„Die Stärkung des Lokalen ist der Schlüssel“

Wie sieht der Fall Ayotzinapa einige Monate später aus der Perspektive Oaxacas aus?
Der Fall Ayotzinapa hat enorm wichtige gesellschaftliche Mobilisierungen ermöglicht. In Oaxaca hat das Kräfte gebündelt, vor allem aus der Sección 22 der Lehrergewerkschaft und aus den Lehramtsseminaren. Ein Ereignis von solcher Wucht verdichtet sehr deutlich die Situation im Land. Einer der Verschwundenen ist aus Oaxaca: Christián Colón Guarnica, mit Familie in Tlacolula. Einer der Jugendlichen, die verletzt wurden, ist aus San Francisco del Mar, vom Isthmus. Hier ist es sehr üblich, dass in einem Dorf die Lehrer soziale Kämpfe anleiten. Es gibt eine deutlich sichtbare Solidarität in Oaxaca.

Die Sección 22 ist schon zuvor aktiv gewesen…
Ihre Mitglieder haben seit Monaten den zentralen Platz Oaxacas besetzt. Sie kämpfen gegen ein „Modernisierungsprojekt“, das aus der Regierungszeit der PAN stammt, aber noch stärker vom aktuellen Präsidenten Enrique Peña Nieto verfolgt wurde. Dieses Reformprojekt hat die Lehrer auf die Straße gebracht. Ayotzinapa war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Wir können Ayotzinapa nicht außerhalb der Proteste gegen die Bildungsreformen interpretieren. Denn die Reform droht, die ländlichen escuelas normales ganz abzuschaffen. Auf sehr makabre Weise ist das Verschwindenlassen der Studierenden eine Metapher für das Verschwindenlassen der escuelas normales. Deshalb sind die Lehrer aktiv.
Lehrer sollen jetzt über eine Prüfung ins Bildungssystem aufgenommen werden. Jeder Berufstätige aus dem Bildungsbereich im weiteren Sinne kann eine Prüfung machen, um als Lehrer eingestellt zu werden. So verlieren die Lehramtsseminare an Geltung, der Staat hat kein Interesse mehr an ihnen. Sie haben bereits keine Finanzierung mehr wie früher. Einige Seminare befinden sich in einer finanziellen Krise. Früher wollte man dort Lehrer mit sozialem Bewusstsein ausbilden, mit einer marxistischen Ausbildung, die zu einer Lesart und Analyse der Realität in der Lage wären.
Doch die Lehrerschaft mobilisiert immer mit ihrer eigenen Agenda. Die Verschwundenen sind zentral für sie, aber ihr Protest richtet sich ganz klar gegen die Reform, damit das Gesetz in Oaxaca nicht angepasst wird. Das ist ihr Thema.

Heißt das, die Proteste konnten doch nicht so gebündelt werden?
Das ist immer schwierig, und hier ist es keine Ausnahme. Tatsächlich kam die Nähe zu den Eltern der Verschwundenen mehrheitlich über die Sección 22. Aber es ist schwierig die unterschiedlichen Gruppen zusammenzubringen. Vielleicht hat man es nicht geschafft, eine breitere Agenda zu formulieren, unterschiedlichste Forderungen zu verbinden. Einige Autoren sprechen von einer Regimekrise in Mexiko – zwar steckt schon das Modernisierungsprojekt in der Krise, aber es passiert etwas Schwerwiegenderes darüber hinaus. Wir hatten so eine Situation noch nie. Es geht nicht nur um Ayotzinapa, sondern um Tausende Tote und Verschwundene in diesem Land. Dieser Krise gegenüber ist jedwede Reform unzureichend. Es ist eine sehr schwierige Situation, die tiefgreifende Veränderungen erfordert, eine Reform des Staates. Aber es gibt keinen gemeinsamen Katalog, der darauf hinzielt.

Und worin würde ein struktureller Wandel bestehen – vor kurzem war noch von tiefgreifenden Reformen durch die PRI-Regierung zu lesen?
Es ist viel vom ‚mexican moment‘ gesprochen worden. Laut jenem Diskurs hatte man strukturelle Reformen erreicht. Mexiko steuere einem hohen Wachstum, einer größeren Öffnung und noch mehr Investitionen entgegen – das Szenario, mit dem wir es jetzt zu tun haben, kam da überhaupt nicht vor. Einige sagen, die Regierung habe auf die Wirtschaft als Problemlösungsmotor gesetzt: „Wir konzentrieren uns nicht auf das Thema Gewalt, denn in dem Maße, in dem Mexiko wirtschaftlich wächst, wird all dies überwunden.“ Aber das geschah nicht. Einige sagen, das wäre als hätten wir einen Teppich verlegt, wo es keinen Boden gibt. Die Regierung wollte den Diskurs über die Gewalt durch einen Diskurs über Frieden und Wohlstand ersetzen – aber der Diskurs verändert die Realität nicht.

Sind die elf Strukturreformen nicht sogar eher Teil des Problems?
Es ist nicht so, dass wir keine Reformen bräuchten – wir bräuchten viel tiefgreifendere. Wenn wir ‚Mexiko bewegen‘ wollen, wie der Präsident sagt, müsste mit den Machtquoten, mit der Korruption, den Machtgruppen in den Gewerkschaften aufgeräumt werden. Die Undurchsichtigkeit in den Regierungen der Bundesstaaten müsste beendet, die Monopolstellung großer Unternehmen aufgebrochen werden – das wären tiefgreifende Reformen. Aber man hat Reformen auf Basis der alten, autoritären Strukturen gemacht. Natürlich: Mexiko braucht wirtschaftliches Wachstum. Soziale Ungleichheit und Armut müssen beseitigt werden. Aber dafür muss etwas an der Basis verändern, an den cacicazgos, die der Situation Kontinuität verleihen.

Bieten denn die lokalen Gegen-Regierungen der sozialen Bewegungen einen Weg?
Das kann ein Weg sein. Leider richtet sich der Zehn-Punkte-Plan, den Peña Nieto präsentiert hat, entscheidend gegen die kommunale Autonomie. Den Kommunen wirft er vor, sie seien die Räume, wo die gewaltsamen Gruppen des Drogenhandels aufblühen. Das ist enorm schwierig für einen Bundesstaat wie Oaxaca. Hier sind die lokalen Kräfte, die Kommunen, die Basis der politischen Organisation. Falls sie durchgesetzt wird, ist diese Reform ein Schlag gegen den Artikel 115 der Verfassung. Sie entzieht den Kommunen Kompetenzen. Für mich ist das nicht die Lösung. Der Schlüssel ist die Stärkung lokaler Netze. Aber es scheint eine Strömung gegen diese lokale politische Organisation zu geben. Die Regierung von Peña Nieto will jetzt alles mit zentralisierten Strukturen kontrollieren. Und das, obwohl wir 1999 erreicht hatten, dass die Kommune als Regierungsebene anerkannt wird. Wir haben viele, sehr unterschiedliche ‚Mexikos‘. In einigen Landesteilen mögen diese Wege funktionieren, anderswo vielleicht nicht. An einigen Orten haben wir Ausnahmestaaten, wie in Michoacán.

Wären die Selbstverteidigungsgruppen in Michoacán denn Teil dessen?
Nein, ich glaube nicht, dass es jemals Sinn macht, die Bevölkerung zu bewaffnen. In Michoacán wurde ein großer Fehler begangen. Die Situation wird immer unübersichtlicher. Aber wenn man es richtig und kritisch ansieht, wirken diese Szenarien wie konstruiert, um die Wahrnehmung zu schaffen, dass es keine Kontrolle gebe, keine Gegengewichte, und wir nur entweder die Narcos oder die Militärs als Möglichkeiten haben.

Und hier in Oaxaca sind die Logiken andere?
Hier sind die 417 Kommunen, die mittels der internen Normgebung ihre eigenen Regierungen wählen, gesetzlich anerkannt. Das Level politischer Autonomie ist wichtig, ebenso wie die sehr aktive indigene Bewegung. Das Kriminalitätsniveau innerhalb der Gemeinden in Oaxaca ist niedrig, zumindest im Vergleich mit anderen Bundesstaaten. Aber wir sehen in den letzten Jahren einen Anstieg von Gewalt und Polarisierung in den Kommunen, auch dort, wo die interne Normgebung gilt. Dennoch, viele indigene Gemeinden mit autonomen Regierungen sind genau diejenigen, die gegenüber transnationalen Unternehmen Widerstand leisten. Peña Nieto hat im März dieses Jahres den `Nationalen Infrastrukturplan´ angekündigt, der viele Großprojekte in Südmexiko vorsieht. Ein Hindernis für solche Projekte sind die Gemeinden, wo es noch kollektiven Landbesitz und autonom ernannte Regierungsvertreter gibt.

Was passiert bei der Umsetzung dieser Großprojekte?
Dies sind nicht nur Entwicklungsprojekte, sondern Projekte, die Vertreibung vom Territorium beinhalten. Jetzt ist Vertreibung subtiler, auch die Unternehmen sind intelligenter geworden. Sie bieten der Bevölkerung Optionen an, unterstützen die Gemeinden mit Krankenhäusern oder teeren die Straßen. Im Gegenzug dürfen sie investieren und Ressourcen fördern. Es ist eine andere Art der Vertreibung, kulturell, ideologisch, politisch. Für die Windkraftanlagen am Isthmus haben Bauern ihre Parzellen verpachtet, aber eben für 25 oder 30 Jahre. Das sind Formen, Enteignung zu verschleiern. Die Leute müssen dafür nicht notwendigerweise aus ihren Dörfern fliehen. Sie sind enteignet, weil sie ihr Land nicht nutzen können. Viele Gemeinden haben die Kontrolle über das territorio verloren, während gerade ihr kollektiver Landbesitz die Leute früher stolz gemacht hat.

Und würden Sie das mit steigenden Gewaltraten in Verbindung bringen?
Ja, es gibt eine gemeinsame Linie: das Ringen um Raum und die Konfliktivität in den Gemeinden. Wir haben vor drei Jahren eine Studie über Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger erstellt. Dabei konnten wir feststellen, dass diese angestiegen sind gegenüber Leuten, die sich für die Verteidigung ihrer Territorien einsetzen.

Kann die Stärkung der Polizei wie im geplanten Polizeiabkommen zwischen Deutschland und Mexiko da etwas bringen?
Wir haben nicht die besten Erfahrungen mit solchen Abkommen. Die Mérida-Initiative sollte die Stärkung von Justiz und Polizei finanziell stützen, und schau dir an, was wir jetzt haben. Wir haben keine vertrauenswürdigen Institutionen. Ich habe 2007 im Rahmen der Verhandlungen über die Mérida-Initiative mit Angestellten des US-Außenministeriums gesprochen. Diese argumentierten, dass sie ihre Investitionen schützen müssten. Diese Art der Abkommen lösen keine grundlegenden Probleme. Eine Sache hat mit der anderen zu tun: die Unterzeichnung von Handelsvereinbarungen und die Investition europäischen Kapitals hängen in Mexiko mit solchen Abkommen zusammen, die die Polizei stärken. Das kann uns doch sogar Angst machen, wenn es Gelder und ausgeklügelte Ausrüstung und Waffen gibt. Ich erwarte nichts Gutes von einem solchen Abkommen. Es ist dieses Bild vom Teppich: Der kann kein Gewicht tragen, wenn darunter kein Boden liegt.

China und Correa gefährden Indigene

Der berühmte Satz von Deng Xiao Ping, dass es nicht auf die Farbe der Katze ankommt, solange sie Mäuse jagt, hat sich als Prophezeiung herausgestellt. Es scheint, als wusste der ehemalige Premierminister Chinas ganz genau, wovon er sprach, als er die Fähigkeit des asiatischen Riesen voraussagte, sich langfristig in eine wirtschaftliche Weltmacht zu verwandeln. Die chinesische Expansion in den vergangenen drei Jahrzehnten war so schwindelerregend wie unaufhaltsam. Sie sprang von Kontinent zu Kontinent und seit einigen Jahren ist auch Latein­amerika an der Reihe; auch hier sollen die Märkte und Rohstoffe unter chinesische Kontrolle gestellt werden. Zuletzt wurde über Investitionen in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar in den nächsten zehn Jahren entschieden. Bis jetzt liegen chinesische Kredite in der Region bei etwa 100 Milliarden US-Dollar.
In Ecuador hat diese Entwicklung entscheidende Auswirkungen auf die indigene Bevölkerung und ihren Kampf gegen die Regierung Rafael Correas – ein Konflikt, der sich in der letzten Zeit verschärft hat. Die vom Weltmarkt am meisten begehrten Rohstoffe finden sich hauptsächlich in indigenen Gebieten. Die Kämpfe der indigenen Bewegungen für den Erhalt und Schutz ihrer Kultur und der Natur sind deshalb untrennbar mit natürlichen Rohstoffen wie Öl, Mineralien, Holz, Wasser und der Artenvielfalt verbunden. Aber auch Ecuador hat kürzlich Abkommen mit China geschlossen, die die Kooperation der Länder bezüglich der Infrastruktur, Energie und Technologie vertiefen sollen. Chinesische Banken sollen sich demnach an verschiedenen Projekten beteiligen und Ecuador Kredite in Höhe von 7,5 Milliarden US-Dollar gewähren.
Das Verhalten der ecuadorianischen Regierung in dieser Angelegenheit steht jedoch in strukturellem Widerspruch zu einem anderen politischen Vorhaben: Der Emanzipation und Plurinationalität Ecuadors. Dem setzt Präsident Correa nun die Homogenität der nationalen Prioritäten und Dringlichkeiten entgegen. Der offiziellen Logik zufolge müssen die in indigenen Gebieten liegenden Rohstoffe genutzt werden, um die nationale Agenda zu finanzieren. Damit werden ebendie indigenen Rechte überfahren werden, die in der Verfassung von 2008 verankert sind. Deren Anwendung stehen laut dem correa’schen Diskurs im Widerspruch zum „höhergestellten Interesse der Nation”.
Es ist überflüssig, auf die kolonialistische Einstellung hinzuweisen, die diese Haltung impliziert. In Lateinamerika war eine der Missionen, mit der die Nationalstaaten beauftragt wurden, die Vollendung des Kolonialisationsprozesses. Dieser war von den Europäer*innen, insbesondere in den fern abgelegenen und schwer zugänglichen Gebieten, unvollendet gelassen worden. Die Strategien, zum Beispiel Amazonien zu besetzen, unterscheiden sich zwischen den jeweiligen verschiedenen Regierungen der Region kaum, ob diese Regierungen nun rechte oder progressive sind – schließlich ist das Ziel dasselbe: finanzielle Einnahmen aus dem Abbau von Rohstoffen einzufahren, um die nationale Entwicklung zu finanzieren.
So ist es auch in Ecuador nicht der Staat, sondern die territoriale Kontrolle durch die Indigenen, die sich dem Angriff der kapitalistischen Globalisierung in den Weg stellt. Der Nationalstaat erfüllt indes die Aufgabe der innenpolitischen Kontrolle, um die Umsetzung von transnationalem Kapital zu ermöglichen, mit dem es immer engagiertere Abkommen trifft. Das erklärt auch die Hartnäckigkeit der ecuadorianischen Regierung in dem Versuch, den indigenen Dachverband CONAIE zu neutralisieren, zu schwächen und unterzuordnen. Immerhin hat die Hauptorganisation der Indigenen im Land die soziale Kraft zum Widerstand gegen die soziale, kulturelle und ökologische Plünderung durch die Globalisierung. Das Kalkül hinter dem aktuellen Versuch der Regierung Correas, dieser Organisation ihren Sitz zu entreißen, den sie seit mehr als 30 Jahren in Quito belegt, ist in diesem Kontext wohl klar.
Der erste geschlossenen Aufstand verschiedener indigener Gruppen hat das Land 1990 erschüttert. Ecuador wurde dabei nicht nur mit der Existenz eines politischen Akteurs konfrontiert, der in der Vergangenheit von den weiß-mestizischen Institutionen unsichtbar gemacht wurde. Der Aufstand hat die ecuadorianische Gesellschaft vor allem zu einer aufrüttelnden Reflexion über die Demokratie gezwungen. Am Ende des Jahrzehnts war es unvermeidlich, eine konstituierende Versammlung einzuberufen. Ihre Aufgabe war es, Antworten auf die neuen Konflikte und Forderungen zu finden und eine Verfassung zu erarbeiten, die das erste Mal in der Geschichte Ecuadors die Plurinationalität und die Rechte der Indigenen miteinbezog. Von da an konnte Ecuador nicht mehr dasselbe Land bleiben. Die Errungenschaften der indigenen Bewegung waren im Wesentlichen Triumphe der Demokratie.
Aus dieser Perspektive ist die Offensive der Regierung Correa gegen die CONAIE ein unerhörter Fehltritt. Sie löst Empörung und Zurückweisung der ganzen Gesellschaft aus, die die Errungenschaften der indigenen Kämpfe um die Demokratisierung der nationalen Politik insgesamt hoch schätzt und anerkennt. Die Menschen verurteilen die Untreue und Inkonsequenz eines politischen Vorhabens, das sich auf die indigenen Kämpfe und deren Forderungen stützte, um an die Macht zu kommen. Daran erinnern diverse Funktionär*innen im correa’schen Kader, die den Reihen der indigenen Bewegung entstammen und die ihr heute aus rein persönlichen Zwecken den Rücken kehren.
Durch den nun beschlossenen Aufschub der Räumung des CONAIE-Sitzes hat die Regierung Correas die erste Runde in seiner Offensive gegen die indigene Bewegung verloren. Die angeführten gesetzlichen Rechtfertigungen sind unzureichend, um den Eindruck von Ungeschicklichkeit und Schwäche aufzuhalten, den die Machthaber*innen dabei hervorgerufen haben. Es ist offenkundig, dass die Regierung nicht weiß, wie sie aus dem absurden Labyrinth wieder herauskommen soll, in das sie sich begeben hat. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie nun von ihrem Vorhaben, die indigene Bewegung zu schwächen, absehen würde. Der Bedarf ist zu dringend, jetzt wo die Ölpreise drastisch gesunken sind und die Steuerkasse leer ist. Die einzige Möglichkeit zum politischen Überleben und zur Aufrechterhaltung des Regimes besteht in der Verfügbarkeit von reichlich öffentlichen Geldern. Die chinesische Gefräßigkeit zu befriedigen, indem man natürliche Rohstoffe aufs Geratewohl verkauft, ist eine Option; aber dafür müssen die Indigenen aus ihren Gebieten gerissen werden.

Die Entdeckung der munizipalen Ebene

Das nördliche Minas Gerais ist seit den 1980er Jahren ein wichtiges Expansionsgebiet der Eukalyptusproduktion. Dies bedeutet die Umwandlung der artenreichen Trockensavanne des Cerrado in eine Forstmonokultur, bedeutet aber auch die Entziehung der Lebensgrundlage der traditionellen Gemeinschaften, die auf der diversifizierten Nutzung dieser Savannenvegetation beruht.

Auf den Hochebenen des Cerrado – den gerais – siedelt seit Generationen eine traditionelle Bevölkerung, die sich selbst als geraizeiros bezeichnet. 1996 erreichte die Eukalyptusexpansion die geraizeiro-Gemeinschaft Sobrado im Munizip Rio Pardo de Minas. Ein Investor hatte sich auf bis heute ungeklärte Weise das gemeinschaftlich genutzte Allmendeland angeeignet. Dieses Allmendeland ist seit alters her Teil des Territoriums von Sobrado. Da es keine formalen Besitztitel gibt, galt es juristisch automatisch als Gebiet in Zuständigkeit des Bundesstaates. In dem bewaldeten Gebiet, mit typischen in sich verwachsenen Cerradobäumen, entspringen zwei Quellbäche mit weiteren kleinen Zuläufen, von denen Sobrado und Nachbargemeinschaften Trinkwasser sowie das Wasser für die Gartenbewirtschaftung erhalten. Dieses Gebiet wurde nie landwirtschaftlich, sondern ausschließlich zum Sammeln von Früchten und Medizinalpflanzen sowie als Auslauf für die wenigen Rinder der Familien genutzt.

2002 begann der neue Besitzer mit Abholzungen in dem Gebiet. Nach nur zwei Jahren der Abholzungen versiegten die meisten der Quellen und als Folge verschlechterte sich die Wasserversorgung und -qualität in den Gemeinschaften. Zudem versandeten die Bachläufe durch Erosion und die einfachen Rohrleitungen zu den Häusern der Familien verstopften ständig. Es folgten sehr schwierige Jahre für die Familien mit Wasserknappheit und geringer Gartenerträge. Durch mühselige Verhandlungen mit dem Munizip gelang es 2010, dem Investor ein anderes Gebiet im Munizip zuzuweisen. Die natürliche Vegetation hat sich seitdem im Quellgebiet erholt und die Wasserversorgung ist wieder gesichert. „Für die Familien war das Leben mit der Wassernot oft unerträglich“, berichtet José Severino Diaz, Koordinator der Gemeinschaft von Sobrado.

Ungeklärt aber ist bis heute der rechtliche Status des Gebietes. Vor diesem Problem stehen nahezu alle traditionellen Gemeinschaften in Brasilien. Denn Indigene und Nachkommen von Quilombos (ehemalige autonome Sklavensiedlungen) haben ein durch die Verfassung garantiertes Recht auf Demarkierung ihrer Territorien durch den Staat. Dass die Realisierung dieser Rechte unzureichend ist, bleibt unbestritten, aber zumindest ist für diese Gruppen der Rechtsweg zur Erlangung ihrer Territorien eindeutig vorgezeichnet. Traditionelle Gemeinschaften sind zwar auch in der Verfassung von 1988 als konstituierend für die brasilianische Nation erwähnt, allerdings ohne konkrete Rechtsansprüche. Die engere Definition traditioneller Gemeinschaften erfolgte erst im Jahr 2007 durch das Präsidialdekret 6040. Traditionelle Völker und Gemeinschaften sind demnach „Gruppen, die sich kulturell unterscheiden und als solche verstehen, mit eigenen sozialen Organisationsformen, die Territorien besetzen und natürliche Ressourcen für ihre kulturelle, soziale, religiöse, anzestrale und ökonomische Reproduktion, sowie erschaffenes und durch Traditionen weitergegebenes Wissen, Innovationen und Praktiken nutzen.“

Die geraizeiros verstehen sich als traditionelle Gemeinschaften. Ihr Lebensraum ist das zentralbrasilianische Hochland, insbesondere Gegenden mit Hochplateaus. Sie haben eigene kulturelle Ausdrucksweisen, Verhaltensregeln und Mythen und sind überwiegend im Volkskatholizismus verwurzelt. Sie bewirtschaften traditionell mindestens vier ökologische Einheiten – Höhenzüge, Hochebenen, Trockenwälder und Gewässerauen – in denen sie Garten-, Land-, Vieh- und Sammelwirtschaft betreiben sowie begrenzt auch Fischfang und Jagd. Ergänzt wird die Ökonomie heute durch verschiedene Dienstleistungsberufe, im geringen Umfang durch die Weiterverarbeitung von Lebensmitteln sowie durch temporäre Arbeitsmigration, meistens der Männer, während der Zuckerrohrernte oder anderer Großernten in entfernten Regionen Brasiliens. In den Gemeinschaften haben die meisten Mitglieder verwandtschaftliche Beziehungen. Neben diesen allgemeinen Charakteristika der geraizeiros hat jede Gemeinschaft eine spezifische Geschichte.

Das Dekret von 2007 erkennt auch die Notwendigkeit von Territorien für traditionelle Gemeinschaften an: „Traditionelle Territorien sind: notwendige Räume für die kulturelle, soziale und ökonomische Reproduktion der traditionellen Völker und Gemeinschaften, die permanent oder temporär genutzt werden.“ Aber dies bedeutet keine Verpflichtung des Staates, die Territorien dieser Gruppen zu demarkieren und es fehlt ein klares juristisches Instrument für deren Ausweisung.

In dieser komplizierten Situation wurden in den letzten 25 Jahren verschiedene juristische Instrumente angewendet. Angemessen erschienen lange die Sammelreservate, die sogenannten Reservas Extrativistas – ResEx. Diese waren eine juristische Konstruktion, die von den Kautschukzapfern Ende der 1980er Jahre erfunden worden war, um ihnen territoriale Rechte und weitgehende Selbstbestimmung zu garantieren. 2001 wurde die Umweltgesetzgebung geändert, diese räumte der Umweltbehörde, zu Lasten der Selbstbestimmung der Bewohner der ResEx, deutlich mehr Befugnisse ein. Eine Änderung, die zunächst unbemerkt blieb, da erst ab 2007 durch institutionelle Veränderungen wie der Einrichtung einer neuen Behörde, das neue Umweltrecht umgesetzt wurde. Seitdem klagen die Bewohner nahezu aller ResEx über die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden. Die ohnehin schwierige Rechtssituation der traditionellen Gemeinschaften wurde mit dieser Gesetzesänderung zu Gunsten des staatlichen Umweltschutzes weiter erschwert.

Neben den ResEx gibt es andere juristische Konstruktionen. „Gebiete zur nachhaltigen Entwicklung“, die ebenfalls von den Umweltbehörden mitkontrolliert werden, die Möglichkeit der Ausweisung von „Ansiedlungen der Land- und Sammelwirtschaft“ (Reservas Agroextrativistas) oder die klassische Ansiedlung als Agrarreformprojekt (Assentamento) – eigentlich ein Instrument, das für Landlose geschaffen wurde –, die beiden letzteren werden von der Agrarreformbehörde ausgewiesen. Dies sind durchaus Optionen für traditionelle Gemeinschaften. Gemein ist ihnen, dass sie nicht für die Realitäten traditioneller Gemeinschaften geschaffen wurden, dass sie zweitens nur von Bundes- oder Landesbehörden ausgewiesen werden können und dementsprechend drittens überaus kompliziert durchzusetzen sind.

Keine dieser bekannten Konstruktionen passte oder hätte Aussicht auf Erfolg für die Gemeinschaft Sobrado gehabt. Die Gemeinschaft beschreitet daher einen innovativen Weg. Über munizipale Gesetzgebung will sie zu territorialen Gemeinschaftsrechten gelangen. Unterstützt wird sie dabei vom Centro de Agricutura Alternativa CAA und deren Rechtsanwält*innen, der örtlichen Landarbeiter*innengewerkschaft sowie der Universität in Montes Claros. Der dahinter stehende Gedanke ist vergleichsweise einfach. Einflussnahme auf die Entscheidungsträger in der Hauptstadt des Bundesstaates oder gar in Brasilia, dies ist für eine Gemeinschaft oder eine örtliche Landarbeitergewerkschaft sehr schwierig. Auf die lokalen Entscheidungsträger im munizipalen Parlament sowie den Präfekten ist es demgegenüber deutlich leichter, unmittelbaren Einfluss auszuüben.

Und der Vorgang lief dabei so ab: Zunächst deklarierte sich die Gemeinschaft selbst als „Traditionelle Geraizeiro-Gemeinschaft“. In zwei Versammlungen wurde eine siebenseitige Deklaration verfasst, die Geschichte, kulturelle Ausdrucksweisen, Ökonomien und andere spezifische Traditionen benannte. Diese Selbsterklärungen sind für traditionelle Gemeinschaften im Rechtssystem Brasiliens nicht direkt vorgeschrieben, erlangen aber einen offiziellen Status, da sie beim Amtsgericht registriert sowie an staatliche Behörden und politische Institutionen verschickt werden. Dieser Prozess erfolgte von Oktober bis Dezember 2013. Gleichzeitig wurde begonnen, einen Gesetzestext für die Ausweisung des Territoriums zu formulieren und das Territorium wurde mit GPS vermessen und kartographiert. Als schwierig erwies sich dabei, das Verhältnis zwischen privatem Eigentum und gemeinschaftlichen Besitz zu definieren, was aber nach intensiven Diskussionen bis April gelang. Der ursprüngliche Plan, das Gesetz über ein Volksbegehren in das Parlament einzubringen, wurde aufgegeben, da sich deutliche Sympathien bei Abgeordneten fanden, das Gesetz auf üblichem parlamentarischen Weg zu behandeln. Zunächst aber wurde die Verabschiedung durch formale Einsprüche verhindert. Im Dezember 2014 kam das Gesetz mit einigen Änderungen jedoch schließlich zur Abstimmung. In und vor dem Parlament versammelten sich während der entscheidenden Abstimmung etwa 1.000 Menschen, um für die Annahme des Gesetzes zu demonstrieren. Das Parlament stimmte bei nur zwei Gegenstimmen für das Gesetz.

Der Präfekt legte danach, auf Empfehlung der örtlichen Staatsanwaltschaft, allerdings für einige Paragraphen Veto ein, mit der Begründung des Eingriffs in das Haushaltsrecht sowie der kommunalen Kompetenzüberschreitung. Dies ist nach Einschätzung von Rechtsanwält*innen der sozialen Bewegungen aber eher politisch als juristisch begründet. Verhandlungen über die Einsprüche laufen derzeit zwischen Gemeinschaft, Landarbeiter*innengewerkschaft, Parlament und Präfekt. Sicher scheint inzwischen zu sein, dass im Februar dieses Jahres ein munizipales Gesetz verabschiedet wird, das allerdings nicht alle ursprünglichen territorialen Garantien und Forderungen der Gemeinschaft erfüllen wird. Die Landarbeiter*innengewerkschaft von Rio Pardo de Minas äußerte darüber zwar ihr Bedauern, bewertete das Ganze jedoch als wichtigen Schritt. Denn erstmals wurde die munizipale Ebene für die Ausweisung von gemeinschaftlichen Territorien entdeckt. „Zweifellos hat die Gesetzesinitiative etwas bewirkt“, meint Moises Oliveira, Sekretär der Landarbeiter*innengewerkschaft von Rio Pardo de Minas. Und es bewegt sich was in der Gemeinde. „Es gibt im Munizip schon fünf Gemeinschaften, die ein ähnliches Gesetz für ihre Gemeinschaften wollen.“

Für Sobrado ist dieses Gesetz von besonderem Nutzen, seine Bedeutung kann aber weit über die Gemeinschaft hinausreichen, da es für andere Gemeinschaften im Munizip, für den Bundesstaat und möglicherweise für ganz Brasilien Präzedenzcharakter hat. Ob dies aber gelingen wird, hängt wesentlich von der Mobilisierungsfähigkeit von Landarbeiter*innengewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen ab, da ohne gesellschaftlichen Druck territoriale Gesetze in Brasilien bisher noch nie umgesetzt werden konnten. Als Mittel, den Druck zu erhöhen, empfiehlt der Rechtsanwalt des CAA, Dr. André Alves, die Rückkehr zur ursprünglichen Idee, das Gesetz durch Volksbegehren einzubringen. Der politische Druck muss von der Basis aufrecht gehalten und verstärkt werden.

Eine „sehr lateinamerikanische“ Berlinale

Auf der diesjährigen Berlinale werde man wohl mehr Spanisch als Deutsch sprechen, witzelte Festivaldirektor Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz für ausländische Medien und bezog sich damit auf die starke Präsenz Lateinamerikas beim internationalen Filmfestival. Über 50 Filme und Produktionen mit lateinamerikanischer Beteiligung werden in den verschiedenen Sektionen der Berlinale 2015 zu sehen sein, davon vier im Wettbewerb um den goldenen Bären. Die diesjährige Berlinale sei eine „sehr lateinamerikanische“, titelte daher auch die kolumbianische Presse. Und nicht nur im Filmprogramm, auch in der Jury ist Lateinamerika mit der Peruanerin Claudia Llosa hochkarätig repräsentiert, die 2006 mit ihrem Film La teta asustada den Goldenen Bären und 2012 mit dem Kurzfilm Loxoro den Teddy Award gewann.

Im Wettbewerb werden in diesem Jahr vier lateinamerikanische Filme präsentiert. Die französisch-chilenisch-spanische Produktion El botón de nácar des Regisseurs Patricio Guzmán ist ein intensiver Dokumentarfilm, der an eines der schlimmsten Kapitel der Pinochet-Diktatur erinnert, an die Verschwundenen, die über dem offenen Meer aus Flugzeugen geworfen wurden. Der Film verbindet die Verbrechen der Diktatur mit der Auslöschung der indigenen Ethnien während der Kolonialisierung und spielt auf die Perfektionierung des gleichen kriminellen Instinkts durch das Pinochet-Regime an. Ein weiterer chilenischer Film im Wettbewerb ist El Club des Regisseurs Pablo Larraín, der sich mit dem Thema Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auseinandersetzt. In einem Glaubenskonvent an der chilenischen Küste werden schwere Vorwürfe gegen einen Priester erhoben, der sich diesen durch Selbstmord entzieht. Die darauf folgenden Ermittlungen bringen unbarmherzig Widersprüche in der katholischen Kirche zum Vorschein.

Der britische Regisseur Peter Greenaway zeigt mit Eisenstein in Guanajuato eine britisch-mexikanische Produktion über die Reise des legendären sowjetischen Meisterregisseurs Sergej Eisenstein nach Mexiko, der dort über eine Filmproduktion verhandelte. Der vierte lateinamerikanische Film im Wettbewerb, Ixcanul Volcano von Jayro Bustamante, ist das Debüt Guatemalas im Wettstreit um den Goldenen Bären. Er handelt von María, einem 17-jährigen Maya-Mädchen, das am Fuß eines aktiven Vulkans in Guatemala lebt, auf seine arrangierte Heirat wartet und selbst nach Möglichkeiten sucht, dieser zu entfliehen.

Das Hauptprogramm der Sektion Panorama, die sich dem Arthouse- und Autorenkino widmet, eröffnet am 5. Februar die brasilianische Produktion Sangue Azul von Lirio Ferreira. Auf einem Inselparadies in der Südsee, gefilmt auf der Insel Fernando de Noronha vor der Küste des Bundestaats Pernambuco, werden Bruder und Schwester von der Mutter getrennt. Der 9-jährige Pedro wird von Kaleb, einem Zirkusbetreiber, Richtung Festland mitgenommen. Als er 20 Jahre später als erwachsener Mann mit dem Zirkus zurückkehrt, wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert. In der Reihe Panorama Special, die unabhängige Produktionen der US-amerikanischen Major-Studios zeigt, eröffnet am 6. Februar 600 Millas, das Erstlingswerk des Mexikaners Gabriel Ripstein, in dem ein blutjunger Waffenschieber zwischen Texas und Mexiko einen amerikanischen Sicherheitsagenten in die Finger bekommt. Diesen wieder loszuwerden, wird das Abenteuer seines Lebens.

Insgesamt ist Lateinamerika im Panorama-Programm stark vertreten: Neben dem chilenischen Regisseur Sebastián Silva, der seinen in Brooklyn spielenden Film Nasty Baby präsentiert, stellen Brasilien, mit Ausência von Chico Teixeira und Que horas ela volta? von Anna Muylaert, und Argentinien, mit Mariposa Marco Berger und El incendio von Juan Schnitman, ihre jüngsten Werke über die Untiefen menschlicher Beziehungen vor.

Auch in der Sektion Forum, dessen risikofreudige Filmauswahl sich im Grenzbereich von Kunst und Kino bewegt, bildet das junge lateinamerikanische Kino einen geografischen Schwerpunkt. Es setzt sich vordergründig mit institutioneller, politischer und familiärer Gewalt auseinander und porträtiert Menschen, die auf gesellschaftliche Umbrüche individuelle Antworten suchen. Zudem wird als Special Screening Cuatro contra el mundo von Alejandro Galindos in einer restaurierten Fassung gezeigt. Der historische Film von 1950 gilt als Prototyp des mexikanischen Film noir. Zum regulären Forumprogramm gehört der in Argentinien entstandene Spielfilm Mar der Chilenin Dominga Sotomayor, der aus der vordergründig privaten Geschichte eines jungen Paars, das im Urlaub vom Auftauchen der Mutter gestört wird, ein komplexes Gesellschaftsbild entwickelt. Der chilenische Spielfilm La mujer de barro von Sergio Castro San Martín begleitet die wortkarge María zurück an den Arbeitsort, an dem sie einst Schlimmes erlebt hat. Als sich die Geschichte zu wiederholen scheint, nimmt sie ihr Schicksal in die Hand.

Aus drei eindringlich inszenierten Episoden besteht Violencia, das Regiedebüt des Kolumbianers Jorge Forero. Ein angeketteter Gefangener mitten im Dschungel, ein Jugendlicher auf der Suche nach Beschäftigung, ein hochrangiger Offizier bei einer Miliz: ein Tag, drei Männer, drei Schauplätze. Das Bindeglied zwischen ihnen ist die allgegenwärtige Gewalt in Kolumbien. Der mexikanische Regisseur Joshua Gil erzählt in La maldad von einem alten Mann, der noch große Pläne hat. Seine Entschlossenheit führt ihn in die Stadt, wo Forderungen nach politischer Veränderung immer lauter werden.

Neben der in dieser Ausgabe rezensierten avantgardistischen Satire Brasil S/A von Marcelo Pedros wird das ebenfalls aus Brasilien stammenden Regiedebüt Beira-Mar von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher gezeigt. Ein junger Mann reist ins Ferienhaus der Familie am Meer, um eine heikle Erbangelegenheit zu klären. Behutsam erzählt der brasilianische Film von einem langen Winterwochenende, erwachender Sexualität und neuer Intimität. Der Film wird als Cross-Section-Vorführung auch im Generation Programm, der Kinder- und Jugendsektion der Berlinale, als Teil einer Auswahl von Coming-of-Age-Filmen gezeigt.

Generation zeigt außerdem zwei lateinamerikanische Filme: Den in dieser LN-Ausgabe besprochenen mexikanisch-guatemaltekischen La casa más grande del mundo von Ana V. Bojórquez und Lucía Carreras und den argentinischen El Gurí, der wie viele Filme der diesjährigen Ausgabe dieser Reihe von einem jungen Menschen handelt, der auf seinem Weg zum Erwachsenwerden eine (zu) große Verantwortung übernehmen muss.

Über die Sonderreihe NATIVe, die sich dieses Jahr explizit das indigene Kino Lateinamerikas als Fokus genommen hat, berichten wir auf den folgenden Seiten gesondert und stellen drei Filme dieser Reihe vor. Genug spannende Gelegenheiten also, sich auf der diesjährigen Berlinale mit dem lateinamerikanischen Kino zu beschäftigen.

Lateinamerikanisch-indigenes Kino im Fokus

Indigenes Kino ist in diesem Jahr im gesamten Berlinale Programm präsent und soll, so verkündet die NATIVe-Kuratorin Maryanne Redpath, nun endlich auf dem Festival angekommen sein. Die Sonderreihe NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema mit indigenen filmischen Erzählungen wurde erstmals 2013 auf der Berlinale eingeführt.
Nicht nur durch das reichhaltige Programm der NATIVe Sonderreihe selbst, auch in den anderen Programmsektionen ist das indigene Kino dieses Jahr stärker vertreten. Mit Ixcanul Volcano ist sogar ein Film des indigenen Kinos im Wettbewerb zu sehen. Expliziter Fokus der diesjährigen Berlinale ist die Region Lateinamerika, die mit 18 Spiel- und Dokumentarfilmen von Mexiko bis Feuerland aus den Jahren 1986 bis 2014 vertreten ist. Das Programm der Reihe wurde mit Unterstützung von regionalen Expert*innen zusammengestellt. Eröffnet wird die NATIVe am 6. Februar 2015 mit dem farbenprächtigen Dokumentarfilm Eco de la Montaña des mexikanischen Regisseurs und Kameramanns Nicholás Echeverría. Sein vielschichtiges Porträt über den Künstler Santos de la Torre gibt einen tiefen Einblick in das Leben und die Rituale der Huicholen in der Berglandschaft Sierra Madre Occidental.
Indigene Filmemacher*innen erobern durch die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und dem Film als Medium ihr Selbstbild zurück. Indigene Geschichtserzählung vermag sich dadurch von dem kolonialistischen Blick abzulösen – ein Prozess, der von indigenen Filmemacher*innen häufig als Film im Film aufgegriffen wird. Sie richten ihre Kamera auf sich selbst und ihre Umgebung, wodurch eine ganz eigene Filmsprache entstehen kann.
Wie im vergangenen Jahr ergänzt ein Rahmenprogramm die NATIVe-Filmvorführungen. An zwei Abenden werden im Programm Berlinale Open House in der Audi Berlinale Lounge am Marlene-Dietrich-Platz geladene Gäste der NATIVe-Reihe an Storytelling-Slams teilnehmen und ihre Geschichten mit dem Publikum teilen – spontane Beiträge der Zuschauer*innen sind willkommen. Im Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz findet eine Veranstaltung dazu statt, wie mündliche Erzähltraditionen den Weg auf die große Leinwand finden.

You can always stop and choose

„Ich schaue zurück und sehe auf ein Leben ständiger Kämpfe“, erinnert sich die alte Frau Dauna zu Beginn des Films Lo que lleva el río, der uns auf eine Reise ins Orinocodelta mitnimmt. Die kleine Warao-Gemeinde Janoko im Bundesstaat Delta Amacuro im Osten Venezuelas ist Schauplatz des Films, der von dem Leben einer starken Frau erzählt.

Der Film erzählt die Geschichte von Dauna und ihrer Entschlossenheit. Er erzählt von einem Kapuzinerpriester, der an seinem eigenen Glauben zweifelt und Gott jenseits der Kirche wiederfindet. Er erzählt von einem Leben, das sich uns zugleich vorwärts und rückwärts erschließt, von einer Liebe, die an einem Dilemma zerbricht. Er erzählt von der Kultur der Warao, ihren Mythen. Über die Wolken, wie wichtig es ist, sie zu kennen und sie lesen zu können. Über die Sterne, den Spirit des Ozelots, die Mutter des Sonnenaufgangs. Und über das Dilemma zwischen Tradition und Aufbruch, dem ständigen Hin- und Hergerissensein zwischen Gehen und Bleiben und der Kunst beides zu vereinen.

Der Beginn des Films ist das Ende ihres Lebens. Dauna ist eine alte Frau, die zurückblickt. Langsam erfahren wir ihre Lebensgeschichte, beginnend vom Jetzt in die Vergangenheit. Gleichzeitig sehen wir in einem gegenläufigen Handlungsstrang, wie sie heranwächst. Wir begleiten sie in ihrer kindlichen Neugier, ihrem besonnenen Wissensdurst und sind Zeug*innen, wie sie ihrer Berufung zu lernen und zu lehren folgt, ihrer Idee, den Warao, „ihren Leuten“, Sichtbarkeit zu geben.

Die eigentliche Geschichte der heranwachsenden Dauna wird immer wieder von kurzen Einblendungen aus ihrem Leben als Erwachsene unterbrochen. Retrospektiv erfahren wir etwas über ihr Leben außerhalb des Dorfes, über eine Ehrung für ihr Lebenswerk, eine Entlassung aus dem Gefängnis, ihren Universitätsabschluss in Gefangenschaft, ihre Verhaftung – bis beide Geschichtsstränge, der rückwärts und der vorwärts erzählte, aufeinandertreffen. Durch diese Erzählstruktur wird ein großer Spannungsbogen aufgebaut. Gerne würde man noch mehr über die Geschichte der erwachsenen Dauna erfahren, aber hier beschränkt sich der Film auf kurze Einblendungen, die sich langsam, wie Puzzlestücke zu einem Gesamtbild fügen. In die Tiefe gehen sie jedoch nicht, der Fokus liegt auf dem Leben im Dorf im Orinocodelta – dort, wo all das ist, was Dauna wichtig ist.

Das verbindende Thema von Lo que lleva el río ist der ständige Konflikt zwischen Traditionen und Verpflichtungen einerseits und dem Aufbruch und Wunsch nach Veränderung andererseits. „Ich habe immer riskiert und immer gewählt“, sagt Dauna über sich selbst. Sie hat ihren Preis dafür gezahlt, hat die Verantwortung für ihre Triumphe und ihr Versagen übernehmen müssen. Der Kapuzinerpriester Padre Julio, der in der Mission in Daunas Gemeinde stationiert ist, wird ihr Lehrer und Mentor. Auch Dauna wird Lehrerin in der Nonnenschule, aber sie hat ihre eigene Art und Weise zu lehren, die bei den Nonnen der Mission auf Ablehnung stößt. Sie hat auch ihre eigene Art und Weise zu leben, die ihr Konflikte mit ihrem Mann Tarsicio und Teilen der Dorfgemeinschaft einbringt. „Dauna ist anders“, sagt ihr Vater in einem Gespräch mit Padre Julio: „Am Ende wird sie ihre eigenen Entscheidung treffen.“

Daunas Vater ist eine der schönsten Figuren der Geschichte, in seiner sanften Ruhe und Gelassenheit akzeptiert er seine Tochter und all ihre Entscheidungen gegen Konventionen, hält zu ihr, während andere glauben, sie bringe Unglück über das Dorf. Padre Julio, gleichzeitig mit ethnologischer Forschung in der Warao-Gemeinde beschäftigt, hat seine eigenen Konflikte mit seinem Glauben, seinem Orden, mit seinen Vorstellungen, was Dauna aus ihrem Talent machen soll und seinen Gefühlen für sie. „Wenn wir verzweifelt nach einem Wandel suchen, rennen wir vor etwas davon“, ist die Weisheit, die Daunas Vater ihr mit auf den Weg gibt.

Lo que lleva el río ist das Spielfilmdebüt des kubanischen Dokumentarfilmers Mario Crespo und der erste venezolanische Film in der Sprache der Warao, der zweitgrößten indigenen Ethnie des Landes. Behutsam und in langer liebevoller und respektvoller Recherche hat sich Crespo, der selbst in Venezuela lebt, seinem Thema und den Protagonist*innen seines Filmes, den Warao, gewidmet. Die Personen im Film und die Art, über sie zu erzählen, haben eine schlichte Ehrlichkeit. Crespos Film gelingt es, unaufdringlich und doch nah zu sein, und meist widersteht er der Gefahr, in kitschige Romantisierungen abzugleiten.

So fließt Lo que lleva el río dahin wie ein ruhiger Fluss. Nicht umsonst kommt der Fluss im Titel vor, denn das Wasser ist allgegenwärtig im Orinocodelta. Es ist ein leiser Film mit einer sanften und nahen, fast zärtlichen Kamera. Er gibt Zeit für eine Kindheit, ein Erwachsenwerden, Träumen, Kämpfen, Leiden, Trauern und Versöhnung. Zeit für die Entstehungsmythen und Kosmovisionen der Warao, die von einer Generationen zur nächsten übertragen werden. „Es ist gut die Wolken zu kennen und sie zu lesen“, lernt Dauna als kleines Kind und so auch ihre Tochter Waniku.

Der Film zeigt, dass es immer eine Möglichkeit gibt zu wählen. Es geht mehr um eine Frau an sich, als um eine indigene Frau, erklärt Mario Crespo. Das persönlich beschriebene Dilemma zwischen der Liebe zu ihrer Kultur und dem Festhalten an Traditionen und dem Wunsch, sich zu verändern, zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film. Er zeigt, dass es nicht darum geht, eine Kultur zu konservieren. Es geht um das Recht sich zu verändern und zu wachsen, ohne deshalb das „Fortwährende“ aufgeben zu müssen. Es geht Dauna darum, das zu Vergessene und das Ewige zu vereinen. „Ich bin froh zu sehen, dass dich nichts gestoppt hat“, sagt Daunas Vater bei ihrer Rückkehr ins Dorf.

„Lasst uns das System verändern, nicht das Klima”

„El pueblo unido, jamás sera vencido“ („Das einige Volk wird nie besiegt werden“) – Laut und bunt, mit Trommeln, Tanz und Gesang zieht der Demonstrationszug zur Verteidigung der Mutter Erde durch Lima. Endpunkt ist die nach Perus historischem Befreier benannte Plaza San Martín. Hier soll heute die Mutter Erde befreit werden, von den drohenden Folgen des Klimawandels und dem dafür verantwortlichen Kapitalismus.
Der Himmel über Lima spannt sich weit und blau über der anwesenden Menschenmenge. 5.000 sind zusammengekommen, um an der Gran Marcha, dem Protestmarsch im Zentrum der peruanischen Hauptstadt, teilzunehmen. Der Marsch ist das Herzstück des viertägigen „Gipfel der Völker“, der vom 8. bis 11. Dezember in Lima parallel zur offiziellen UN-Klimakonferenz (COP20) stattfand und auf die Dringlichkeit des globalen Klimaschutzes aufmerksam machen soll. Auf Postern und Plakaten ziehen Evo Morales, Ché Guevara und Máxima Acuna vorüber. Acuna ist eine heldenhafte Bäuerin aus der Region Cajamarca, wo dem Landgrabbing durch ein Megabergbauprojekt Widerstand geleistet wird. „Es nuestro clima, no tu negocio – la tierra no se vende, la tierra se defende“, fordern die Teilnehmenden lautstark: Unser Klima ist nicht dein Geschäft – die Erde wird nicht verkauft, sondern verteidigt. Eine Gruppe von Bäuerinnen aus Puno singt „Wir sind ein Fluss, nicht nur bloße Tropfen“ und andere tragen vor sich ein Plakat mit der Aufschrift „Aus einem Samen wächst ein Wald“. Viele regionale Gruppen aus den peruanischen Provinzen sind angereist, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Wir müssen Zeichen setzen“, sagt eine junge Frau aus der peruanischen Amazonasregion, „auf der offiziellen Klimakonferenz geschieht ja nichts“. Eine Gruppe von Studierenden, bunt bemalt und als Blumen verkleidet, legt auf der Plaza San Martín ihr Plakat auf den Boden. Die Aufschrift: „Sie wollten uns unter die Erde bringen, aber sie wussten nicht, dass wir Samenkörner sind.“
Die große Stärke des Parallelgipfels liegt darin, die unterschiedlichen Gruppierungen, sozialen Bewegungen und NGOs zusammenzubringen. „Hier müssen wir uns vereinigen und mit einer Stimme sprechen. Nur dann können wir wirklich etwas verändern“, sagt Johanna aus Frankreich, die angereist ist, um für Proteste in Paris nächstes Jahr zu mobilisieren, wo der COP21 stattfinden wird, die nächste entscheidende UN-Klimakonferenz.
Seit 2005 gibt es den Cumbre de los Pueblos in Lateinamerika. Die fast jährlich stattfindende Veranstaltung hat zum Ziel, zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen zusammenzubringen, auf soziale und ökologische Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen und – ähnlich wie beim Weltsozialforum – den Neoliberalismus mit seinen Unterdrückungsmechanismen anzuprangern. In diesem Jahr geht es um den Klimawandel, für den das aktuelle neoliberale, auf ständiges Wachstum ausgerichtete Entwicklungsmodell als Hauptursache verantwortlich gemacht wird. „Lasst uns das System verändern, nicht das Klima!“ lautet daher die nicht zu überhörende Parole. Die auf der Weltklimakonferenz diskutierten Möglichkeiten von Schutzstrategien angesichts des Klimawandels halten die Organisator*innen des Parallelgipfels für nicht ausreichend. Eine Green Economy und die Privatisierung der natürlichen Ressourcen der Erde mit dem Zweck, sie als Waren auf den Markt zu bringen, kritisieren sie als eine gefährliche Entwicklung. Die Teilnehmer*innen fordern wirkliche Lösungen für das Problem des Klimawandels. Auf dem Gipfel werden daher konkrete Alternativen zum System des Neoliberalismus und Kapitalismus so wie Postextraktivismus, Buen Vivir, Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit diskutiert.
Peru ist eines der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder. Die bäuerliche und indigene Landbevölkerung spürt die Veränderungen am härtesten. „Eine ehrliche Anpassung an die durch den Klimawandel verursachte Lage wäre die konsequente Unterstützung der familiären Landwirtschaft und der Ernährungssouveränität“, so eine Kleinbäuerin aus der Region Ancash. In Peru zeigt sich die Regierung allerdings alles andere als unterstützend für die Belange der Landbevölkerung. Der Bergbausektor wird gestärkt, die Landrechte werden unterminiert.
„Es lebe die Mutter Erde!“ steht auf einem Schild, getragen von zwei Bäuerinnen aus der Sierra – der Andenregion. In der andinen Lebenswelt nimmt die Pachamama, die Mutter Erde, eine zentrale Rolle ein. Die Erde gibt alles, was die Menschen zum Leben brauchen: Land, Wasser, Nahrung. Auf einer begleitenden Agrarausstellung lassen sich die Schätze der Erde mit den Händen greifen, wie verschiedenste Mais- und Quinoa-Sorten. Die Pachamama gilt als unantastbar. Umso härter trifft es gerade die ländliche Bevölkerung Perus, mitansehen zu müssen, wie transnationale Unternehmen mit der Zustimmung von Regierungen das Land ausbeuten.
Während einer Paneldiskussion spricht Lourdes Huanca, Vorsitzende von FENMUCARINAP, einer peruanischen Frauenrechtsorganisation. „Der Bergbau zerstört unser Leben auf dem Land und das Leben der Frauen. Wir sind hier auf dem Gipfel, um mehr Allianzen mit anderen sozialen Bewegungen zu knüpfen“. Lourdes Huanca ist eine charismatische Frau mit rundem Gesicht, buntem Hut und funkelndem Blick. Sie weiß wofür und wie sie kämpft: „Mit Prinzipien und Überzeugung gegen die Ausbeutung unseres Landes und gegen die Kriminalisierung von sozialen Protesten“. Sie fordert mehr Rechte für Bäuerinnen, das Recht auf Ernährungssouveränität und auf ein würdiges Leben auf dem Lande.
Als der Alternativgipfel am Montagabend mit einer Zeremonie und Ehrung der Madre Tierra begann und mit einigen Worten der Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán, eröffnet wurde, konnte man bereits erahnen, dass die nächsten Tage ereignisreich, aber auch friedlich ablaufen würden. Die Stimmung im Parque de la Exposición, wo der Alternativgipfel in den darauffolgenden Tagen stattfindet, ist heiter. Das liegt möglicherweise nicht nur am frühsommerlichen Wetter, sondern vielleicht auch an dem bisher recht konstruktiv verlaufenden COP 20, der weniger Zündstoff bietet als auf vergangenen Klimakonferenzen in Warschau oder Kopenhagen.
„Wir sind alle hier, um für mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen“, sagt Marco, ein Aktivist aus Lima. Im Hintergrund protestiert eine Gruppe gegen die umstrittene Erweiterung der Goldmine Yanacocha in der Region Cajamarca. Künstler*innen, Aktivist*innen und Passant*innen sind hier versammelt. T-Shirts werden bedruckt und große Fahrräder zusammengebaut. Vor einem Brunnen wird mit Reis und Früchten ein Bild von einem Baum ausgelegt. Währenddessen finden in den verschiedenen Zelten und Räumen Vorträge statt, es gibt Foren, Workshops und Musik. Alberto Acosta aus Ecuador (ehemaliger Minister für Energie und Bergbau) und Eduardo Gudynas (Professor) aus Uruguay diskutieren über eine postextraktivistische Gesellschaft. Im Pressezelt überträgt Radio Cumbre Live-Interviews mit Anwesenden aus Politik und sozialen Bewegungen. Erst spricht Nicaraguas Umweltminister Augusto César Flores Fonseca, dann folgt ein Gespräch mit einer peruanischen NGO über die Gefahren des Fracking im Amazonas-Gebiet. Nebenan tippen Blogger*innen und Presseleute in ihre Laptops, fotografieren und notieren.
Der Gipfel bietet einen von Regierungen und dem Privatsektor unabhängigen Raum für Dialog und Aktionen der sozialen Bewegungen und der indigenen Völker, die hier ihre Erfahrungen, Probleme und Vorschläge zum Vorgehen gegen den Klimawandel austauschen. Das gemeinsame Ziel ist, Druck auf die Entscheidungsträger des COP20 auszuüben, darauf hinzuarbeiten, dass die Kritik und Stimmen der Zivilgesellschaft in den offiziellen Verhandlungen der Konferenz berücksichtigt werden.
Es ist ein wichtiger Moment, die Gelegenheit, Stimmen der unterschiedlichen Gruppierungen in Peru bzw. ganz aus Lateinamerika und darüberhinaus zu vereinen. Das ist nicht einfach. Gerade im Gastgeberland sind die sozialen Gegenbewegungen stark fragmentiert. So gilt es, starke Allianzen zu schließen, die auch nach dem Gipfel Bestand haben können im gemeinsamen Kampf um Rechte und den Erhalt der Madre Tierra. Auf dem Parallelgipfel manifestiert sich der Wille nach Veränderung, die Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist. Die Teilnehmer*innen eint das Bewusstsein, auf die gegebene „eine Welt“ aufpassen zu müssen, da sonst die Folgen der Ausbeutung und Zerstörung irgendwann nicht mehr aufzuhalten sind. Auch nicht mit gutgemeinten Klimakonferenzen.

Wasser ernten mit den Berggeistern

„Die Wissenschaftler sagen, es liegt daran, dass die Erde immer wärmer wird. Ich glaube, es liegt daran, dass wir uns mit der Bibel in der Hand von den Apus, unseren Geistern, abgewendet haben“, fasst Marcos Mejia Vilca seine Sicht über den Grund des Klimawandels zusammen. Dann nimmt er getrocknete Koka-Blätter und frische Nelken und lässt sie vorsichtig in ein Wasserloch gleiten. Die Opfergabe in 4300 Meter Höhe soll den Apu des Wasserrückhaltebeckens Tapacchocha milde stimmen und dafür sorgen, dass er den Bauern und Bäuerinnen auch in Zukunft Wasser für ihre kargen Weiden schickt.
Peru ist eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Vom 1. bis 12. Dezember fand in der Hauptstadt Lima die 20. Weltklimakonferenz statt. Umweltschützer*innen hoffen, dass die 194 Vertragsstaaten sich dort auf die Grundzüge eines neuen Klimaabkommens einigen, das in diesem Jahr beim Gipfel in Paris beschlossen werden soll. Marcos Mejia Vilca kann nicht so lange warten. Der Mann, dem die Apus im Traum erschienen sind, spricht lieber direkt mit den Geistern.
„Früher war die Hitze nicht so heiß und die Kälte nicht so kalt. Es regnete mehr, wir wussten genau, wann die Wolken Wasser bringen, und der Hagel zerstörte nicht unsere Ernten. Eis und Schnee auf den Bergen speisten die Bäche. Aber heute ist das Wetter verrückt. Es wird immer schwieriger, hier zu überleben“, sagt der Mann, der sich noch an den steten Wechsel von Regen- und Trockenzeiten erinnern kann. Der maestro del agua (Wassermeister) sagt, er sei 60 Jahre alt, auch wenn sein von der grimmigen Kälte und der erbarmungslosen Sonne gegerbtes Gesicht auch das eines Achtzigjährigen sein könnte.
Vilca hat gelernt zu den Apus zu sprechen, karge Felder an steilen Hängen zu bestellen und Alpakas, Lamas, Schafe und Ziegen auf kargen Gebirgswiesen zu hüten. Um trotz des Klimawandels in den Anden überleben zu können, unterstützte die seit 20 Jahren aktive, lokale Hilfsorganisation Bartolomé Aripaylla (ABA) ihn und sein Dorf, das Wasserrückhaltebecken Tapacchocha zu bauen. In Quechua, der Sprache der indigen Andenbewohner*innen, heißt Tapacchocha „Nest des Wassers“. Dieses und 70 weitere von ABA errichtete „Wassernester“ helfen jetzt, die vom „verrückten Wetter“ verdörrten Berghänge wieder in saftige Weiden und fruchtbare Äcker zu verwandeln. Auf diesen wächst das Andengetreide Quinoa, die aus dem Hochgebirge stammenden Kartoffeln, Erbsen, Bohnen und Zwiebeln. Wer in der dünnen Luft einen Gipfel besteigt, sieht, dass die Hänge, die vor einigen Jahren noch braun waren, jetzt unterhalb der silbrig glänzenden Wasseraugen wieder grün sind.
Die Kleinbauern und -bäuerinnen in den peruanischen Anden haben den Klimawandel nicht verursacht und können ihn nicht aufhalten, doch sie leiden besonders heftig unter ihm. Einige von ihnen haben im Radio gehört, „dass die Fabriken in den großen Ländern das Wetter verrückt gemacht haben“. Manche glauben, dass die vielen Erdbeben in den Anden die Erdachse und damit das Wetter aus dem Lot gebracht haben. Andere vermuten, dass sie mitverantwortlich dafür sind, dass mittlerweile weder Kalender noch die Blüte der Kakteen anzeigen können, wann es Zeit ist, die Saat auszubringen.
„Wahrscheinlich straft Gott die Menschen dafür, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben“, vermutet Máxima Fernandes. Die 47-Jährige kann sich noch gut daran erinnern, dass zwischen 1980 und 1995 die maoistische Terrororganisation Leuchtender Pfad und die damalige Regierung Massaker unter den Andenbevölkerung anrichteten. Rund 70000 Menschen bezahlten den Terror mit ihrem Leben. In der armen Provinz Ayacucho, in der Máxima ihre Felder bestellt, gab es die meisten Opfer. „Hinzu kam, dass wir mit chemischem Dünger und Gift das Gleichgewicht der Natur durcheinander gebracht haben“, glaubt die Mutter von sieben Kindern. Als ihre Tochter Mariluz geboren wurde, geriet das Wetter aus dem Takt. So erinnert sich die Bäuerin. Mariluz ist heute 23 Jahre alt. Ob es die von Gott verhängte Strafe oder der vom Mensch verursachte Klimawandel ist – die Folgen sind die gleichen. Weniger Niederschlag und immer extremeres Wetter. Seitdem das Klima sich änderte, war die Landwirtschaft in über 3500 Meter Höhe ein steter Kampf ums Überleben, und von der Regierung in der fernen Hauptstadt Lima gab es kaum Unterstützung. Máxima drückt es so aus: „Wir waren vergessene Leute, und das Leben war nicht rosig.“
Doch mit einer Rückbesinnung auf jahrhundertealte, doch während des Bürgerkrieges verloren gegangener Weisheiten, unterstützt die Hilfsorganisation ABA die Bauern und Bäuerinnen mittlerweile bei der Anpassung an den Klimawandel. Eine der wiederentdeckten Techniken ist das „Säen und Ernten von Wasser“. Schon die Inkas verstanden Wasser als lebendige Materie, die man hervorlocken kann. Mit madres del agua (Mütter des Wassers) genannten Pflanzen, die das Wasser mit ihren langen und schwammartigen Wurzeln an die Oberfläche ziehen sollen, Terrassierungen, alten Saaten, ausgeklügelten Bewässerungstechniken, natürlichem Dünger und ABA gelingt es Máxima Fernandes mittlerweile wieder, sich und ihre Kinder von ihren Feldern zu ernähren. Doch Hilfsorganisationen wie ABA können nicht überall sein. In einem kleinen Dorf drei Geländewagen-Stunden nordöstlich der Touristenstadt Cusco sind sie nicht. Ohne die Unterstützung von Landwirtschaftsexpert*innen versucht Florencio Tunquipa Casilla dort seinem eineinhalb Hektar großen Feld auf 3800 Meter Höhe genug für sich und seine sechs Kinder abzuringen. Vor neun Monaten verlor er seine ganze Kartoffelernte durch scharfen Frost. Auch Casillas Vater und Großvater waren Bergbauern. Doch so eine eisige Kälte vor der Erntezeit haben sie nie erlebt. „Früher war es einfacher, hier zu leben. Heute macht das Wetter es fast unmöglich“, erzählt der verzweifelte Bauer vor einem eingestürzten Lehmhaus. Casilla kannte die Leute, die darin lebten. Weil die Ernten immer schlechter ausfielen, flohen sie vor einigen Jahren in die Stadt. Auch Casilla versuchte, sich dort durchzuschlagen, doch weil es in den peruanischen Städten mittlerweile Abertausende Klimaflüchtlinge gibt und der Bauer nur drei Jahre zur Schule ging, fand er kaum Arbeit. Nach acht Jahren kehrte er auf sein inzwischen noch stärker ausgedörrtes Feld zurück.
In Peru produzieren Kleinbauern und -bäuerinnen wie Casilla 80 Prozent der im Land konsumierten Nahrung. Wenn sie durch den Klimawandel immer weniger ernten, zerstört dies nicht nur ihre Existenz, sondern könnte langfristig auch die Ernährung der 30 Millionen Peruaner*innen gefährden. Noch befinden sich 70 Prozent aller tropischen Gletscher in Peru, doch die steigenden Temperaturen lassen sie immer schneller abschmelzen. Die Wasserversorgung des wüstenartigen Küstenstreifens, in dem fast zwei Drittel aller Peruaner*innen leben, wird so immer schwieriger. Zudem bedroht der Temperaturanstieg den ungewöhnlichen Reichtum an Pflanzen und Tieren im Land und macht schon heute viele Menschen krank. „Weil es immer weniger Wasser gibt, müssen wir oft dehydrierte und unter- oder mangelernährte Kinder behandeln“, sagt Luz Malpartida, Gesundheitsreferentin in der Andenprovinz Paucartambo.
Der ehemalige Umweltaktivist und jetzige Umweltminister Manuel Pulgar-Vidal versucht diesen gefährlichen Entwicklungen entgegenzuwirken, doch die in den letzten Jahren ins Straucheln geratene peruanische Wirtschaft macht seinen Job immer schwieriger. Der jahrelange Boom basierte vor allem auf der Ausbeutung von Bodenschätzen. Der schwächelnden Konjunktur versucht die Regierung jetzt unter anderem mit Absenkungen von Umweltstandards im Bergbau entgegenzutreten. Wirtschaftsschutz steht in Peru fast immer vor Umwelt- und Klimaschutz. Viele vermuten, dass der frustrierte Umweltminister deshalb nach der Klimakonferenz in Lima zurücktreten wird.
Zuvor nutzten jedoch über 80 im Netzwerk Grupo Perú COP20 zusammengeschlossene Gewerkschaftsverbände, Bauern- und Bäuerinnenorganisationen, kirchliche und indigene Gruppen sowie Umweltschutzbewegungen die größte Konferenz Perus, um Druck zu machen. Die Grupo fordert, dass alle Teilnehmerstaaten sich verpflichten, ihre Emissionen ab 2015 deutlich zu senken und die Industriestaaten als Hauptverursacher des Klimawandels ausreichende Mittel für Anpassungsprojekte in Entwicklungsländern zur Verfügung stellen.
Während bei Redaktionsschluss auf der Klimakonferenz noch um einen Kompromiss über die Grundzüge eines neuen Klimaschutzabkommens gerungen wird, gibt es auch ungeachtet der Ergebnisse viele pessimistische Stimmen. Juan Vaccari Chávez, Direktor des peruanischen Instituts für Entwicklung und Umwelt, glaubt nicht daran, dass durch die Mammutveranstaltung ein Durchbruch erzielt werden kann. „In Peru sind der Staat und die Regierung schwach und die Unternehmen stark – und viele Unternehmen wollen eine Ausbeutung der Natur ohne Rücksicht auf die Umwelt“, sagt der bekannte Aktivist. Und selbst wenn die Klimaschützer*innen am Ende der Konferenz auf dem Papier einige Erfolge vorzuweisen haben, bleibt Chávez skeptisch. Der Aktivist: „Von vorangegangen Klimakonferenzen wissen wir, dass ein großer Unterschied besteht zwischen dem, was beschlossen und dem, was umgesetzt wird.“
Geisterbeschwörer Marcos Mejia Vilca weiß nicht, was auf vorangegangenen Konferenzen beschlossen und was davon umgesetzt wurde. Doch auch er verlässt sich lieber auf seine Apus und die Wasserrückhaltebecken als auf Verträge und Lippenbekenntnisse.

„Dialog mit der Bevölkerung“

Zwölf Jahre regiert die Arbeiterpartei (PT) nun schon in Brasilien, jetzt kommen vier weitere dazu. Das Resümee in Sachen Agrarreform lautet: auf unbestimmt vertagt. Dabei war die PT doch in der Opposition immer ein wichtiger Partner der Landlosen…

Was die drei PT-Regierungen in Sachen Agrarreform geleistet haben, ist schon sehr enttäuschend. Wir sehen es als eine gesellschaftliche Niederlage an, dass eine so zentrale Forderung immer und immer wieder zurückgestellt wurde und stattdessen bis heute eine Politik der Kompensation betrieben wird, die versucht, punktuell Konflikte zu entschärfen. Es war hart, mit anzusehen, wie zugleich viele Bündnisse mit der Agrarindustrie geschlossen wurden.

Trotz aller Kritik hat diese Politik der Kompensation einiges bewegt. Vor 20 Jahren galten 15 Prozent der Bevölkerung als unterernährt, heute sind es weniger als zwei Prozent. Sind diese Veränderungen auch in ihrem Bundesstaat Pará zu spüren?

Natürlich gab und gibt es viele Initiativen und Programme, die die Not der Landbevölkerung gelindert haben. Hier in der Amazonasregion jedoch sind der staatliche Wohnungsbau und das Elektrifizierungsprogramm „Strom für alle“ hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zudem sollte die gesamte Landbevölkerung auch Zugang zu Bildung haben und davon sind wir noch weit entfernt.

Die Landlosen sind weiterhin auch gewaltsamen Angriffen ausgesetzt. Im September wurde in Pará der Landarbeiter Jair Cleber dos Santos von Großgrundbesitzern erschossen.

Die Gewalt ist ein historisches und strukturelles Problem der Amazonasregion und des Nordostens. Wichtig ist jedoch auch zu verstehen, dass sich die Konfliktlinien verschoben haben. Durch die Aktivitäten von multinationalen Konzernen wie Cargill, aber auch wegen der wachsenden Biospritproduktion des staatlichen Unternehmens Petrobras, wächst in der Region der Druck auf die Landlosen und ebenso auf indigene und andere traditionelle Gemeinden. Und durch die Förderung dieser Investitionen trägt die Regierung zur Intensivierung der Landkonflikte bei.

Die MST begann ihre Aktivitäten unter dem Motto „Landbesetzungen sind die einzige Lösung“. Heute vertritt sie weitergehende Forderungen für eine nachhaltige Landwirtschaft. Wie soll die aussehen?

Eine Agrarreform im klassischen Sinne ist mit dem kapitalistischen Entwicklungsmodell unseres Landes unvereinbar, das vor allem auf den Export von Mineralien und Agrarproduktion setzt. Brasiliens makroökonomische Einbindung in den Weltmarkt läuft einer Umverteilung auf dem Land zuwider und allein werden wir diesen Konsens nicht aufbrechen können. Eine Agrarreform kann unter den aktuellen Bedingungen nur gelingen, wenn wir es schaffen, auch die Mittelklasse, die urbanen Schichten, Intellektuelle und Studierende dafür zu gewinnen. Die monokulturelle Orientierung der Landwirtschaft zu überwinden und nachhaltige Produktionsweisen zu entwickeln, die unterm Strich eine gesündere Versorgung aller garantieren, kann dabei ein Schlüssel sein. Wir fordern eine nachhaltige Produktion in Kooperativen, ohne Pestizide, aber unter Nutzung technischer Innovationen. Die Camps der MST sind heute die Laboratorien agroökologischer Alternativen (auf den sogenannten acampamentos, siedeln landlose Familien auf besetztem Land und bewirtschaften und verwalten dieses im Rahmen einer Produktionsgemeinschaft, Anm. d. Red.)

Trotz der Kritik scheint die PT paradoxerweise noch der verlässlichste Partner im brasilianischen Parteienspektrum, oder wäre die frühere Umweltministerin Marina Silva, die für die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) für die Präsidentschaft kandidierte, doch eine Alternative gewesen?

Marina Silva war sicherlich eine Alternative, aber sie war für uns nicht wählbar. In ihrer Partei gibt es starke Fürsprecher der Agrarindustrie, was unweigerlich zu Widersprüchen führt. Marina Silva ist eine integre Person und ich denke, persönlich sieht sie, genauso wie die Präsidentin Dilma Rousseff, soziale Bewegungen als potenzielle Verbündete. Aber ihre Partei ist ein Haufen von Opportunisten.

Die MST gehörte zu den Initiatoren, die eine Volksbefragung vor der Wahl unterstützten, die in ihrem Ergebnis tiefgreifende politische Reformen forderte. Was ist darunter zu verstehen?

Die repräsentative Demokratie, so wie sie in Brasilien organisiert wird, schreibt die Ungleichheit fort. Die Wahlfinanzierung durch Privatspenden beispielsweise ist pervers. Logisch, dass für diese Unterstützung nach der Wahl Gegenleistungen fällig sind. Deshalb fordern wir, künftig nur noch öffentliche Mittel für die Kampagnenfinanzierung zuzulassen. Darüber hinaus wollen wir die repräsentative Demokratie durch partizipative Formen ergänzen. Zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen sollten künftig auch verbindliche Volksbefragungen durchgeführt werden können. Die Entkriminalisierung der Abtreibung, eine Revision des Forstgesetzes, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und eben auch eine Agrarreform – an Themen fehlt es keinesfalls.

Vielleicht aber an politischen Mehrheiten, diese Themen auf die Tagesordnung zu bringen. Die PT hat im Parlament und im Senat Sitze eingebüßt, die Präsidentschaftswahlen nur äußerst knapp gewonnen…

Diese Wahl war die schwerste für die Linke in den letzten Jahren. Festzustellen ist eine Rückkehr offener, reaktionärer Positionen in der nationalen Debatte. Der Regierung schlug bereits in den ersten Tagen nach der Wahl ein starker Wind der konservativen Rechten entgegen, die im Kongress einen wichtigen Teilsieg errungen haben. Die parteiübergreifenden Bündnisse der Agrarindustrie und religiöser Fundamentalisten sind äußerst bedenklich. Das Regierungslager ist stark geschrumpft, die Präsidentin muss nun noch mehr Geschick beim Verhandeln zeigen.

Und was wird die Verhandlungsstrategie des MST sein? Die Regierung direkt anzugreifen, um Druck aufzubauen, könnte sie weiter schwächen. Keine Forderungen zu artikulieren, könnte die PT dazu verleiten, weitere Konzessionen an Latifundisten und Agrarmultis zu vergeben.

Klar, es wird Schwierigkeiten geben. Wir müssen mit Illusionen aufräumen, mit den neuen Mehrheiten im Parlament schnelle Fortschritte erzielen zu können. Deshalb setzten wir auf die angekündigten politischen Reformen, die wir als längerfristigen Prozess verstehen. Wir müssen die PT dabei unterstützen, sich unabhängiger von politischen Parteien zu machen, die im Grunde nur wirtschaftliche Interessenverbände sind. Dafür muss die Bevölkerung an einer breiten Debatte beteiligt werden. Dilma Rousseff hat in ihrer ersten Rede nach der Wahl viel von Dialog gesprochen. Der muss auch mit der Bevölkerung stattfinden. Die Partei muss anfangen, sich wieder stärker gemeinsam mit den sozialen Bewegungen zu agieren. Dafür hat sie jetzt vier Jahre Zeit. In jedem Fall stehen uns große politische Turbulenzen bevor, aber das hat auch sein Gutes. Ich denke, politische Inhalte werden in der öffentlichen Debatte endlich wieder an Bedeutung gewinnen.

„Nur über meine Leiche!“

Was hat es mit dem Wasserkraftwerk am Pilmaiquén-Fluss auf sich?
In das Mapucheterritorium, aus dem ich stamme, fallen heute verschiedene transnationale Firmen ein. Unter ihnen die Pilmaiquén S.A., die vier Staudammprojekte am selben Fluss in Planung hat, von denen eins ein heiliges Territorium der Mapuche bedroht. Diese Invasion wird vom chilenischen Staat verschwiegen. Ich bin Repräsentantin derjenigen, die von diesem Projekt betroffen sind. Wir wollen, dass diese Vorgänge öffentlich werden und dass eine politische Lösung für dieses Problem gefunden wird.

Das Recht indigener Gemeinden, vor der Genehmigung eines solchen Projektes konsultiert zu werden, wurde also nicht respektiert?
Nein, die indigenen Gemeinden wurden bei der Genehmigung nicht konsultiert, wie es eigentlich hätte getan werden sollen. Wir waren die letzten, die Wind von diesem Projekt bekommen haben. Es wird so getan, als gebe es keine indigenen Gemeinden auf dem Gebiet. Die CONADI, eine öffentliche Institution, die eigentlich die Aufgabe hat, die Interessen der Indigenen zu vertreten, geht in Gemeinden wie Ilihue, Reinahue oder Llanquihue, wo es traditionelle indigene Autoritäten gibt, und bestimmt Vertreter, die nicht von den Gemeinden bestimmt wurden. Dadurch soll die Mapuchebevölkerung gespalten werden.
Die CONADI setzt sich für die Unternehmen ein, was nicht so sein sollte. Dabei wird die Organisation in ihrem Handeln durch die bestehende Verfassung der Diktatur behindert. Unsere indigenen Autoritäten in den Gemeinden werden weder konsultiert noch respektiert.

Und im Moment organisieren Sie sich gegen diese Wasserkraftprojekte?
Wir sind schon organisiert! Diese Projekte laufen schon seit langem und wir haben es geschafft, dass die Firma acht Jahre lang nicht bauen konnte. Jetzt sind wir in einer finalen Etappe, zwischen September und Januar wird gebaut. Was heute auf dem Spiel steht, ist die Spiritualität der Mapuche. Unser Land und unsere spirituellen Stätten werden überfallen. Das Problem ist, dass dieses Entwicklungsmodell weder für uns Menschen noch für die Umwelt gesund ist, sondern selbstzerstörerisch und individualistisch. Und dieses Modell wird mit Hilfe von Repression gegen alle Widerstände durchgesetzt. Was wir fordern, ist Gerechtigkeit für die indigenen Völker, aber auch, dass einfach die Gesetze angewendet werden.

Welche Repression hat es schon gegeben?
Es gibt Hausdurchsuchungen, Kinder werden festgenommen und in Handschellen gesteckt, Frauen und alte Leute werden verprügelt, Leute werden von Projektilen der Polizei verletzt. Sie suchen Waffen, wo es keine gibt. Leute werden ungerechtfertigterweise angeklagt, wie der Machi Celestino Córdova, eine spirituelle Autorität, der als Terrorist verurteilt wird, weil er angeblich ein Ehepaar, Großgrundbesitzer, ermordet haben soll, was aber nicht bewiesen werden kann. Sie haben Gemeinden angegriffen und besetzt. Leute mussten über Monate im Freien leben, sich von Beeren ernähren, weil sie, wenn sie zu ihren Häusern zurückgegangen sind, verprügelt wurden. Die Proteste der Mapuche werden kriminalisiert, die Forderungen nach Land werden kriminalisiert. Was würde denn passieren, wenn alle Leute wüssten, dass wir Gerechtigkeit fordern und dass sich die Situation unseres Territoriums klärt? Man muss sich das vorstellen: Erst überfallen sie dein Haus und hinterher wollen sie dir dein eigenes Haus verkaufen! Für uns ist das respektlos. Wir hatten unendliche Geduld, aber das geht nicht mehr.

Warum ist es so wichtig, diese heiligen Orte zu beschützen?
Zum einen, weil es fast keine mehr gibt. Zum anderen wissen wir, was die Folgen sind, wenn es diese Orte nicht mehr gibt: Depression und Loslösung von deiner Kultur. Und mit dem Verschwinden der Kultur verlieren wir auch unsere Spiritualität. Sie ist das Wichtigste, was wir haben. Ohne Spiritualität gibt es keine Identität. Und das verteidigen wir: Die Identität von uns Mapuche. Und diese ist ist mit den spirituellen Stätten verbunden. Es ist eine andere Form uns zu verteidigen, Widerstand zu leisten. Wir haben die Pacificación (die militärische Eroberung des Mapucheterritoriums durch den chilenischen Staat zwischen 1861 und 1883; Anm. d. Red.), die Missionierung durch die katholische Kirche ausgehalten. Aber heute dekolonisieren sie und diese Dekolonisierung braucht Territorium.

Was ist dafür noch notwendig?
Schulen! Die Schule hat nie aufgehört zu kolonisieren. Es gibt keine Mapucheschulen. Es gibt keine interkulturelle Bildung. Und wenn von interkultureller Bildung gesprochen wird, ist damit gemeint, dass die chilenische Gesellschaft die Mapuche assimiliert. Der Staat meint, den Mapuche sagen zu können, wie ein Mapuche zu sein hat und ob du Mapuche bist oder nicht. In den Mapuchegemeinden gibt es nur chilenische Schulen und der Staat forciert das weiter, weil er kein Interesse daran hat, dass wir uns unsere eigene Kultur beibringen und erkennen wer wir sind, denn dann hätte er ein noch größeres Problem als er es jetzt schon hat. .

Denken Sie, dass sich die Situation für die Mapuche verändern wird?
Ja, auf jeden Fall, ob im Guten oder im Schlechten, weiß ich nicht. Aber ich denke, dass wir gegen das Wasserkraftwerk gewinnen werden, daran habe ich immer geglaubt. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie es bauen werden. Nur über meine Leiche! (lacht) Und von da an werden wir Schritt für Schritt weiter arbeiten. Aber dafür brauchen wir auch die Unterstützung derjenigen, die keine Mapuche sind.

Umkämpftes Haus

Buntes Campleben herrscht vor dem Haus mit der Adresse Academia 9 mitten im Historischen Zentrum von Mexiko-Stadt. Seit dem 17. Juli sind hier rund um die Uhr Frauen anwesend, die den indigenen Gruppen der Mazahua, Zapoteco oder Mixteco angehören. Sie kochen, plaudern und verkaufen die auf dem Gehweg unter Planen aufgestellten Textilwaren. Aber vor allem bewachen sie das Haus vor Eindringlingen, die sich gewaltsam Zugang zum Gebäude verschaffen und es in Beschlag nehmen könnten. Mittendrin steht Cristina López Lavrian. Seit 29 Jahren ist sie in dem Wohnprojekt aktiv, um für das Eigentumsrecht der Bewohner_innen und gegen eine polizeiliche Räumung zu kämpfen. „Wir haben nicht dafür gekämpft, um Millionäre zu werden. Wir haben für die würdige Zukunft unserer Kinder gekämpft“, sagt die 53-Jährige in selbstbewussten Ton.
Das betroffene Gebäude ist gleichermaßen ökonomisch als auch architektonisch und historisch ein Schmuckstück. Im 17. Jahrhundert erbaut, haben die Turbulenzen der mexikanischen Geschichte zwar Spuren hinterlassen, dennoch ist es relativ gut erhalten. Heute sogar unter Denkmalschutz. Mit seiner Lage nur eine Straßenecke vom präsidentiellen Nationalpalast entfernt, strahlt das Objekt eine besondere Anziehungskraft für viele Interessierte aus.
Angefangen hat alles im Jahr 1985, erzählt Cristina López. Damals, kurz nach dem großen Erdbeben, welches viele Teile der Stadt verwüstete und abertausende Menschenleben gekostet hat, entschieden sich die Bewohner_innen der Academia 9 den willkürlichen Mieterhöhungen des Verwalters nicht mehr nachzugeben und fortan kein Geld mehr zu zahlen. Unterstützung fanden sie dabei bei der Asamblea de Barrios (Stadtviertel-Versammlung), die sich in den Tagen der Tragödie konstituierte. Diese war als organisierte Gegenantwort der Zivilgesellschaft und vor allem der ärmeren Klassen auf die Unfähigkeit der damaligen mexikanischen Regierung auf die Katastrophe angemessen zu reagieren. Die Menschen der Asamblea boten den Bewohner_innen des Wohnprojekts nicht nur technische und juristische Beratung, sondern beteiligten sich auch am gemeinsamen Wacheschieben vor dem Gebäude, um eventuellen Räumungsversuchen entgegentreten zu können.
Malena, eine Compañera von Cristina López, die in einem nördlichen Teil der Hauptstadt verschiedene Wohnprojekte betreut, erinnert sich an die Zeit. Ihre damals 23-jährige politische Weggefährtin beherrschte damals die spanische Sprache nur mäßig, einer gemeinsamen politischen Koordinierung stand dies jedoch nicht im Wege. Cristina ist eine Mazahua-Indigene, die Schule besuchte sie nur zwei Jahre lang. Nach ihrer Ankunft in der Megastadt lernte sie nach und nach Spanisch sprechen und ihre Angst abzulegen: „Frau zu sein und dazu noch eine indigene ist sehr schwierig. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet“, resümiert sie. Heute strahlt sie vielmehr das komplette Gegenteil aus.
Danach begannen die Auseinandersetzungen mit den mexikanischen Behörden. Die Bewohner_innen strebten die gesetzliche Enteignung des Grundstückes an, um legal dauerhaft bleiben zu können. Erst viele Jahre später, am 26. Dezember 2002, entschied ein Gericht schließlich auf Enteignung und sprach das Haus dem Institut für Wohnungswesen von Mexiko-Stadt (INVI) zu, um so den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Doch Cristina López, die als Sprecherin des Wohnprojektes fungiert, traf in ihren Auseinandersetzungen nicht nur auf bürokratische Hürden. Ihre Geschichte könnte ohne Probleme als Blaupause für ein umfangreiches Repressionsrepertoire herhalten: 1994 wurde ihr Pick-up geklaut und sie wurde Opfer einer mehrstündigen Entführung. Dahinter steckte, so ihre Vermutung, der ehemalige Eigentümer, da gefordert wurde, das Wohnbauprojekt auf Eis zu legen. Bis heute versucht dieser das Haus wieder in seinen Besitz zu bringen, was rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Die folgenden Jahre sollten nicht anders werden. Von unbekannten Männern wurde sie verprügelt, erhielt Morddrohungen. Ihre Kinder standen plötzlich im Zielkreuz der Aggressoren und kurz darauf wurde ein Cousin von ihr ermordet aufgefunden. „Dreimal haben sie mir Geld angeboten: ‚Ich gebe dir die Millionen, die du willst‘ haben sie zu mir gesagt, ohne aber ihre Identität zu enthüllen“, berichtet sie. Aber, so López mit aufflammendem Blick, „das gab mir nur noch mehr Kraft. Sie haben mich noch wütender gemacht, um meine Rechte und die meiner Compañeras für ein würdiges Wohnen zu verteidigen.“
Die Antwort auf die Frage, warum es zu all dieser Gewalt kam, liegt in der Besonderheit des Historischen Zentrums begründet. Von der UNCESO im Jahr 1987 zum Weltkulturerbe deklariert, ist jenes seit geraumer Zeit Schauplatz umfassender Restrukturierungs- und Privatisierungsprozesse. Viele Straßen, die Richtung Zócalo führen, dem zentralen Platz der Stadt, sind heute lukrative Einkaufsstraßen. Die Kommerzialisierung des Historischen Zentrums befördert auch die Segmentierung des öffentlichen Stadtbildes: die in Mexiko-Stadt regierende Partei der Demokratischen Revolution PRD hat es in den letzten Jahren durch breit angelegte Polizeioperationen immer mehr geschafft, den informellen Handel zu unterbinden und zurückzudrängen, der vormals die Straßen um den Zócalo prägte. Die Adresse Academia 9 könnte daher für Kapitalinteressen nicht besser liegen. Das Gebäude ist buchstäblich „Gold wert“, wie López feststellt, und weckt Begehrlichkeiten: „ Die Leute sagen, diese Indianerin verdient das Haus nicht; aber ja, ich verdiene es, ich bin eine Indigene, ich bin Mexiko, ich bin die Mutter Erde, ihr
Schweine.“
Nach der Enteignung musste fast ein weiteres Dutzend Jahre verstreichen, bis der nächste Schritt erfolgte. Das INVI forderte die Bewohner_innen auf, das Haus zu verlassen und drohte mit Räumung, da es dringend saniert werden müsse. Doch den Bewohner_innen gelang es einen Deal auszuhandeln. Das INVI hat 12 Monate Zeit, das Haus umfassend zu restaurieren – im Gegenzug verlassen die Bewohner_innen das Haus freiwillig und erhalten es anschließend zu dauerhaften Nutzung. Doch offenbar traute das INVI dem Frieden nicht, denn zu einer großangelegten Räumung kam es trotzdem. Im Morgengrauen des 17. Juli dieses Jahres wurden an die 1000 Polizist_innen angekarrt. Durch das Haupttor verschafften sie sich Zugang in den Innenhof; über die naheliegenden Dächer und durch das Abseilen aus Helikoptern stiegen sie von oben ein. Fast konnte der Verdacht aufkommen, es handelte sich hierbei um eine groß angelegte Razzia gegen das organisierte Verbrechen. 500 von der Polizei angeheuerte Helfer_innen brachen die Wohnungen und Lager derjenigen Familien auf, die zum Zeitpunkt nicht anwesend waren. Deren Waren und persönlichen Gegenstände wurden allesamt auf einen Haufen in den Innenhof geworfen und dann abtransportiert. Die eigentlichen Besitzer_innen haben von ihren Habseligkeiten seitdem nie wieder etwas gehört; böse Stimmen munkeln, dass sie die Polizei verkauft haben soll.
Eine gewaltsame Räumung war es dennoch nicht gewesen, es gab ja auch das Abkommen: „Wir wollten keine Gewalt; es gab Kinder und Familien“, fügt Cristina López hinzu, lässt aber im gleichen Atemzug verlauten, dass es schon zweimal einen Versuch der gewaltsamen Räumung gab. Beide Male jedoch ohne richterlichen Beschluss. Polizist_innen und Regierungsfunktionär_innen waren angerückt um das Grundstück in Beschlag zu nehmen. Vermutlich, so die Aktivistin, vom ehemaligen Eigentümer beauftragt und bezahlt. Doch es wurde Widerstand geleistet und die Räumungen konnten verhindert werden.
Die neueste Entwicklung wird von Cristina, Malena und vielen anderen als Erfolg gewertet, wenn auch nicht alle 65 Familien die ursprünglich in der Academia 9 wohnten bzw. ihr Geschäft dort hatten, auch dorthin zurückkehren dürfen. Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass sich nicht alle zuvor als Bewohner_innen des Gebäudes im Institut für Wohnungswesen gemeldet hatten. Andererseits schaffte es der ehemalige Besitzer, das Wohnprojekt in sich zu spalten und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Ein Gespräch mit einer Sprecherin eines anderen Wohnprojektes eine Ecke weiter zeigt darüber hinaus, dass die verschiedenen politischen Organisationen untereinander zerstritten sind und es deren Funktionär_innen oftmals darum geht, eigene Pfründe zu sichern – sehr zum Leidwesen und zum großen Nachteil der für Wohnraum kämpfenden Menschen. Doch ohne Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation oder Partei geht in Mexiko-Stadt wenig. Auch Cristina López ist zerknirscht deswegen. Sie an der Basis haben im Laufe der Jahre schließlich schon so manches politisches Spielfeld gewechselt: Anfangs noch bei der alten Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), waren sie nach der Geburt der PRD zu der neuen linken Alternative gewechselt. Doch auch dieser kehrten sie schließlich nach jahrelangen Enttäuschungen den Rücken und schlossen sich der Sexta an. Die Sexta, die Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald, ist das bisher letzte große und umfassende politische Statement der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), um das sich ein loser Zusammenschluss politischer Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen zusammen gefunden hat.
Cristina ist keine Frau, die ein Blatt vor den Mund nimmt. Im Gegenteil, die Erfahrung mit der Regierung lehrt sie, dass die Auseinandersetzungen noch nicht vorbei sein könnten, das INVI könnte plötzlich verlauten lassen, dass es keine finanziellen Mittel mehr gäbe und damit kein Rückkehrrecht. Sie schimpft: „Scheiß Regierung, die will nur schauen ob wir einen beschissenen Fehler machen, um das Projekt zu stoppen.“ Doch dann lacht sie wieder, und ihr schelmisch-sympathisches Lachen ist gepaart mit einer Ausdauer und einer Gewissheit, die nur bei solchen Menschen anzutreffen ist, die die Welt von unten verändern: „Manchmal haben wir nicht mal Geld fürs Essen oder den Transport, aber wir sind begeistert vom Kampf.“

Schmierige Geschäfte im Yasuní

„Seit den täglichen Explosionen haben sich die großen Tiere zurückgezogen. Wir können keine Wildschweine mehr jagen. Einzig die Fischerei ist uns geblieben, aber auch diese ist immer weniger ergiebig“, sagt Lautaro Echeverría.** Der Mittsechziger setzt sich bereits seit Jahrzehnten gegen die Erdölförderung im Lebensraum seiner Kichwa-Gemeinde ein. Mit begrenztem Erfolg: Heute sieht er sich mit ersten negativen Konsequenzen der Förderung konfrontiert.

Die Entscheidungsgewalt über die Erdölförderung in Ecuador liegt nicht nur beim Staat. Indigene Gemeinden, die seit Jahrhunderten im Yasuní leben, verfügen über Landrechte, in vielen Gebieten kann ohne ihre Zustimmung kein Öl fließen.

Unbestritten ist, dass die Gemeinde Llanchama der Erdölförderung in 11.000 ihres 27.000 Hektar großen Territoriums Ende Mai zustimmte. Einige Gemeindemitglieder berichten, dass diese Konsultationen manipulativ und einseitig waren. Ende Mai kamen sowohl Vertreter_innen der Regierung als auch von Petroamazonas nach Llanchama, um die Gemeindemitglieder von einer umweltverträglichen Erdölförderung zu überzeugen. „Unser Gemeindevorstand zeigte sich schon bald verhandlungsbereit und als Petroamazonas anbot, jeder Familie 3000 US-Dollar für die Zustimmung zur Förderung zu zahlen, dauerte es nur noch wenige Tage bis es eine Mehrheit für die Erdölförderung in unserem Territorium gab“, sagt Yana Piedra**, die einen kleinen Laden im Dorfzentrum besitzt.

Ende Mai 2014 erhielt Petroamazonas vom ecuadorianischen Umweltministerium die sogenannte Umweltlizenz für die Erdölförderung aus zwei der drei ITT-Feldern – Tiputini und Tambococha – im Yasuní Nationalpark.

Die ITT-Quellen – benannt nach den drei bei Probebohrungen entdeckten Lagerstätten Ishpingo, Tambococha und Tiputini –, wurden bereits in den 1950er Jahren entdeckt, ihre Förderung war jedoch aus technischen und infrastrukturellen Gründen lange Zeit unmöglich. Ecuadors lange Zeit instabile politische Lage mit vielen Regierungswechseln, die langfristige Projekte erschwerte, tat ein Übriges.

Unter dem seit 2007 amtierenden Präsidenten Rafael Correa haben sich die Voraussetzungen geändert. Bis 2013 verfolgte die von der Partei Alianza País gestellte Regierung die Yasuní-ITT-Initiative. Diese sah vor, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl der ITT-Quellen im UNESCO-Naturschutzreservat Yasuní zum Schutz der Natur und seiner indigenen Völker unangetastet zu lassen. Der Ausstoß von mindestens 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid sollte so vermieden werden. Die internationale Staatengemeinschaft sollte sich durch Kompensationszahlungen in Höhe von mindestens der Hälfte der erwarteten Erlöse an dieser Initiative beteiligen. Bis August 2013 kam jedoch nur ein kleiner Bruchteil der Gelder zusammen. Präsident Rafael Correa erklärte daher die Yasuní-ITT-Initiative für gescheitert und machte den Weg für die Erdölförderung frei (siehe LN 471/472).

Seit drei Monaten arbeiten 500 bis 1000 Ingenieure täglich an der Erforschung des Gebiets. Mittels seismischer Messungen wird untersucht, wo und in welcher Größe Erdöllagerstätten vorhanden sind. Bei der angewandten Methode der 3D-Seismik werden im Abstand von 50 bis 100 Metern in 20 bis 30 Meter tiefen Bohrlöchern unterirdische Explosionen durchgeführt. Die Auswertung der Schallwellen dieser Explosionen gibt Aufschluss über die Erdölvorkommen.

Diese explorativen Untersuchungen wirken sich negativ auf die sensible Umwelt aus. Bei einem Sparziergang durch ein geschütztes Waldgebiet der Gemeinde Llanchama erklärt Maicu Hurtado**: „Petroamazonas verstößt schon jetzt gegen die Verträge, die wir unterschrieben haben. Die Explosionen, die sie für ihre seismischen Messungen durchführen, bleiben nicht wie versprochen unterirdisch.“
An vielen Bäumen in diesem Gebiet finden sich Naturschutz-Hinweisschilder. „Überall hier könnt ihr 15 bis 30 Meter offene Löcher sehen. Sie klaffen wie tiefe Wunden aus dem Boden. Zum Teil tritt Öl aus. Außerdem haben die Ingenieure Plastikmüll und Kabel hinterlassen, die sie eigentlich beseitigen müssten“, sagt Maicu Hurtado**, der als Touristenführer arbeitet.

Lautaro Echeverría** erzählt, dass es in den ersten Jahren des Jahrtausends in seiner Gemeinde einen klaren Konsens gegen jegliche Erdölförderung gab. Unter der Regierung Lucio Gutiérrez (2003-2005) wurde damals erstmalig über Konzessionen um Tiputini gehandelt. „Bis letztes Jahr haben wir auf die Regierung Correa vertraut und hatten dank der Yasuní-ITT-Initiative Gewissheit über den Erhalt unseres Lebensraums. Doch seit Correa das Ende der Initiative ausrief, gab es eine Spaltung in der Gemeinde“, so Echeverría**.

Angesichts der negativen Umweltfolgen bekommen Gemeindemitglieder, die sich Jahrzehnte gegen die Erdölförderung engagierten, heute wieder Zuspruch. Die Mittsiebzigerin Silvia Vivimos** ist sich sicher: „Wir müssen den Kampf gegen die Zerstörung des Waldes für die nachfolgenden Generationen jetzt wieder aufnehmen. Ich werde es mir nicht verzeihen, wenn wir diesen Kampf verlieren.“

Die Entscheidung, die ITT-Quellen zu fördern, regt auch im Rest des Landes politischen Widerstand. Mitte September trafen sich 60 Vertreter_innen der YASunidos auf einer nationalen Versammlung um neue Strategien gegen die Erdölförderung im Nationalpark Yasuní herauszuarbeiten.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis YASunidos hatte sich unmittelbar nach der Aufkündigung der Yasuní-ITT-Initiative gegründet und bis Anfang 2014 Unterschriften für ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen gesammelt. Durch ein positives Bürger_innen-Votum per Referendum hätte die Entscheidung des Präsidenten Correas aufgehoben werden können.

Der nationale Wahlrat (CNE) erklärte jedoch mehr als die Hälfte der knapp 758.000 eingereichten Unterschriften für ungültig und erkannte nur knapp 359.000 an, womit das Mindestsoll von  knapp 600.000 Unterschriften nicht erreicht wurde (siehe LN 479). „Wir werden die Menschen, die im ganzen Land direkt vom Rohstoff-Abbau betroffen sind, weiterhin unterstützen. Die gesammelten Unterschriften für das Referendum bestätigen, dass es ein großes Bedürfnis nach Mitentscheidung über den Rohstoff-Abbau im Land gibt. Unsere derzeit wichtigste Idee ist daher, unsere Arbeit in den Provinzen auszubauen und ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen unabhängig von unserer Regierung durchzuführen“, sagt Patricio Chávez, ein Sprecher der YASunidos. „Wir werden weiter für unseren Traum einer Post-Erdölgesellschaft kämpfen“, ergänzt  Elena Gálvez, die gerade von der größten Klima-Demonstration aller Zeiten aus den USA zurückgekommen ist. Mitte September versammelten sich in New York rund 300.000 Menschen beim People’s Climate March. Gemeinsam mit zwei weiteren Delegierten der YASunidos setzte sie sich vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte für den Schutz der Unterschriftensammler_innen ein, denen derzeit zum Teil Strafverfolgung droht.
Dass die YASunidos auch auf internationale Unterstützung bauen können, zeigt ihre Nominierung für die holländische Menschenrechtstulpe, eine jährliche mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung des holländischen Außenministeriums für couragierte Initiativen, die sich auf innovative Weise für den Schutz von Menschenrechten einsetzen. Ob der Nominierung die Auszeichnung folgt, stand bis Ende des Redaktionsschlusses noch nicht fest.

** Die Namen wurden auf Wunsch der in Llanchama lebenden Personen geändert.

Traum vom Guten Leben auf dem eigenen Land

Ende September erklärte die Präsidentin der Indigenenbehörde FUNAI, Maria Augusta Assirati, ihren Rücktritt. Wie schätzen Sie diesen Schritt ein?
Sônia Bone Guajajara: Der Rücktritt erfolgte, weil sie es leid war, die Anordnungen des Justizministers, Eduardo Cardozo, mittragen zu müssen. Die Regierung hat die Konsolidierung der Indigenengebiete nicht nur gestoppt, sondern die Gebiete sogar reduziert. Hinzu kommt die zunehmende Kriminalisierung der Anführer und der Gemeinden. Kürzlich fand die Weltkonferenz der Indigenen Völker in New York statt. Cardozo verteidigte mit übelsten Argumenten das vom Staat verhängte Ausreiseverbot für den Indigenenführer Marcos Xucuru zur Teilnahme an der Konferenz. Und Cardozo selbst präsentiert sich dann in New York als großer Verteidiger indigener Rechte und hat später sogar vorgeschlagen, zum ersten Mal einen Indigenen zum Präsidenten der FUNAI zu machen. Seine wirkliche Absicht dahinter ist klar: die Demoralisierung der Indigenen Völker. Mit einer schrottreifen, gebrochenen FUNAI, ohne jegliche Autonomie, hätte niemand von uns die Bedingungen, um eine andere Arbeit zu machen und so hetzt er die Völker gegen die Indigenen auf. Er zielt darauf, die Indigenenbewegung zu spalten, weil er genau weiß, dass die indigenen Organisationen niemals die Berufung eines Indigenen in das Amt akzeptieren würde, die das Justizministerium erzwungen hat. Dies würde unzählige Konflikte unter den Völkern und den Regionen hervorrufen. Ja, wir müssen kämpfen, um die Ämter zu besetzen, aber, noch wichtiger ist es, für die Garantie einer gestärkten, strukturierten, politisch autonomen und mit finanziellen Ressourcen ausgestatteten Behörde zu kämpfen, die den verschiedenen Realitäten Indigener Territorien gerecht wird, angefangen mit der Wiederaufnahme der Demarkationen.

Wie steht es aktuell um die Situation der Indigenenbewegung in Brasilien?
Die Indigenenbewegung, sei es als Volk, als Bewegung, als Kraft, ist immer bereit zu Widerstand, bereit, Kämpfe auszutragen, bereit, zu demonstrieren, aber auch für auch angemessene und konsequente Form von Politik zu sorgen, die der Realität unserer Völker gerecht werden. Wir sind untereinander nicht immer einer Meinung, aber die Verteidigung unserer Rechte vereint uns. Insbesondere in den letzten drei Jahren hat die Bewegung sehr viel an Kraft gewonnen, als wir uns mit dem Ziel zusammen taten, die territorialen Rechte zu verteidigen. Immer schon wurden unsere Rechte verletzt, aber in den letzten Jahren hat sich der Angriff auf die territorialen Rechte der indigenen Völker brutal verstärkt. Zwar hatte es besonders ab den 90er Jahren Fortschritte gegeben im Prozess der Demarkierung von Indigenengebieten, vor allem in Amazonien. Jetzt aber ist alles total paralysiert. Die Demarkierung von Land kommt nicht voran. Im Gegenteil: 60 Prozent der Anzahl der Indígena-Gebiete, die eigentlich reguliert und verbrieft werden müssten, sind es noch nicht. Die Schande derzeit hier in Brasilien ist, dass gar kein Land demarkiert wird. Das wird direkt vom Justizministerium bestimmt, das der FUNAI sogar verbot, irgendwelche öffentlichen Erklärungen oder Verordnungen zu Landdeklarationen zu unterschreiben. Und in dieser Frage ist die Indigenenbewegung geeint und verstärkt ihre Kämpfe sowohl in den Regionen wie auf nationaler Ebene, um dieses Recht auf Territorium zu garantieren.

Das Recht auf Territorium müsste eigentlich in Demarkation von Land münden.
Das Territorialrecht ist viel mehr als ein Verfassungsrecht. Es ist ein Recht auf Ursprung. Wir haben das Recht auf die traditionell genutzten Gebiete. Was die Regierung tun müsste, ist einfach, diese zu registrieren und zu veröffentlichen, was schon Indigenengebiet ist. Es ist kein Gefallen, um den wir bitten oder der uns gewährt wird. Aus diesem Grund versuchen die indigenen Völker, die Indigenenbewegung und wir, die APIB, in die verschiedenen Regionen und Indigenengebiete im ganzen Land zu gelangen, und unsere Leute über das Vorgehen der Regierung zu informieren, damit wir alle die Situation und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Konfrontation mit dem Staat begreifen.

Mit welchen weiteren Herausforderungen haben die Indigenen zu kämpfen?
Die Herausforderungen sind immer sehr groß. Wir sagen, der wichtigste Kampf ist die Frage des Landrechts der Indigenengebiete und das war sie auch immer. Ausgehend davon diskutieren wir in der Folge alle anderen Diskussionen rund um Gesundheit, Erziehung, den Schutz der Territorien vor Invasionen und die umweltgerechte, territoriale Nutzung dieser Indigenengebiete.
Nichts ist einfach für uns. Immer ist alles verdammt schwierig. In der föderalen Verfassung werden Indigene als indigene Völker mit ihren eigenen sozialen Organisationsformen für jedes indigene Volk anerkannt. Der brasilianische Staat erlässt entsprechende Gesetze zu differenzierter Gesundheit und Erziehung, so wie wir sie praktizieren (entsprechend der indigenen lokalen Organisationsform, Anm. d. Übers). Aber in der Praxis werden diese nicht umgesetzt. Wir haben eine indigene Gesundheitspolitik, die nicht mit der Realität übereinstimmt, die die Nachfrage nicht bedient, die es nicht schafft, an der Basis anzukommen. Das Gesundheitssystem für Indigene ist eine Schande, weil es eine Situation von Hilflosigkeit und Vernachlässigung schafft. Wir können nicht verstehen, dass dieselbe Verwaltung sagt, dass Finanzen nicht das Problem sind. Aber sie schafft es nicht, für konkrete Schritte zu sorgen, um die prekäre Situation zu lösen. Es gibt nicht genügend Gesundheitspersonal unter Vertrag, um in die indigenen Dörfer zu gelangen, es gibt nicht die Struktur, um die existierende Diversität zu bedienen: Es ist eben nicht dasselbe, die indigene Gesundheitsfrage in Amazonien zu bedienen wie zum Beispiel die Gesundheit im Süden Brasilien oder im Nordosten.

Können Sie das weiter ausführen?
Jede und jeder hat seine und ihre Eigenheiten. Und die Gesundheitsbehörde für Indigene muss dem Rechnung tragen. Schon das ganze Gesundheitssystem in unserem Land bietet keine angemessene Versorgung, insbesondere fehlt es an Ausstattung, Personal und Professionalisierung. Und nun kommt hinzu, dass das Gesundheitsministerium zusammen mit dem Justiz-und Planungsministerium die Absicht bekundete, ein Institut für Indigene Gesundheit zu gründen. Nach unserem Verständnis aber bedeutet dieses Institut nicht mehr und nicht weniger als die Privatisierung des Gesundheitssystems für Indigene. Oder anders gesagt: all das Geld der Öffentlichen Hand, was jetzt schon nicht richtig eingesetzt wird, wird nun alles in den Rachen einer Privatfirma geworfen. Das ist nicht gut für uns. Wir kämpfen darum, dass der brasilianische Staat seine Verantwortung übernimmt. Er soll sich darauf vorbereiten und seine Mission erfüllen, mit der öffentlichen Gesundheit in die Gemeinden zu kommen – und nicht die Verantwortung an Dritte delegieren. Wir setzen immer noch auf die Notwendigkeit einer regionalisierten öffentlichen Ausschreibung von offenen staatlichen Arbeitsplätzen im Geseundheitssektor, damit wir in allen Regionen de facto Professionelle haben, die auch dort bleiben.

Was sind Ihre Ansichten über die Entwicklung der Indigenengebiete, die die Regierung verfolgt? Was sind Ihre Visionen?
Das Entwicklungsmodell in unserem Land ist zerstörerisch. Es ist nicht nur ausbeuterisch, es ist ein Modell der Zerstörung, ein Modell, das Personen vertreibt, das Gemeinden aus ihren Gebieten rauswirft. Es ist ein Modell, das nur auf Wirtschaftswachstum abzielt. Das ist nicht die Idee von Entwicklung, die wir uns immer vorstellen. Entwicklung bedeutet für uns, dass unsere Gebiete demarkiert und geschützt sind, und dass wir unsere Gebiete unter angemessene Bedingungen bewirtschaften.
Wir wollen mit unseren natürlichen Ressourcen, die sich in unseren Gebieten anfinden, arbeiten, ohne sie zu zerstören, und wir wollen die natürlichen Reichtümer nachhaltig nutzen, Einkommen schaffen und die Nahrungssicherung der Gemeinde sichern.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Im Moment der Demarkierung sind Indigenengebiete oft komplett zerstörtes und degradiertes Land, das zuvor von einem fazendeiro (Landwirt; Anm d. Red) besetzt gewesen war. Die Indigenen etablieren dann ein Agroforst-System, mit Fruchtbäumen, Holzpflanzen und Medizinpflanzen. Auf diese Weise schaffen die Familien eine Umwelt im Gleichgewicht, eine wiederbewaldetes Land, sie schaffen Nahrungssicherheit, was das wichtigste für eine Gemeinde ist, und noch dazu schafft es Einkommen. So bekommen sie Produkte direkt von ihrem Land zum Essen, aber auch zum Verkauf.
Die Vorstellung von Entwicklung ist genau diese, dass jedes Volk und jede Familie jedes Indigenengebiet nutzen kann, und zwar mit der eigenen Lebensart. So wollen wir unser altes Ziel erreichen: das Gute Leben auf dem eigenen Land, ohne das Land verlassen zu müssen. Die Ausbeutung unserer Indigenengebiete akzeptieren wir nicht! Wenn man unsere mit den anderen Ländereien der öffentlichen Hand vergleicht, dann sind die Indigenengebiete bewiesenermaßen die am besten erhaltenen, auch wenn sie nicht die geschütztesten Gebiete sind, weil es keine effektive Politik zum Schutz der Territorien gibt. Aber, sie sind am besten erhalten.
Wir wollen, dass die Regierung, dass Brasilien unsere existierende Diversität versteht, die Eigenheiten respektiert und die Bedingungen dafür schafft, dass wir weiter auf unsere Weise leben können. Und ohne Landgarantie können wir diese Lebensart nicht reproduzieren.

Inwieweit beeinflussen die jetzigen Wahlen Ihren Kampf?
Das ist sehr kompliziert. Wir haben ein ziemlich abgewracktes und zurückgebliebenes politisches System. Der brasilianische Staat ist nicht darauf vorbereitet, der Bevölkerung zu dienen, weil jede Regierung, auch wenn sie aus der Linken kommt, nach der Wahl Bündnisse schließen muss. Man zwar einen Präsidenten wählen kann, der ein wenig die Vision hat, dem Volk zu dienen. Doch dann gibt es den Nationalkongress, der sich am Ende in seiner Mehrheit von anderen Interessen lenken lässt, die nicht unsere sind. Die größten Interessen in diesem Land sind die politischen Allianzen, die die Kontinuität der Politiker an der Macht garantieren. Die ökonomischen Allianzen garantieren die Mittel für die Unternehmer, für die großen Produzenten, für die Großfarmer. Und es gibt die Medien, die als starker Faktor immer das verkaufen, was im Interesse der ökonomischen und politischen Mächtigen ist. Diese Mächte stehen sehr im Gegensatz zu dem, was in unserem Interesse ist. So ist jeder Präsident nicht ausgenommen davon, diese Bündnisse zu schließen. Und das ist nicht gut für uns. So haben wir keine Perspektive auf einen Wechsel.

Sônia Bone Guajajara ist Mitglied der Koordination der Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil – APIB), die die regionalen Indigenen-Organisationen auf bundesstaatlicher Ebene vertreten.

Die Basis der MAS will mehr

An Evo Morales kommt keiner vorbei. Seit Monaten können der amtierende Präsident und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) auf hohe Umfragewerte für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 12. Oktober blicken. Im August hätten 59 Prozent der Wahlberechtigten Morales als Präsident wiedergewählt, so das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. Zentrale Gewerkschaftsverbände und soziale Organisationen (wie COB, FENCOMIN, Bartolina Sisas und CSUTCB) unterstützen öffentlich den Präsidenten. „Die sozialen Organisationen werden an der Macht bleiben“, erklärte CSUTCB-Gewerkschaftsführer Damián Condori. Nach acht Jahren Morales-Regierung also weiterhin rückhaltlose Unterstützung?
Ganz so klar gestalten sich die Verhältnisse in den Monaten vor der Wahl jedoch nicht. Neben Präsident und Vizepräsident_in werden 36 Senator_innen und 130 Abgeordnete neu gewählt. Die sozialen Bewegungen, die der Regierungspartei MAS kritisch gegenüber stehen, existieren zum Teil nicht mehr: Die indigene Organisation des Tieflands CIDOB wurde schon im Juli 2012 gespalten, die indigene Organisation des Hochlandes CONAMAQ folgte im Januar dieses Jahres nach der Besetzung ihres Büros in La Paz durch die regierungsnahe Gruppe um Hilarión Mamani. Die entmachtete regierungskritische Gruppierung um Cancio Rojas und Rafael Quispe nennt sich nun CONAMAQ „orgánico“, in Abgrenzung zum von Mamani geführten CONAMAQ. Für Leonida Zurita, die Internationale Sekretärin der MAS, vertreten Chávez und Quispe nur eine kleine Interessengruppe. „Die Spaltung ist nur der politische Machtkampf zwischen kleinen Gruppen“, sagt Zurita gegenüber den LN. Mit dieser Argumentationsweise werden Regierungskritiker_innen delegitimiert.
Erst Ende August versuchten Regierungsanhänger_innen auch den Sitz der Organisation Subcentral Sécure, die Gemeinden im indigenen Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé TIPNIS repräsentiert, einzunehmen. Durch die Spaltung kritischer indigener Organisationen hat die MAS ihre Opposition in sozialen Bewegungen geschwächt. Auf Parteienebene bleiben die meisten Konkurrent_innen ohnehin chancenlos.
Das Oberste Wahlgericht hat fünf Parteien für die Wahlen im Oktober zugelassen. Für die MAS tritt wieder das Duo Morales und Álvaro García Linera als Vizepräsidentschaftskandidat an. Deren dritte Kandidatur in Folge war nicht unumstritten, da die Verfassung nur zwei Amtsperioden erlaubt. Allerdings wurde die jetzige Kandidatur als erst zweite Kandidatur seit Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2009 ausgelegt. Der Versuch der Opposition, mit einem breiten Bündnis gegen das Duo anzutreten, ist gescheitert, so dass vier politische Kräfte die MAS herausfordern: Zwei davon sind in der klassischen rechten Opposition zu verorten. Der konservative Ex-Präsident Jorge „Tuto“ Quiroga Ramírez, der nach dem Tod des Generals Hugo Banzer als dessen Stellvertreter an die Macht kam, tritt mit der indigenen Yarhui Tomasa als Vizepräsidentin an. Seine neu gegründete Christdemokratische Partei PDC kommt laut der Umfrage von Ipsos auf vier Prozent. Erfolgreicher ist der Kandidat des Mitte-Rechts-Bündnisses Demokratische Einheit UD Samuel Doria Medina. Medina ist Unternehmer im Zementgewerbe und Inhaber mehrerer Hotels und Fast-Food-Ketten. Ihm prognostizieren die Umfragewerte 17 Prozent, womit er zurzeit an zweiter Stelle hinter Morales liegt.
Die beiden anderen Kandidat_innen hoffen auf die Stimmen von unentschlossenen und von der MAS enttäuschten Wähler_innen. Der ehemalige Bürgermeister von La Paz, Juan del Granado, tritt für die Mitte-Links-Partei MSM (Bewegung ohne Angst) an. Der MSM haben sich mehrere Aktivist_innen der MAS angeschlossen, auch Del Granado ist einstiger MAS-Anhänger. Laut Ipsos kommt Del Granado lediglich auf drei Prozent der wahlberechtigten Stimmen. Die zweite linke Oppositionspartei spielt politisch überhaupt keine Rolle. Die Grüne Partei Boliviens mit dem indigenen Aktivisten Fernando Vargas als Präsidentschaftskandidat, der 2011 und 2012 die Protestmärsche gegen den Bau der Straße durch das TIPNIS organisierte, werden nicht einmal ein Prozent der Stimmen vorhergesagt. Die Grüne Partei findet vor allem bei ausländischen Nichtregierungsorganisationen Anklang. Die Umfragewerte sind unter den Oppositionsparteien jedoch nicht unumstritten. Die noch Unentschlossenen machen zudem 17 Prozent aus. Diese gilt es zu gewinnen.
Die MAS tritt als die linke Kraft an. Nach ihrer Definition ist keine der anderen Parteien links und sie sieht sich weiterhin als die politische Partei der sozialen Bewegungen. Auf der Regierungsagenda der MAS stehen unter anderem die Entwicklung der Produktion und Industrialisierung der natürlichen Ressourcen und die Beseitigung der extremen Armut. Wie auch die Oppositionsparteien verspricht sie den Ausbau des Gesundheitssystems, der Infrastruktur und der Elektrizitätsversorgung. Weitere Aspekte sind die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Sicherstellung der Technologie- und Nahrungsmittelsouveränität. Unverändert dient als Entwicklungsmodell der Export von Rohstoffen, der sogenannte „Neue Extraktivismus“. Trotz der ökologischen und sozialen Kosten, sind es die Einnahmen dieses Entwicklungsmodells, die dem Regierungschef Erfolg bringen. Morales verweist auf die Erträge nach der Nationalisierung der fossilen Brennstoffe, die von 600 Millionen US-Dollar im Jahr 2005 auf mehr als fünf Milliarden US-Dollar in 2013 gestiegen sind. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen hat sich laut Regierungsangaben in den letzten neun Jahren auf 3.000 US-Dollar verdreifacht, der nationale Mindestlohn ist auf umgerechnet gut 200 US-Dollar pro Monat gestiegen. Wirtschaftsminister Luis Acre hat für das erste Quartal dieses Jahres einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 5,6 Prozent verkündet. Damit liegt Bolivien im lateinamerikanischen Vergleich mit an der Spitze. Die extreme Armut ist auf 18 Prozent der Bevölkerung gesunken. Es sind Erfolge, die Morales Zustimmung bringen und deren Kosten gleichzeitig zunehmend das Land spalten.
Die Opposition kritisiert, dass die Macht der MAS auf Klientelismus, der gewaltsamen Teilung der indigenen Organisationen und der Kriminalisierung ihrer Führungspersonen beruhe. Die sozialen Organisationen würden kooptiert und ihre Führungspersonen seien teilweise auch Kandidat_innen der MAS. Weiterer Kritikpunkt ist die Korruption. Die MAS tut diese Vorwürfe als „Verrat am Prozess des Wandels“ ab.
Dennoch: Strategie der Regierungspartei ist es, ehemals Angehörige rechter Parteien in ihre Reihen aufzunehmen, um so der Opposition Wind aus den Segeln zu nehmen. Außerdem wird um die Gunst der Mittelklasse geworben. „Die Zeiten der Konfrontation sind vorbei“, ließ der Präsident in seiner Rede zum Nationalfeiertag am 6. August verlauten. Eine Etappe der Versöhnung werde eingeleitet. Die Argumentation: Da die popularen Sektoren, Indigenen und Bäuer_innen ihre Führungsrolle im Prozess des Wandels deutlich gemacht haben, seien die Bedingungen so, dass auch andere Bevölkerungssektoren integriert werden könnten. Auch wenn sie vormals Unterstützer_innen der Rechten waren. Ehemalige Feinde werden zu Verbündeten, ehemalige Verbündete zu Verräter_innen.
Die MAS will erneut die Zweidrittel-Mehrheit erlangen, wodurch Verfassungsänderungen oder beispielsweise die Besetzung der Posten der Höchsten Gerichte ermöglicht würden. Dafür wird mit harten Bandagen gekämpft. Jüngst wurde der MSM-Kandidat Mario Orellana für acht Tage inhaftiert. Dieser hatte Tonaufnahmen von Morales von einem internen Parteitreffen veröffentlicht, die ihm aus der MAS zugespielt worden waren. Die Aufnahmen gaben aber nicht mehr preis als das, was die Opposition schon länger kritisiert: Regierungsveranstaltungen würden zu Wahlkampfzwecken missbraucht.
Benachteiligt fühlt sich die Opposition auch durch eine Resolution des Bundeswahlgerichts TSE, die die Nutzung von Bild oder Stimmen der Kandidat_innen in den Massenmedien bis zum 12. September verbietet. Der offizielle Wahlkampf beginnt drei Monate im Voraus, Medienkampagnen sind jedoch seit der neuen Resolution gesetzlich erst einen Monat vor den Wahlen gestattet. Der Verabschiedung gingen Medienkampagnen voraus, in der sich die politischen Gegner_innen untereinander attackierten. Eine öffentliche politische Debatte möchte die MAS nicht führen. Ehemalige Anhänger_innen der MAS glauben, dass die MAS sich einer öffentlichen Rechtfertigung über ihre Politik und ihr extraktivistisches Entwicklungsmodell entziehen möchte. Das TSE vereinbarte mit der Organisation Amerikanischer Staaten den Einsatz von mindestens 50 ausländischen Wahlbeobachter_innen.
Nicht nur bei der amtierenden Regierung, auch bei der Opposition gibt es fragwürdige Wahlversprechen und Wechsel zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Die indigene Guaraní-Anführerin Justa Cabrera erregte Aufsehen, als sie sich im Wahlkampf wieder unter die Unterstützer_innen der MAS gesellte, da sie sich im Jahr 2011 nach dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei im Zuge der TIPNIS-Proteste gegen die Regierung gestellt hatte. Sie befolge das Mandat der Guaraní-Organisationen, sagte die Aktivistin, die den achten Marsch zur Verteidigung des TIPNIS organisiert hatte.
Indigene spielen als Kandidat_innen bei den Wahlen nur eine untergeordnete Rolle, wie die Zeitschrift Pukara analysiert: Der MAS reiche es, einen indigenen Präsidenten in den Wahlkampf zu schicken. In allen anderen Fällen werde den neuen Alliierten bei der Vergabe von Kandidaturen vor den ehemaligen indigenen Aktivist_innen Vorrang gegeben. Beim MSM spielt das Indigene laut Pukara keine große Rolle. Die PDC hingegen schickt mit der Vizepräsidentschaftskandidatin Yarhui eine Indigene ins Rennen, die das Gegenteil zu Morales verkörpern soll. Andere indigene Repräsentant_innen sind bei der PDC jedoch nicht zu finden. Bei der Grünen Partei steht Vargas zwar an der Spitze, große Unterstützung hat er jedoch nicht. Die Kandidatur des ehemaligen Vorsitzenden des CONAMAQs und MAS-Gegners Quispe für die rechte UD wird von der Pukara als Wahltaktik von deren Präsidentschaftskandidat Samuel Doria Medinas gesehen. Medina ginge es nicht um die Schaffung eines neuen Diskurses oder die Integration Indigener. Sondern Quispes Stärke liege darin, dass ihn jene für die Rechte von Indigenen sensibilisierte Mittelklasse unterstützt.
Neben politischen Schlammschlachten und Wahlkampfversprechungen darf man gespannt sein, welche Themen noch auf der Agenda stehen werden. Angesichts von einem Feminizid alle drei Tage (59 im ersten Trimester 2014) ist es wichtig, dass das Thema Gewalt gegen Frauen Eingang in den Wahlkampf gefunden hat und öffentlich thematisiert wird. Die verschiedenen Parteien setzen sich alle im Wahlkampf dafür ein, dass der Staat eine stärkere Rolle gegen Gewalt gegen Frauen einnehmen soll.

„Die Grenzen des Rechts verschieben“

Das Tribunal wirbt auf seinen Plakaten: „Die Bevölkerung von Mexiko wird über den mexikanischen Staat richten“. Wird das Tribunal diesem Anspruch gerecht?
Andrés Barreda Marín: Als das Tribunal gebeten wurde, nach Mexiko zu kommen, haben 50 bekannte Organisationen und rund 50 Intellektuelle unterschrieben. Danach entstand eine Dynamik. Immer mehr Organisationen haben Kontakt aufgenommen. Zu einem ersten Workshop kamen rund 80 Organisationen; als das Tribunal dann zwei Jahre später eingerichtet war, waren es schon 300. Jetzt sind es zwischen 500 und 600 Organisationen. Es ist schwierig, die genaue Zahl zu nennen, weil viele Leute an Workshops teilnehmen, aber dann nicht mehr wiederkommen. Zumindest hat das Tribunal mit der steigenden Anzahl beteiligter Organisationen an Legitimität hinzugewonnen. Ich bezweifle nicht, dass es Gruppen gibt, die es weder für nützlich noch für legitim halten, aber es hat soviel Legitimität gewonnen, dass es keine offene Kritik gibt.

Der Sinn eines Gerichts, das keine bindenden Urteile spricht, wird nicht in Frage gestellt?
Octavio Rosas Landa Ramos: Am häufigsten wurde uns die Frage gestellt: Was bringt es, mit einem ethischen Tribunal zu arbeiten, das zwar angesehen sein mag, aber eben doch nicht verbindlich ist? Der mexikanische Staat hat keinerlei Verpflichtung, den Urteilen und Empfehlungen nachzukommen. Am Ende kann er genau das machen, was er die letzten 30 Jahre gemacht hat, und das einzige, was wir haben, ist eine moralische Verurteilung. Wieso also teilnehmen, wenn es keine förderliche Reaktion geben wird?
Wenn wir uns aber an ein verbindliches, staatliches Gericht wenden, haben wir ebenso wenig Garantie, Gerechtigkeit zu bekommen. Viele Gemeinden und soziale Organisationen haben Siege bei staatlichen Gerichten errungen, ohne dass dies irgendwelche Folgen gehabt hätte. Weder ist die Mine San Xavier in San Luis Potosí geschlossen, das Staudammprojekt La Parrota in Guerrero gestoppt noch der Autobahnbau in Morelos – obwohl alles von Gerichten untersagt wurde, die rechtsverbindliche Urteile sprechen. Ich könnte viele weitere Beispiele aufzählen, es ändert nichts: Die staatlichen Gerichte setzen ihre Urteil nicht durch.
Wir sahen die Notwendigkeit, alle diese Fälle mit einer soliden Grundlage von Beweisen aus den Gemeinden aufzubereiten. In Mexiko führt die Durchsetzung des Umweltrechts sowieso zu nichts: Die Umweltregelungen sind Teil des Verwaltungsrechts, sodass bei einer erfolgreichen Klage die Firma oder der Staat nur die sichtbaren Schäden beseitigen muss, aber die eigentliche Ursache nicht behoben wird. Daher haben wir auch gezwungenermaßen außerhalb des Landes versucht, das Ausmaß sichtbar zu machen. So sind wir auf das Ständige Tribunal der Völker aufmerksam geworden und haben uns an der Einberufung beteiligt.

Das ändert aber nichts daran, dass auch das TPP nicht rechtsbindend ist…
ORLR: Bei der Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (ANAA) haben wir gesagt: Zum Teil ist es ein Vorteil, dass es kein verbindliches Gericht ist, weil es eine breitere Teilhabe der Menschen an der Herstellung des Rechts ermöglicht. Es werden überall zerstörerische Projekte wie die Privatisierung von öffentlichen Ressourcen und Dienstleistungen durchgesetzt, die zu immer mehr sozialen Konflikten führen. Über das Tribunal können die Gemeinden und indigenen Gruppen selbst die Ungerechtigkeiten artikulieren, mit denen sie vor Ort leben müssen, und von den Kollektivrechten erfahren, die sie einfordern und in Anspruch nehmen können.
Wenn die anderen Gerichte nichts bringen, dann ziehen wir ein Gericht vor, das einen Lernprozess in den Gemeinden hervorruft und sie an der Herstellung des Rechts teilhaben lässt. Sie verschieben die Grenzen des Rechts, weil das staatliche Recht nur äußerst begrenzt ausgeübt wird – äußerst begrenzt.

Wie wird sichergestellt, dass keine betroffene Gemeinde übersehen wird?
ABM: Dazu wird in zwei Schritten gearbeitet. Wo es bereits Kapazitäten zur Anhörung von Fällen durch Organisationen gab, wurde darauf zurückgegriffen. Die ANAA hat zum Beispiel 14 Voranhörungen in verschiedenen Orten zum Thema Umwelt durchgeführt, in denen 150 Fälle dokumentiert wurden. Keine Einzelfälle, sondern regionale Probleme, in denen die Umweltzerstörungen dokumentiert werden. Zum Thema Migration konnte dieser Umfang nicht erreicht werden, auch wenn die Herbergen vieles dokumentiert haben. Zu der Zerstörung der indigenen Landwirtschaft und des Maises war die Arbeit wieder umfangreich, da hier viele indigene Organisationen mitgearbeitet haben. Wir sprechen hier von tausenden von Personen, die so an den Voranhörungen teilgenommen haben. So konnte auf der einen Seite eine umfangreiche Dokumentation der Gewalt, Straflosigkeit und Zerstörung erreicht werden, die alle in Archiven festgehalten werden.
Auf der anderen Seite werden alle einzelnen Fälle gesammelt, um zusammenfassende Anklagen zu formulieren. Beispielsweise soll aus den 14 Voranhörungen zur Umwelt die staatliche Wirtschafts- und Verkehrspolitik insgesamt angeklagt werden. Hier werden nämlich die Gemeinden und die Natur einer forcierten Industrialisierung untergeordnet. Das ist keine Musterklage, sondern eine zusammenfassende Anklage, die viele einzelne Anklagen widerspiegelt. Ein repräsentatives Beispiel reicht dann aus, ohne all die anderen zu vernachlässigen. Beide Schritte werden parallel unternommen.

Wie lief denn eine Voranhörung konkret ab?
Adriana Martínez Rodríguez: Für die Anhörung über Umweltschäden im vergangenen November wurden so viele Fälle eingereicht, dass sie vorher nach thematischen und regionalen Themen sortiert werden mussten, die in 14 Voranhörungen behandelt wurden. So lernten sich die einzelnen Gemeinden näher kennen und wurden in ein Netz integriert.
Nur ein wichtiges Beispiel ist das Autobahnprojekt von Xochicuautla. Die Gemeinde kam zum Tribunal, um über die nun bereits dritte Straße zum Flughafen in Toluca zu klagen. Es gab bisher einige Versuche der Firmen, den Bau der Autobahn zu beginnen, auch mit Hilfe der Polizei. Die Leute haben versucht, die Maschinen zu stoppen; 14 von ihnen wurden festgenommen, vor allem ältere Frauen. Durch das Tribunal konnten die betroffenen Personen das ganze Projekt selbst dokumentieren und somit das Problem besser erklären. Die Gemeinde hat sich zusammengeschlossen. Für die Voranhörung haben sie uns gesagt: „Wir gehen selbst hin. Wir werden unsere Anklage selbst formulieren und uns selbst organisieren.“ Das haben sie dann auch gemacht. Durch das Tribunal werden die betroffenen Gemeinden in ihrem Widerstand gestärkt.

Adriana Martínez Rodríguez, Octavio Rosas Landa Ramos und Andrés Barreda Marín sind Professor_innen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Sie engagieren sich bei der Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (ANAA) und betreuen die aktuellen Anhörungen des Ständigen Tribunals der Völker in Mexiko.

Das Ständige Tribunal der Völker ist eine unabhängige Institution, die weltweit Menschenrechtsverletzungen in Form eines ethischen Gerichts untersucht und anklagt. In der Tradition des Russell-Tribunals über die Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg sind in bisher 37 Sitzungen vor allem Staats- und Wirtschaftsverbrechen untersucht worden. Seit 2011 gibt es ein eigenes Kapitel für Mexiko, um unter dem Titel „Freihandel, Schmutziger Krieg, Straflosigkeit und Rechte der Völker“ strukturelle Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Dazu hat es jeweils Anhörungen zu den Themen Frauenmorde, Migration, Umwelt, Mais und ländliches Leben, Arbeitsleben, Medien und Schmutziger Krieg gegeben. Im November wird die Abschlussanhörung in Mexiko-Stadt stattfinden, zu der auch das Öku-Büro München eine Delegationsreise organisiert. Infos zur Rundreise gibt es unter 0894485945 oder mex@oeku-buero.de

Welche Themen sind nun an der Reihe?
AMR: Es kommt die Anhörung zum Thema Gewalt gegen Frauen und Migranten. Vor dieser finalen Anhörung steht die Anhörung zum Unterthema Jugend an. Diese fasst die bisherigen Anhörungen zusammen, weil es diese Altersgruppe ist, die der Gewalt und dem Machtmissbrauch besonders ausgesetzt ist. Es sind Minderjährige, die migrieren. Die Mehrheit der Opfer von Frauenmorden sind Jugendliche; ebenso viele Jugendliche werden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ermordet. Die geringsten Löhne werden den jungen Menschen gezahlt, sofern sie Arbeit haben. Und die, die noch gar nicht geboren sind, werden mit all den Folgen der heutigen Zerstörung zu kämpfen haben. Diese Anhörung wird also auch das zusammenfassen, was die bisherigen bereits aufgezeigt haben.

 

 

 

Zeichnet sich schon ab, wie die allgemeine Anklage aussehen wird?
ABM: Wir versuchen, den mexikanischen Staat für ein Verbrechen anzuklagen, das nirgends als solches anerkannt wird. Wir nutzen das selbstverwaltete Format des Tribunals, um Auseinandersetzungen mit juristischen Fragen anzustoßen, die es bislang nicht gibt. Das ist eine der besten Eigenschaften dieses Tribunals. Wir arbeiten darauf hin, dass der mexikanische Staat nicht nur für Menschenrechtsverletzungen und die schädlichen Auswirkungen des Freihandels verurteilt wird. Wir wollen, dass der mexikanische Staat wegen Machtmissbrauch verurteilt wird – dafür, dass er, um Freihandel durchzusetzen, von einem seiner zentralen Zwecke abgekommen ist: Nämlich die gesamten Reproduktionsprozesse wie die des sozialen Kapitals zu berücksichtigen. Er berücksichtigt die Interessen des sozialen Kapitals aber nicht, sondern nutzt seine Macht zugunsten von privatem Kapital. Diese Abweichung wird nicht gelegentlich, sondern permanent, systematisch und vor allem bewusst herbeigeführt. Um dies aufrecht erhalten zu können, werden nicht nur einfache Gesetze, sondern auch die Verfassung systematisch verändert, bis dahin, Straflosigkeit und Menschenrechtsverletzungen zuzulassen. Das alles lassen wir in die allgemeine Anklage einfließen.

Hat es schon eine Reaktion des mexikanischen Staates auf das Tribunal gegeben?
ABM: Der Staat schenkt dem Tribunal keine Aufmerksamkeit. Er schickt Lauscher und Polizei zu den Anhörungen, aber – selbstkritisch gesprochen – hat das Tribunal wenig Wirkung in den Medien erzielt. Obwohl es bisher eine sehr starke Basisarbeit gegeben hat, hat es nicht die Wirkung gehabt, die es hätte haben sollen. Von daher ist der Staat ziemlich ruhig und hat keinen Widerspruch erhoben. Wozu auch noch Reklame machen? Das wollen wir nun aber ändern und sammeln Mittel für eine gute Medienkampagne.

Tatsächlich gibt es auch Kritik aus der Zivilgesellschaft, dass das Tribunal selbst nicht viel über seine Arbeit berichtet hat.
ORLR: Es ist offensichtlich, dass es an einer breiten Bekanntmachung unserer Arbeit gemangelt hat. Wir haben uns radikal auf die lokale Arbeit konzentriert, auf die Vorbereitung der Zeugen, Beweise und Anklagen. Wir wollten damit vermeiden, dass das Tribunal sich als genaues Gegenteil davon entpuppt, also als Medienkampagne mit viel Lärm ohne echten Inhalt, die niemanden repräsentiert. Uns ist aber bewusst, dass es nun sehr wichtig ist, die ganze geleistete Arbeit zu verbreiten und öffentlich bekannt zu machen – aber erst, wenn diese Arbeit auch tatsächlich geleistet worden ist: mit durch Basisarbeit entstandenen Argumenten, die auch von den betroffenen Menschen getragen werden.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Arbeit des Tribunals?
ORLR: Eine der thematischen Konstanten des Tribunals ist der Freihandel. Alle erfassten Zeugenberichte sind auch eine soziale Bilanz nach 20 Jahren Freihandel in Mexiko,das mehr Freihandelsverträge als jedes andere Land unterzeichnet hat. Die Länder, die gerade in solchen Vertragsverhandlungen stehen, werden mit den aufgearbeiteten Fällen strategische Argumente über die ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Auswirkungen solcher Freihandelsverträge haben. Das betrifft beispielsweise die Länder der Europäischen Union mit dem TTIP (Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, Anm. d. Red.). Wir können nicht einfach sagen, dass die Globalisierung nur heißt, Investitionen zu erhalten – wir müssen klare, geteilte Verantwortlichkeiten etablieren. Auch die Deutschen müssen ihre Verantwortung verstehen, wenn deutsches Kapital an der Zerstörung der Rechte in Mexiko beteiligt ist. Das ist die Aufgabe des Tribunals: im Bewusstsein der Bevölkerung der ganzen Welt zu verankern, dass sie jedes Mal, wenn sie „Mexiko“ hört, an die Zerstörung durch den Freihandel denkt, dass sie an die Folgen für die gesamte Gesellschaft denkt. Wenn wir damit in andere Räume und Bereiche vordringen, dann können wir Verbindungen schaffen, um diese kriminelle Politik aufzuhalten.

Soll die Arbeit des Tribunals über dieses Jahr hinaus gehen?
ORLR: Was noch fehlt und womit wir ab 2015 arbeiten werden, ist die Systematisierung der gesamten Dokumentation, die über die drei Jahre entstanden ist. Ich spreche hier allein von 150 Umweltfällen, dutzenden Fällen aus der Anhörung zum Thema Mais und die Fälle der Migration. So etwas hat es noch nicht gegeben. Wir haben Informationen und Beweise über die Zerstörung eines Landes erfasst, zusammengetragen von den Bevölkerungsgruppen Mexikos, und es fehlt uns immer noch sehr viel.
ABM: Es gibt die Idee, unsere Arbeit auf die USA auszudehnen. Es wird Voranhörungen zur Migration in New York und Seattle geben. Wir werden sehen, ob das funktioniert, um vielleicht auch eine Anhörung zur Migration weltweit zu bewerben. Es gibt so viele gemeinsame Probleme und absolut keine Brücke in die USA. Solche Brücken über Migrations- und Umweltkämpfe zu bauen ist fundamental – das Tribunal setzt das in Gang.

Weitere Informationen: www.tppmexico.org, www.oeku-buero.de, mex@oeku-buero.de

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