pfarrers, der jedem Paar half, ein Haus zu errichten. Außerdem sorgte er dafür, dass sie ein ‚ausgeglichenes, stabiles‘ Dasein führten, das heißt, dass sie sich in die Dorfgemeinschaft einfügen und als Bauern leben sollten. Tatsächlich war er für seine Schützlinge so etwas wie ein Sozialarbeiter.
Fast alle Waraos, die von den Missionaren unterrichtet worden waren, blieben nicht in der Umgebung von Araguaimujo wohnen, sondern wurden ermutigt, flussabwärts, ins ‚Untere Delta‘, zu ziehen. Die Missionare hofften, ‚ihre‘ Waraos würden dort Dörfer gründen. Und tatsächlich: Sehr viele ehemalige Schüler siedelten in Guiniquina und Bamotanoco, beides Gegenden, die nicht allzu weit von hier liegen.
Genau, wie sie es zuvor mit den Missionaren abgemacht hatten, heiratete mein Vater meine Mutter, ging mit ihr fort und baute ein Haus in Bamotanoco. Nach einiger Zeit in Bamotanoco verstarb eine Nachbarin bei der Geburt ihres Kindes. Nun muss man Folgendes verstehen: Die Waraos sind aufgrund alter Tradition der Ansicht, dass sie, wenn eine Frau stirbt, während sie gebiert, besser schleunigst weiterziehen, da der Ort als verzaubert gilt. Dies ist der Grund, warum das gerade erst gegründete Dorf Bamotanoco sofort nach dem Tod der Frau wieder aufgegeben wurde. In großer Eile stiegen alle Bewohner in ihre Einbäume und fuhren ab. Seitdem – und bis heute! – lebt dort kein Mensch, und der hungrige Wald hat jede Spur des Dorfes verschluckt.
Einige Bewohner siedelten in Guayo, andere in Guiniquina oder in Araguabisi, manche kamen hierher. Familien, die miteinander verwandt waren oder sich verbunden fühlten, blieben beim Umzug zusammen. Meine Eltern und ein paar Nachbarn entschieden, hier, in Nabasanuka, zu leben. Es waren zwei Brüder, die meine Eltern ermunterten, am Caño Nabasanuka ihre neue Wohnstatt zu gründen: Antonio und Ualdo Garay. Beide Brüder hatten geheiratet und waren direkt nach Nabasanuka gezogen, nicht nach Bamotanoco, wie so viele andere. Antonio und Ualdo Garay betrachten wir als Gründer von Nabasanuka, was in unserer Sprache ‚Kleiner Wasserlauf‘ bedeutet. Wohl um 1944 hatten sie ihre Hütten errichtet – nah an dem einzigen Haus, das in jenen Zeiten bereits existierte. Dieses Haus gehörte einem Kreolen namens Chéché. Chéché baute entlang des Caño Nabasanuka Reis an und benötigte manchmal Arbeitskräfte. Als meine Eltern hier siedelten, standen nur drei Hütten: Chéchés, Antonios und Ualdos.
Ich kam noch in Bamotanoco zur Welt, im Jahr 1951. 1955 wurde meine Mutter nach Tucupita, die Hauptstadt der Delta-Region, geschickt, um als Krankenschwester ausgebildet zu werden. Während der drei Monate, die sie fort war, blieben ich und mein Vater in der Mission Araguaimujo. Kaum, dass sie zurück war, fuhren wir hierher, wo sie anfing, als Schwester tätig zu sein. Sie arbeitete lange, lange Jahre, und zwar sehr hart. Zwei ihrer großen Feinde hießen Cholera und Tuberkulose. Inzwischen ist sie Rentnerin.
Als die Missionare sahen, dass ‚ihre‘ Leute sich hier in großer Zahl ansiedelten, klatschten sie im Wortsinne Beifall und bauten in Nabasanuka eine Schule. Etwa 1957/58 erkoren sie Tomasa Garay, eine Schwester von Antonio und Ualdo, dazu aus, die erste Lehrerin des Dorfes zu werden. Sie ist noch am Leben und wohnt in Nabasanuka.
Mitte der 1950er Jahre sah das junge Dorf – damals noch am gegenüberliegenden, südöstlichen Ufer gelegen – wie ein ganz gewöhnliches, traditionelles Warao-Lager aus: Es bestand aus palmgedeckten, offenen Pfahlhütten, die im Sumpf steckten. Doch das änderte sich schon bald. Die Missionare kümmerten sich über die Jahre weiter um ihre ehemaligen Schüler und überließen sie nie ganz sich selbst. Sie übten weiterhin starken Einfluss auf die Entwicklung des Dorfes aus – bis es schließlich wurde, was es heute ist: ein moderner Ort“, erzählt Benigno Rodriguez.
Tatsächlich notierte der berühmte Kapuziner-Padre Basilio de Barral 1957, dass die Bevölkerung in der Gegend um Caño Araguao und Caño Sacupana im Wesentlichen aus „zivilisierten Ex-Schülern“ der Mission Araguaimujo bzw. der Mission Amacuro in Waussa bestand. Er bezeichnete Nabasanuka als „Musterdorf“.
1964 ging Benigno Rodriguez nach Araguaimujo, um sich zu bilden. Im gleichen Jahr brachten die Missionare einen Generator nach Nabasanuka und errichteten hier ein einfaches Missionshaus. Auf diese Weise wurde, gefördert von Monseñor Argimiro García de Espinosa, eine neue Mission gegründet, die Mission Nabasanuka. Hier wirkten – zeitlich aufeinander folgend – Padre Rafael Felizimo, Padre Enrique, Padre Damián de Larios und Padre Julio Lavandero. Auch jetzt, nachdem sich die meisten Kapuziner aus dem Delta zurückgezogen haben, besuchen Padre Damián und Padre Julio von Zeit zu Zeit die inzwischen aufgegebene Mission und halten die Messe. Padre Julio hat in Caracas zahlreiche Bücher über die Warao-Kultur veröffentlicht.
Benigno Rodriguez fährt fort: „1967 kam ein Schwimmbagger in den Caño Nabasanuka, schüttete das sumpfige Ufer mit Sand auf und schuf so die solide Uferbefestigung, die wir heute haben. Die Dörfler pflanzten eine Reihe Mangobäume darauf an. In den folgenden Jahren zeigten – insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes – immer mehr Politiker Interesse und organisierten auch den Bau des Betonweges, der an der Wasserfront entlang durch das Dorf führt. Darum benötigen wir in Nabasanuka – anders als in den meisten Delta-Siedlungen – keine Stege. Die Regierung ließ zwölf Wohnhäuser errichten – ohne die traditionell üblichen hohen Stelzen, sondern auf kleinen Sockeln beinahe zu ebener Erde, mit geschlossenen Holzwänden. Die Häuser sind inzwischen morsch geworden, weil die Leute sich nicht gekümmert haben. Sie sind es eben noch von den traditionellen palafitos (Pfahlbauten) gewöhnt, dass Reparaturen und Pflege wenig bringen, da die Hütten ohnehin kaum zehn Jahre halten und man dann eine neue bauen muss.
Auch eine Medizinstation und unsere Schule – die größte in weitem Umkreis – wurden gebaut. Leider gibt es aber oft überhaupt keine Medikamente. Die meisten Einwohner arbeiten in der Verwaltung. Wir kaufen Fisch und Früchte von anderen Dörfern, die traditioneller leben. Unsere Krankenschwestern und Lehrer stammen alle von hier. Wir sind 13 Lehrer für etwa 200 Schüler, von denen etliche aus umliegenden Siedlungen herkommen.
Wie ich Lehrer wurde? Ich verbrachte fünf Jahre in der Mission Araguaimujo, bis ich die Sechste Klasse absolviert hatte. Während meiner Zeit dort sah ich viele Filme von ‚draußen‘, also von der großen, weiten Welt, und diese Filme ließen in meinem Herzen eine Sehnsucht keimen, einen unbändigen Wunsch, ferne Länder zu bereisen. Ich schrieb meiner Freundin, die ich in der Mission kennengelernt hatte, nicht den obligatorischen Brief, sondern ging zur Marine. Jahrelang fuhr ich auf großen Schiffen umher und sah so das gesamte Karibische Meer.
Jedoch kehrte ich schließlich heim nach Nabasanuka: Meine Mutter brauchte mich hier. Weil mein Vater früh gestorben war, hatte sie irgendwann neu geheiratet – allerdings einen Mann, der zu viel Rum trank. Eines Tages, als er betrunken war, tötete er jemanden und musste ins Gefängnis. Meine Mutter war daher nun ganz allein. Als ihr ältester Sohn musste ich sie unterstützen.
Wie ich – nach all den Jahren – in Nabasanuka eintraf, war die erste Person, die mir zu Gesicht kam, meine Freundin von damals. Und so heirateten wir, und sie ging nach Tucupita, um Krankenschwester zu werden. 1976 suchte die Regierung aufgrund des Lehrermangels in der Delta-Region junge, lokal ansässige Menschen für ein Studium zu gewinnen. Ich war bereit“, schließt Benigno Rodriguez und lächelt. Die Mittagspause ist zu Ende. Er steht auf und trägt den kleinen Kinderstuhl, auf dem er gesessen hat, zurück in den Klassenraum.

Putsch, Folter, Flucht – und dann Schikane

Neun Mann bilden die Mauer. Sechs in dunkelblau, drei in gelb. Der Schuss fällt, zwei Gelbe lassen sich fallen – und in der blauen Mauer klafft eine Lücke, durch die pfeilschnell der passgenaue Schuss fliegt und der Ball im Netz landet. Kunstschütze Rivelino hatte für Brasilien getroffen – und die Auswahl der DDR war besiegt! Es war bei der Fußball-WM 1974 in der BRD. Brasilien war amtierender Weltmeister, und wer wollte die Seleção nicht gern beim Zaubern am Ball sehen? Allen voran die Brasilianer_innen, die den Weg ins weit entfernte Westdeutschland gefunden hatten. Aber nicht allen wurde dies gestattet.
In Bochum lebte im Juni 1974 eine Gruppe von Brasilianer_innen, die dort Deutschkurse besuchten, unterstützt vom Ökumenischen Studienwerk der EKD. Im Februar 1974 waren sie nach Köln gekommen, nachdem ihre Odyssee sie 1971 aus Brasilien erst nach Chile, nach dem 11. September 1973 von dort nach Mexiko und Ende 1973 dann über Belgien nach Köln getrieben hatte.
In Brasilien herrschte seit 1964 die Militärdiktatur, ab Ende 1968 wurde die Repression in Brasilien massiv verschärft – Folter, Mord, Verschwindenlassen, alles staatlich sanktioniert und betrieben. Dagegen leisteten Menschen Widerstand. Militante Gruppen organisierten sich und entführten mehrere ausländische Botschafter_innen, um politische Gefangene von der Diktatur im Austausch freizupressen. Eine von den dadurch Freigekommenen war Maria Auxiliadora Lara Barcelos. Dora, wie ihre Freund_innen sie nannten, schloss sich im März 1969 dem bewaffneten Widerstand der Stadtguerrilla VAR-Palmares an. In der VAR-Palmares waren neben anderen Carlos Lamarca – als deren damals bekanntestes Mitglied – und der damals noch nicht so populäre Carlos Minc oder die heutige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff. Die VAR-Palmares war vor allem durch den Raub eines Geldkoffers mit zweieinhalb Millionen US-Dollar aus dem Haus des als korrupt verrufenen Ex-Gouverneurs von São Paulo, Adhemar de Barros, bekannt geworden. Carlos Lamarca ließ nach dem erfolgreichen Raub des „Koffers von Adhemar“ über die Agentur Agence France Press verlauten, die Gruppe habe die Schwarzkasse des korrupten Ex-Gouverneurs sichergestellt und werde „das dem Volk über Jahre gestohlene Geld zurückgeben“.
Dora, ihr Freund und ein Mitkämpfer der VAR-Palmares lebten zu der Zeit in Rio de Janeiro in einem Versteck. Doch der Vermieter denunzierte sie – und die Geheimpolizei stellte die Untergrundkämpfer_innen Mitte November 1969 und verhaftete sie nach einem Gefecht mit Schüssen und selbstgebastelten Sprengkörpern. Alle drei wurden in Foltergefängnisse gebracht, einer starb unter der Folter binnen Tagesfrist.
Dora wurde gefoltert. Monatelang. Bis am 7. Dezember 1970 der Botschafter der Schweiz, Enrico Bucher, von einer anderen Stadtguerrillagruppe in Rio de Janeiro entführt wurde. Im Austausch gegen den Botschafter wurden im Januar 1971 70 Gefangene freigelassen, des Landes verwiesen und nach Chile abgeschoben. Auch Dora.
Dora lebte in Chile und nahm ihr zuvor wegen des Eintritts in die Illegalität abgebrochenes Medizinstudium wieder auf. Dann kam der 11. September 1973. Dora flüchtete sich mit anderen in die mexikanische Botschaft. Sie konnte nach Mexiko ausreisen, aber Asyl gewährte ihr das Land nicht – so dass Dora und eine Gruppe von Brasilianer_innen den Weg über Belgien in ein Land antraten, das das politische Asyl uneingeschränkt in sein Grundgesetz geschrieben hatte. Die Odyssee der Zwei-Mal-Geflohenen sollte in Köln vorerst ein Ende finden. Amnesty International unterstützte Dora und die Gruppe bei den Asylanträgen, dennoch zogen sich diese über mehrere Monate hin. Schneller waren da die deutschen Polizeibehörden.
„Im Juni 1974 wurde ich zusammen mit zwei Genossen zur Ausländerpolizei in Bochum zitiert, wo man uns mitteilte, dass wir uns dreimal täglich beim nächstgelegenen Polizeirevier zu Kontrollzwecken zu melden hätten, und zwar während der 21 Tage der Fußball-Weltmeisterschaft, die in Deutschland stattfand. Nichterscheinen sollte zur Ausweisung aus dem deutschen Territorium führen. Wir fragten, woher diese Maßnahme käme, aber wir erhielten keine weiteren Erklärungen. Wir legten Widerspruch gegen diese Maßnahme ein (wobei die Anwaltskosten von der Kirche übernommen wurden) und verloren. Wir waren durch diese Maßnahme in unserem Studium ernsthaft beeinträchtigt, weil die Durchführung genau in die Zeit der Deutschprüfungen fiel. Außerdem konnten wir uns kein Spiel ansehen, wir mussten täglich drei Stunden laufen, um uns zu melden, einmal vor und zweimal nach dem Mittagessen.“ So steht es im Bericht von Maria Auxiliadora Lara Barcelos, der im Archiv des Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika dem Staub der Geschichte trotzt. Aber die deutsche Ausländerbehörde schikanierte die Exilierten weiter. Im Oktober 1974 schrieb sich Dora an der Freien Universität Berlin ein, sie zog mit Unterstützung von Freund_innen nach West-Berlin, aber die Behörde teilte ihr mit, sie sei illegal nach Deutschland eingereist und es werde jetzt ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Ab Mai 1975 wurde ihr das Verlassen West-Berlins untersagt, ihr in Chile zuletzt ausgestellter Pass lief im Juli 1975 ab – und die deutschen Behörden weigerten sich, ihr einen Pass auszustellen. Dora war damit praktisch staatenlos, wie viele Brasilianer_innen im bundesdeutschen Exil zu dieser Zeit.
Hannah Arendt sah in dem Besitz einer Staatsbürgerschaft „das Recht, Rechte zu haben“. Staatenlos ist demnach gleichbedeutend mit rechtlos. Und Dora war laut Berichten von Freund_innen aus ihrer West-Berliner Zeit gezeichnet von der in Brasilien erlittenen Folter. Depressionen und psychische Probleme bewogen sie, sich in Behandlung zu geben.
Am 1. Juni 1976 starb Maria Auxiliadora Lara Barcelos auf einem Charlottenburger Bahnhof. „Für die Polizei war der Tod Doras ein klarer Fall von Selbstmord. In Wahrheit wurde Maria Auxiliadora von denen umgebracht, die sie sieben Jahre zuvor in brasilianischen Gefängnissen barbarisch gefoltert hatten“, schrieb Heinz F. Dressel, der sie aus der Zeit in Bochum kannte. „Die psychische Erkrankung war ohne Zweifel eine Folge der physischen und psychischen Qualen, welche die damals 25-jährige im Laufe ihrer Haft zu erdulden gehabt hatte.“
Verbundenheit und Mitmenschlichkeit waren in jener Zeit Triebfeder der Solidaritätsarbeit mit Brasilien und den in Deutschland exilierten Brasilianer_innen. Die Unterstützung bei Behördengängen gehörte ebenso dazu wie das Öffentlichmachen der in Brasilien von den Militärs begangenen Taten. Die Verantwortlichen sollten beim Namen genannt werden. So dominierten Themen wie Folter und das Verschwindenlassen politisch Oppositioneller in Brasilien die Informationskampagnen der bundesdeutschen Brasilien-Soliszene. Zu den Höhepunkten zählten die Veröffentlichungen der Kölner Brasilien-Koordinationsgruppe von amnesty international und des Mettinger Instituts für Brasilienkunde, aber auch das öffentlichkeitswirksame „Brasilien-Tribunal“, das unter Leitung des WDR-Journalisten Claus Hinrich Casdorff 1972 in Köln abgehalten wurde und das der Diktatur in Brasilien Folter vorwarf. In den Archiven des brasilianischen Geheimdienstes SNI wurden unlängst Akten gefunden, die den Stempel eines der berüchtigten Repressionsorgane der Militärdiktatur, des Departamento de Ordem Política e Social (DOPS) aus São Paulo, trugen. Ihr Inhalt: Berichte über das Tribunal von Köln, dokumentiert und zusammengetragen mutmaßlich von Spitzeln der Diktatur. Auf dem „Brasilien-Tribunal“ wies der als „Verteidiger“ bestellte Hermann Görgen, Gründer der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft, die Vorwürfe der Folter durch den brasilianischen Staat als „nicht systemisch“ zurück und erklärte später, „die Brasilianer sind doch gar nicht an Demokratie interessiert“.
Genauso wenig Skrupel, sich mit Diktator_innen gemein zumachen, hatte auch die Bundesdeutsche Regierung. 1975 unterzeichneten Bonn und Brasília den bis heute bestehenden Atomvertrag (siehe LN 473). Während in Brasilien die Militärdiktatur folterte, Menschen spurlos „verschwanden“ oder ermordet wurden, schenkte Willy Brandt dem Junta-General Artur da Costa e Silva eine goldene Uhr.

Infokasten

Die zivil-militärische Diktatur in Brasilien (1964-1985)
Die zivil-militärische Diktatur herrschte in Brasilien vom Tag des Putsches gegen Präsidenten João Goulart am 1. April 1964 bis zum 14. März 1985, an dem José Sarney Präsident wurde. Am 13. Dezember 1968 erließ der damalige Präsident Marschall Artur da Costa e Silva den berüchtigten Institutionellen Akt Nr. 5: Dieses in Brasilien als AI-5 bekannte Dekret gab ihm die Befugnis, die Arbeit des Parlaments zu unterbinden, Politiker_innen ihres Amtes zu entheben und die Repression zu verschärfen. In Anlehnung an den Spielfilm „Die bleierne Zeit“ (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta wird in Brasilien der Zeitraum vom Erlass des AI-5 bis zum Amtsende des Präsidenten General Emílio Garrastazu Médici am 15. März 1974 die „Bleiernen Jahre“ genannt.
Laut neuesten Untersuchungen wurden während der brasilianischen Militärdiktatur von den Repressionsorganen 475 Menschen ermordet oder sind seither verschwunden, 24.560 Personen wurden verfolgt. Zahlen über ermordete Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern werden erst jetzt von der Wahrheitskommission mühsam zusammengetragen. Die dem Justizministerium unterstellte Amnestiekommission zur Anerkennung politischer Verfolgung zur Zeit der Militärdiktatur zählte 2008 über 70.000 Anträge auf staatliche Anerkennung der politischen Verfolgung und entsprechende Entschädigungszahlungen.

Amnestiegesetz
In Brasilien herrscht Straflosigkeit. Denn das brasilianische Amnestiegesetz vom 28. August 1979, das Lei n° 6.683, hat in Brasilien noch heute Gültigkeit. Es verhindert die juristische Aufarbeitung aller Straftaten der brasilianischen Militärdiktatur. Stichtag für die Amnestie ist der 15. August 1979.
Dennoch mühen sich Opfer, Angehörige, Menschenrechtsgruppen und Staatsanwält_innen, die durch das Amnestiegesetz deklarierte Straflosigkeit zu umgehen. So klagte die Brasilianische Anwaltskammer 2012 vor dem Obersten Gerichtshof Brasiliens letztinstanzlich. Es ging um die Frage, ob das Amnestiegesetzes verfassungskonform sei. Der Oberste Gerichtshof wies die Klage zurück – das Amnestiegesetz bleibt unangetastet

Frieden ist das Wahlkampfthema

Er ist zurück. Álvaro Uribe, ehemaliger Präsident Kolumbiens, hat im März diesen Jahres die Rückkehr auf die politische Bühne des Landes geschafft. Nachdem der Hardliner wegen seiner Nähe zu paramilitärischen Gruppen, zahlreichen Geheimdienst-, Korruptions- und Bespitzelungsaffären und der konsequenten Befürwortung einer „harten Hand” gegen die Guerilla vier Jahre lang aufgefallen war, darf er nun als Oppositionsführer im Kongress wieder institutionell Politik betreiben. Die von ihm nach dem Bruch mit Präsident Santos und seiner ehemaligen Sozialen Partei der Nationalen Einheit (Partido de la U) neu gegründete Bewegung Demokratisches Zentrum (CD) holte bei den Parlamentswahlen am 9. März 19 der 100 möglichen Senatssitze. Damit ist sie die größte Oppositionsfraktion in der Oberen Kammer des kolumbianischen Parlamentes. In der kommenden Legislaturperiode wird der Regierung Santos im Kongress ein deutlich schärferer Wind von Rechts ins Gesicht wehen.
In den vergangenen vier Jahren hatte die von Santos geschmiedete Koalition Nationale Einheit (UN) eine satte absolute Mehrheit. Die ist dank Uribe und seiner Fraktion nun passé. Auch die konservative Partei ist sich nicht einig, ob sie Santos wie bisher weiter unterstützen soll oder nicht. Für ihr wichtigstes Projekt sollte die Regierung aber eine Mehrheit in beiden Kammern erzielen können: ein Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla, über das seit eineinhalb Jahren in Havanna verhandelt wird. Denn ebenso wie einige konservative Abgeordnete haben auch die (mitte)-links Parteien Grüne Allianz (AV) und Demokratischer alternativer Pol (PDA) angekündigt, einen Frieden mitzutragen.
Doch ist diese „Mehrheit für den Frieden” für die Linke in Kolumbien – ob nun als Teil der Legislative oder außerparlamentarisch – wohl eine der sehr wenigen positiven Aspekte der Parlamentswahlen. Nennenswerten Stimmenzuwachs konnte weder die einstige linke Sammelpartei PDA noch die AV verzeichnen. Lediglich einige interessante Einzelakteur_innen schafften auf den Listen der beiden Parteien den Sprung in den Senat oder das Repräsentantenhaus. Alberto Castillo, Vorsitzender der Nationalen Agrar-Koordination (CNA) und einer der wichtigsten Köpfe der Sammelbewegung Kongress der Völker (Congreso de los Pueblos), holte sich mit einer beachtlichen Stimmenzahl einen Sitz im Senat. Auch die Politikwissenschaftlerin Claudia López, scharfe Uribe-Kritikerin, sitzt die kommenden vier Jahre im Parlament. Sie war eine der ersten, die 2006 die systematische Zusammenarbeit von Abgeordneten und Paramilitärs, bekannt als Parapolitica-Skandal, aufdeckte. Der in Deutschland dank zahlreicher Besuche bekannte Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe vom Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (ccajar) wurde für Bogotá ins Repräsentantenhaus gewählt. Er ersetzt den wohl bekanntesten Linkspolitiker Kolumbiens Ivan Cepeda, der den Sprung in den Senat schaffte. Sein Vater Manuel Cepeda, war einer von geschätzt 5000 Mitgliedern der Patriotischen Union (UP) gewesen, die nach ihrer Gründung in den 80er-Jahren von Militärs und Paramilitärs ermordet wurden. Erstmals seit nun 16 Jahren nahm die UP wieder an Wahlen teil. Allerdings gelang keinem der Kandidat_innen der Sprung ins Parlament, auch nicht dem bekanntesten UP-Kandidaten, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Carlos Lozano. Er twitterte am Tag nach den Wahlen lediglich „Wir waren nah dran.“ Hoffnung setzt die UP nun in ihre Präsidentschaftskandidatin Aida Avella, die viele Jahre im europäischen Exil gelebt hatte. Avella verkündete wenige Tage nach der Parlamentswahl, sie werde sich bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai für das Amt der Vizepräsidentin bewerben, gemeinsam mit der Präsidentschaftskandidatin des PDA, Clara López. Ein wichtiges Zeichen der Einheit in einer nach wie vor zersplitterten kolumbianischen Linken.
Schenkt man den Umfragen Glauben, wird das Duo Clara-Aida allerdings beim Wettbewerb um den Regierungssitz Casa de Nariño kaum die Stichwahl erreichen. Chancen räumen die Demoskopen eher dem Kandidaten des Mitte-Links Bündnisses Grüne Allianz (AV), Enrique Peñalosa, ein. Der ehemalige Bürgermeister Bogotás ist ideologisch schwer einzuschätzen. Peñalosa stand als Stadtoberster von Bogotá zwar für soziale Inklusion beispielsweise durch die Verbesserung der Infrastruktur. Aber er ist auch ein Befürworter von Ordnung und Sicherheit. „Wir müssen trotz der Friedensverhandlungen weiter unser Militär und die Polizei stärken. Wir werden alles mögliche tun, damit es Frieden gibt, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es mehr Krieg geben wird“, sagte Peñalosa kürzlich in einem Zeitungsinterview. Diese politische Linie rückt ihn nahe an den Hardliner Uribe heran. Für viele Linke ist der 59 Jahre alte Volkswirtschaftler als Alternative zu Santos daher untragbar.
Der Amtsinhaber Juan Manuel Santos versucht sich während des Wahlkampfes als „Mann des Friedens” zu inszenieren. Den „totalen Frieden” wolle man erreichen, wiederholte Santos gebetsmühlenartig. Mit Zitaten des Dalai Lama oder aus Sain-Exuperys Der kleine Prinz überschwemmte das Kampagnenbüro des ehemaligen Verteidigungsministers die sozialen Netzwerke. Das Unterzeichnen eines Friedensvertrags mit der FARC-Guerilla ist ohne Zweifel das wichtigste Wahlkampfthema. Seit der Einigung über die politische Teilhabe Ende vergangenen Jahres verhandelt die Delegation über die Drogenproblematik.
Frieden bedeutet hier allerdings mehr als ein Tintenwisch auf dem Papier. Die kolumbianische Demokratie ist resistent gegenüber progressiver linker Politik und ihren Akteur_innen. Das hat die umstrittene Absetzung des Bürgermeisters von Bogotá, Gustavo Petro, durch den konservativen Generalstaatsanwalt Alejandro Ordoñez erneut gezeigt (siehe LN 475). Nachdem Petro am Tag seines Abschiedes aus dem Rathaus von Bogotá eine Verfassunggebende Versammlung forderte, hat der Vorschlag erneut an Fahrt aufgenommen. Die FARC fordern zur Umsetzung der in Havanna noch zu beschließenden Einigung mit der Regierung schon länger eine solche asamblea. „Für diejenigen in Kolumbien, die Veränderungen in diesem Land erreichen wollen, gibt es keinen anderen Ausweg als eine Verfassunggebende Versammlung“, sagt David Flórez von der linken sozialen Bewegung Marcha Patriotica gegenüber den LN.
Eine Verfassunggebende Versammlung würde wohl auch die nationale Agrarpolitik auf den Prüfstand stellen. Derzeit darf bezweifelt werden, dass die in Havanna debattierten Reformen der Landverteilung nachhaltig umgesetzt werden. Das gleiche gilt für den Schutz der kolumbianischen Agrarproduzenten vor – dank Freihandelsabkommen günstigeren – Importprodukten aus Asien, der EU und den Vereinigte Staaten. Nach dem landesweiten Agrarstreik im vergangenen August kamen im März dieses Jahres mehrere tausend Vertreter_innen sozialer Bewegungen aus dem ganzen Land in Bogotá zu einem Gipfeltreffen zusammen. Kleinbauernorganisationen, Indigene und Afro-Kolumbianer_innen forderten unter anderem ein Recht auf Selbstbestimmung bei der Nutzung ihrer Territorien. Interessant war dabei, dass sich die größten sozialen Organisationen Kolumbiens mit ihren unterschiedlichen ideologischen und historischen Entstehungsgeschichten erstmals gemeinsam auf einen Forderungskatalog einigen konnten und zusammen dafür mobilisierten. Noch vor den Präsidentschaftswahlen im Mai wollen die sozialen Bewegungen gemeinsam zu einem erneuten Agrarstreik aufrufen. Bisher standen sich die kommunistische Bewegung Marcha Patriotica, der Indigenenverband ONIC, die afro-kolumbianischen Gemeinden (PCN) und der Kongress der Völker nicht in Abneigung, aber dennoch in spürbarer Distanz zueinander. Doch auch wenn die Indigenenorganisationen und der Kongress der Völker die derzeit laufenden Friedensverhandlungen mit Vorbehalten betrachten (siehe LN 477), scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass auch über das politisch wegweisende Jahr 2014 hinaus die Stärke in der Einheit liegt – inner- und außerhalb der Institutionen.

„Wenn ich singe, vergesse ich alles“

Sie haben gerade im Berliner Konzerthaus gesungen, einem Ort für meist klassische Musik. Wie war das?
Ich sage Ihnen die Wahrheit: Ich fühle mich, als würde ich gerade erst anfangen zu singen, fast wie eine neue Karriere. Die Sprache und die Eindrücke des Operntheaters. Man fühlt sich nervös, aber gleichzeitig gut, denn die música de identidad eines Volkes ist – ohne viel Werbung machen zu wollen – hier an dem Ort, der ihr zusteht. Nicht alle Länder müssen auf die gleiche Weise tanzen, denn jedes Land hat seine eigenen Gebräuche und wir als Kolumbianer haben glücklicherweise eine riesige musikalische Vielfalt, die man zeigen und fortentwickeln sollte.

Die Cumbia ist zentral für Ihre Musik. Erzählen Sie, wie lief ein Cumbia-Fest früher ab?
Die Cumbia ist die Königin und der porro [auf die indigene gaita-Musik zurückgehender Rhythmus, Anm. d. Red.] ist der König. Die ruedas de cumbia [wörtlich Cumbia-Kreis] feierte man an Feiertagen. Fast immer rief der millero [Millo-Flötenspieler] des Dorfes eine rueda zusammen. Ich habe hier keinen, ich habe stattdessen die gaita [prekolumbisches Instrument] dabei. Der millero des Ortes ruft allein den Kreis der Tamborspieler zusammen. Die rueda ist ein gemeinsames Fest, die Musik ruft die Leute zusammen. Weil es einen Grund für das Fest gibt, stellt man einen blumengeschmückten Mast in die Mitte und ein Podium, auf dem die Musiker mit dem millero stehen. Da es keine Stromversorgung gab, benutzte man Büschel mit Baumwolle und Benzin oder Olivenöl. Der Mann schenkte der Frau Kerzen, um sie um den Tanz zu bitten. Dann kommt eine Art Ritual im Dorf. Die Männer übergeben den Frauen Kerzen, denn wir sind diejenigen, die das Feuer bewachen. Die Tanzschritte und Figuren entsprechen der Verführung der Frau durch den Mann. Und da Cumbiatanzen wie eine Droge ist, tanzt man bis fünf Uhr früh im Kreis. Man betrinkt sich nicht, denn es wird ein erhitzter ñeque-Rum [in Kupferkesseln destilliert] mit Rohzucker und Tee gemixt, das macht man nicht, um sich zu betrinken. Schon die Chimila [Indigene aus den Regionen Magdalena, Cesar, Santa Marta] tanzten Cumbia, ihr Periyero-Tanz ist eigentlich eine Cumbia. Später partizipierten mehr Menschen aus Kolumbien an dieser Kultur. Die ruedas wurden an der gesamten Küste Kolumbiens getanzt, vor über 50 Jahren, trotz der Probleme. In der Sábana de Bolívar heißen sie ruedas de fandango. Dabei haben die Musiker, die gleiche Figur, sie stehen erhöht und spielen für die Tänzerinnen.

Beziehungen spielen also eine große Rolle bei diesen Tänzen?
Sie sind von schönen Liebesgeschichten inspiriert. Die Cumbia ist ein Tanz, um jemandem den Hof zu machen und hat ihre eigene Sprache. Es gibt die Gaffer und die, die tanzen. Wir tanzen, und ein Tänzer sagt vielleicht, ich kaufe dir Kerzen. Wenn er Kerzen kauft, dann kauft er die für eine Frau. Und der Partner dieser Frau kommt und sagt ihm, ich verkaufe sie dir nicht. Wenn er das machen würde, könnte er seine Tanzpartnerin verlieren, aber er passt auf sie auf, mittels des Feuers. Denn die Kerzen sind ungefähr zwei Handteller groß, aber wenn sie heruntergebrannt sind, kann man sich den Arm verbrennen. Wenn er weiter mit mir tanzen will, muss er mir schon ein zweites Paket Kerzen kaufen!

Wie wurde diese Musik aufgezeichnet?
Ihr müsst euch Bauern vorstellen, die Instrumente fanden, die mit den Schiffen kamen. „La Pinta, la Niña y la Santa María“, die Schiffe des Kolumbus, und danach alle anderen. Da ihre Musik Vögel imitierte, zeichneten sie ihre Partituren in einer einzigen Linie. Sie unterschieden sie nach der Funktion des Instruments: Das Euphonium spielte zuerst, es bekam ein großes Rad gezeichnet. Dann kam die Klarinette, für sie standen kleinere Pünktchen. Die Trompete, die dem Euphonium folgte, bekam ein größeres Zeichen. So spielten sie Blasmusik, sie imitierten die Töne der gaita, die Stimmen der Cantadoras, weil man diese Musik verboten hatte. Wenn du diese Blasmusik hörst, denkt man doch, da fehlen nur noch die Geigen, die Cellos.

Was ist – angesichts all der Anerkennung, die Sie inzwischen bekommen – noch zu tun in der kolumbianischen Kulturpolitik?
Kultur ist ja keine Politik. Wird sie zur Politik, ist sie keine Kultur mehr. Es ist musikalische Strategie mittels der Kultur. Es müsste eine Institution geben, die nichts mit der Politik zu tun hat. Als ich anfing zu singen hieß es, was soll das für eine Musik sein, das existiert doch gar nicht. Aber es stellt sich heraus: Sie existiert doch!
Wenn die Menschen sich diese Musik aneignen, und diese eine wirkliche Ausbreitung erfahren hat, in dem Moment haben wir es geschafft. Damit werden die Leute in Kuba identifiziert, die Mexikaner, die Brasilianer… und dies ist die kolumbianische Musik.
Die jungen Leute sind unruhig, sie suchen, wie man einen Schatz sucht. Den kann aber nicht der finden, der sie unbedingt finden will, sondern der, der nicht auf der Suche ist. Man muss abwarten, es entstehen neue Genres, aber die können wieder verschwinden.
Die Musik der Karibikküste wird inzwischen mit neuen Elementen vermischt…
Wir haben genug Arbeiten, die wir weiterentwickeln und zeigen können. Es heißt, in dieser Musik ist das Alte neu und das Neue alt. Die Akkorde, die die Band für den Wind benutzt, sind Akkorde der Blasmusik, der traditionellen Musik der Sábana de Bolívar. Man muss nicht nach Brasilien oder nach Mexiko oder Kuba, wir haben unseren eigenen Sound. Von der Cumbia sagen sie, sie sei aus Chile oder aus Argentinien, aber sie kommt aus Kolumbien. Das ist doch klar [lacht]. Man erzählt mir, dass sie eine Menge machen mit meiner Musik, von Kalkbrenner, diesem DJ, zum Beispiel habe ich aber noch nie Tantiemen gesehen, nein.

Wie war die Erfahrung mit Calle13?
Ich nehme solche Einladungen an, weil es einen Mythos gab über uns. Die Cantadoras könnten nicht in Harmonien und Melodiestrukturen singen. Aber dieser Mythos erwies sich als falsch. Die Seele einer Cantadora ist universal. Alles ist Essenz. Calle 13 kamen an einem Montag an. Aber mir war etwas merkwürdiges passiert. Das erzähle ich zum ersten Mal. Am Freitag machte ich Fisch, und eine Gräte blieb mir im Hals stecken, zweieinhalb Zentimeter, eine Klinge! Dabei esse ich oft Fisch. Ich konnte nicht schlafen. Der Arzt konnte sie entfernen, ich hatte schon furchtbare Angst, denn ich musste ja am Montag mit Calle 13 singen!

Und der Sound des neuen Albums?
Beim neuen Album geht es um musikalische Leidenschaft. Es geht ja darum, dass viele Leute diese Musik hören sollen. Ein Song, den wir neu im Programm haben, ist „El Gallo Tuerto“ [„der einäugige Hahn“]. Ich hatte 60 Hühner, als ich in Araguara gelebt habe. Der Hahn hat immer mich als erstes begrüßt, denn ich lehnte mich immer ins Fenster und sang für die Hühner. Und er bekam sein Futter von mir.

Welche anderen Geschichten erzählen Ihre Songs?
Alle Lieder, die wir singen, sind Geschichten. Alle. Man versteht vielleicht nicht die Worte, aber mit der Gestik allein bekommt man es mit, sie sind aussagekräftig… und man gerät in eine Art Ekstase, oder? Das ist das Wichtige an der música de identidad. Es kommt ein Moment, ab dem man den tambores zuhört, dem Sound, und man bleibt dort. Als würde sie dich leiten. Wenn man mir sagt, ich kann singen, vergesse ich alles – dass ich Schulden oder ein Haus habe, alles. Hier wenigstens habe ich noch nicht zuhause angerufen, ich bin mit Singen beschäftigt.

Frieden ist mehr als eine Unterschrift

Ihre Partei hat momentan acht Sitze im konservativ dominierten Senat. Was streben Sie in den kommenden Parlamentswahlen an?
Wir wollen mehr. Unser Ziel ist es, uns als echte Alternative zur aktuellen Regierung zu präsentieren. Auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen.

Aus der Linken tritt bisher neben der Kandidatin des PDA, Clara López, auch Aída Abella für die Patriotische Union (UP) an. Warum ist es der Linken nach der Streikwelle und den zahlreichen Protesten 2013 nicht gelungen, eine_n gemeinsame_n Kandidat_in aufzustellen?
Leider ist die Linke in Teilen immer noch zersplittert, was seinen Ursprung in der Geschichte und dem daraus entsprungenen gegenseitigen Misstrauen hat. Aber das wollen wir unbedingt überwinden. Deshalb wird es in Kürze Gespräche von uns mit Repräsentanten der UP geben mit dem Ziel, eine einzige linke Kandidatin aufzustellen. Ein Prozess, der auch von den sozialen Bewegungen wie dem Congreso de los Pueblos oder Marcha Patriótica ausgeht.

Was hat der mehrwöchige Agrarstreik, dem sich ja viele andere gesellschaftliche Sektoren wie die Indigenen, Lehrer_innen, Studierende, Busfahrer_innen und Pilot_innen angeschlossen haben, letztlich gebracht?
Die Proteste waren so massiv, dass sie immerhin den Präsidenten Santos, der sie zu Beginn gar nicht anerkennen wollte, zu Verhandlungen zwangen. Dabei kam aber nichts heraus, keine Maßnahmen gegen die Agrarkrise, keine Änderung seiner Politik. Es wurde nur geredet und sonst gar nichts. Trotzdem bleibt unter dem Strich eine soziale Mobilisierung so groß und vielfältig wie seit Jahren nicht mehr. Eine Mobilisierung, die die Empörung vieler sozialer Sektoren widerspiegelt, die vereint ist in dem Streben nach einer neuen Agenda für Kolumbien und ermuntert durch den eigenen Mut, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Fast 20 Tote bei den Massenprotesten, die massive staatliche Repression durch Einsatz der Streitkräfte und der mobilen Anti-Terroreinheit ESMAD haben gezeigt, wie gefährlich es noch immer ist, in ihrem Land zu demonstrieren. Dazu reißt die Kette der Morde an linken Politikern, Gewerkschaftern und weiteren Aktivisten nicht ab. Es stimmt, die Sicherheitssituation für Aktivisten der Linken hat sich nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert. Die Bedrohungen gegen sie und speziell gegen unsere Kandidaten haben zugenommen genauso wie die Gewalt, die wir erleiden. Darüber hinaus ist im Wahlkampf die Zahl der willkürlichen Verhaftungen beträchtlich gestiegen.

Wie passt das zu dem Bild, das sich Santos vor den Wahlen gibt, um als „Präsident des Friedens“ in die Geschichte seines Landes einzugehen? Schließlich hat er gegen den Willen seines Vorgängers Uribe die Friedensverhandlungen mit der FARC angestoßen und bis heute verteidigt.
Santos will einzig und allein den bewaffneten Konflikt beenden, eine Unterschrift unter ein Friedensabkommen, mehr nicht. Die sozialen Bewegungen dagegen wollen viel mehr. Sie wollen eine nachhaltige Lösung für die großen Probleme Kolumbiens, streben einen Wiederaufbau des Landes durch ein neues ökonomisches Modell an, das einen wahren Frieden möglich macht.

Wie schätzen sie den Verlauf der Friedensverhandlungen in Havanna ein?
Es steht außer Zweifel, dass bisher mehr erreicht wurde als in allen vorausgegangenen Verhandlungen. Ich bin sicher, dass es letztlich zu einem Friedensabkommen kommen wird, das braucht die FARC genauso wie Santos. Dessen ungeachtet kennen wir nur wenige Einzelheiten über das bisher Vereinbarte, obwohl bereits drei der sechs Punkte der gemeinsamen Agenda abgehandelt wurden. Uns erreichen nur unvollständige Details, die wie die Sicherheitsgarantien für die Opposition auch noch im Widerspruch zur Realität stehen.

Wie könnten die Friedensverhandlungen (siehe LN 475) den Ausgang der Wahlen
beeinflussen?
Ich fürchte, zugunsten von Santos. Es gibt immer noch einen mächtigen Sektor, der den Frieden torpedieren will. Das weiß auch die Mehrheit des Volkes, die den Frieden will. Santos könnte sich daher bei vielen als kleineres Übel anbieten, der genau diesen Frieden garantiert.

Santos hatte außerdem angekündigt, bis zum Ende seiner Amtszeit Ländereien an 160 000 Familien zurückzugeben, was er nicht ansatzweise erreicht hat. Welche Hindernisse gibt es bei der Umsetzung des Gesetzes?
Zum einen handelt es sich um 10 Millionen Hek-tar geraubtes Land. Diese riesigen Ländereien befinden sich in den Händen von äußerst mächtigen Gruppen, die genau für diese Situation, für den Landraub und die Vertreibung, verantwortlich sind. Von ihnen, das heißt von den Großgrundbesitzern und den großen internationalen Unternehmen, gehen die Einschüchterungen aus, ausgeführt von den neuen Paramilitärs gegen diejeningen, die zu ihrem Land zurückkehren wollen, um es zu bearbeiten. Der Staat ist somit nicht in der Lage, diese Rückkehr zu garantieren.

Die Paramilitärs sind also trotz der von Präsident Uribe als großen Erfolg seiner Amtszeit verkauften Demobilisierung von circa 50.000 Paramilitärs weiterhin aktiv?
Ja, aber auf eine andere Art. Die Paramilitärs von heute treten zerstreuter, versprengter auf und dazu meist in kleinen Gruppen. Das Rückgabegesetz beziehungsweise seine Durchsetzung stellt für ihre illegalen Geschäfte durchaus eine Gefahr dar. Außerdem behindert der Entwicklungsplan der Regierung selbst die Umsetzung. Dieser setzt ganz auf agrarindustrielle Großprojekte, den Bergbau und die Erdölförderung statt auf eine kleinbäuerliche, nachhaltige Landwirtschaft. Auf diese Art unterstützt die paramilitärische Gewalt die großen Agrarfirmen, denn die nicht zurückgegebenen Landflächen fallen an den Staat, der in seinem Sinne darüber verfügen kann, indem er sie etwa ausländischen Großinvestoren überträgt.

Dabei hat Santos im In- und Ausland doch das Image eines moderaten Repräsentanten des dritten Weges zwischen der extremen Rechten und der Linken. Ist das nur ein Lockmittel für liberale Stimmen im vermeintlichen Zweikampf mit dem ultrarechten Uribe-Kandidaten Zuluaga?
Ganz offensichtlich. Eine Rivalität zwischen Santos und Uribe gibt es nur bei den Wahlen, nicht in ihrer Politik. Beide sind Protagonisten des gleichen neoliberalen Wirtschaftsmodells und wollen es sogar noch ausbauen, das Land noch mehr für ausländische Investoren öffnen und den multinationalen Unternehmen große Teile des kolumbianischen Territoriums ausliefern, was einem Ausverkauf des Landes gleich kommt.

Wie groß schätzen Sie seine Chancen auf eine Wiederwahl ein? Und wenn er wieder gewählt wird, sind dann Uribes politische Tage gezählt?
Die Wiederwahl Santos’ ist leider sehr wahrscheinlich. In diesem Fall wird Uribe seinen Einfluss in den Departements, den Gemeinden und bei ihren Bürgermeistern als mögliches Mitglied des Senats geltend machen, was er auch schon angekündigt hat.

Und Ihre eigene Kandidatin?
Mit Clara López haben wir eine starke Alternative. Sie wird aber nur als einzige linke Kandidatin eine Chance auf die Präsidentschaft haben. Dann also, wenn die Linke zu einer Übereinkunft findet und als einheitlicher Block auftritt. Ihr ersehnter Aufschwung kann nur das Produkt ihrer Einheit sein, hergestellt von unten nach oben durch den Druck der sozialen Bewegungen. Ich für meinen Teil habe in sie mehr Vertrauen als in die politische Bewegung.

Wie könnte ein neues Kolumbien danach aussehen?
Gerecht, sozial und damit friedlich. Das erfordert beispielsweise eine echte Agrarreform, die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Förderung der nationalen Produktion und Neuverhandlungen der Freihandelsabkommen mit der EU, den USA und im Rahmen des Pazifik-Pakts. Außerdem gerechte Löhne sowie einen völligen Neuentwurf des Gesundheits- und Bildungswesens unter breiter Beteiligung der Bevölkerung.

Infokasten:

Kongresswahlen in Kolumbien

Am 9. März wird in Kolumbien ein neuer Kongress gewählt. Im Senat stehen 102 Kandidat_innen zur Wahl. Davon werden 100 Abgeordnete direkt gewählt; zwei Plätze sind indigenen Kandidat_innen vorbehalten. Zudem geht es um die 166 Sitze des Repräsentantenhauses. 161 Mandate werden direkt in den einzelnen Wahlbezirken gewählt; die restlichen fünf Plätze an zwei Vertreter_innen afrokolumbianischer und je eine_n Vertreter_indigener Gemeinden, politischer Minderheiten und der Exilgemeinde vergeben. In beiden Kammern dominieren derzeit die Konservativen. Die Kongresswahlen gelten als Stimmungstest für die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, für die bereits fünf Kandidat_innen im Wahlkampf stehen. In den aktuellen Umfrageergebnissen führt der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos von der Partei der Nationalen Einheit (La U). Sein ärgster Konkurrent scheint ausgerechnet Ex-Senator und Ex-Landwirtschaftsminister Óscar Iván Zuluaga zu sein, der als Statthalter für Ex-Präsident Álvaro Uribe (2002-2010) gilt. Dieser hatte erst vor einem Jahr die neue Partei „Demokratisches Zentrum“ (CD) gegründet. Zwar war Santos unter Uribe Verteidigungsminister, die von ihm aufgenommenen Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) führten allerdings zum offiziellen Bruch zwischen den von beiden repräsentierten Strömungen. Ex-Präsident Uribe selbst kandidiert für den Senat. Für die Konservative Partei steht derzeit Martha Lucía Ramírez auf der Bewerber_innenliste; ihr Rückzug wird noch erwartet. Auf Seiten der Linken treten Aída Abella für die Patriotische Union (UP) und Clara López für den Alternativen Demokratischen Pol (PDA) an. Aída Abella entging am 23. Februar in der Ölförderregion Arauca nur knapp einem Mordanschlag auf ihr Wahlkampfteam. Sie war erst kürzlich nach 17 Jahren aus dem Exil nach Kolumbien zurückgekehrt. Trotzdem scheint eine einheitliche Kandidatur, die von einem breiteren Linksbündnis gestützt wird, noch möglich, worauf besonders die sozialen Bewegungen drängen. Das würde die Karten im Rennen um die Präsidentschaft möglicherweise neu mischen.

Todsichere Geschäfte

Hätte er doch auf sie gehört. „Pass auf, mit denen ist nicht zu scherzen“, hatte María Amadea de Jesús ihren Sohn gewarnt. Aber Gabriel ließ sich nicht aufhalten. Nun bleiben seiner Mutter nur noch die Bilder an der Wohnzimmerwand: Gabriel als Kind mit einem Fohlen, Gabriel mit dem ersten Flaum im jugendlichen Gesicht. Und es bleibt ihr dieses Foto, das ein Nachrichtenmagazin auf der Titelseite veröffentlichte. Es zeigt einen jungen Mann, der leblos auf der Straße liegt. Das Gesicht auf dem Asphalt, den Kopf in einer Blutlache. „Er war unschuldig“, sagt die 58-jährige verzweifelt und blättert von einer Heftseite zur nächsten. Bis sie zwei Abbildungen von Polizisten findet, die mit Gewehren auf Demonstrierende zielen. Dann bricht sie in Tränen aus. „Die haben ihn umgebracht.“ Noch immer fällt es Amadea de Jesús schwer, über diesen Tag zu sprechen.
Der 12. Dezember 2011: Aus der mexikanischen Kleinstadt Tixtla machen sich mehrere hundert Studierende auf den Weg zu einer Protestaktion, unter ihnen auch Gabriel Echeverría de Jesús. Die jungen Männer studieren an der Pädagogischen Hochschule Ayotzinapa, viele von ihnen stammen aus armen Familien. Später sollen sie einmal den Kindern der Region lesen, schreiben und rechnen beibringen. Schon lange gilt das Internat als rebellisch, von den Hauswänden prangen Marx, Lenin und Subcomandante Marcos, der Sprecher der indigenen Zapatist_innen. Immer wieder legen sich die Studierenden mit den Mächtigen an, unterstützen indigene Gemeinden hier im Bundesstaat Guerrero in ihrem Kampf um Selbstbestimmung oder kritisieren Angriffe der Polizei auf Kleinbäuerinnen und -bauern.
An diesem Tag mobilisieren sie für ihre eigenen Rechte: Seit Monaten fällt in Ayotzinapa der Unterricht aus, es scheint, als wolle man die Universität langsam abwickeln. Deshalb fordern die angehenden Lehrer_innen schon lange ein Gespräch mit dem Gouverneur, doch der vertröstet sie nur. Also fahren die Studierenden in die nahe gelegene Landeshauptstadt Chilpancingo. Dort wollen sie die Autobahn blockieren, die von Mexiko-Stadt an die pazifischen Strände um Acapulco führt. Kaum angekommen, rücken aber auch schon Polizist_innen an. Geschützt mit Helmen und Kampfanzügen springen sie von den Transportern. Eine Tankstelle geht in Flammen auf. Steine fliegen. Tränengas vernebelt die Luft. Schüsse fallen. Plötzlich liegen Gabriel Echeverría de Jesús und Jorge Alexis Herrera tot auf der Straße. „Das war kein Unfall“, ist sich deren Kommilitone Ali Pérez Bravo sicher. „Sie wollten jemanden von uns töten, sonst hätten sie nicht auf den Kopf gezielt.“
Auch der Fotojournalist Eric Chavelas hat den Polizeieinsatz miterlebt. Jetzt sitzt er vor seinem Bildschirm und scrollt von einer Aufnahme zur nächsten. „Hier“, sagt er, „das sind die deutschen Waffen.“ Gleich mehrere seiner Fotos beweisen: Polizeibeamt_innen verschiedener Einheiten trugen an diesem Tag Gewehre vom Typ G36 der deutschen Rüstungsschmiede Heckler & Koch – Waffen, die nie in diese Region hätten gelangen dürfen. Denn als die Firma eine Genehmigung für den Export nach Mexiko beantragt hatte, stellten die Ausfuhrbehörden eine Bedingung: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas geliefert werden. Dass die G36 dennoch gegen die Studierenden zum Einsatz gekommen sind, belegen auch Polizeiakten. Dort sei von zwölf dieser Sturmgewehre die Rede, bestätigt Anwalt Vidulfo Rosales, der María Amadea de Jesús vertritt. Zudem wurden in der Nähe von Echeverrías Leiche Patronenhülsen des Kalibers 5,56 x 45 Millimeter gefunden – das passende Kaliber für das G36.
In Guerrero gibt sich niemand Mühe zu vertuschen, dass die Sturmgewehre im Umlauf sind. „Diese Waffen sieht man in Chilpancingo an jeder Ecke“, sagt Verteidiger Rosales. Selbst die autonome, indigen geprägte Gemeindepolizei in Tixtla besitzt sie. Allerdings eher unfreiwillig, wie deren Anführer Gonzalo Molina erklärt. Bürger_innen haben die Miliz vor eineinhalb Jahren gegründet, um sich angesichts einer tatenlosen Regierung selbst vor der zunehmenden Kriminalität zu schützen. Weil einige Mitstreiter_innen verhaftet wurden, besetzten die Milizen für ein paar Stunden das Rathaus der Kleinstadt. Plötzlich zielten die offiziellen Polizeibeamt_innen mit den Gewehren auf sie. „Da mussten wir ihnen doch ihre Waffen abnehmen“, meint Molina. Allerdings werde man sie nicht benutzen. „Wenn unsere Gefangenen freigelassen werden, geben wir sie zurück.“ Der örtliche Sicherheitsbeauftragte Ruben Reyes Cepeda erklärt der Presse freimütig: „Wir besitzen elf G36-Gewehre in verschiedenen Ausführungen.“ Polizist_innen, die später in Tixtla patrouillieren, tragen ebenfalls die Waffen aus dem schwäbischen Oberndorf, Firmensitz von Heckler & Koch.
Abel Barrera vom regionalen Menschenrechtszentrum Tlachinollan bereitet das große Sorgen. „Besonders beunruhigend ist es, dass lokale Polizist_innen diese gefährlichen Gewehre tragen“, sagt er. Die Beamt_innen hätten keine Ausbildung und vor allem keinen Respekt vor den Menschenrechten. „Sie gehen zügellos gegen eine verarmte Bevölkerung vor, die, wie die Studenten von Ayotzinapa, meist nur ihr Recht einfordert.“ Den Behörden traut hier niemand. Häufig stecken korrupte Beamt_innen, lokale Politik, wirtschaftliche Eliten und Kriminelle unter einer Decke. „Die meisten Bürgermeister und Polizisten in Guerrero arbeiten mit der Mafia zusammen,“ erklärt ein hoher Vertreter der Landesregierung, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Fühlen sich diese Kreise in ihrer Macht bedroht, gehen sie mit äußerster Gewalt gegen ihre Gegner_innen vor. Die Opfer sind oft Indigene, Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehren.
Wie aber gelangten die Sturmgewehre nach Guerrero? Heckler & Koch habe sich immer an Recht und Gesetz gehalten, lautete die Standardantwort aus Oberndorf. Für mehr Aufklärung könnte deren ehemaliger Mitarbeiter Markus Bantle sorgen. Seit 25 Jahren lebt er in Mexiko. Bald könnte ihn seine Vergangenheit einholen. Nachdem Heckler & Koch nicht mehr leugnen konnte, dass der Waffendeal illegal verlaufen war, machte die Firmenleitung zwei Mitarbeiter für die Lieferung verantwortlich und kündigte ihnen. Die aber klagten gegen ihre Entlassung und bekamen Recht.
Bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht Villingen/Schwenningen im Dezember wurde deutlich, dass die Geschäftsführung genau über die Ausfuhr Bescheid wusste. Zudem brachte der Prozess ans Licht, dass ein Handelsvertreter, also Markus Bantle, offenbar Papiere geschönt hatte, um die Lieferung in die „verbotenen Bundesstaaten“ zu verschleiern. Nun sei es nur noch eine Frage der Zeit, so vermuten Rüstungsgegner_innen, dass sich die Schwarzwälder Rüstungsschmiede aufgrund der widerrechtlichen Exporte und wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz vor Gericht verantworten muss.
Wer Gabriel Echeverría getötet hat, wird dagegen wahrscheinlich nie juristisch geklärt. Und auch die Frage, ob der Student durch die deutschen Gewehre starb, wird nicht beantwortet. Seit über zwei Jahren setzt sich Amadea de Jesús für die Aufklärung des Todes ihres Sohnes ein. Doch verdächtige Polizisten, die nach dem Einsatz festgenommen wurden, sind längst wieder auf freiem Fuß.

Infokasten

Heckler & Koch muss sich vor Gericht verantworten
Der Freiburger Friedensaktivist Jürgen Grässlin machte den Anfang: Er zeigte Heckler & Koch 2010 an. H&K soll zwischen 2003 und 2007 illegal Sturmgewehre nach Mexiko geliefert haben. Zwar hatten deutsche Behörden die Ausfuhr der Waffen vom Typ G36 genehmigt, allerdings unter einem Vorbehalt: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas gelangen. Eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums bestätigt jedoch, dass etwa die Hälfte der Gewehre genau in diese Regionen geliefert wurde. Recherchen werfen nun neue Fragen auf: Hat das schwäbische Unternehmen weitaus mehr G36 geliefert, als vom Bundesausfuhramt genehmigt wurden? Politikwissenschaftler Carlos Pérez Ricart von der Berliner Gruppe México via Berlín hat die Zahlen verglichen. Demnach hat das Verteidigungsministerium, der offizielle Käufer, zunächst angegeben, 10.082 der Waffen erhalten zu haben, um die Ziffer dann auf 9.652 zu reduzieren. Laut Rüstungsexportberichten der Bundesregierung wurde lediglich die Ausfuhr von 8.769 G36 genehmigt, in der Antwort auf eine Anfrage der Linken ist sogar nur von 8.065 die Rede. Wie sind diese Diskrepanzen zu erklären? Um das zu klären, hat Grässlin eine erweiterte Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft gestellt. Zudem verdichtet sich der Verdacht, dass in Mexiko widerrechtlich G36-Kopien hergestellt werden. In der Stadt Querétaro wird ein auffällig ähnliches Gewehr produziert: das FX05. Nur: H&K will von einer Lizenzproduktion nichts wissen und im Rüstungsexportbericht taucht keine Genehmigung auf. Die mexikanische Regierung habe aber in den Jahren 2003 und 2004 mit H&K über einen solchen Lizenzvertrag verhandelt, erklärt Pérez Ricart. Laut Finanzministerium seien dafür über vier Jahre lang insgesamt 22,8 Millionen Pesos (1,2 Millionen Euro) an H&K überwiesen worden. Das G36 wurde dann zwar nie gebaut, jetzt aber produziert eine Fabrik das FX05. Werden die Waffen ohne Lizenz, aber mit Beteiligung von H&K hergestellt? Grässlin schließt das nicht aus: „Eine Hightechwaffe vom Typ G36 kann nicht von irgendeiner Firma weltweit nachgebaut werden, dazu brauchen sie das Know-how von hoch qualifizierten Technikern von H&K.“

Hürden auf dem Weg aus der Gewalt

Nichtregierungsorganisationen aus 14 Ländern der Amerikas haben Gruppenbefragungen von Geflüchteten und Interviews mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft durchgeführt, um herauszufinden, wie es um die Verwirklichung der Vereinbarungen steht, die mit der Erklärung von Cartagena 1984 getroffen wurden. Ab März dieses Jahres wird der Bericht Iniciativa Cartagena +30 („Initiative Cartagena +30”) im Internet zugänglich sein. Mit ihren Empfehlungen wollen die beteiligten Organisationen Einfluss auf die für Dezember geplante lateinamerikanische Ministerkonferenz in Brasilia nehmen, auf der ein flüchtlingspolitischer Aktionsplan verabschiedet werden soll.
Die „Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge“ wurde vor dem Hintergrund des staatlichen und paramilitärischen Terrors in verschiedenen zentralamerikanischen Staaten Anfang der 1980er Jahre verabschiedet, als mehrere Millionen Menschen über die Grenzen ihrer Heimatländer vertrieben wurden. Die in ihr enthaltene Flüchtlingsdefinition geht über jene der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus. Sie umfasst all jene Menschen, die sich zur Flucht veranlasst sehen „weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“. Die zehn lateinamerikanischen Erstunterzeichnerstaaten bekannten sich zum Verbot, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen und dazu, sie in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Sicherheit zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu zeugen die aktuellen Befragungsergebnisse der Nichtregierungsorganisationen nun davon, wie weit Diskriminierungen gegen Flüchtlinge verbreitet sind. Vielfach werden sie mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Xenophobe Vorurteile in Gesellschaft und Medien verbinden sich mit staatlichen Sicherheitsdiskursen. So wird in vielen Staaten des Kontinents der Zugang zum Asylverfahren durch die zunehmende Orientierung der Migrationspolitik an Fragen der nationalen Sicherheit erschwert. Das hat zur Folge, dass an den Grenzen immer wieder Menschen zurückgewiesen werden, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz hätten. Angesichts dieser Fokussierung auf Sicherheitsfragen ruft Pablo Asa vom argentinischen Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) die Zivilgesellschaft dazu auf, ein Gegengewicht zu setzen, „damit das Thema der Rechte nicht auf der Strecke bleibt”.
Im Kontext der „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist auch die Praxis verbreitet, Migrant_innen und Asylsuchende zu inhaftieren. In Mexiko werden Asylsuchende häufig für den Zeitraum des Verfahrens ihrer Freiheit beraubt. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge den Prozess vorzeitig verlassen und darauf verzichten, von Rechtsmitteln gegen ihre Ablehnung Gebrauch zu machen. Gisele Bonnici und Elba Coria von der International Detention Coalition (Internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte inhaftierter Flüchtlinge, Asylsuchender und Migrant_innen einsetzen; Anm. der Red.) erklären deshalb: „Bei der Inhaftierung von Migrierenden handelt es sich um eine Maßnahme, die dazu dient, den Mangel an effektiven Werkzeugen zur Aufnahme seitens der Staaten aufzufangen”.
Allein den Zugang zum Asylverfahren erschweren einige Staaten durch kurze Antragsfristen, so zum Beispiel Ecuador (15 Tage) und Mexiko (30 Tage). Angesichts fehlender Informationen über das Verfahren und seine Fristen droht der betroffenen Person deshalb die Inhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung der Risiken. Alejandra Macías von der mexikanischen Organisation Sin Fronteras („Ohne Grenzen“) beschreibt die Situation: „Häufig wissen die Menschen, die in Mexiko ankommen, nicht, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen, und wenn sie davon erfahren, sind die 30 Tage meist schon abgelaufen und sie haben keinen Zugang mehr zum Verfahren”. In Panama wird der größte Teil der Antragsteller_innen aufgrund einer restriktiven Vorstufe der Zulässigkeitsprüfung gar nicht erst zum Asylverfahren zugelassen.
Die beiden Regionen, aus denen gegenwärtig die meisten Menschen vertrieben werden, sind Kolumbien und Zentralamerika. In Zentralamerika – insbesondere im ‚Norddreieck’ Honduras, Guatemala und El Salvador – ist es die zunehmende politische und gesellschaftliche Gewalt, die Menschen zur Flucht über internationale Grenzen drängt. In Honduras ist seit dem Staatsstreich 2009 die soziale Ungleichheit massiv angewachsen, das Land verfügt über die mit Abstand höchste Mordrate weltweit. In El Salvador und Guatemala finden Vertreibung und Gewalt, vor allem gegen bäuerliche und indigene Aktivist_innen, auch im Zuge von Konflikten um extraktive Industrie- und Megaprojekte, wie zum Beispiel Staudämme, statt. Die drei Staaten weisen auch die höchste Rate an Feminiziden, also geschlechtsbasierten Morden an Frauen, auf dem Kontinent auf.
So verzeichnet Mexiko seit einigen Jahren steigende Zahlen an Asylanträgen von Zentralamerikaner_innen. Jedoch hat die im Zuge des „Drogenkriegs” entfachte Gewalt seit 2006 in Mexiko mindestens 70.000 Menschen das Leben gekostet. Aufgrund der verbreiteten Korruption und Straflosigkeit können kriminelle Gruppen weitgehend risikolos Migrant_innen entführen, misshandeln und erpressen. Menschenrechtsverteidiger_innen, vor allem in den Herbergen entlang der Transitmigrationsrouten (siehe LN 475), werden bedroht.
In Kolumbien dauert der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt an. Neben weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppen haben sich in den letzten Jahren andere bewaffnete Akteure ausgebreitet, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Zwar wurden im Rahmen der Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung erste Ergebnisse erzielt. Dies hat jedoch nicht zum Ende der Kampfhandlungen und der gewaltsamen Vertreibungen von Menschen geführt. Es ist unklar, inwieweit die Verhandlungen in Havanna überhaupt dazu beitragen werden, die Gewalt und die damit einhergehende Instabilität und Verletzlichkeit zu verringern, die Menschen zur Flucht innerhalb Kolumbiens oder über eine internationale Grenze, vor allem nach Ecuador, treiben.
Zusätzlich ist in den letzten Jahren auch die Zahl an Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afrika und Asien in Lateinamerika gestiegen, teilweise als Reaktion auf die restriktive Migrationspolitik in Europa und Nordamerika. Nach einer Studie der Migrationsforscherin Luisa Feline Freier sind zum Beispiel viele Menschen aus dem Senegal nach Argentinien oder aus Pakistan nach Ecuador gekommen, um dort zu leben. Wie der Bericht der Cartagena-Initiative zeigt, stoßen Flüchtlinge aber auch in lateinamerikanischen Ländern auf eine restriktive Haltung. Und nicht nur was das Asylverfahren angeht.
Ein weiteres Problem, das vielen befragten Organisationen und Geflüchteten Sorge bereitet, ist die Frage der Dokumente, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ausgestellt werden. So erweist sich zum Beispiel der Flüchtlingspass als mangelhaft, wenn es darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Kredit zu beantragen. Ein Flüchtling erzählt im Rahmen des Fokusgruppeninterviews in Venezuela: „Du musst meistens einen Venezolaner bitten, den Scheck auf seinen Namen ausstellen zu lassen, um ihn einlösen zu können, und für den Gefallen dann einen Anteil zahlen”. In Ecuador wurden Geflüchtete jahrelang in Einrichtungen des Sozial- und Bildungssystem abgewiesen, weil die Ziffernanzahl des Flüchtlingsdokuments nicht mit deren Computersystemen kompatibel war.
Auch bei der Arbeitssuche kommt es immer wieder zu Diskriminierungen, sei es aufgrund der Unkenntnis von Behördenmitarbeiter_innen und Arbeitgeber_innen über die Bedeutung des Flüchtlingsdokuments oder aufgrund von Fremdenfeindlichkeit. Im Gruppeninterview in Costa Rica erzählt ein Asylsuchender: „Obwohl wir eine Arbeitserlaubnis haben, verlangen sie die Aufenthaltspapiere. Die Leute erkennen das Dokument für Asylsuchende nicht als Arbeitserlaubnis an.” Noch prekärer ist die Situation, wenn Asylsuchende – wie in Guatemala, Panama, Mexiko oder der Dominikanischen Republik – rechtlich nicht arbeiten dürfen. Sie sind auf die Unterstützung sozialer Netzwerke oder informelle Arbeit angewiesen und damit in besonderem Maße von extremer Ausbeutung, Lohnbetrug und Übergriffen bedroht.
Was die ausgestellten Dokumente angeht, sticht Uruguay als positives Beispiel heraus: Flüchtlinge und Asylsuchende bekommen die gleichen Identitätsdokumente ausgestellt wie uruguayische Staatsbürger_innen. Damit wird Diskriminierungen beim Zugang zu Ressourcen unterschiedlicher Art entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu fördert Belizes explizit homophobe Gesetzgebung die institutionelle Diskriminierung, indem sie sexuelle Beziehungen unter Männern mit einer Gefängnisstrafe belegt und homosexuellen Ausländer_innen die Einreise verbietet. Insgesamt sind von gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung besonders diejenigen Geflüchteten betroffen, die zusätzlich wegen ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung, aus rassistischen oder anderen Gründen benachteiligt werden.
In der Dominikanischen Republik wurden 2010 per Entscheid des Verfassungsgerichts Tausende Nachkommen von Haitianer_innen, die zwischen 1929 und 2007 ins Land gekommen waren, zu Staatenlosen gemacht (siehe LN 474). Der massenhafte Entzug der Staatsangehörigkeit ist der bisherige Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierungen von Menschen aus Haiti in der Dominikanischen Republik. Ein Verbund von dominikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft beklagt: „Die Ausweisungen und Massenabschiebungen von haitianischen Migrant_innen und ihren Angehörigen sind weiterhin die zentrale Achse der Anwendung der Migrationspolitik des dominikanischen Staates”.

Erfolgreich und umstritten

Sie stürmen die Häuser der Mafia, beschlagnahmen deren Waffen und verjagen die Kriminellen aus einer Stadt nach der anderen. Alles spricht also dafür, dass die Bürgermilizen im mexikanischen Bundesstaat Michoacán eine Erfolgsstory schreiben. Entsprechend selbstbewusst behaupten die Selbstverteidigungsgruppen in einem Kommuniqué Anfang Januar: „Wir sind im Kampf gegen das Verbrechen effektiver als die Regierung im ganzen vergangenen Jahrzehnt.“ Das dürfte nicht allzu schwer fallen in einer Region, in der viele Politiker_innen, Bürgermeister_innen und Polizist_innen auf der Gehaltsliste des dominierenden Kartells, den Tempelrittern, stehen. Selbst Bundesinnenminister Miguel Àngel Osorio Chong, so heißt es in dem Schreiben vom 15. Januar, „will nur die Tempelritter schützen“.
Die kritische Haltung gegen die Regierenden in Mexiko-Stadt lag in diesen Tagen nahe. Präsident Enrique Peña Nieto hatte gerade Bundespolizist_innen und Soldat_innen in die umkämpfte Region Tierra Caliente geschickt, um gegen die Milizen vorzugehen. Nachdem sich die autodefensas genannten Bürgerwehren mit den Tempelrittern bewaffnete Auseinandersetzungen lieferten und auf die Mafia-Hochburg Apatzingán vorrückten, befürchtete der Staatschef, dass die Situation unkontrollierbar eskaliere. Also rückten die Sicherheitskräfte vor und begannen, die Milizen zu entwaffnen. Immer wieder kam es zu Kämpfen, einige Menschen starben. Dabei wollten die Bürgerwehren gar keine Konfrontation mit dem Staat, erklärt deren Anführer José Manuel Mireles: „Das einzige, was wir wollen, ist, dass in Michoacán wieder rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen.“
Mireles gilt als Gründer der bewaffneten Einheiten. Vor einem Jahr organisierte der Arzt die ersten Gruppen, angeblich, nachdem er von den Kriminellen vergewaltigte und geschwängerte Mädchen behandeln musste. Dabei galten die Tempelritter zunächst als die „bessere Schutzmacht“ unter den vielen Verbrecherbanden, die in dem Bundesstaat ihr Unwesen treiben. Als sich beispielsweise die „Zetas“ in der Gegend breit machen wollten, schützten sie – damals noch als Teil der heimischen „Familia Michoacana“ – die Menschen vor den Angriffen des Kartells. Aus internen Kämpfen in der „Familie von Michoacán“ gingen dann die Tempelritter hervor, die nun mit der „Nueva Generación Jalisco“ um die Vormacht in der Region kämpfen. Mit einer kruden Mischung aus religiösen Phrasen, lokalem Patriotismus und brutaler Gewalt sorgten sie für Ordnung.
Doch mit der Zeit beließen sie es nicht mehr nur dabei, mit Drogen zu handeln, illegale Minen zu betreiben oder Eisenerz zu rauben. Zunehmend legten sie sich mit der Bevölkerung an: Sie kassierten Schutzgeld, entführten Menschen, vergewaltigten Frauen. „Die Viehzüchter mussten 1.000 Pesos (ca. 65 Euro) für jede verkaufte Kuh zahlen“, erklärt Mireles. Da weder lokale noch bundesstaatliche oder föderale Regierungen gegen diesen Terror vorgegangen seien, hätte man sich im Februar 2013 in autodefensas zusammengeschlossen. Inzwischen kontrollieren die Gruppen zahlreiche Regionen von Michoacán, von bis zu 40 Prozent des Bundesstaates ist die Rede. In dem im Januar veröffentlichten Kommuniqué sprechen sie von 25.000 Menschen, die sie in ihren Reihen hätten.
Die autonome Polizei kann auf große Unterstützung in der Bevölkerung zählen. Als die Armee einmarschieren wollte, blockierten Bewohner_innen die Autobahn. Die Bürger_innen trauen den staatlichen Sicherheitskräften nicht zu, die Tempelritter in den Griff zu bekommen. Viele kritisieren deshalb, dass man den Milizen die Gewehre abnehmen will. „Wir befürchten, dass sie dann gehen und uns alleine lassen, deshalb wollen wir nicht, dass sie entwaffnet werden“, sagt eine Frau, nachdem die Streitkräfte ihre Heimatstadt Antúnez besetzt haben.
Trotz der militärischen Erfolge und der Unterstützung der Bevölkerung sind die Milizen in der Linken umstritten. Der Dichter und Friedensaktivist Javier Sicilia hält deren Vorgehen angesichts der Tatenlosigkeit der Regierung für absolut legitim: „Sie sind ein notwendiges Übel, die Leute müssen sich verteidigen.“ Skeptischer ist der Kommentator Luis Hernández Navarro von der linken Tageszeitung La Jornada. Er weist auf den Unterschied zu Gemeindepolizist_innen im Bundesstaat Guerrero hin, die seit 17 Jahren patrouillieren. Diese hätten eine linke und indigene Geschichte, während einige der Bürgerwehren von Michoacán mit der Mafia zusammenarbeiten würden.
Dieser Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Kritiker_innen fragen sich, woher die Milizen ihre großkalibrigen Waffen haben. Die hätten sie den Tempelrittern abgenommen, außerdem gebe es heimische Unternehmer_innen, von denen man unterstützt werde, antworten die Bürgerwehren. Denkbar ist aber auch, dass einige der selbsternannten Polizist_innen ihre Kalaschnikows von der „Nueva Generación Jalisco“ erhalten. Diese Gruppe gehört zum Sinaloa-Kartell des mächtigen Bandenchefs El Chapo. Und der hat allen Grund, in Michoacán an Boden zu gewinnen. Denn dort befindet sich mit dem Pazifikhafen Lázaro Cardenas einer von Mexikos wichtigsten Umschlagplätzen für illegale Güter.
Wer in welchem Umfang wem hilft, ist schwer auszumachen. Zumal die Kartelle modern strukturierte Firmen sind, denen zahlreiche Subunternehmen angegliedert sind. Aber auch das Verhältnis der Bundesregierung zu den Milizen ist ambivalent. Trotz der Sicherheitskräfte, die Peña Nieto mobilisiert hat, setzt er nicht nur auf Konfrontation. So hat Innenminister Osorio Chong mit Mireles Gespräche darüber geführt, dass sich die Milizen Regeln unterordnen und „den Sicherheitskräften helfen“. Und als die autodefensas mit 400 Bewaffneten und 30 Pickups in die Kleinstadt Nueva Italia einmarschierten, kreiste ein Hubschrauber der Armee über dem Geschehen. Bei Kämpfen im November stellten sich die Soldat_innen sogar hinter die Milizen, allerdings ohne direkt einzugreifen.
Für die Regierung seien die bewaffneten Bürger_innen „ein funktionales Werkzeug bei der Bekämpfung der Tempelritter“, meint der Sicherheitsexperte Alejandro Hope. So könne sie die Macht des Kartells eindämmen, ohne das Leben der eigenen Leute aufs Spiel zu setzen. Allerdings sind sich auch die autodefensas in ihrer Haltung zur Regierung nicht einig. Während Mireles nach der staatlichen Mobilmachung Bereitschaft zeigte, die Waffen abzugeben und die Milizen aus den besetzten Städten abzuziehen, hielt der Anführer Estanislao Beltrán dagegen. Man werde den Dörfern die Hilfe nicht entziehen, um die sie gebeten hätten, stellte er klar. Mit der Regierung würden die Milizen erst sprechen, wenn die Anführer der Tempelritter im Gefängnis säßen.

Würde statt Rendite

Die Pressefreiheit galt den argentinischen Massenmedien nicht immer als hehres Gut. Zu Folter, Vernichtungszentren oder den Raub von Kindern während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) schwiegen Presse, Radio und Fernsehen gezielt. Die damalige Gesellschaft wollte nicht sehen, was vor sich ging. Somit vernachlässigten die Medien ihr wesentliches Prinzip: zu informieren.
Nach langjährigen Aufschüben und Diskussionen hat der Oberste Gerichtshof im Oktober 2013 das im Jahr 2009 vom Parlament erlassene Gesetz über Dienstleistungen in der Audiovisuellen Kommunikation für verfassungsmäßig erklärt. Die alte Regelung stammte noch aus den Zeiten der Militärdiktatur. Das neue Mediengesetz soll zur Dezentralisierung und Regulierung der Medien beitragen, einem stark konzentrierten Markt, der eine große kulturelle, soziale und politische Wirkung hat. Das nach langen öffentlichen Sitzungen vom Parlament verabschiedete Gesetz wurde vier Jahre lang aufgrund verschiedener einstweiliger Verfügungen blockiert. Diese Maßnahmen gingen vor allem vom Unternehmen Clarín aus, dem größten Multimediakonzern des Landes. Unter anderem wird Clarín durch das neue Gesetz dazu gezwungen, sich von zahlreichen Radio- und Fernsehlizenzen zu trennen. Denn ein Unternehmer darf zukünftig statt 24 nur noch zehn Radio- und Fernsehkanäle betreiben und in einer Region nicht gleichzeitig über Kabel und Antenne senden. Die Frequenzen im Rundfunk- und Fernsehspektrum sollen prinzipiell zu einem Drittel auf private, staatliche oder gemeinnützige Akteure aufgeteilt werden. Nicht betroffen ist die gleichnamige Zeitung, die das Unternehmen Clarín herausgibt. Seit mehreren Jahren zählt Clarín zu einem der Hauptgegner der Kirchner-Regierungen.
Die Debatte wirft ein Schlaglicht auf die Rolle der Medien während der Diktatur und kann nicht von der Diskussion über die gegenwärtige Rolle der Medien getrennt werden. Während der Diktatur waren die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo die einzigen, die über die Verschwundenen, die Todesflüge und die dabei lebendig ins Meer geworfenen Opfer informiert haben. Die Medien bezeichneten sie dafür schlicht als „alte verrückte“ Frauen.
Das Mediengesetz ist das Ergebnis eines demokratischen Dialoges, an dem verschiedene soziale Sektoren teilgenommen haben und der von Organisationen für Menschenrechte unterstützt wird. Es soll dazu beitragen, dass die gesellschaftlichen Debatten mehr geöffnet und zuvor nicht gehörte Stimmen verstärkt wahrgenommen werden. Stimmen indigener Gruppen, mittelloser Frauen, junger Menschen, diskriminierter Sektoren. Also jene, die im Allgemeinen nicht zur Veranstaltungsindustrie dazugehören oder nicht den „Marktparametern“ entsprechen. Dahinter steht die Überlegung, öffentliche Kommunikation nicht mehr als einen „Markt“ für die Verteidigung von Interessen zu betrachten, sondern als Recht der Personen, ihre Meinung frei zu äußern. Letzteres ist von größerem gesellschaftlichen Interesse als die Rentabilität oder der Gewinn von Medienunternehmen.
Das argentinische Gesetz sollte allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Es ist Teil eines Prozesses politischer, sozialer und kultureller Integration, der sich in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entwickelt hat. Das Mediengesetz folgt ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern wie beispielsweise dem in Ecuador, das unter anderem verhindern soll, dass Banken eigene Medien besitzen.
Die Situation in Argentinien stellt also keine Ausnahme dar. Die Medienkonzentration in Lateinamerika ist sehr hoch. Dies zeigen auch die Fälle von Televisa in Mexiko oder O Globo in Brasilien, deren einflussreiche Stellung auf die Diktaturen in diesen Ländern zurückzuführen ist. In der Debatte geht es darum, genau das erfahren und sehen zu können, was zuvor nicht sichtbar war. Es geht darum, den bedauerlicherweise berühmt geordenen Satz „Ich habe nichts gewusst“, der Argentinien während der Diktatur stark geprägt hat, durch den Satz „Ich weiß“ zu ersetzen. Das „Misch dich nicht ein“ der Diktatur soll sich in eine aktive Teilnahme in der Demokratie verwandeln.
Eine der großen Herausforderungen unserer Demokratie besteht darin, die Bedeutung und den Sinn dessen zu bestimmen, was wir unter Meinungsfreiheit verstehen. Das neue Mediengesetz betrachtet die Kommunikation als ein soziales Gut des öffentlichen Interesses. Die freie Meinungsäußerung ist wesentlich für die argentinische Demokratie, in der allmählich Identitäten anerkannt werden, die früher entweder nicht respektiert oder verfolgt wurden. Hier liegt der politische Kern der Debatte in Argentinien – im Unterschied zwischen der Verteidigung der Interessen und der Verteidigung der Rechte. Dem Unterschied zwischen der Rendite der Medienunternehmen, die Informationen verwalten und verkaufen und der Würde der Menschen, ihre Meinung frei äußern zu können.

Den Rassismus nicht vergessen

Im schattigen Inneren der großen Versammlungsstätte steigt im Licht einzelner Sonnenstrahlen, die durch das Dach fallen, der Rauch des heiligen Holzes palo santo auf. Es wird neben verschiedenen Früchten und Blumen, die in einem Kreis angeordnet sind, als Opfergabe dageboten. Das indigene Reservat San María de Piendamó im südwestlichen Departamento Cauca, Heimat verschiedener indigener Gruppen, ist heute stolzer Gastgeber für über 1.000 indigene Frauen. Vier Jahre nach dem ersten kontinentalen Treffen in Peru sind sie nun für das zweite Treffen angereist, bevor direkt im Anschluss das allgemeine Gipfeltreffen der indigenen Gemeinschaften des Kontinents beginnt. In den nächsten zwei Tagen wird es um die Verteidigung ihrer Rechte als indigene Frauen und als indigene Gemeinschaften gehen. Auf der Tagesordnung stehen außerdem die vom globalen Norden aufgezwungenen Entwicklungsmodelle, der vor allem von internationalen Firmen betriebene Extraktivismus, der die Lebensgrundlage und die Menschenrechte der indigenen Völker bedroht, sowie die Gewalt, die indigene Frauen auf verschiedene Weise erfahren: in Form von Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ungleichheit.
Einzelne Grüppchen indigener Frauen sitzen verstreut auf den Plastikstühlen. Auf der Bühne hängt das Plakat für den ersten Teil des kontinentalen Gipfeltreffens der indigenen Völker: „Zwe­ites Gipfeltreffen der indigenen Frauen Ab­ya Yalas“. Der Name kommt aus der indigenen Sprache Kuna und bedeutet Lateinamerika. Einige Frauen sind sichtlich erschöpft von der langen Reise, aber motiviert und entschlossen. Sie sind aus verschiedenen Teilen des Kontinents angereist: Mexiko, Guatemala, dem benachbarten Panama, Venezuela und Ecuador, Bolivien, Peru, Chile sowie aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens.
Inzwischen ist es heißer geworden, immer mehr Frauen versammeln sich unter dem kühlen Dach, um den einführenden Vorträgen zu lauschen. Ein wichtiges Thema, das direkt zu Beginn Eingang findet, ist der Friedensprozess in Kolumbien, von dem die indigenen Gemeinschaften ausgeschlossen sind. Sie sind den bewaffneten Akteuren aufgrund ihrer häufig strategisch gelegenen und rohstoffreichen Territorien besonders ausgeliefert. Vor allem die Frauen werden Opfer von Vertreibungen und Vergewaltigungen. „Wir Frauen sind vom Krieg stärker betroffen und von den Verhandlungen in Havanna ausgeschlossen. Ohne Frauen gibt es keinen Frieden“, sagt Toribia Lero von der Koordination indigener Organisationen der Andenregion (CAOI) und fügt hinzu: „Wir wollen nicht, dass unsere Körper weiterhin Kriegsbeute sind.“
Angesichts einer neuen Welle von Extraktivismus und den damit verbundenen Vertreibungen wird das Recht der Frauen auf ein Leben frei von Gewalt, wie es die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vorsieht, stark eingeschränkt. Deshalb, so Raquel Yrigoyen aus Peru, müssen der Kampf der Indigenen um das Recht auf Selbstbestimmung und der Kampf der Frauen für ein Leben ohne Gewalt Hand in Hand gehen.
Die Gewalt, die indigene Frauen erfahren, ist ein zentrales Thema des Gipfels. Manuela Ochoa von der Nationalen Organisation Indigener Kolumbiens (ONIC) spricht über die Diskriminierung, die indigene Frauen außerhalb, aber auch innerhalb der Gemeinden erfahren. Hierzu zählen sowohl diskrimierende politische Richtlinien als auch Gewalt im familiären Rahmen. Ein zentrales Problem sei der Zugang zum Rechtssystem. Kommunikationsbarrieren aufgrund von unterschiedlichen Sprachen stellen dabei eine besondere Hürde dar.
Dennoch betont Manuela Ochoa, dass sie nicht Opfer, sondern aktiv Handelnde sind: „Wir sind nicht die armen indigenen Frauen“, sagt sie. „Ohne uns geht es nicht!“ Wie für sie ein Leben frei von Gewalt aussehen würde? „In Harmonie leben und sich wohlfühlen“. Dafür sind Mechanismen für die Konfliktlösung sowohl auf staatlicher als auch auf familärer Ebene notwendig. Diese sind jedoch bis jetzt weder vom Staat noch von den indigenen Gemeinden selbst in Angriff genommen worden.
Während die Teilnehmerinnen aufmerksam lauschen, ziehen sie gekonnt Stich um Stich den Faden nach. Fast alle anwesenden Frauen häkeln an einer mochila, einer Tasche aus bunter oder naturfarbener Wolle. Das Häkeln ist nicht einfach eine traditionelle Tätigkeit. Die Muster sind Ausdruck indigener Weltanschauung und der Erfahrung jeder einzelnen Frau — einzigartig.
In der Arbeitsgruppe zu Frauenrechten am nächsten Tag steht schon bald fest, wo die Frauen verschiedener Länder ähnliche Probleme vorfinden. Ein Thema ist der fehlende Zugang zu Bildung, vor allem im Bereich der Weiterbildung. „Wir brauchen gut ausgebildete Frauen, die Politiker kennen unsere Probleme nicht und lassen uns nicht teilhaben“, so eine Teilnehmerin aus Bolivien. Der Vorschlag eines Weiterbildungsprogramms speziell für indigene Frauen wird mit breiter Zustimmung aufgenommen. Als wichtig wird auch das Recht auf eigene, selbstbestimmte Bildung herausgestellt.
Die politische Teilhabe ist ein weiteres zentrales Thema. „Das Recht auf politische Partizipation wird nicht wahrgenommen“, sagt eine Teilnehmerin aus Bolivien, und ihre Kollegin fügt hinzu: „Ohne eigene politische Vision werden wir immer diejenigen sein, die gehorchen. Auch wenn Frauen in der Politik mitmischen, sprechen sie nicht in unserem Namen, weil sie nicht unsere Perspektive haben“. Nichtsdestotrotz zeigt sie sich zuversichtlich: „Es gibt viele Hindernisse, aber wenn wir diese überwinden, werden wir unser Recht auf Teilhabe ausüben.“ Es gibt jedoch auch radikalere Stimmen, die glauben, dass die Partizipation der indigenen Frauen in den aktuellen politischen Rahmenbedingungen nicht gegeben ist. „Die Regierungsformen müssen geändert werden, denn sie sind kolonial, Frauen haben dort keinen Platz“, so eine Teilnehmerin aus Kolumbien.
Ein hochaktuelles Thema ist die sexuelle und reproduktive Gesundheit. Es fehlt an Aufklärung zu Themen wie HIV/Aids und Gebärmutterhalskrebs, Krankheiten, die unter anderem durch die Präsenz von multinationalen Firmen ihren Weg in indigene Gemeinden gefunden haben. Selbst wenn sie versichert sind, nehmen die Frauen die öffentlichen Gesundheitsdienste selten wahr. Angesichts dessen kommt die Forderung nach Krankenhäusern auf, welche die traditionelle Medizin anerkennen und indigene Frauen entsprechend ihrer Weltanschauung und Traditionen betreuen können.
Die Frage nach der Beziehung zu den Männern der indigenen Gemeinschaften durchzieht alle Diskussionen und Themenbereiche des Gipfels: Für die anwesenden Frauen ist klar, dass der Machismo sie lange Zeit zum Schweigen verurteilt hat: „Als Ehefrauen müssen wir bestimmte Aufgaben erfüllen, aber wir haben auch Rechte, nur üben wir diese nicht aus”, sagt eine kolumbianische Teilnehmerin. Eine andere Teilnehmerin kritisiert, dass es im Haushalt keine gemeinsame Verantwortung gibt und fragt: „Warum können die Männer nicht auch etwas machen, wenn die Frau müde ist?“ Von den Männern wird die politische Organisierung der Frauen häufig vorwurfsvoll als Spaltungsprozess der indigenen Gemeinschaft betrachtet. Unter den Frauen herrscht demgegenüber trotz aller Konflikte Einigkeit darüber, dass Frauen und Männer zusammenarbeiten müssen. So wird beschlossen, die Männer zum nächsten Gipfel der Frauen einzuladen: „Wir sprechen aus einer Position der Einheit heraus, nicht um Männer und Frauen zu spalten.”
Diese Aussage macht die Position vieler indigener Frauen im Hinblick auf den in der Regel als westlich wahrgenommenen Feminismus deutlich. In Ländern wie Bolivien, Mexiko und Guatemala haben sich dennoch verschiedene Strömungen von indigenen Feminismen herausgebildet. Auch auf dem Gipfel wird zum Teil mit „feministischen“ Begriffen wie Sexismus, Patriarchat und Ma­chismo umgegangen. So erklärt Carmen Blanco Valer aus Peru die Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen anhand verschiedener Fäden, die sich ineinander verflechten: Ethnizität, Geschlecht, soziale Klasse, Kolonialismus und sexuelle Orientierung. Je mehr Unterdrückungsmechanismen zusammenkommen, desto schwerer sei die Verflechtung aufzulösen. An dieser Stelle macht sie einen Aufruf an nicht-indigene Frauen, die häufig „den Rassismus vergessen“. Es sei wichtig, alle Machtstrukturen und ihre Implikationen anzuerkennen, nicht nur diejenigen, die sie als weiße Frauen betreffen.
Am folgenden Tag füllt sich das Gelände von La María Piendamó. Es sind viele weitere Teilnehmende für den Gipfel der indigenen Gemeinden angereist. Es ist auffällig, wie präsent die Männer auf dem Gipfel sind, die Atmosphäre ist eine andere als an den Vortagen. Die Teilnehmerinnen des Gipfels der Frauen haben sich unter die anderen gemischt. Sie werden ihre Arbeit in Form der neu gegründeten Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen aus Abya Yala, einer Dachorganisation der regionalen Netzwerke, fortsetzen um so die Ergebnisse des Gipfels in eine Agenda zu übersetzen.

Das Erbe von Chico Mendes

Es war am späten Abend. Er wollte sich waschen. Dort, zehn Meter hinter seinem Haus, wo er selbst eine behelfsmäßige Dusche gebaut hatte. Kaum hatte er die Hintertür geöffnet, als die Kugeln ihn in die Brust trafen. 25 Jahre sind seither vergangen. Am 22. Dezember 1988 wurde Chico Mendes vor seinem Haus in Xapuri im amazonischen Bundesstaat Acre kaltblütig ermordet. Der Täter war der Sohn eines Großgrundbesitzers, in dessen Auftrag er handelte.

Chico Mendes hatte schon viele Morddrohungen erhalten. Von den fazendeiros, Großgrundbesitzer_innen, Holzfirmen, Viehfarmer_innen, Militärs. Zuerst störte sie die Unruhe, die er in der Gegend stiftete, da er die seringueiros, die Kautschukzapfer_innen, gewerkschaftlich organisierte. Dann erzürnte sie, dass er und seine Kolleg_innen die Urbarmachung des Waldes verhinderten mit ihren mittlerweile so erfolgreichen empates – Menschenketten, die gewaltfrei das Vordringen der Bulldozer verhinderten. Die Holzfirmen schäumten vor Wut, als er sogar nach Washington reiste und die Interamerikanische Entwicklungsbank davon überzeugte, keine Kredite mehr für Rodungsprojekte in Amazonien zu bewilligen. Sie warfen ihm vor, den „Fortschritt des Landes“ zu behindern. Als er die vormals verfeindeten Gruppen der seringueiros und Indigenen miteinander versöhnte, weil sie erkannten, dass der Kampf um den Wald ihre gemeinsame Herausforderung ist, da schrillten bei den traditionell Mächtigen der Region alle Alarmglocken. Und es störte sie seine Forderung nach neu zu schaffenden Schutzgebieten, den reservas extrativistas. Deren nachhaltige Waldnutzung durch die traditionellen Gruppen sollte den Wald erhalten – und den seringueiros, Babaçanuss-Sammler_innen und den Indigenen ihr Auskommen sichern.

Chico Mendes verband Umweltschutz und die sozialen Bewegungen, ohne es geplant zu haben. Er soll gesagt haben, er hätte gar nicht gewusst, dass das Umweltschutz sei, was er tue. Ihm sei es um den Kampf der sozialen Bewegungen der Sammler_innen gegangen und wenn das dann „Umweltschutz“ sei, dann sei das auch in Ordnung.

25 Jahre sind seit der Ermordung von Chico Mendes vergangen. Doch sein Name ist in Brasilien und in der Welt noch immer bekannt. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde in Brasília das Gesetz über die von ihm geforderten Sammelschutzgebiete verabschiedet. Gegenwärtig gibt es allein in Amazonien 59 dieser Territorien mit einer Fläche von 19,1 Millionen Hektar. Das Instituto Chico Mendes zur Betreuung dieser Gebiete trägt seit 2007 seinen Namen. Die Entwaldungsraten Amazoniens von heute lassen sich nicht mit denen der 80er und 90er Jahre vergleichen. Ist Chico Mendes´ Erbe also eine Erfolgsgeschichte?

Nur zum Teil. Die seringueiros von heute werden weniger, da es noch immer deutlich lukrativer ist, den Wald illegal zu roden oder Viehzucht zu betreiben. Zudem rollt die Walze des Agrobusiness in Amazonien weiter voran. Ob Soja- oder Rinderfarmen, ob Bergbau oder Staudamm: Es geht noch immer um die Inwertsetzung von Land – und nicht in erster Linie um die nachhaltige Nutzung des Landes, wie es die seringueiros oder Indigenen betreiben. Und neben der erschreckenden Agenda des brasilianischen Kongresses bezüglich der Rücknahme demarkierter indigener Territorien oder der Ausdehnung des Bergbaus auch auf Schutzgebiete stehen nun auch die Sammelgebiete selbst unter Druck, diesmal im Namen „grünen Wirtschaftens“. Angetrieben von internationalen Geldgeber_innen legen sich derzeit die Landesregierungen vor allem von Acre, Amazonas und Pará mächtig ins Zeug, den Wald in Wert zu setzen. Diese wollen den seringueiros ein paar hundert Reais im Monat als „grünes Stipendium“ dafür zahlen, dass sie ihre so lang gepriesene Mischnutzung – Kleinackerbau und Viehwirtschaft in Subsistenz bei nachhaltiger Nutzung des Waldes – beenden und den Wald erst gar nicht mehr betreten. Der Regenwald als Park – das ist nicht im Sinne von Chico Mendes.

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