Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

Der Höhenflug der Raben

Alle reden vom Papst, die Lateinamerika Nachrichten von Osvaldo Soriano. Nach dem Triumph bei der Copa Libertadores, quasi der südamerikanischen Fußball-Champions League, Mitte August unterließ keine Zeitung in Deutschland den Hinweis auf das berühmteste Mitglied des Club Atlético San Lorenzo de Almagro: Jorge Mario Bergoglio, einst Kardinal von Buenos Aires und inzwischen als Papst Franziskus in Rom tätig: Mitgliedsnummer 88235N-1, Eintrittsjahr 2008. 2008 war Osvaldo Soriano schon elf Jahre tot und so fiel 2014 in deutschen Gefilden der Name des zu Lebzeiten enorm populären Schriftstellers nicht, obwohl davon ausgegangen werden muss, dass Soriano im Himmel weit eher den gängigsten Schlachtruf der cuervos (die Raben) in die Realität umzusetzen pflegt, als der Stellvertreter des Herrn auf Erden: „Wir trinken den besten Wein aus Flaschen, und rauchen alles Gras, das wir kriegen können. Ohhh San Lorenzo. Ohhh San Lorenzo.“
In Madrid gibt es einen nach Osvaldo Soriano benannten Fanclub von San Lorenzo und selbst der Papst dürfte nicht bestreiten, dass Sorianos Zeugnisse der Leidenschaft nicht zu übertreffen sind: „Im Fußball wählt man sich keinen Siegerclub aus. Fan von San Lorenzo zu sein, ist ein Schrecken ohne Ende, eine Last, die man das ganze Leben mit sich schleppt, mit derselben Mischung aus Bestürzung und Stolz wie die Last, ein Argentinier zu sein.“ Der 1943 geborene Soriano hat zwar einige Erfolge erlebt, ein paar argentinische Meisterschaften zum Beispiel und vor allem die Ära, in der sein Idol José Sanfilippo von 1958 bis 1961 viermal in Folge Torschützenkönig wurde – mehr als die Meisterschaft 1959 sprang an Trophäen dabei aber nicht heraus.
San Lorenzo, das neben cuervos auch als ciclón (Wirbelsturm) firmiert, gehört zwar neben Boca Juniors, River Plate, Racing Club, Independiente zu den großen fünf Traditionsvereinen aus Buenos Aires, doch das verdankt der Club mehr seiner treuen Anhängerschaft als allzu großen Erfolgen. Da haben die anderen vier und noch ein paar weitere Vereine aus der Hauptstadt, wie z.B. Vélez Sársfield, mehr zu bieten als bis dato San Lorenzo. Umso enthusiastischer wurde den beiden Finalspielen der durch die Fußballweltmeisterschaft unterbrochenen Copa Libertadores entgegengefiebert. San Lorenzo konnte sich in der Gruppe nur mit Mühen und mit der niedrigsten Punktzahl ins Achtelfinale retten, von da an lief es aber immer besser, bis das Finale gegen Nacional Asunción aus Paraguay erreicht wurde. Und nach dem 1:1 beim Hinspiel in Asunción gab es kein Halten mehr. Bereits direkt nach dem Abpfiff pilgerten die ersten Fans in Buenos Aires zu den Ticketschaltern, in der Hoffnung, eine Karte fürs Rückspiel zu ergattern. Bis zu zwölf Stunden lang zelteten 100.000 Anhänger_innen bei winterlichen Temperaturen vor dem Nuevo-Gasómetro-Stadion im Stadteil Bajo Flores. Die Warteschlange war mehr als zehn Häuserblocks lang. Im Internet wurden 15.000 US-Dollar für eine Karte verlangt. Ein Besitzer wollte als Tausch gar einen Arbeitsplatz. Ob dieses Tauschgeschäft zustande kam, ist bislang nicht publik geworden.
Das Nuevo-Gasómetro-Stadion, indem San Lorenzo seit 1993 seine Heimspiele in Sichtweite zu einem villa miseria (Elendsviertel) in Bajo Flores auszutragen pflegt, fasst nur gut 40.000 Zuschauer_innen. So war klar, dass die meisten leer ausgehen mussten, zumal Klubmitglieder und Dauerkarteninhaber_innen vorrangiges Zugriffsrecht hatten. Umso größer dann die Feier nach dem 1:0-Zittersieg, die vor allem in den drei nebeneinanderliegenden Stadtteilen Boedo, Caballito und Almagro zelebriert wurde, an deren Schnittstelle das Viejo-Gasómetro-Stadion lag, das Herz des Vereins, bevor es einem Supermarkt weichen musste. Osvaldo Soriano hat wie kein anderer in seiner großartigen Kurzgeschichte Tor von Sanfilippo (siehe den Text in dieser LN-Ausgabe) diesen Verlust literarisch prägnant verewigt.
Der Traum von der Copa Libertadores ist Wirklichkeit geworden und der Traum vom Gewinn des Weltpokals, vorzugsweise gegen Real Madrid im Dezember bei der Clubweltmeisterschaft in Marokko, lebt ebenso wie der Traum der Träume: die Rückkehr an den Ort des alten Stadions einschließlich Neubaus. Was lange Zeit jenseits des Möglichen erschien, ist dank der Beharrlichkeit vieler Fans in den Bereich des Möglichen gerückt worden. Über 100.000 demonstrierten im Mai 2012 in Buenos Aires für die Rückübereignung des Stadiongeländes, zogen zur Plaza de Mayo und vor den Präsident_innenpalast Casa Rosada. Der für die Causa zuständige Stadtrat zeigte sich beeindruckt: Er beschloss Ende 2013 einstimmig, dass der Verein sein altes Gelände zurückerhalte. Das Unternehmen Carrefour solle sich mit San Lorenzo über einen Kaufpreis einigen, ansonsten werde der Supermarkt enteignet.
Just als Enteignung wird der Verlust des Stadions 1979 inmitten der Militärdiktatur (1976-83) von vielen Anhänger_innen betrachtet. „Haben Sie Kinder an der Universität?“, soll der von den Militärs eingesetzte Bürgermeister Osvaldo Cacciatore den San-Lorenzo-Präsidenten Vicente Bonina gefragt haben. Und als der bejahte, habe Cacciatore gesagt: „Dann rate ich Ihnen, das zu tun, worum ich Sie bitte.“ Solche Worte waren 1979 als unmissverständliche Drohung zu verstehen: Unter den 30.000 Todesopfern, die die Diktatur auf dem Gewissen hat, waren unzählige Student_innen.
San Lorenzo stimmte schließlich dem Verkauf zu. Das im Gegenzug erhaltene Ersatzgelände in Bajo Flores liegt weitab von den Ursprüngen des Vereins und dementsprechend fehlt es dort an sozialer Verwurzelung.
Der Deal rund ums Stadion hat weiteren unappetitlichen Beigeschmack. Aus dem von Cacciatore dem San Lorenzo-Präsidenten unterbreiteten Ansinnen, das Gelände für Straßen und Siedlungsbau dringlichst zu brauchen, war kurz nach dem Verkauf nicht mehr die Rede. Das Gelände wurde für 900.000 US-Dollar an eine Scheinfirma aus Uruguay verscherbelt. Diese wiederum reichte die rund 35.000 Quadratmeter zwei Jahre später für acht Millionen US-Dollar an den französischen Handelskonzern Carrefour weiter. Wer dabei alles die Hand aufhielt, ist ungeklärt. Carrefour errichtete dort seinen ersten Supermarkt in Argentinien und setzte seine Expansion in der Folgezeit fort.
Das nach dem benachbarten Gaswerk benannte Viejo Gasómetro, das Ende der 20er Jahre im vorigen Jahrhundert gebaut wurde, hatte in frühen Zeiten ein Fassungsvermögen von rund 80.000 Zuschauer_innen. Deshalb, wegen seiner Holztribünen und wegen der atemberaubenden Atmosphäre, galt es als „el wembley argentino“.
Bis zu seinem Wiederaufbau gilt es aber noch einige Steine aus dem Weg zu räumen. Der Verkaufspreis wurde von der Restitutionsbehörde mit 92 Millionen Peso angesetzt. An die 20 Millionen haben die auf vier Millionen geschätzten Fans und die 60.000 Mitglieder schon gesammelt, die ersten Raten an Carrefour sind geflossen. Zudem soll das Nuevo Gasómetro an die Stadt verkauft werden.
Vizepräsident Marcelo Tinelli, Kultfigur im argentinischen Fernsehen und Sponsor des Klubs, sowie sein Anwalt Matías Lammens, der als Präsident amtiert, sind auf alle Fälle optimistisch, dass es bereits 2016 mit dem Beginn des auf 75 Millionen US-Dollar veranschlagten Neubaus klappt und zwei Jahre später wieder in Boedo gespielt wird: Dann im Stadion „Papa Francisco“, wie der Klub per Twitter am 11. September bekanntgab. Der Gegner für das Wunscheröffnungsspiel ist unumstritten: der Erzrivale Huracán, der derzeit in der 2. Liga dümpelt.
Was die nach den rabenschwarzen Soutanen der Priester, die 1908 einst den ersten Vereinsfußballplatz auf einem Kirchengelände bereitstellten, benannten cuervos in ihrem Optimismus beflügelt, ist der sportliche Aufschwung, den der Verein nach seinem zwischenzeitlichen Abstieg in die zweite Liga vor allem seit dem Antritt von Papst Franziskus genommen hat: Seit Bergoglios Ernennung hat sich San Lorenzo vom hoch verschuldeten Abstiegskandidaten zum Verein mit Titelambitionen gewandelt. Im Dezember 2013 wurde schließlich der erste Meistertitel nach sechs Jahren errungen. Mannschaft und Klubführung reisten mit der Trophäe im Gepäck natürlich gleich mal in den Vatikan zur Audienz beim glücklichen Papst. In diesem Jahr setzte das Team dann seinen Siegeszug auch in der Copa Libertadores fort und auch danach gab es eine Papst-Audienz. In Argentinien ist schon vom Papsteffekt die Rede. Den Segen von Osvaldo Soriano hat diese Entwicklung gewiss.

Einseitige Justiz

Die Angeklagten waren an der Besetzung der Farm Marina Kué bei Curuguaty im Juni 2012 beteiligt. Am 15. Juni räumte die Polizei diese Besetzung. Dabei kam es zu einer Schießerei, in deren Verlauf elf Besetzer_innen und sechs Polizist_innen
starben. Den jetzt Angeklagten wird vorgeworfen, die Polizei in einen Hinterhalt gelockt zu haben. Der Vorfall führte unmittelbar zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Staatspräsidenten Fernando Lugo am 22. Juni 2012, das international als „Parlamentsputsch“ kritisiert wurde (siehe LN 457/458).
Von wem die Schüsse damals ausgingen, ist weiterhin nicht geklärt. Die paraguayische Justiz untersucht bislang auch nicht die Tötung der elf Besetzer_innen. Unter dem Motto Qué pasó en Curuguaty? („Was geschah in Curuguaty?“) hat sich inzwischen eine internationale Solidaritätsbewegung für die Angeklagten zusammengefunden. Insbesondere in Argentinien protestieren viele linke Bewegungen und Studierende für eine faire Untersuchung des Vorfalls, auch in Berlin gab es bereits Kundgebungen vor der paraguayischen Botschaft. Das international bekannte puerto-ricanische Rap-Duo Calle 13 hat sich dieser Bewegung ebenfalls angeschlossen.
Doch bislang werden nur die Besetzer_innen gerichtlich belangt. Prozesse gegen Polizist_innen, die damals völlig unverhältnismäßig vorgingen, wie die Menschenrechtsorganisation CODEHUPY in einer Untersuchung herausfand, gibt es nicht. Die angeklagten Kleinbäuerinnen und -bauern sitzen indes seit knapp zwei Jahren in Untersuchungshaft. Im März konnten sie mit einem 56-tägigen Hungerstreik zumindest bewirken, dass die Haft in Hausarrest umgewandelt wurde. Doch die Anklagen gegen die Besetzer_innen blieben bestehen.
Dabei ist umstritten, wer wirklich die Farm Marina Kué widerrechtlich besetzt hat. Der inzwischen verstorbene Agrarunternehmer Blas Riquelme beanspruchte das 2.000 Hektar große Landstück. Doch bereits 2003 kam eine parlamentarische Untersuchungskommission zu dem Ergebnis, dass Riquelme sich das ehemals staatliche Grundstück während der Diktatur Eduardo Strössners (1956-1989) widerrechtlich angeeignet hätte und deshalb enteignet werden müsste. Die Besetzer_innen von 2012 forderten, dass dies endlich umgesetzt und Marina Kué im Rahmen einer Landreform an die Kleinbäuerinnen und -bauern verteilt werde. Doch der Gewaltausbruch am 15. Juni 2012 verhinderte das gerichtliche Vorgehen gegen Riquelme, der eng mit der konservativen Partei ANR, den Colorados, verbunden war.
Nach einer Umfrage der paraguayischen Nichtregierungsorganisation CIRD glauben über 65 Prozent der Paraguayer_innen, dass die ganze Wahrheit des Vorfalls von Curuguaty verschleiert wird. Die paraguayische Linke vermutet, dass das „Massaker von Curuguaty“ von einer Mafia aus Polizei, Staatsanwaltschaft und privaten Sicherheitsunternehmen bewusst herbeigeführt wurde, um die Amtsenthebung von Lugo möglich zu machen. „Wie sollen 30 Kleinbauern einen Hinterhalt für 245 Polizisten gelegt haben? Das ist doch unglaubwürdig!“, erklärte Expräsident Lugo gegenüber der spanischen Nachrichtenagentur EFE.
Der ehemalige Bischof Lugo galt als Hoffnungsträger der Linken und hatte eine Landreform versprochen. Damit machte er sich bei der mächtigen Agrarlobby des Landes unbeliebt. Nach Angaben der internationalen Nichtregierungsorganisation FIAN, die sich mit dem Recht auf Nahrung befasst, kontrollieren in Paraguay 2,6 Prozent der Bevölkerung 85,5 Prozent des Landes, während 91,4 Prozent der Bevölkerung nur sechs Prozent zur Verfügung stehen. Für Lugo und viele andere Linke ist die derzeitige Regierung von Präsident Horacio Cartes, der eng mit der Agrarlobby verbündet ist, das unmittelbare Resultat des Massakers von Curuguaty. Im vergangenen Oktober erließ das paraguayische Parlament ein Gesetz, das es der Exekutive ermöglicht, ohne Parlamentsbefragung Öffentlich-Private-Partnerschaften (PPP) zu erlassen. Dieses Gesetz spielt der Agrarlobby direkt in die Hände. Mit diesem Gesetz kann die Agrarindustrie direkt Infrastruktur für die eigenen Bedürfnisse bauen, die Interessen der Kleinbäuerinnen und -bauern bleiben außen vor. Sie müssen stattdessen demnächst Gebühren für die Nutzung von Straßen und Brücken entrichten.
Insbesondere gegen dieses Gesetz organisierte ein Bündnis von linken Gruppen, Gewerkschaften und Studierenden im März dieses Jahres einen Generalstreik, dem sich mehrere zehntausend Arbeiter_innen anschlossen. Neben der Abschaffung des Gesetzes über die PPP forderten sie auch die Aussetzung der Verfahren gegen die Angeklagten von Curuguaty und eine faire und ernsthafte Untersuchung des Vorfalls. Präsident Cartes zeigte sich gesprächsbereit, doch die Gewerkschaften glaubten nicht an die Ernsthaftigkeit des Angebots und lehnten Gespräche ab.
Was sich in Paraguay abspielt, kann man als „Ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnen, also als Aneignung von Reichtümern mit unmittelbarer Gewalt. Die Agrarindustrie, die vor allem aus Brasilien kommt, expandiert enorm und baut immer mehr flex crops – also Soja, Mais und Zuckerrohr – an, die je nach Marktlage sowohl für Tierfutter, Nahrung oder Agrartreibstoff verwendet werden können. Durch den massiven Einsatz von Pestiziden werden den Kleinbäuerinnen und -bauern die Lebensgrundlagen entzogen und die letzten Regenwälder des Landes zerstört. Dazu eignet sich die Agrarindustrie immer größere Teile des Landes an, auch mit illegalen und gewalttätigen Mitteln.
Am 16. Juni dieses Jahres drangen Schlägertruppen, die das brasilianische Unternehmen La Laguna S.A. angeheuert hatte, in die indigene Gemeinde Y‘apo, ebenfalls im Department Canindeyú, ein und schossen mit Gummigeschossen auf die Bewohner_innen, um diese dazu zu bewegen, das Land zu verlassen. La Laguna S.A. will seine Viehweiden und Anbaugebiete auf dem Land der Indigenen erweitern. Auch in Marina Kué ist es wieder zu Gewalt gekommen. Am 21. Juni schossen Unbekannte mit scharfer Munition auf ein Lager der Landlosen nahe der Farm. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Von der korrupten Justiz Paraguays hat die Agrarindustrie dabei nichts zu befürchten, wie der Fall Curuguaty eindrücklich beweist.
// Thilo F. Papacek

Ein Buch voller Lebensrealitäten

Eine Jugendliche in einer Anstalt, deren Leben durch unvorhergesehene Ereignisse scheinbar aus den Bahnen geraten ist. Ihre Situation können wir durch die Autorin, die sie in der Pflegeeinrichtung besucht, miterleben. Wir sitzen der Jugendlichen gegenüber. Wir hören zu, was sie von ihrem Leben erzählt. Das ist die erste kleine Geschichte des Buches Verdammter Süden.
Der Sammelband ist ein Werk verschiedenster zeitgenössischer Autor_innen Lateinamerikas, die in journalistischer Manier Geschichten ihres Kontinents dokumentieren und dadurch eine lustige, komische, traurige, brutale und faszinierende Lektüre schaffen, die beim Lesen unterschiedlichste Emotionen auslösen. 17 kleine literarische Reportagen führen von Argentinien, Brasilien und Paraguay über Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama nach Mexiko und in die USA. Das Buch erzählt von selbstproduzierten Dorf-Telenovelas, von einem Liebesknast, einem Ort, in dem fast nur Zwillinge geboren werden, von Wrestlerinnen aus dem Hochland oder einer Insel in der Karibik, die eigentlich nur aus Müll besteht und durch den Müll der Bewohner_innen stetig wächst. Es wird von Kuriositäten berichtet wie vom letzten Totenwachenkomiker in Soledad, Kolumbien, der Menschen auf Beerdigungen zum Lachen bringt, oder über die vereinsamten Nilpferde Pablo Escobars, die nun statt im Nil im Río Magdalena leben. Es finden sich auch bedrückende Berichte von der Grenze Mexikos und dem Überlebenskampf migrierender Menschen in der Wüste zu den USA.
Es sind keine erfundenen Geschichten, die man zu lesen bekommt, sondern Reportagen, crónicas, die im Stil Kurzgeschichten ähneln. Der Titel „Verdammter Süden“ lässt jedoch nichts über die crónicas erahnen und noch weniger darüber, was die Lektüre tatsächlich zu bieten hat. Das „Verdammte“ am Süden oder am Sammelband erschließt sich nämlich nicht. Die Autor_innen brechen vielmehr mit Klischees und stereotypen Bildern. Durch die Beschreibung der einzelnen Personen und Hauptfiguren ihrer Reportagen führen sie uns an die Wirklichkeit heran und bringen uns individuelle Lebenslagen nahe. Dadurch werden gleichzeitig Einblicke in die jeweilige Gesellschaft und Umgebung freigelegt, in soziale Kontakte und Gebräuche, familiäre Konstellationen, politische Strukturen und Arbeitsfelder.
Die Herausgeberin Carmen Pinilla und der Herausgeber Franz Wegner fassen es passend zusammen: Man braucht Geschichten nicht zu erfinden – es reicht, sie zu entdecken. Sie geben Alltägliches wieder und verdeutlichen Lebensrealitäten, wo das Bizarre im Normalen liegt. Das Buch lädt ein, zum Lachen und Weinen, zum Eintauchen in die Welten vor Ort, es liest sich wie eine kleine Lateinamerika-Reise. Verdammt gutes Lesevergnügen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hg.) // Verdammter Süden. Das andere Amerika // Suhrkamp Verlag // Berlin 2014 // 315 Seiten // 20 Euro // www.suhrkamp.de

// DOSSIER: MIGRATION UND GRENZRÄUME IN LATEINAMERIKA

(Download des gesamten Dossiers)

Diese Bilder prägen sich ein: Ganze Familien versuchen, auf den vorbeifahrenden Güterzug aufzuspringen, auf dessen Dach schon kaum mehr Menschen passen. Sie wollen in die USA, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie überqueren Grenzen und fordern diese dadurch heraus. Ganze Generationen in Mexiko und Zentralamerika sind davon geprägt, zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen aufzuwachsen. Sie wandern in die USA ein und wieder aus, leben in der Illegalität und mit der dauernden Drohung, abgeschoben zu werden. Doch auch abseits dieser viel beachteten Migrationsroute finden Grenzbewegungen in Lateinamerika statt. Zwischen vielen Nationalstaaten Lateinamerikas leben Indigene, die sich nicht nur auf einer Seite der Grenze verorten. Auch innerhalb der Grenzen von Staaten treffen Menschen auf Räume, die ihnen verschlossen werden. Vielfach zeigt sich dies in Städten.

Diese Bewegungen zwischen den Räumen verändern nicht nur die Menschen, sondern auch die jeweiligen Gesellschaften. Sie schaffen neue kulturelle Praktiken, verwischen die Grenzen und lassen neue Räume entstehen, die sogenannten borderlands. Die Bewegung vollzieht sich mitnichten immer nur aus dem armen Süden in den reichen Norden, sie hat nicht nur eine Richtung. Die Wechselbeziehungen über die Grenzen hinweg sind ebenso komplex und wechselhaft wie die Biographien vieler Migrant_innen.

Doch Grenzen sind nicht mit der geographischen Trennung zweier Länder identisch. Auch innerhalb von Gesellschaften manifestieren sich Grenzen – mal mehr, mal weniger sichtbar. Es gibt Räume, die von sozialer Zugehörigkeit, Reichtum, Ethnizität oder Sexualität geprägt sind. Sie sind immer produziert und existieren nur, weil ein Innen und ein Außen definiert werden. Werden Grenzen geschaffen, wird notwendigerweise immer irgendjemand oder irgendetwas ausgegrenzt.

Menschen, die sich zwischen diesen Räumen bewegen, brechen Grenzen auf und geben neuen Möglichkeiten Platz. Grenzgänger_innen provozieren aber auch Widerstand – bisweilen gewalttätigen. Denn es gibt viele Menschen, die daran interessiert sind, dass die Grenzen so definiert bleiben, wie sie es sind. Doch die Vorstellung einer undurchlässigen Grenze ist immer eine Fiktion. Die Bewegungen zwischen den Räumen machen dies deutlich.

In diesem Dossier möchten die Lateinamerika Nachrichten weniger beachtete Themen und Aspekte der Bewegung zwischen produzierten Räumen in den Vordergrund rücken. Wir beleuchten konkrete Grenzräume zwischen Staaten genauer, interessieren uns aber auch für andere Formen der Ausgrenzung. Wie prägen die Migrationserfahrungen das alltägliche Leben von Menschen? Wie prägen Grenzgänger_innen ihre Umwelt? Wo stoßen Personen auf Vorurteile, Ausgrenzung und Rassismus? Wo setzen sich Menschen über Grenzen hinweg und schaffen eigene Räume? Dazu werden wir uns entgegen und abseits der üblichen Migrationsrouten bewegen. Anstatt den Blick auf die viel dokumentierte Reise der Migrant_innen durch Mexiko zu richten, legen wir unseren Fokus zunächst auf ihre Situation und ihr Leben in den USA nach dem Durchbrechen der Grenze.

Hier kämpfen die Anwältinnen Natalie Hansen und Stephanie Taylor für die Rechte von Migrant_innen und ringen mit dem US-amerikanischen Justizsystem: „Eigentlich müsste man das gesamte System abschaffen und von Grund auf neu errichten.“ Im Gespräch mit zwei ihrer Mandantinnen aus Honduras stellt sich die Willkür der Justiz dar. „Wie soll ich denn vor Gericht erscheinen, wenn ich an einem anderen Ort festgehalten werde?“, fragt Ana A. (Name von der Red. geändert).

Chicanas wie Alejandra Sanchez gehen in den USA künstlerisch und politisch mit dem Leben in borderlands um: „In meiner Arbeit versuche ich, Brücken zu bauen – zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“

Auf dem Weg durch Mexiko ruft die Karawane der Mütter verschwundener Zentralamerikaner_innen: „Lebend gingen sie – lebend wollen wir sie wiedersehen!“ In einem Auszug aus der mit dem Walter-Reuter-Medienpreis ausgezeichneten Reportage „Wo ist mein Kind?“ berichtet Emiliano Ruiz Parra über die verzweifelte Suche nach verschwundenen Familienangehörigen.

Julio César Campos Cubías und Sergio Gallardo García, Gründer des Kollektivs Migrantes LGBT in Mexiko-Stadt, berichten im Interview über die brutale Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie gegen Migrant_innen. Die beiden haben eine klare Botschaft: „Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass Menschen, die migrieren, ebenso unterschiedliche Gründe und Ziele wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben.“

Schon längst ist Mexikos Südgrenze nicht mehr nur gefährliche Durchgangsstation für Migrant_innen aus Zentralamerika. In Tapachula bleiben viele Honduraner_innen wie Nora Rodríguez, die über ihre Erfahrung mit Mexikaner_innen berichtet: „Egal wie lange wir hier schon leben, ob Jahre oder Jahrzehnte: Sie sehen uns nie einfach nur als Menschen, sondern immer als Migranten, die sie mit einem Haufen von Vorurteilen überschütten.“
Im Grenzgebiet zwischen Costa Rica und Panama kämpfen die indigenen Bribri um ihre Autonomie, auch um der Abwanderung in die Hauptstadt entgegenzuwirken. „Wir wollen das Bildungssystem ändern, es an die Realität anpassen. Darin müssen Kultur, Kosmovision und Sprache enthalten sein“, formuliert Lehrer Enos die Herausforderungen, ihre Kultur zu bewahren.

Während die Frage der Staatszugehörigkeit für die Bribri nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst ist, ist sie in der Dominikanischen Republik wieder akut aufgetaucht. Nach einem Gerichtsurteil wurde haitianischen Migrant_innen und deren Nachkommen ihre Staatsbürgerschaft entzogen. In einem Gruppeninterview berichten sechs Betroffene über ihre Erfahrung, plötzlich staatenlos zu sein: „Wenn du eine Geburtsurkunde haben willst, dann geh mit deiner Hautfarbe doch nach Haiti“, wird ihnen mitunter empfohlen.

Kolumbiens und Ecuadors Regierung stärken seit 2012 ihre militärische Zusammenarbeit im Grenzgebiet. Die Abriegelung der Grenze steht im Gegensatz zur Mobilität der indigenen Gemeinschaften, die auf beiden Seiten der Grenze leben.

Auch innerhalb von Städten schaffen Verdrängungsprozesse Grenzen zwischen Arm und Reich. In Caracas überwinden Nathaly Lemus und Jorge Sierra von der Bewegung der Pioniere diese Ausgrenzung durch Besetzungen: „Früher gab es im Zentrum nur private Parks, es gab keine öffentlichen Plätze. Jetzt gehen wir Armen ins Zentrum von Caracas. Wir sind überall, fordern das Recht auf Stadt!“

Zwischen Bolivien und Paraguay leben im nördlichen Chacogebiet die indigenen Ayoreo. Sie leben zwischen den nationalen Räumen beider Länder und ihre Art zu Wirtschaften entspricht nicht der kapitalistischen Produktionsweise. Viehzüchter_innen machen ihnen ihr Land streitig – mit dem Hinweis, dass sie kaum etwas produzieren würden. Letztlich geht es bei den Landkonflikten also darum, ab wann eine bestimmte Raumnutzung als angemessen gilt und ab wann ein Raum zu einer bestimmten Nation gehört.

Natürlich können wir mit diesen Themen nicht den Anspruch erheben, alle Dimensionen von Grenzräumen und Migration in Lateinamerika zu erfassen. Wir möchten jedoch auf bisher weniger beachtete Probleme, vor allem aber auf die Stimmen und Perspektiven einiger Grenzgänger_innen aufmerksam machen.

Das produzierte Territorium

Er sieht es als göttlichen Auftrag. Dr. Albrecht Glatzle aus Filadelfia, der größten Stadt des Chaco, verteidigt den Ausbau der Viehwirtschaft im nördlichen Chacogebiet Paraguays. Er begründet dies mit der Bibel, aus der er einen „göttlichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren“ herausliest. Mit diesem Argument versucht der in Deutschland promovierte Agrarbiologe die fortschreitende Abholzung des Trockenwaldes in der Chacoregion zu rechtfertigen. Der Spezialist für tropische Viehwirtschaft erklärte in verschiedenen Leserbriefen und anderen journalistischen Beiträgen, dass die Viehwirtschaft im Chaco mitnichten die Biodiversität verringern oder der Wüstenbildung Vorschub leisten würde. Stattdessen sieht er in der Viehwirtschaft eine nachhaltige Wirtschaftsform, die Devisen und Fortschritt ins Land bringen würde. In anderen Äußerungen leugnet er auch den menschengemachten Klimawandel.
Auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, kann man nicht behaupten, dass Dr. Albrecht Glatzle nicht wüsste, wovon er spricht. Seit 1990 ist er Viehzüchter im Chaco, als Direktor eines privaten Instituts für Raumplanung und Viehzucht hat er maßgeblich zur heutigen Raumordnung des Chaco beigetragen. Für ihn ist die Integration des Chaco in die Weltwirtschaft eine Erfolgsgeschichte, die weitergeführt werden sollte: Der leere und nutzlose Raum Chaco wurde und wird durch die Viehwirtschaft in Wert gesetzt und somit auch für die Nation Paraguay erobert.
Leer war dieser Raum aber noch nie. Im Chaco leben seit tausenden Jahren Indigene verschiedener Ethnien. Während der Kolonialzeit galt die regenarme und heiße Tiefebene den aus Europa kommenden Kolonialherren als nutzlos und lebensfeindlich. Sie ignorierten das Gebiet, das etwas größer als Polen ist. Deshalb blieben bis weit ins 20. Jahrhundert viele Indigene des Chaco isoliert von der restlichen Welt; einige sogar bis heute.
Einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode vermeiden auch heute noch jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie leben als Jäger_innen und Sammler_innen und ernähren sich von Landschildkröten, Chaco-Pekaris, Wurzeln und wildem Honig. Sie verkaufen ihre Produkte nicht, sie sind nicht in den Weltmarkt eingebunden. Sie identifizieren sich weder als Paraguayer_innen, noch als Bolivianer_innen und leben außerhalb nationaler Räume.
Aus diesem Grund besitzen die Ayoreo Totobiegosode keine legalen Besitztitel des paraguayischen Staates über ihr Land. Aber Viehzuchtunternehmen wie die spanisch-argentinische Carlos Casado S.A. oder die brasilianische Yaguareté Porã S.A. besitzen sie. Carlos Casado S.A. ist seit 1886, als der paraguayische Staat die vermeintlich „leeren“ Ländereien des Chaco zu verkaufen begann, auf dem Papier der größte Landeigentümer der Region.
Insbesondere diese beiden Firmen – aber auch zahlreiche andere – dringen immer weiter in den nördlichen Chaco ein, um den artenreichen Trockenwald zu roden und vor allem Viehweiden anzulegen, aber auch um Sesam oder andere trockenheitsresistente Feldfrüchte anzubauen. Neue Technologien – schwere Bulldozer und Wasserspeicheranlagen – geben die Möglichkeiten dazu. In Loma Plata, mit etwas weniger als 6.000 Einwohner_innen eine der größten Städte des Chaco, ist eine der modernsten Viehschlachtanlagen der Welt entstanden. Sie funktioniert ausschließlich mit Regenwasser, das immer wieder aufbereitet und gereinigt wird. Der Chaco ist für die globale Agrarindustrie geöffnet und Investor_innen aus aller Welt, vor allem aus Brasilien, drängen in das vermeintliche Niemandsland.
Den Ayoreo bleibt nichts übrig, als ihre überlieferte Lebensweise aufzugeben. In den 1970er Jahren haben evangelikale Missionare aus den USA etliche Ayoreo-Gruppen – oft mit Gewalt – sesshaft gemacht. Diese Ayoreo, die sich frei zwischen den nationalen Räumen Boliviens und Paraguays bewegten, sind unter Zwang in die jeweiligen Nationen und die kapitalistische Wirtschaft integriert worden. Nur einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bleiben außerhalb der Nationen.
Doch die Integration der Ayoreo blieb unvollständig. Bis heute haben die meisten von ihnen enorme Anpassungsschwierigkeiten. Lohnarbeit ist ein Konzept, dass den ehemaligen Jäger_innen und Sammler_innen fremd ist und bleibt. In den Städten im paraguayischen Chaco und im Südosten Boliviens leben die Ayoreo in Slums unter menschenunwürdigen Bedingungen. Für die meisten Familien sind Sexarbeit und Betteln die einzigen Einnahmequellen. Bei vielen sesshaft gemachten Ayoreo grassiert eine rätselhafte Lungenkrankheit, der Tuberkolose ähnlich, die weder verstanden noch behandelt wird. Die kapitalistische Inwertsetzung des Chaco war für sie keine Erfolgsgeschichte wie für Herrn Dr. Glatzle.
Die Pionierarbeit für die wirtschaftliche Erschließung des Chaco leisteten deutschsprachige Mennonit_innen, die ab 1921 aus Kanada und der Sowjetunion den Chaco besiedelten. Hintergrund für ihre Ansiedlung war der Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay um das umstrittenen Gebiet. Die beiden Länder lieferten sich einen Wettlauf um die „Kolonisierung des Chaco“, wie dies damals genannt wurde. Das „herrenlose“ Land zwischen den beiden Staaten sollte in Nationalterritorium umgewandelt werden. Paraguay lud die Mitglieder verschiedener mennonitischer Kirchen in den Chaco ein, damit sie diesen Raum für Paraguay integrierten.
Die mennonitischen Immigrant_innen sollten im Raum die Nation repräsentieren, auch wenn die meisten bis heute in den Schulen auf Deutsch lernen und zu Hause ihren Plautdietsch genannten Dialekt pflegen. Sie gründeten die wichtigsten Städte Filadelfia und Loma, in denen auch heute viele Hinweisschilder auf Deutsch geschrieben sind. In der rassistisch geprägten Welt galten die weißen Siedler_innen dennoch als angemessenere Repräsentant_innen der paraguayischen Nation als die Indigenen, die als „barbarisch“ und „zurückgeblieben“ diffamiert wurden. Nur eine Nutzung des Raums, die in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert war, galt als legitim. Der Raum, den die Indigenen nutzen und beleben, war nicht in die Nation integriert und sollte umstrukturiert, als Nationalterritorium produziert werden.
Dieses Muster ist im Streit um die Raumnutzung des Chaco und anderer „staatsferner Räume“ in Lateinamerika bis heute erkennbar. Als 2003 das Biosphärenreservat des Chaco gegründet wurde, protestierten Farmer_innen in Filadelfia dagegen. Sie hielten Schilder hoch, auf denen stand: „Ihr wollt den Tod der Produzenten!“. Auch der Agronom Dr. Glatzle sieht das so. Er will nicht auf die „Nutzung einer Fläche von der Größe Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens“ verzichten, wegen einer „Handvoll Waldbewohner“. Die Produktion der Ayoreo Totobiegosode, auch wenn sie den Wald und seine Biodiversität schont, wird nicht anerkannt und als unangemessen dargestellt. Sie beleben ihren Raum, und doch stellen die Agrarunternehmer_innen diesen Raum weiterhin als „leer“ dar.
Staatliche Institutionen teilen meistens diese Sicht. In Brasilien stellen nationalistische Gruppen und Militärs Indigene und Umweltorganisationen in der Amazonasregion als „Feinde der Nation“ dar, da sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen. Nur kapitalistisch genutzter Raum gilt als Nationalterritorium, anderen Formen der Raumnutzung wird die Berechtigung abgesprochen.
So auch im Chaco. Das paraguayische Umweltministerium SEDAM hat im März dieses Jahres den Unternehmen Yaguarté Porã S.A. und Carlos Casado S.A. das Recht bestätigt, mit der Rodung im Chaco fortzufahren. Ministerin Cristina Morales beruft sich dabei auf die von Gerichten bestätigten Landtitel der Unternehmen. Dieses Recht ist aber strukturell rassistisch, da es die jahrhundertealte Landnutzung der Ayoreo Totobiegosode nicht berücksichtigt.
Doch selbst die legalen Landrechte der Indigenen werden nicht respektiert. Im Februar dieses Jahres drangen Bulldozer auf das Land der Ayoreo Cuyabia, dass ihnen die Indigenenbehörde INDI zugestanden hatte. Ein Vertreter des Agrarunternehmens zeigte dabei Dokumente vor, denen zufolge dieses Gebiet von der INDI auf eine Julia Beatriz Vargas Meza übertragen wurde. Laut Artikel 64 der paraguayischen Verfassung ist es illegal, indigenes Land ohne die Zustimmung der Bewohner_innen zu veräußern. Doch Agrarunternehmen haben in Paraguay die besseren Beziehungen zu Politik und Gerichten als die Ayoreo. Dagegen leisten die Indigenen des Chaco – nicht nur die Ayoreo – zunehmend Widerstand.
Im vergangenen Jahr haben Ayoreo die Transchaco-Straße, den wichtigsten Verkehrsweg der Region, blockiert, um gegen ihre weitergehende Enteignung durch Agrarunternehmen zu protestieren. Sie fordern Landtitel und den Stopp weiterer Rodungen des Chacowaldes. Sie forderten auch, dass das Land der letzten im Wald lebenden Totobiegosode respektiert wird. Sie forderten letztlich, dass die Landnutzung der Ayoreo, die den Naturraum Chaco nur wenig beeinflusst, als legitime Landnutzung anerkannt wird. Die Zeit eilt. Eine Studie der Universität Maryland vom Januar kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Ausweitung der Rinderzucht der Chaco die höchste Abholzungsrate der Welt vorweist.

Info: Survival International führt eine Kampagne zur Unterstützung der Indigenen in ihrem Kampf um ihr Land im Chaco: http://www.survivalinternational.de/indigene/ayoreo

FMLN schickt ARENA in die Wüste

Das Oberste Wahlgericht in El Salvador wird mit Glückwünschen von allen Seiten überhäuft. Die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten, die nach alter Monroe Doktrin immer noch maßgebliche US-amerikanische Botschaft, kirchliche und andere zivile Wahlbeobachter, fast alle sind sich einig, dass auch die zweite Abstimmung zur Präsidentschaftswahl am 9. März absolut friedlich, transparent und sauber vonstattengegangen ist.
Nur die ultrarechte Oppositionspartei ARENA sah das zunächst anders. Im ersten Wahlgang vom 2. Februar hatte die linke FMLN mit 48,93 Prozent gerade mal knapp zehn Prozentpunkte vor der rechten ARENA mit 38,95 Prozent gelegen. Das reichte nicht ganz und so wurden für den 9. März Neuwahlen einberufen.
Im zweiten Wahlgang, der durch eine einfache Mehrheit entschieden wird, wurde mit wesentlich härteren Bandagen gekämpft, als dies noch im ersten Wahlgang der Fall gewesen war. ARENA schloss ihre zuvor gespaltenen Reihen und griff auf altbewährte Methoden zurück. Sie schürten die Angst vor den „kommunistischen guerrilleros“ und sorgten für verstärkten Druck der Unternehmer_innen auf ihre Angestellten, das Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. In der letzten Woche vor den Wahlen organisierten sie zudem massiv Personalausweiserneuerungen von abgelaufenen oder ungültigen Dokumenten. Das mit der Dokumentenausstellung beauftragte Subunternehmen Mühlbauer konstatierte einen Arbeitsaufwand von über 180 Prozent gegenüber dem normalen Arbeitspensum.
Die Anstrengungen der Kampagne trugen zunächst Früchte. ARENA holte innerhalb von zwei Wochen rund 400.000 Stimmen auf. In der vorläufigen Auszählung, die 15 Minuten nach Schließung der Wahllokale im Beisein von jeweils zwei Vertreter_innen beider Parteien pro Urne begann und durch das direkte Einscannen der Akten öffentlich über das Internet verfolgt werden konnte, lag ARENA knapp zwei Stunden vor Wahlentscheid noch vorne. Für ARENA ging es ums Ganze. Bereits seit der Niederlage von 2009 musste die in der Rechtspartei vereinte wirtschaftliche und politische Elite des Landes die Kontrolle über den Staat abgeben. In ihren Reihen stellte dies einen enormen Verlust dar, waren sie es bis dato gewohnt gewesen, Gesetze und Politik nach ihren persönlichen Bedürfnissen zu gestalten.
Die Aussichten für eine Rückkehr der Rechtspartei ARENA waren zunächst erfolgversprechend, doch in den letzten Momenten holte die FMLN noch auf und entschied letztendlich die Wahl für sich. Dass sich der zuvor amtierende Präsident Mauricio Funes zudem massiv für eine Aufdeckungskampagne von Korruptionsfällen seiner Vorgängerregierungen einsetzte, stellte für die Anhänger von ARENA einen zusätzlichen Schlag dar. Prominentestes Beispiel ist der inzwischen untergetauchte Expräsident Francisco Flores, der schätzungsweise 25 Millionen Dollar Wiederaufbauhilfe nach den Erdbeben von 2001 unterschlagen hat. Etliche weitere Fälle sind in Aufbereitung.
Trotz Kontinuität der generell neoliberal ausgerichteten Politik, geht es also ans Eingemachte von Oligarchen und Großunternehmer_innen, die auch nach den Wahlen um jeden Preis versuchten, ihre politischen und wirtschaftlichen Privilegien zurück zu erobern. Insgesamt reichte ARENA bei unterschiedlichen Behörden rechtliche Widersprüche gegen das Wahlergebnis ein. Jeder einzelne der zehn eingereichten Widersprüche wurde nach ordentlicher Prüfung abgelehnt. Es folgten für die Rechtspartei eher ungewöhnliche Protestformen. Straßenproteste blockierten zunächst den Zugang zum obersten Wahlbüro, in den darauffolgenden Tagen wurden Mahnwachen gehalten, cacerolazos (Kochtopfdemos) und sogar Straßensperren mit brennenden Autoreifen wurden veranstaltet. Der allgemeine Aufruf zum Aufstand sollte vor allem destabilisierend wirken. In Anbetracht der von Gewalt geprägten Geschichte El Salvadors, das mit zwölf Jahren Bürgerkrieg, anhaltender Gewalt in Familien, zwischen Banden und ausgehend von organisiertem Verbrechen, auf eine noch recht jungen Demokratie zurückblickt, wurden die Proteste entsprechend sowohl von der salvadorianischen Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinde mit Besorgnis zur Kenntnis genommen.
Für viele trugen die Vorkommnisse auch die Handschrift von J. J. Rendón, einem Berater von ARENA. Rendón arbeitet eng mit der rechten Opposition in Venezuela zusammen, die dort seit Monaten die Destabilisierung des Landes durch Gewalt und Eskalation heraufbeschwört. Die Argumente und Parolen stammen aus den 1980er Jahren („Vaterland ja, Kommunismus nein!“). Dada Hirezi, ehemaliger Wirtschaftsminister der Regierung Funes, appellierte an seine Mitbürger_innen, als letztes Land endlich auch den kalten Krieg hinter sich zu lassen.
Dass die Situation nicht außer Kontrolle geriet, wie bei ähnlichen Versuchen in Honduras oder Paraguay, kann neben anderen Faktoren auf die reibungslos ablaufende Wahlbeteiligung der salvadorianischen Bevölkerung zurückgeführt werden. Es kam zu keinen größeren Zwischenfällen in den Wahllokalen, im Gegenteil, die ersten Wähler_innen wurden mit Applaus von den Wahlhelfer_innen aller Parteien empfangen und auch die Basis beider Parteien verhielt sich am Wahltag einwandfrei. Darüber hinaus verrichtete das oberste Wahlgericht vor, während und nach den Wahlen eine exzellente Arbeit. Sie lieferten nicht nur detaillierte Informationen für die Bevölkerung, sondern sorgten zudem für eine umfassende Ausbildung der Wahlhelfer_innen. Der Wahlkampf wurde gewissenhaft kontrolliert, auf Ankündigung von Sanktionen bei Überschreiten des Wahlgesetzes schnell reagiert und die Auszählung der Stimmen sowie die Kommunikation der Zwischen- und Endergebnisse erfolgte absolut transparent. Dies bestätigten auch nationale und internationale Wahlbeobachter_innen, unter anderem Delegationen der Vereinten Nationen, der USA sowie von ökumenischer und ziviler Seite. Nicht unwesentlich war auch die Haltung der FMLN, die sich nicht von Parolen und Aktionen provozieren ließen, so dass schließlich die Ruhe im Land zurückkehrte.
Am 26. März stand dann das endgültige Verdikt des obersten Wahlgerichtes: Die FMLN hält mit 1.495.815 Stimmen einen Vorsprung von 6.634 Wähler_innen vor der Rechtspartei ARENA. Der neugewählte Präsident, Sanchéz Cerén und sein Vize, Oscar Ortíz, wurden offiziell als Amtsnachfolger bestätigt. Noch am selben Tag gestand die Parteiführung von ARENA ihre Wahlniederlage ein. Ihr Ideologiechef, Ernesto Muyshondt, bezeichnete das neue Landesoberhaupt als legal, jedoch nicht legitim. Es gibt Befürchtungen, dass sich dieser Diskurs durch die Legislaturperiode ziehen wird. Dafür spricht der knappe Rückstand der Rechtspartei von zehn Prozentpunkten im ersten Wahlgang. Für den neuen Präsidenten spricht hingegen die rege Wahlbeteiligung der Bevölkerung, die von 61 Prozent beim ersten Wahlgang auf 75 Prozent beim zweiten Wahlgang überaus hoch war. In der Geschichte des Landes gab es bislang keinen Präsidenten, der so viele Stimmen für sich vereinen konnte wie der ehemalige Guerrillakommandant, Lehrer und Unterzeichner der Friedensverträge Salvador Sanchéz Cerén.
Insofern stellt für viele die bisherige Regierung unter Mauricio Funes, der erst als Präsidentschaftskandidat der FMLN beigetreten war, eine Übergangsregierung dar, welche für die neue Regierung den Weg für einen tiefgreiferenden strukturellen Wandel bereitet hat. Eine zentrale Herausforderung für die „Regierung des Wandels“ stellt zweifelsohne der marode Staatshaushalt dar. Die Steuerpolitik braucht dringend Reformen: der ärmste Teil der Bevölkerung trägt die größte Steuerlast, Großunternehmen zahlen hingegen oft keine Steuern, die Pensionskasse wurde bereits von ARENA an der Börse verspielt und die Balance von Staatsausgaben und Einnahmen ist derart negativ, dass die Regierung voraussichtlich im August pleite ist. Bedrohliche Ausmaße nimmt auch die Umweltkrise ein. Laut Angel Ibarra, Präsident der salvadorianischen Umweltorganisation UNES, besteht der dringende Bedarf eine nachhaltige Grundlage für das Wohl der Bevölkerung zu schaffen. Umweltstandards in der Wirtschaft in Form von Regulierung der Wasserreserven und Bodennutzung müssen umgesetzt werden, um nicht in ein paar Jahren im kompletten Notstand zu stehen.
Um den vielfältigen Problemen Einhalt zu gebieten, bedarf es jedenfalls eines Staatsprojektes, welches sowohl die Grenzen der alle fünf Jahre neu ausgehandelte Regierungspolitik als auch die Polarisierung des Landes überwindet. Ein Entwicklungsmodell, welches nicht große Teile der Bevölkerung ausschließt und zur Migration treibt, sondern die verschiedenen Generationen mit einbezieht und Räume zum Dialog und Mitbestimmung öffnet und bestärkt, damit das soziale Geflecht gefestigt und so auch der strukturellen Krise der Gewalt entgegenwirken werden kann.
Sanchéz Cerén hat sich bereits mit verschiedenen Repräsentant_innen und Wirtschaftsvertreter_innen getroffen und auch die Opposition zum nationalen Dialog eingeladen. Der Rechtsbeirat von ARENA, Juan Jose Guerrero, ruft seine Parteigenoss_innen dazu auf, die Entscheidung des Wahlgerichtes anzunehmen, die Institutionen zu respektieren und die wichtigen Themen des Landes gemeinsam zu diskutieren. Zudem natürlich auch, sich auf die Parlamentswahlen 2015 vorzubereiten.
// Anne Hild

Kolumbianische Schule

Alles scheint wieder in geregelten Bahnen zu laufen in Paraguay. Am 15. August übernahm der Präsident Horacio Cartes von der Alianza Nacional Republicana, den Colorados, die Regierung. Damit sieht es so aus, als sei das Land wieder zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückgekehrt.
Dies erkannten jedenfalls die Nachbarländer so an. Nach der umstrittenen Absetzung von Präsident Fernando Lugo im Juni 2012 setzte das Wirtschaftsbündnis MERCOSUR zunächst die Mitgliedschaft Paraguays aus (siehe LN 467). Den Übergangspräsidenten Federico Franco erkannte der MERCOSUR nie richtig an. Mit der Wahl von Cartes ist diese Episode nun vergessen. Paraguay soll das Bündnis im Dezember sogar bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU vertreten.
Die meisten linken Aktivist_innen, Oppositionellen und Gewerkschafter_innen Paraguays sehen dies anders. Bevor sie eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung akzeptieren, fordern sie eine Aufklärung der Geschehnisse von Curuguaty. Am 15. Juni war es in der Gemeinde im Osten Paraguays auf der besetzten Farm Marina Kué zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und der Polizei gekommen. Die Besetzer_innen verlangten eine Enteignung der Farm, da sie den inzwischen verstorbenen Unternehmer Riquelme Blas beschuldigten, sich diese illegal angeeignet zu haben. Bei der Räumung war es zu einer Schießerei gekommen, bei der mindestens 17 Personen starben. Die Opposition im paraguayischen Kongress hatte den Gewaltausbruch genutzt, um den linken Präsidenten Fernando Lugo im Schnellverfahren abzusetzen (siehe LN 457/458).
Noch immer ist nicht völlig gesichert, was in Curuguaty wirklich geschah. Nach der offiziellen Version begannen einige Besetzer_innen, auf die Polizei zu schießen, die sich dann nur wehrte. Die meisten unabhängigen Untersuchungen von Menschenrechtsgruppen, wie der paraguayischen Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, deuten dagegen darauf hin, dass Unbekannte das Feuer aus einem Hinterhalt eröffneten. Danach sei die Polizei mit großer Brutalität gegen die Besetzer_innen vorgegangen und habe mehrere unbewaffnete Personen regelrecht hingerichtet. Eine gerichtliche Aufarbeitung wird dadurch behindert, dass viele Besetzer_innen, die als Zeug_innen aussagen könnten, weiterhin inhaftiert sind. Vidal Vega, einen Bauernaktivisten, der zur Aussage gegen die Polizei bereit war, traf es noch schlimmer: Er wurde am 1. Dezember 2012 ermordet (siehe LN 463).
Inzwischen haben vor allem Student_innen und junge Aktivist_innen die Bewegung 138 gegründet. Der Name bezieht sich auf einen Artikel in der paraguayischen Verfassung, der die Pflicht zum Widerstand mit allen Mitteln vorsieht, sollte eine Regierung unrechtmäßig an die Macht gelangt sein. Für sie war der Gewaltausbruch Teil eines Plans, um die linksgerichtete Regierung von Präsident Lugo abzusetzen. Sie fordern die Enteignung der Farm Marina Kué, die Aufklärung des Verbrechens, die Freilassung aller Gefangenen, die seit dem Vorfall von Curuguaty inhaftiert sind und die Bestrafung der wirklichen Täter. Solange dies nicht geschehe, könne man nicht davon reden, dass in Paraguay demokratische Verhältnisse herrschten.
Mittlerweile haben sich tausende Menschen in Paraguay und im Ausland mit einem Schild abbilden lassen, auf dem „Sabemos que pasó en Curuguaty!“ oder auf Guaraní „Roikuaa mba‘e oiko curuguatetýpe“ steht: „Ich weiß, was in Curuguaty geschah.“ Sie wollen damit deutlich machen, dass sie die offizielle Version für das Massaker nicht anerkennen.
Der neue Präsident ignoriert währenddessen öffentlich diese Proteste. Horacio Cartes ist einer der reichsten Männer Paraguays. Seine Partei, die Colorados, stellt eine Art Staatspartei dar, die vor allem die Interessen der Unternehmer_innen des Landes vertritt, insbesondere der mächtigen Agrarindustrie.
Die Botschaft der Regierung ist klar: Es herrscht Ruhe im Land, alle können wieder zum Alltag übergehen. Eine von mehreren Maßnahmen, mit denen die arme Bevölkerungsmehrheit des Landes weitgehend marginalisiert wird. Auch die kostenlose Gesundheitsversorgung und Schulbildung, die Fernando Lugo eingeführt hatte, wurden wieder abgeschafft. In seiner kurzen Amtszeit hat Cartes so bereits viele Befürchtungen von linken Aktivist_innen bestätigt.
Die wichtigsten Medien des Landes unterstützen dagegen die Regierung. ABC Color, die größte Zeitung Paraguays, behauptet, dass die Proteste nur von einer linken Minderheit ausgingen und schweigt die Bewegung tot. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung zu einem Gesetz, das von Cartes am 28. Oktober erlassen wurde und Private Public Partnerships erleichtern soll. Kritiker_innen sehen darin einen Ausverkauf des Landes zugunsten von privaten Unternehmen und riefen zu Protesten auf. In einem Editorial hatte ABC Color dazu geschrieben, die Proteste würden nur von korrupten Gewerkschafter_innen ausgehen. Die Gewerkschaft der Journalisten Paraguays beschuldigte ABC Color daraufhin, die Proteste zu kriminalisieren und die Berichterstattung zum umstrittenen Gesetz de facto zu zensieren.
Gegen die Guerrillabewegung „Heer des paraguayischen Volkes“ EPP setzt Horacio Cartes auf Repression. Er kündigte wörtlich an, einen Krieg gegen sie führen zu wollen. Dieses Vorgehen resultiert bisher aber vor allem in der Repression von Kleinbäuerinnen und -bauern und linken Aktivist_innen, insbesondere in den ländlichen Regionen im armen Norden Paraguays.
Miriam Duarte ist Aktivistin der Kleinbauernbewegung Paraguays MCP, die seit 1980 für eine Landreform kämpft und im globalen Netzwerk Vía Campesina organisiert ist. Am 8. Oktober sprach sie in den Räumen des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika über die Situation von Aktivist_innen in Paraguay.
Die Aussagen von Cartes gegen die EPP hält sie für verlogen. „Die EPP und Cartes sind Verbündete,“ erklärte sie gegenüber den LN. Horacio Cartes steht seit längerem unter Verdacht, Verbindungen zur Drogenmafia zu unterhalten. Miriam Duarte glaubt, dass Regierung, Mafia und EPP mit Unterstützung der Medien zusammenarbeiten würden, um ein Klima der Gewalt im Land zu erzeugen. Ein Beispiel für diese Entwicklung sei Kolumbien, wo ebenfalls jegliche Proteste gegen Unternehmen kriminalisiert würden, indem man sie bezichtige, die Guerilla zu unterstützen.
„Die Medien bauschen die EPP auf, um uns zu kriminalisieren“, sagt Duarte. Obwohl sie aus der Region komme, wo die EPP agiere, kenne sie nur eine Person, die in der Guerilla aktiv sei. Gleichzeitig bauen Agrarunternehmen auf immer mehr Flächen gentechnisch modifiziertes Soja an und entziehen den Kleinbäuerinnen und -bauern dadurch die Lebensgrundlage. Zudem entstehen im Norden Paraguays im großen Stil Marihuanaplantagen. Um ihre Interessen zu verteidigen, bauen die Unternehmen sich mit Hilfe von Sicherheitsunternehmen regelrechte Privatarmeen auf. Wer sich dagegen wehrt, lebt gefährlich. Gegen die Proteste der Kleinbäuerinnen und -bauern gehen die Sicherheitskräfte und – mit Verweis auf die Guerrilla – auch die Regierung mit äußerster Brutalität vor. Die Verbrechen, die an Aktivist_innen begangen werden, die sich gegen die Ausweitung der Agrarindustrie in Paraguay wenden, bleiben dagegen fast immer ungeahndet. Seit 1989, dem Jahr als die Diktatur offiziell in Paraguay endete, wurden 129 Kleinbäuerinnen und -bauern im Kontext von Landkonflikten ermordet.
Die einzige Möglichkeit, diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, sei es, durch unabhängige Medien über die Zusammenhänge der Gewalt aufzuklären, erklärt Miriam Duarte. In diesem Sinne geht es um viel mehr als nur um ein Massaker, wenn Aktivist_innen fordern, die Wahrheit über Curuguaty zu erfahren. Es geht darum, zu verhindern, dass Paraguay eine Entwicklung nimmt wie Kolumbien, wo die Gewalt auf dem Land zur Vertreibung und Ermordung von Millionen von Kleinbäuerinnen und -bauern geführt hat.

„Geh‘ doch nach drüben“ auf brasilianisch

Es war eine historische Rede. Luiz Ruffato hat bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengast Brasilien die Mißstände in seinem Land beschrieben und dessen Paradoxien benannt: Gesicherte Wohnanlagen einerseits und Favelas mit Drogenhändlern und korrupten Polizisten andererseits, die weltweit größte Gay Parade und größte Anzahl homophober Attacken, die siebtgrößte Weltwirtschaftsmacht versus der dritte Platz auf der Liste der Ungleichheiten. Die brasilianische Geschichte stütze sich „fast ausschließlich auf der ausdrücklichen Negation des Anderen durch Gewalt und Gleichgültigkeit.“
Für seine klaren Worte erhielt er stehenden Applaus, aber auch andere Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Cartoonist Ziraldo rief: „Dann geh‘ doch aus Brasilien weg!“ und auch andere Schriftsteller der alten Garde grüßten Ruffato am nächsten Tag nicht mehr.
Viele andere Kolleg_innen lobten indes seine Rede. Der Dichter Chacal, bekannt durch seine experimentelle Poesie, berichtete, wie ergriffen er war. In Anspielung auf den brasilianischen Vize-Präsidenten Michel Temer, der in seiner Rede gesagt hatte, dass er selbst ebenfalls Gedichte schreibe, ließ auch Marçal Aquino es sich nicht nehmen zu kommentieren: „Besser ein Künstler der Politik macht, als ein Politiker, der Gedichte schreibt.“ Der junge Schriftsteller João Paulo Cuenca verfasste direkt ein Manifest zur Unterstützung der Rede Ruffatos. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Ruffato über die Kritik an seinen Auftritt.

Herr Ruffato, welche Reaktionen gab es auf Ihre Eröffnungsrede?
Besonders in den sozialen Medien gab es viele agressive Reaktionen auf meine Rede. Eigentlich wollte ich nur, dass die Leute meine Rede lesen und – egal ob sie der gleichen Meinung sind oder nicht – als ein Vorschlag zu Reflexion betrachten. Viele unterstützten mich. Aber die Menschen, die nicht mit mir einverstanden waren, waren sehr aggressiv.
Sie meinten, ich dürfe nicht schlecht über Brasilien reden – besonders nicht hier in Deutschland. Ich habe nicht schlecht über Brasilien gesprochen. Meine Rede war eine Liebeserklärung an Brasilien. Ich hätte das Recht auf einen europäischen Pass. Alle wollen einen europäischen Pass. Ich habe ihn nie gewollt, weil ich mich als Brasilianer empfinde. Die Kritik hat mich sehr verletzt. Es war keine Kritik des Dialogs. Sie wollen, dass ich das Land verlasse.

Jemand sagte, „Er hat die Polemik im Koffer mitgebracht“. Ist es nicht erlaubt, Brasilien zu kritisieren?
Erstens habe ich nicht anderes gesagt, als das, was ich auch bislang immer in Interviews geantwortet habe. Zweitens habe ich als Bürger das Recht zusagen, was ich denke. Wo kann man eine intellektuelle Meinung äussern, wenn nicht an einem Platz, wo Ideen diskutiert werden. Ich sehe dies nicht als Polemik.

Das Image Brasiliens soll für die WM 2014 nicht beschädigt werden?
Wir sind Machos und scheinheilig. Niemand will dies hören. Die Leute wollen, dass wir weiterhin als fröhliche, nette Menschen gesehen werden. Wir sind gar nicht so.

Migration ist ein bestimmendes Thema in Ihren Büchern. Heutzutage ist in Brasilien noch immer eine Ausländergesetzgebung aus Zeiten der Diktatur in Kraft. Wie sehen Sie das im Zusammenhang mit den kubanischen Ärzt_innen und den Portugies_innen und Spanier_innen, die nach Brasilien kommen?
Die Reaktion auf die kubanischen Ärzte war ein klares Zeugnis der Xenophobie. All diese Kommentare über die Qualität der kubanischen Medizin. Und die brasilianische Medizin? Wir sind ein aufgeschlossenes Land und können uns solch ein Verhalten nicht erlauben. Wenige Leute wissen, dass heutzutage die Migrant_innen Arme aus Bolivien und Paraguay sind, die unter sklavenähnlichen Verhältnissen in Brasilien arbeiten. Wir haben keine hochwertige Erziehung, wir bilden keine qualifizierten Kräfte aus. Heute importieren wir Fachkräfte, um die Probleme zu lösen, die der Staat nicht löst. Noch immer wird Staat mit Regierung verwechselt. Meine Kritik richtet sich an den Staat und nicht an die Regierung. Die Diskussion über Migration müssen wir in Angriff nehmen.

Sie haben den fünfteiligen Zyklus Vorläufige Hölle geschrieben, der bis ins Jahr 2002 reicht. Der erste Band ist bereits auf deutsch unter dem Titel Mama, es geht mir gut bei Assoziation A erschienen. Haben Sie vor, einen weiteren Band über die Migrationsentwicklung bis heute zu schreiben?
Nein, er hört nicht aus Zufall 2002 auf. 2002 wurde Lula gewählt und es begann eine neue Ära. Brasilien ist heute industralisiert und urbanisiert und der größte Teil der Bevölkerung lebt in der Stadt. Aber es ist ein Land, das die grundsätzlichen Probleme, über die ich in meinen Büchern schreibe, nicht gelöst hat. Allerdings ist meine Rolle als Schriftsteller bereits erschöpft. In all meinen acht Romanen habe ich dies beschrieben. Ich möchte jetzt andere Themen diskutieren. Aber sicherlich werde ich es als Bürger nicht sein lassen, die bislang von mir angesprochenen Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich habe dazu nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.

Im August hat die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel kritisiert, dass nur ein schwarzer und ein indigener Repräsentant auf die Buchmesse eingeladen wurden. Ist die afrobrasilianische Literatur ausreichend präsentiert?
Ich glaube, die Diskussion ist eigentlich, wie es überhaupt in der brasilianischen Gesellschaft aussieht. Es gibt kaum schwarze Ärzte, kaum schwarze Ingenieure, kaum Rechtsanwälte, kaum Journalisten. Das Problem liegt nicht bei dem Kuratorium, das verschiedene Stimmen aus Brasilien ausgewählt hat, sondern im Rassismus der brasilianischen Gesellschaft, die den Menschen nicht erlaubt sozial aufzusteigen. Das Paradox ist die schlechte Bildung.

Und zum Abschluss, wie ist die Reaktion auf Ihre Bücher?
Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass meine Bücher in Deutschland heutzutage bekannter beziehungsweise sichtbarer sind als in Brasilien. Das ist unglaublich. Ich habe schon mit meinem Verleger gescherzt – wenn ich in Brasilien Repressionen erfahre, beantrage ich hier Asyl.

Die komplette Rede Ruffatos (in deutscher Übersetzung von Michael Kegler) ist auf www.faustkultur.de nachzulesen.

Wege ins Exil

Uruguay sei ein Land „mit einer längeren demokratischen Tradition und seit der Jahrhundertwende für diese Weltgegend vorbildlichen sozialstaatlichen Einrichtungen“, hieß es 1939 in einer Broschüre des Hilfsvereins der Juden in Deutschland. Das kleine Land zwischen Brasilien und Argentinien wurde zum Zufluchtsort für etwa 10.000 Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, was in Relation zur Einwohner_innenzahl weitaus mehr waren als in den USA oder Argentinien. Gründe hierfür waren die liberale Einwanderungspolitik Uruguays und die – verglichen mit anderen Staaten Südamerikas – recht stabilen ökonomischen und politischen Bedingungen. Das europäische Flüchtlingsproblem war zudem früh in Uruguay thematisiert worden. Dies drückte sich beispielsweise darin aus, dass Uruguay einen Sitz im Governing Body des 1933 berufenen Hochkommissars für Flüchtlinge aus Deutschland innehatte, dem das Land als einziger nicht-europäischer Staat neben den USA angehörte. Im Gegensatz zu Brasilien, Paraguay oder Argentinien gab es auch keine Versuche, Juden von der Einwanderung auszuschließen, indem man etwa die Taufe zur Voraussetzung machte.
Wegner verfolgt einen interessanten Ansatz: Neben 51 Interviews mit Emigrant_innen und zahlreichen autobiographischen Zeugnissen sowie den Gemeindeblättern der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde wertete sie Akten aus dem uruguayischen Innenministerium aus sowie Zeitungsberichte über die Einwander_innen. Daneben werden auch Dokumente der deutschen Verfolger_innen berücksichtigt, die Berichte des deutschen Gesandten in Montevideo ebenso wie Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. So werden Aspekte berücksichtigt, die in der Literatur über das Exil häufig zu kurz kommen, etwa die Haltung der deutschen Kolonie in Uruguay gegenüber den jüdischen Flüchtlingen oder auch Auseinandersetzungen innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft selbst. Dieser weite Horizont ist zugleich jedoch auch ein Problem des Werks, dem es zuweilen nicht gelingt, die wesentlichen Fakten für das Exil in Uruguay von der allgemeinen Geschichte der Vertreibung aus Europa zu trennen.
Der erste Teil widmet sich unter dem Titel Wege ins Exil den Umständen der Vertreibung. Der Terror in Deutschland wird ebenso geschildert wie die jüdische Selbsthilfe für Flüchtlinge und die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf die Not zu reagieren. Die Darstellung ist allerdings insgesamt sehr lang geraten, was nicht zuletzt an den vielen Wiederholungen liegt. Es wird hier kaum etwas geboten, was nicht schon an anderer Stelle präziser beschrieben worden wäre. Das ist schade, denn viele Facetten des uruguayischen Exils sind spannend und dazu geeignet, den Blick auf die Flucht nach Lateinamerika insgesamt zu verändern.
So wird die Bedeutung der vor 1933 eingewanderten, vor allem osteuropäischen Juden thematisiert. Diese solidarisierten sich mit den Flüchtlingen aus Deutschland und halfen bei den ersten Schritten in Uruguay. Eine Integration in die bereits bestehenden Gemeinden scheiterte aber. Es konstituierte sich eine deutschsprachige Gemeinde, die bis heute unter dem Namen Nueva Congregación Israelita de Montevideo (NCI) existiert und in der sich ein Großteil der Flüchtlinge organisierte. Die NCI war nicht nur religiöses, sondern auch soziales Zentrum vieler Einwanderer_innen. Neben finanzieller Unterstützung, die vor allem aus Mitteln US-amerikanischer Hilfsorganisationen gewährt werden konnte, gab es eine Arbeitsvermittlung, einen Gesundheitsdienst und Sprachkurse. Die wichtigste historische Quelle ist das Gemeindeblatt Boletín Informativo, das ab März 1938 monatlich erschien und von einem ehemals stellvertretenden Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin geleitet wurde. Hier wurden auch politische Fragen diskutiert, so etwa die Haltung zu Deutschland und der deutschen Kolonie in Uruguay. Während einige Flüchtlinge ihren Aufenthalt nur als Exil betrachteten und auf eine Rückkehr in ein „anderes“ und demokratisches Deutschland hofften, sahen die meisten Juden ihre Vertreibung als endgültig an. Dieser Konflikt spielte auch in dem anderen für die Flüchtlinge relevanten Medium eine Rolle: der ab 1938 täglichen Rundfunksendung La Voz del Día – Die Stimme des Tages. Deren Sendeleiter Hermann P. Gebhardt richtete seine „deutsche demokratische Rundfunkstunde“ ausdrücklich auch an nicht-jüdische Hörer_innen. In der Gemeinde wurde Gebhardt 1942 scharf kritisiert, da er auf einer antifaschistischen Kundgebung mit dem Motto „Deutschland ist nicht Hitler“ aufgetreten war. Die Kritiker_innen attestierten Gebhardt eine „einseitige und unglückliche Liebe“ und wiesen darauf hin, dass sich sowohl das antifaschistische Komitee als auch der Mitarbeiter_innenstab seiner Rundfunkstunde fast ausschließlich aus Juden und Jüdinnen zusammensetzte, während die nicht-jüdischen Deutschen auf Distanz blieben. Der Hintergrund, vor dem diese Auseinandersetzungen stattfanden, waren erste Nachrichten über die Verfolgung in Deutschland. Im April 1941 wurde im Gemeindeblatt auf vier Seiten über die furchtbare Lage badischer Juden berichtet, die in das französische Internierungslager Gurs deportiert worden waren. Versuche der uruguayischen Gemeinden, 500 Kinder aus Frankreich zu retten, scheiterte im Oktober 1942. Trotz dieser Nachrichten blieb Gebhardt bei seiner Haltung. Noch 1948 antwortete er auf Kritik: „Goethe hat nicht die Verbrennungsöfen von Auschwitz angezündet. Mozart hat nicht das Horst-Wessel-Lied komponiert.“ Diese Auseinandersetzungen sind Zeugnisse eines im Vergleich mit anderen Fluchtländern bemerkenswert offenen Klimas. Die Flüchtlinge konnten sich politisch betätigen; von der gegen deutsche Propaganda gerichteten Bestimmung, ab dem 28. Januar 1942 nur noch in einer der offiziellen Sprachen Lateinamerikas zu publizieren, waren die Presseerzeugnisse der jüdischen Gemeinde ausgenommen. Diese Schilderungen des Lebens in der Emigration sind sehr lesenswert und häufig überraschend. Dies gilt auch für die biographischen Porträts, etwa jenes von Rudolf Hirschfeld, der in Hamburg ein Modehaus besaß und mit Hilfe des uruguayischen Konsuls aus Nazi-Deutschland fliehen konnte, oder die Geschichte Annemarie Rübens, einer evangelischen Theologin, die ein Ferienheim für Flüchtlingskinder aus Montevideo und Buenos Aires gründete. Die Casa Rübens wurde 1973 ein zweites Mal zur Zuflucht, als die damals über 70-jährige ihr Haus für die Kinder Inhaftierter der Militärdiktatur öffnete.
Diese persönlichen Darstellungen sind ein großer Reichtum des Buches und es wäre sinnvoll gewesen, eine Übersicht über die Interviewpartner_innen, ihren Hintergrund, ihre Herkunft, ihren Werdegang zu geben. Diese fehlt leider ebenso wie ein Exemplar des von der Autorin verwendeten Fragenkataloges. Weniger Zusammenfassung von Übersichtsdarstellungen und ein klarerer Fokus auf die eigenen Forschungsergebnisse wäre wünschenswert gewesen. Trotz dieser Mängel handelt es sich bei dem Werk um einen wichtigen Beitrag zur Geschichte jüdischer Flüchtlinge in Südamerika, an dem niemand, der sich mit dem Thema beschäftigt, vorbeigehen sollte.

Sonja Wegner // Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933-1945 // Berlin 2013 // Assoziation A // 375 Seiten // 22,00 Euro // www.assoziation-a.de

Rinderfarmen im Pekari-Land

Sie nennen sie „Stahlmonster“: die großen Planierraupen, die sich immer häufiger im Norden des paraguayischen Chacogebietes zeigen. Für die indigenen Ayoreo-Totobiegosode bringen diese modernen Ungetüme die Zerstörung ihrer Lebenswelt. Die schweren Arbeitsgeräte pflügen durch den dichten Trockenbusch der Tiefebene im Nordwesten Paraguays und hinterlassen nur noch nackte Erde. Auf ihr sollen Gräser wachsen, damit Rinder weiden können.
Früher galt der Monte, der Buschwald im nördlichen Chaco, als undurchdringlich und gefährlich. Für moderne Maschinen ist aber diese Vegetation, die perfekt an das semi-aride und extrem heiße Klima im Chaco angepasst ist, keine wirkliche Herausforderung mehr. Das einzigartige Ökosystem ist für Viehzüchter_innen kaum mehr als etwas Unkraut, das sich leicht beseitigen lässt.
Wegen steigender Landpreise in den anderen Teilen Südamerikas und wegen der hohen Lebensmittelpreise wird nun der vormals vergessene Chaco für die Agrarindustrie interessant. Auf Satellitenbildern lässt sich die fortschreitende Zerstörung des typischen Buschwaldes im Chaco gut nachvollziehen. Immer mehr schachbrettartige Muster sind zu erkennen, mit dünnen, dunkleren Streifen zwischen den Feldern. Dies sind gerodete Flächen, auf denen Viehweiden entstehen. Die dunklen Streifen sind dann alles, was vom Buschwald übrig bleibt.
Für die Totobiegosode, eine Untergruppe der Ayoreo, bedeutet dies eine Katastrophe. Die Indigenen leben in Familienverbänden als Halbnomad_innen im dichten Buschwald des Chaco. Sie pflegen Gärten, sammeln Wurzeln und wilden Honig im Wald und jagen die Wildschweinen ähnlichen Chaco-Pekaris. Sie wissen, wie man in den langen Trockenperioden im Chaco Flüssigkeit finden kann. Ihre Selbstbezeichnung Totobiegosode bedeutet in ihrer Sprache „Leute von dort, wo die Pekaris leben“.
Doch wenn einmal der Wald gerodet wurde und Rinder darauf weiden, gibt es keine Pekaris mehr. Mit dem Wald verlieren auch die Totobiegosode ihre Lebensgrundlage. Sie müssen weiterziehen, in der Hoffnung, noch freie Waldflächen zu finden. Widerstand gegen die Fremden, die ihnen ihr Land wegnehmen, das haben die Totobiegosode gelernt, ist zwecklos. Den „Stahlmonstern“ machen ihre Speere wenig aus.
Einige Gruppen der Totobiegosode gehören zu den letzten Indigenen im Chaco, die noch in freiwilliger Isolation leben. Da die Ausbreitung der globalisierten Zivilisation ihnen nur Tod durch eingeschleppte Krankheiten und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage gebracht hat, vermeiden sie jeden Kontakt zu Außenstehenden.
Die meisten anderen Ayoreo, auch viele Totobiegosode, haben aber inzwischen Kontakt mit der Außenwelt. Doch in ihren Überlieferungen bezeichnen sie das Eindringen der Fremden in ihre Welt als Katastrophe. Der erste Kontakt zwischen Fremden und Ayoreo war praktisch immer gewaltsam und brutal. Die evangelikale Missionsgesellschaft New Tribes Mission aus den USA veranstaltete ab den 1950er Jahren Menschenjagden auf die Ayoreo. Mit Hubschraubern und Gewehren schüchterten sie die Ayoreo-Gruppen ein, um ihnen den vermeintlichen Segen des Evangeliums nahezubringen. Die „Bekehrung“ der Indigenen war den nordamerikanischen Missionar_innen dabei wichtiger als deren Überleben. Hunderte Ayoreo starben bei den gewaltsam herbeigeführten Erstkontakten, wie der Anthropologe José Perasso in einer Untersuchung 1987 belegte.
Die meisten Ayoreo erlagen Krankheiten, gegen die sie keine Abwehrkräfte hatten. Die Überlebenden müssen nun verarmt als Bettler oder Wanderarbeiter_innen auf den Viehfarmen leben, die sich über das Land erstrecken, das einstmals ihnen gehörte. Es fanden sich aber auch Anthropolog_innen, die die Ayoreo unterstützten. Verena Regehr, die als Nachfahrin mennonitischer Einwander_innen im Chaco aufwuchs, kämpft seit 1993 mit den Ayoreo gemeinsam für deren Rechte. Seitdem haben sie es geschafft, dass wenigstens einige Territorien der Ayoreo vom paraguayischen Staat als deren Besitz anerkannt wird.
Doch in Paraguay, wo die verfilzte Justiz im Zweifel für die Interessen mächtiger Großgrundbesitzer_innen entscheidet, ist dies eine schwierige Aufgabe. Während die Anerkennung indigener Territorien jahrelange Prozesse vor der Justiz verlangt, schreiten die „Stahlmonster“ weiter im Chaco voran und zerstören die letzten Trockenwälder.
Offiziell ist das Land im Chaco bereits seit 1883 verkauft. Damals veräußerte der bankrotte paraguayische Staat die einzige Ressource, die er noch hatte, das staatliche Land. Nur etwa 50 Personen und Firmen kauften dabei das Land im Chaco Boreal, einer Region, ungefähr so groß wie das heutige Polen.
Im Süden des Chaco wurden gerbstoffreiche Hölzer für die Lederindustrie gewonnen, riesige Viehfarmen entstanden und einige wenige Siedlungen europäischstämmiger Einwander_innen wurden aufgebaut. Doch der Chaco blieb ein sehr dünn besiedeltes Land. Dies galt insbesondere für den nördlichen Chaco, der von den damals Moros genannten Ayoreo bewohnt wurde, die als gefährliche Feind_innen der „Weißen“ galten.
Diese mythische Vorstellung des nördlichen Chaco als gefährliches und unrentables Land hat sich in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich gewandelt. Nun ist es eine der letzten vermeintlich „freien“ Regionen, in die sich die expandierende globale Landwirtschaft noch ausbreiten kann.
An diesem Boom möchte auch das wichtigste Unternehmen im Chaco Boreal teilhaben. Seit 1883 ist das vom spanischen Einwanderer Carlos Casado gegründete Unternehmen der größte Landbesitzer im Chaco. Das argentinisch-paraguayische Mischunternehmen Carlos Casado S.A. gehört inzwischen mehrheitlich der spanischen Unternehmensgruppe San José, im Besitz des Magnaten Jacinto Rey González.
Das Unternehmen möchte nun den nördlichen Teil seiner riesigen Besitzungen im Chaco in Wert setzen. In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierte der Konzern seine Aktivitäten auf den südlichen Teil des Chaco Boreals. Rinderfarmen sollen nun im Norden entstehen und auch der Anbau von Jatropha-Pflanzen für die Biodieselproduktion wird angedacht. Dafür beseitigt das Unternehmen den Buschwald im Chaco, in dem häufig noch unkontaktierte Totobiegosode leben. Gegen dieses Vorgehen haben diverse Nichtregierungsorganisationen Protest eingelegt. Die Totobiegosode-Organisation OPIT, die sich auch für die in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo einsetzt, hatte im vergangenen Jahr Klage gegen Carlos Casado S.A. eingereicht. Auch Survival International machte auf die Zerstörung der Lebensgrundlage der Ayoreo durch das Unternehmen aufmerksam.
Carlos Casado setzte dagegen seine Anwält_innen ein. Von der Umweltbehörde erlangten sie eine Bestätigung, dass ihre Rodungen im Chaco nicht die Umwelt zerstören würden. Eine wirkliche Untersuchung wurde dabei nicht durchgeführt. Schon immer hat der paraguayische Staat gegenüber dem mächtigen argentinischen Unternehmen gekuscht. Carlos Casado S.A. sieht sich im Recht. Auf seiner Homepage veröffentlicht das Unternehmen Erklärungen, dass keine Untersuchungen der Justiz gegen das Unternehmen in Arbeit seien. Das Land, das das Unternehmen bearbeite, gehöre ihm auch. Es lasse sich nichts zu schulden kommen.
Formaljuristisch scheint dies erstmal richtig zu sein. Carlos Casado S.A. ist nach paraguayischem Gesetz Besitzerin der Ländereien im Chaco. Doch dies liegt daran, dass diese Besitztitel im 19. und 20. Jahrhundert vergeben wurden, als niemand auf die Besitzansprüche der indigenen Ayoreo achtete.
Die Totobiegosode, die in freiwilliger Isolation leben, haben naturgemäß keine formalen Besitztitel über ihr Land. Doch die Ayoreo-Organisationen sehen sich dennoch als die Besitzer_innen des Landes. Mateo Sobode Chiquenoi, Präsident der Union der Ayoreos in Paraguay, erklärte es 2011 gegenüber dem US-amerikanischen Journalisten Fred Pearce so: „Wir haben keine Landtitel vorzuweisen, aber es gibt noch unsere Spuren aus der Vergangenheit und der Gegenwart, die beweisen, dass es unser Land ist. Es gibt unsere Hütten, unsere Pfade, die Feldfrüchte, die wir im Wald gezogen haben, und die Löcher in den Bäumen, aus denen wir Honig gesammelt haben. Das sind unsere Besitzurkunden.“
Aber selbst die Legalität der offiziellen Besitztitel von Carlos Casado S.A. kann angezweifelt werden. Wie die argentinische Historikerin Gabriela Dalla Corte 2009 in einer umfassenden Studie zu Carlos Casado S.A. nachwies, waren viele Land­erwerbungen von Carlos Casado 1883 illegal.
Als der paraguayische Staat sein Land damals verkaufte, wurden Regeln aufgestellt, die die Konzentration von riesigen Latifundien in den Händen weniger verhindern sollte. Mit Hilfe von Strohmännern und durch Korruption konnte Carlos Casado diese Gesetze umgehen und kaufte sich damals Land in der Größe von Belgien und Luxemburg zusammen.
Schon in den 1970er Jahren erklärte eine staatliche Untersuchungskommission Paraguays, dass die Aktivitäten des Unternehmens negative Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft erwarten lassen und man eine Teilenteignung erwägen sollte. Da das Unternehmen aber gute Verbindungen zur argentinischen Militärdiktatur hatte, durfte es weitermachen wie bisher, zu groß war die Angst vor einer argentinischen Einflussnahme. Schon lange pflegte die Familie Casado gute Verbindungen in die argentinische Politik und ist mit einigen Präsidenten verwandt gewesen. Auch den Chacokrieg gegen Bolivien kämpfte Paraguay von 1932 bis 1935 nicht zuletzt, um die Investitionen argentinischer Unternehmen im Chaco zu schützen. Der damalige Geschäftsführer José Casado war Schwager des damaligen argentinischen Präsidenten Agustín P. Justo. Auch wenn es heute kein Familienunternehmen mehr ist, kann sich Carlos Casado S.A. auf seine Verbindungen in die Politik verlassen.
So waren die Besitzungen von Carlos Casado S.A. im Chaco immer so etwas wie ein Staat im Staate. Die verstorbene Ethnologin Bratislava Susnik schrieb die Geschichte auf, wie 1925 alle Bewohner_innen eines Dorfs der indigenen Guaná von paraguayischen Militärs ermordet wurden, weil Carlos Casado S.A. die Indigenen des Viehdiebstahls bezichtigte. Das Unternehmen zerstörte den Quebrachowald des südlichen Chaco Boreals, um Gerbstoffe zu gewinnen.
Auf den Fabriken im Hafenort Puerto Casado galten im vergangenen Jahrhundert die Rechte der Arbeiter_innen nichts und das Wort des Geschäftsführers und Sohn des Firmengründers José Casado alles. „Im Himmel Gott, in Puerto Casado José Casado“, soll er gesagt haben.
Angesichts dieser Berichte erscheinen die heutigen Äußerungen von Carlos Casado S.A. zum Streit mit den Ayoreo wie blanker Hohn. Das Unternehmen hätte sich immer ein gutes Verhältnis zu Umwelt und Menschen bemüht, schreibt es im März 2013 in einem offenen Brief an Survival International. Die Indigenen des Chaco Boreal, die nicht erst in den letzten Jahren von Carlos Casado S.A. vertrieben wurden, dürften dies anders sehen.

Stummer Schrei aus dem Maisfeld

Auf den Generalversammlungen von Syngenta, Bayer, BASF, DowChemical und Monsanto werden erst beim Essen der Pausen-Häppchen die Agrarchemikalien Realität. Dann nämlich spielen die zuvor erwähnten Statistiken und Erfolgsrechnungen zum Geschäftsjahr 2012 keine Rolle mehr und die Aktionär_innen der Agrarchemieindustrie treten in physischen Kontakt mit ihren Produkten. Wieviel Glyphosat, 2,4D oder DDT wohl in den Käse- und Schinkencanapées steckt, die in Basel, Leverkusen und Ludwigshafen serviert werden? Was unsichtbar in den Organismus der Aktionäre gelangt, gehört auf dem Feld und in den Gewächshäusern der industrialisierten Landwirtschaft zum sichtbaren Alltag. Die dort eingesetzten Herbizide, Pestizide und Fungizide sollen all das töten, was das Wachstum von Soja, Mais und Baumwolle, aber auch von Äpfeln, Birnen, Erdbeeren oder Kiwis, einschränken könnte. Die Chemikalien, so sagen Vertreter_innen von Syngenta, einem weltweit agierenden Unternehmen im Agrargeschäft, haben bei korrekter Anwendung keinerlei Folgen für Mensch und Umwelt. Damit verschweigen die Konzerne nicht nur Studien, die das Gegenteil belegen, sie drücken gleichzeitig auch ihr Verständnis von Natur aus – worin Larven, Käfer und Wanzen keinen Platz haben. Für die Agrarchemieindustrie ist Natur, was Aktien für ihre Aktionär_innen sind: eine Geldanlage.
Doch Natur ist Lebensgrundlage. Was schon vor Jahrzehnten ein paar aufmerksame Bürger_innen erkannten – in den Medien nannte man sie Umweltschützer_innen – ist heute Teil des öffentlichen Bewusstseins. Deshalb können sich Hersteller_innen von gentechnisch verändertem Saatgut (GMO) und Agrarchemikalien wie Syngenta nicht mehr hinter den Fassaden ihrer Hauptsitze in Europa und Nordamerika verstecken und darauf hoffen, dass niemand etwas merkt. Zu offensichtlich ist ihr Anteil an der Zerstörung besagter Lebensgrundlage: sei es durch die Verseuchung fruchtbarer Böden, die Kontamination biologischen Saatguts durch GMO’s oder die Abholzung von Wäldern, um neue Landwirtschaftsflächen zu erschließen. Hinzu kommen die durch Patente erzwungenen Knebelverträge, bei denen Mais- oder Soja-Produzent_innen nur zwei Möglichkeiten haben: Sie erfüllen die Bedingungen der Herrstellerfirmen oder sie sind weg vom Fenster. Über dieses Vorgehen sind in Agrarexportländern wie Argentinien nur aufmerksame Bürger_innen informiert. Oder betroffene Bevölkerungsschichten, wie jene in Córdoba. Dort wehren sich seit Jahren die Bewohner_innen gegen das Sprühen von Glyphosat und Endosulfan vor ihrer Haustüre; im betroffenen Quartier kam es zu erhöhten Krebsraten und zu Missbildungen bei Neugeborenen. Im August vergangenen Jahres wurden schließlich ein Sojaproduzent und ein Pilot zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil sie gesundheitliche Schäden der Bevölkerung billigend in Kauf genommen hatten. Es war das erste Urteil dieser Art in Lateinamerika.
Ein paar Monate später drangen die Agrarchemikalien dann in die argentinische Hauptstadt vor. Wortwörtlich. Im Hafen von Buenos Aires explodierte kurz vor Weihnachten ein Container mit Thiodicarb, einem Insektizid von Bayer. Während Stunden lag eine dunstige Wolke über der Metropole. Ganze Stadtteile mussten evakuiert werden, Tausende klagten über Atemwegsprobleme, Halsschmerzen und Schwindelgefühl. Die Chemikalie war unterwegs nach Paraguay, in Europa ist Thiodicarb verboten.
Wenige Wochen später stand der Journalist Oscar Alfredo Di Vincensi filmend vor der Sprühmaschine des Sojaproduzenten Juan Manuel Zunino im Städtchen Alberti und forderte ihn auf, den gesetzlich festgeschriebenen Mindestabstand von 1000 Metern zu bewohntem Gebiet einzuhalten. Als sich der Journalist kurz wegdrehte, drückte Zunino auf das Gaspedal und fuhr mit der Sprühmaschine über den Kopf des Journalisten. Di Vincensi musste im Spital behandelt werden.
Konfrontationen wie jene in Alberti sind Alltag in manchen Regionen mit Monokulturanbau in Lateinamerika. Die Menschen, sofern informiert, kämpfen seit Jahren um ihr Land und ihre Gesundheit oder wenigstens um die Einhaltung von Gesetzen – auch wenn diese keinen Sinn machen. Wie will man das Sprühen von schädlichen Substanzen gesetzlich verankern? Konzerne wie Syngenta kennen diese politisch fragilen Strukturen mit ihren leicht korrumpierbaren Politiker_innen und verhalten sich ähnlich wie einst die Kolonialmächte: Sie verunsichern die lokale Bevölkerung mit Falschinformationen und beuten dann über ihre Vermittler_innen die Ressourcen aus.
Im 16. und 17. Jahrhundert wurde das Silber von Potosí ausgebeutet, im 18. und 19. Jahrhundert Nahrungsmittel wie Fleisch oder Getreide und nun all das, was heute potenzielle Geldanlage ist: Gold, Kupfer, Eisen, Lithium, Wasser, Fleisch, Getreide oder Öl. Den Herrschenden im Norden – früher stammten sie aus Königreichen oder Ländern, heute aus multinationalen Großkonzernen – ist dabei jedes Mittel Recht. Auch der Verkauf von Produkten, die in Europa verboten sind. Hauptsache, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsenen Machtverhältnisse können aufrechterhalten bleiben. Ein bisschen Anarchie wie in Alberti kommt da gerade recht. Sie lenkt von den Hintergründen ab. Und die sind bemerkenswert.
Die Meeresbiologin Rachel Carson fragte bereits 1962 in ihrem Buch „Silent Spring“: „Wie nur konnte ein intelligentes Wesen ein paar unerwünschte Arten von Geschöpfen mit einer Methode bekämpfen, die auch die gesamte Umwelt vergiftet und selbst die eigenen Artgenossen mit Krankheit und Tod bedrohte?“. Sie bezieht sich damit auf DDT, das zu dieser Zeit weltweit am meisten eingesetzte Insektizid. DDT stammte aus dem Hause Syngenta (damals J.R. Geigy AG), Entdecker Paul Hermann Müller war 1948 dafür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden.
Wenige Jahre später waren die negativen Folgen von DDT unübersehbar, etwa das Fischsterben durch verseuchtes Grundwasser. Zudem gelangte die Chemikalie durch ihre lange Halbwertszeit in die Nahrungsmittelkette und tötete nicht nur Larven, Käfer und Wanzen, sondern auch Nagetiere und Vögel, die die kontaminierten Tiere fraßen. In den USA, so schreibt Carson, blieben ganze Landstriche stumm zurück. Außerdem lagerte sich DDT im menschlichen Fettgewebe ab und gelangte so auch in die Muttermilch. Die Chemikalie wurde nach langen Protesten Anfang der 1970er Jahre in den meisten westlichen Industriestaaten verboten. Offiziell. Inoffiziell wird DDT nach wie vor gehandelt und eingesetzt. Zumindest außerhalb Europas.
Dieser Widerspruch zwischen Aufstieg und Fall einer Chemiekalie scheint Teil der Strategie von Syngenta zu sein: Zuerst wird ein neues Produkt auf den Markt gebracht, ohne es vorher auf seine Langzeitwirkung untersucht zu haben. Dann wird es als Allheilmittel verkauft, um es nach ein paar Jahren, wenn der Schaden unüberseh- und die Empörung in der Bevölkerung unüberhörbar geworden ist, verbieten zu lassen. Was mit DDT geschah, geschah später mit Paraquat (Syngenta) und Endosulfan (Bayer) – zumindest offiziell.
Inoffiziell wird gehandelt und gesprüht, was das Überleben im globalisierten Kapitalismus ermöglicht. Die Allheilmittel heißen heute 2,4-D (Monsanto) oder Glyphosat (Cilag, Schaffhausen, später Monsanto) und haben ähnliche Folgen wie früher DDT. 2,4-D war Bestandteil des im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange. Zu Glyphosat liegen Studien von Forscher_innen aus Argentinien, Frankreich und zuletzt Deutschland vor, die dessen negative Konsequenzen auf Mensch und Umwelt belegen. Und wer diesen nicht glaubt, dem sei eine Reise in eine der Monokulturen zwischen Pakistan, Burkina Faso und Argentinien empfohlen. Die Bezeichnung „versteckter Genozid“, wie betroffene Argentinier_innen die Situation bezeichnen, erscheint dann plötzlich nicht mehr so unglaublich.
Es spricht nicht für den Fortschritt des von Rahel Carson beschriebenen „intelligenten Wesens“, wenn es vierzig Jahre nach DDT noch immer auf Produkte setzt, die seine eigene Lebensgrundlage gefährdet. Und es spricht nicht für das Funktionieren einer Zivilgesellschaft, wenn Firmen wie Syngenta, Bayer oder BASF – die drei größten Produzenten von Pestiziden weltweit – ihre Hauptsitze in Ländern haben, in denen Werte wie Demokratie, Umwelt oder Menschenrechte hochgehalten werden, ohne dass sich dort Widerstand regt wie in Cordoba oder Alberti. Umwelt-Bewusstsein scheint zwar vorhanden. Doch eine breite öffentliche Diskussion über die herrschenden Produktionsmethoden in der Landwirtschaft – also über einen wesentlichen Teil der menschlichen Lebensgrundlage – findet möglicherweise erst statt, wenn das „intelligente Wesen“ merkt, dass man Geld nicht essen kann.

Sojaland in Bonzenhand

„Zurück auf Los“, so kommentiert Juan Báez von der Sozialpastorale aus Coronel Oviedo im Osten Paraguays das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen am 21. April. Die sozialen Organisationen, die in den letzten Jahren viel Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes und die Lösung der dringendsten sozialen Probleme durch den linken Bischof und Präsidenten Fernando Lugo gesetzt hatten, müssen tief durchatmen.
„Nun ist der parlamentarische Staatsstreich vom Juni letzten Jahres perfekt“, meint Alberto Alderete vom Runden Tisch Nachhaltige Entwicklung, einem Netzwerk von kleinbäuerlichen und indigenen Organisationen. Aus seiner Sicht ist dem Wahlergebnis – außer der Tatsache, dass es sich um einen friedlichen Wahltag mit einer überraschend hohen Wahlbeteiligung von 69 Prozent handelte – nichts Positives abzugewinnen.
Die Colorado-Partei mit ihrem Kandidaten Horacio Cartes erzielte einen deutlichen Wahlsieg von 45,8 Prozent. Sie hatte das Land bis 2008 für gut 61 Jahre regiert, zu denen auch die der Schreckensherrschaft des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner von 1954 bis 1989 gehörten. Die Liberale­ Partei mit Lugos Ex-Minister Efraín Alegre als Kandidaten erhielt nur 36,9 Prozent, weit weniger als erwartet.
Die auf mehreren getrennten Listen antretenden linken Kräfte erreichten zusammen nicht einmal 10 Prozent der Stimmen. Der Journalist Mario Ferreiro des linken Bündnisses Avanza País kam auf 5,9 Prozent, Lugos Kandidat Aníbal Carrillo vom dezimierten Linksbündnis Frente Guasu auf 3,3 Prozent.
Rund 3,5 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, einen Nachfolger für den vor zehn Monaten wegen „schlechter Amtsführung“ abgesetzten Staatschef Fernando Lugo zu bestimmen. Colorados und Liberale hatten im Parlament gemeinsam den parlamentarischen Putsch durchgesetzt.
Zuvor war die Koalition Lugos mit der Liberalen Partei auseinandergebrochen. Auslöser war das Massaker auf einem Landgut nahe der Provinzstadt Curuguaty, bei dem elf Kleinbauern und sechs Polizisten unter offiziell immer noch ungeklärten Umständen erschossen wurden – alles deutet auf eine Inszenierung durch die dem Drogenhandel nahestehende Rechte hin, die von dem nun „vollendeten“ Staatsstreich profitiert. Die Staaten in der Region verurteilten das Amtsenthebungsverfahren scharf. Die südamerikanischen Staatenbündnisse Mercosur und Unasur suspendierten Paraguay.
Der liberale Vize Federico Franco wurde Interimspräsident und verschaffte in den wenigen Monaten seiner Regierungszeit dem Agrobusiness und dem kanadischen Bergbaukonzern Rio Tinto Alcan freie Bahn – die Planungen zum Bau einer riesigen Aluminiumschmelze sind in diesen Monaten rasant fortgeschritten. Zudem genehmigte die Regierung Franco nicht weniger als acht Sorten transgenen Saatguts für Soja, Mais und Baumwolle.
Der Wahlsieger Horacio Cartes von der Colorado-Partei ist Unternehmer und Multimillionär. Als Besitzer einer großen Unternehmensgruppe mit über zwanzig Firmen sowie einer Bank und als Präsident eines Fußballvereins ist er einer der einflussreichsten Menschen in Paraguay überhaupt. Über seine Verwicklungen in Drogenhandel und Geldwäsche halten sich hartnäckige Gerüchte, die US-Regierung betrachtet ihn mit erheblichen Vorbehalten.
Erst vor drei Jahren war er in die Politik eingestiegen und den Colorados mit dem klaren Ziel beigetreten, Präsident zu werden. In kürzester Zeit gelang es ihm, sich zum Kandidaten küren zu lassen und die Partei hinter sich zu vereinen. Nicht wenige sagen, er hätte sie dank „gezielter Investitionen“ von ihrem Schock nach der Wahlniederlage 2008 befreit und ihnen zu neuem Leben verholfen. Nach vier Jahren in der Opposition kehren die Colorados somit an die Macht zurück. Die Liberalen wurden von den Wähler_innen abgestraft und unterlagen sogar in ihren traditionellen Hochburgen. Neben ihnen sind die deutlichen Verlierer_innen vor allem die rechten Parteien UNACE und Patria Querida (beide um ein Prozent).
„Die Colorados sind wiedergekommen, um zu bleiben“, befürchtet Marielle Palau von der kritischen Nichtregierungsorganistion BASE-IS, die die sozialen Prozesse in Paraguay wissenschaftlich und mit Bildungsarbeit begleitet. Die auf Soja basierende Agroexportindustrie Paraguays hat Palau zufolge „ihr optimales politisches System errichtet: Im Parlament sitzen nun mit einer satten Mehrheit die Vertreter des Agrobusiness. Staatliche Regulierungen der genmanipulierten Saatgutsorten, eine Besteuerung der Agrarexporte, das Ende der Vertreibung von Landlosen, Kleinbauern und Indigenen oder gar die Agrarreform, dies alles wird in diesem Parlament kein Thema sein“.
Neben dem Präsidenten wurden auch 45 Senator_innen, 80 Abgeordnete des nationalen Parlaments, 17 Gouverneur_innen und 18 Abgeordnete für das Parlament des Staatenbundes Mercosur neu gewählt. Hier konnte die Linke immerhin einen Achtungserfolg erzielen: Fünf Senator_innen für die Frente Guasu, zwei für Avanza País und drei für die sozialdemokratische PDP. Im Abgeordnetenhaus ist die Frente Guasu erstmals mit einem Abgeordneten vertreten, Avanza País mit zwei. Ob dies der Anfang vom Ende des Zweiparteiensystems in Paraguay sein wird, ist fraglich.
Entsprechend aufgeräumt war die Stimmung am Wahlabend bei der Frente Guasu, manche wollten sogar einen „historischen“ Wahlsieg sehen. Der Abgeordnete im Mercosur-Parlament und Energieexperte Ricardo Canese hob die besseren Ausgangsbedingungen für die zukünftige Arbeit seiner Partei hervor: „Wir haben deutlich mehr parlamentarische Präsenz und viele Erfahrungen gesammelt, die wir in eine kritische Oppositionsarbeit einbringen werden. Bei den nächsten Wahlen werden wir eine ernsthafte Regierungsalternative darstellen.“
Deutlich weniger euphorisch werden die Ergebnisse von den Basisaktivist_innen aus dem Umfeld der sozialen Bewegungen beurteilt. Juan Báez sieht noch schwierigere Zeiten für die kleinbäurliche und indigene Bevölkerung kommen: „Das [agroindustrielle] Modell wird sich noch schneller durchsetzen. Es wird noch schwieriger werden, Gehör für unsere Anliegen zu bekommen und unsere erfolgreichen agroökologischen Erfahrungen zu verbreitern“, sagte der langjährige Mitarbeiter der katholischen Sozialpastorale. Nun komme es erst recht auf die „Zivilgesellschaft“an, meint Báez: „Die Konzentration auf die Parteien und die Regierung hat die sozialen Bewegungen viel Kraft gekostet. Wir müssen unsere Arbeitsweise grundlegend neu überdenken, uns auf eine Zunahme der Landkonflikte einstellen und deutlich mehr Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber erst einmal sind wir um Jahre zurückgeworfen worden“.

Putsch gewinnt Wahl

Paraguay hat gewählt. Was halten Sie von dem Ergebnis?
Das ist sehr entmutigend. Die Colorados (ANR) haben nicht nur die Präsidentschaft gewonnen, sondern stellen auch die Mehrheit der Abgeordneten. Zudem haben sie 19 Sitze im Senat gewonnen. Die Liberalen (PLRA) haben zwölf Sitze im Senat. Außerdem wurden etliche liberale Abgeordnete gewählt. Die Parteien, die sich im vergangenen Jahr am Parlamentsputsch gegen Fer-nando Lugo beteiligt haben, konnten 83 Prozent der abgegebenen Stimmen gewinnen. Das heißt, die Parteien, die die Demokratie unterwandert haben, wurden nun gewählt. Das wirft die Frage auf: Wie wichtig ist den paraguayischen Wählerinnen und Wählern eigentlich die Demokratie?

Sind die paraguayischen Wähler_innen denn an den Wahlen nicht interessiert?
Es kommen schon Zweifel am politischen Interesse auf. Die Wählerstimmen werden in Paraguay richtiggehend kommerzialisiert, gekauft und verkauft. In Paraguay kann man eine Wahl durchsetzen, ohne sie direkt zu fälschen.
Aber das ist nicht die alleinige Erklärung für den Erfolg der ANR. Viele glauben tatsächlich an das Programm der Colorados, und dass diese Partei das beste für Paraguay ist.

Die Soziologin Milda Rivarola hat gesagt, dass die PLRA den Wähler_innen zu elitär sei. Was halten Sie von dieser Aussage?
Offensichtlich hat ein großer Anteil der paraguayischen Bevölkerung eine Abneigung gegen die Liberalen, die PLRA verliert immer gegen die Colorados. Sie konnten 2008 nur gewinnen, weil sie sich mit den Linken verbündet hatten. Die PLRA hat eindeutig diese elitistische Strömung. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Gerade in der PLRA gibt es auch Politiker, die man eher der gemäßigten Linken zurechnen kann.
Es gibt auch Aktivisten von Kleinbauernorganisationen, die in der PLRA sind. Dies ist eine Eigenschaft, die beide Parteien, die ANR und die PLRA teilen: Sie sind beide klassen- und ideologieübergreifend. Es gibt in beiden Parteien Fraktionen, die man schon zur extremen Rechten zählen kann, und solche, die man eher als Mitte-Links bezeichnen kann.

Die Colorados pflegen aber eher einen populistischen Diskurs, in dem sie sich als die Vertreter_innen der pynandí geben…
Die pynandí sind die Armen der Colorados, die Schuhlosen auf Guaraní. Mit ihnen konnten die Colorados den Bürgerkrieg 1947 gewinnen. Die Politiker der ANR beziehen sich in fast allen Reden auf die pynandí und darauf, dass sie sie beschützen. Das ist sehr präsent im Colorado-Diskurs.

Wird dieser Diskurs denn auch Auswirkungen auf die Regierungspolitik von Horacio Cartes haben? Wird er tatsächlich die Interessen der Armen vertreten?
Nicht im Entferntesten. In den fünf Jahrzehnten der Colorado-Herrschaft hat sich die ANR nicht wirklich um die Belange der armen Bevölkerungsmehrheit gekümmert. In dieser Beziehung sind sich PLRA und ANR recht ähnlich. Ihr Diskurs mag teilweise verschieden sein, letztlich unterscheidet sich ihre Politik aber nur marginal.

Aber gab es mit Lugo nicht auch einen Bruch? Vertreten jetzt nicht Bevölkerungsgruppen, die zuvor von der Politik ausgeschlossen waren, viel vehementer ihre Interessen?
Lugo hat sich vieler Brüche und Veränderungen gerühmt, die er nicht wirklich durchsetzen konnte. Wenn man sich die realen Machtverhältnisse im Lande ansieht, hat sich während seiner Regierungszeit nur wenig verändert.
Er versprach eine Agrarreform, hat aber keine durchgeführt. Er versprach eine ausführliche Registrierung der Ländereien, um festzustellen, wer welches Land hat, und ob es rechtmäßig oder illegal angeeignet wurde. Das hat er ebenfalls nicht gemacht.
Er wollte auch einige dringend nötige Veränderungen in der institutionellen Struktur des Staates vornehmen, um die traditionelle Vetternwirtschaft im Land zu unterbinden. Aber auch dies blieb ohne Ergebnis.
Es gab eine Veränderung unter Lugo, ja. Aber dieser Wandel war nicht so groß, wie es alle erwartet oder erhofft hatten.

Woran scheiterte die Regierung von Lugo?
Der Hauptgrund für sein Scheitern war, dass sich die Hoffnungen auf Lugo konzentrierten. Die Verfassung von 1991 schränkt eben – unter dem Eindruck der Diktatur Stroessners – die Befugnisse des Präsidenten massiv ein. Offiziell hat Paraguay ein Präsidialsystem, aber in Realität liegt die Macht im Parlament. Lugo hatte eine Minderheit in der Legislative.
Und die Liberalen, obwohl sie die Präsidentschaft Lugos unterstützt hatten und Minister in der Regierung stellten, verhielten sich in der Legislative nie wie eine Fraktion des Präsidenten. Und angesichts der eher marginalen Proteste gegen Lugos Absetzung muss man sich fragen, inwieweit er tatsächlich ein politisches Bewusstsein in der Bevölkerung verbreitet hat. Viele Kleinbäuerinnen und -bauern fühlten sich von Lugo betrogen. Diese Kritik richtet sich nicht alleine gegen die Person Lugo, sondern auch gegen die meisten linken Parteien.

Basierte auf dieser Unzufriedenheit auch die Spaltung der Linken?
Nein, sowohl Haníbal Carrillo von Frente Guasu als auch Mario Ferreiro von Avanza País sind eigentlich Anhänger von Lugo. Die Spaltung resultierte eher aus Streitigkeiten um die Ämterverteilung denn aus ideologischen Gründen.

Was bedeutet das schlechte Abschneiden der Linken bei den Wahlen?
Es zeigt, dass der für die paraguayische Politik typische Personalismus auch in der Linken vorherrscht. Der berühmte Radio- und Fernsehmoderator Mario Ferreiro und seine Alianza País haben mehr Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen bekommen als Frente Guasu. Frente Guasu hat aber mehr Plätze in der Legislative erhalten. Dies liegt daran, dass der prominente Fernando Lugo als Kandidat für den Senat antrat.

Warum war der Widerstand gegen den Parlamentsputsch eigentlich so ineffektiv?
Während des Putsches waren viele Leute aus den Bewegungen demobilisiert, weil sie Posten im Staatswesen hatten. So konnten sie nicht richtig reagieren. Die Linken in Paraguay sollten sich fragen, was eigentlich die Rolle von sozialen Bewegungen in kapitalistischen Demokratien ist; besser gesagt im „demokratischen Kapitalismus“, so muss man die aktuelle Regierungsform ja nennen; die Betonung liegt auf „Kapitalismus“ und nicht auf „demokratisch“.

Welche Rolle werden denn die Linken nun spielen? Können die wenigen linken Senator_innen im Kongress irgendetwas bewegen?
Es sind sieben Senatoren in den Kongress gekommen, die man der Linken zuordnen kann. Die Parteien, die für die Amtsenthebung Lugos gestimmt haben, stellen dagegen 37 Sitze. Ein Stimmengewicht haben die Linken also nicht. Sie können aber die Instrumente nutzen, die Senatoren zur Verfügung stehen. Sie können interne Dokumente publizieren, sie können Untersuchungen anstoßen. Wie sie diese Möglichkeiten nutzen, hängt aber von den Senatoren ab, dazu kann man jetzt kaum etwas sagen.

Werden wir denn mit der jetzigen Regierung je erfahren, was wirklich beim Massaker in Curuguaty geschah, das den Anlass zum Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo gab?
Das ist sehr komplex. Es gibt hunderte von Curuguatys in Paraguay und in ganz Lateinamerika, die Konflikte im Land sind überall präsent. Die Landkonflikte stehen im Zentrum der Probleme, die das kapitalistische System in Lateinamerika erzeugt. Das ist einfach so. Das war nicht das erste Massaker und es wird auch nicht das einzige Massaker bleiben. Unter den Colorados wird man kaum eine offizielle Untersuchung zu dem Massaker bekommen, die wirklich die Wahrheit ans Licht bringt. Aber es gibt andere Untersuchungen. Zum Beispiel hat Dr. Domingo Laíno, vom linken Flügel der PLRA, eine derartige Untersuchung angestoßen. Er ließ ballistische Studien in Spanien anfertigen. Diese wurden aber von der Staatsanwaltschaft nicht berücksichtigt, obwohl in Paraguay derartige Studien nicht möglich sind und nicht durchgeführt wurden. Die staatlichen Untersuchungen sind eindeutig verfälscht. Alles, was man schlecht machen kann, hat die Staatsanwaltschaft bei dieser Untersuchung schlecht gemacht. Offiziell werden wir also nicht erfahren, was geschah. Aber unabhängige Untersuchungen können schon etwas sagen.

Wie kann man die kurze Regierungszeit der PLRA bewerten?
Das war ein Desaster. Sie haben das kostenlose Gesundheitssystem abgeschafft. Sie haben erlaubt, dass gentechnisches Saatgut jeglichen Typs in das Land eingeführt werden darf. Zudem haben sie Anstellungen in der Bürokratie nach Familienzugehörigkeit verteilt. Die wenigen Errungenschaften der Regierung Lugo haben sie in kurzer Zeit zunichte gemacht.

Infokasten:

Magui López
ist 29 Jahre alt und Politikwissenschaftlerin. Seit 2007 beschäftigt sich die Argentinierin wissenschaftlich mit Paraguay. Sie bereitet gerade eine Doktorarbeit zur Demokratisierung des Landes nach der Stroessner-Diktatur (1954-1989) vor.

„Europa begeht die gleichen Fehler wie einst Lateinamerika“

Herr Präsident, hunderttausende Europäer_innen leiden derzeit unter den Folgen der Eurokrise, vor allem in den südlichen Staaten der EU: Griechenland, Zypern, Spanien. Während die EU an den alten Rezepten festhält, propagiert Ihre Regierung das Konzept des „Guten Lebens“. Diese Frage stellen sich wohl viele EU-Bürger gerade. Wie lebt man gut? Und vor allem: Wie kann eine Regierung das „Gute Leben“ garantieren?
Nun, garantieren kann es niemand, aber man kann die Grundlagen schaffen. Es ist aber übrigens kein Konzept meiner Regierung, sondern der Indigenen. Es stammt von den Aymara in Bolivien, wurde aber auch von den Angehörigen der Quichua in Ecuador angenommen. In dieser Sprache heißt es „Sumak Kawsay“. Es geht dabei darum, in Würde zu leben, ohne nach immer mehr Reichtum zu streben. Es geht darum, in Harmonie mit der Natur und den Mitmenschen zu leben. Aus dieser Position der Indigenen leitet sich die Kritik unserer Regierung am Konsummodell der westlichen Staaten ab.

Bei einer Konferenz in der Technischen Universität Berlin sagten Sie, Lateinamerika habe bereits zu Genüge erlitten, was Europa gerade durchlebt. Kann Europa von Ihnen lernen?
Es kommt darauf an, ob das Ziel darin besteht, die Krise schnell und mit minimalen Belastungen für die Menschen zu überwinden. In solch einer Situation geht es zunächst natürlich um die Fehler, die gemacht wurden. Etwa bei der Einführung des Euros oder bei der mangelnden Angleichung von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Wenn aber der Wille besteht, diese Krise ohne große Folgen für die einfache Bevölkerung zu meistern, dann besteht die erste Lehre darin, nicht die gleichen Fehler zu begehen, die wir gemacht haben. Denn die Maßnahmen, die einst in Lateinamerika getroffen wurden, haben die Krise verlängert und verstärkt. Und eben die gleiche Politik sehen wir nun in Europa.

Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland und Europa ein offenes Ohr für die Lehren aus Lateinamerika haben?
Wissen Sie, ich gebe in der Regel keine Ratschläge, wenn ich nicht darum gebeten werde. Von der TU Berlin aber wurde uns das Thema „Wege aus der Krise“ vorgeschlagen. Wir haben dafür also einige der Krisen in Lateinamerika mit den aktuellen Problemen in Europa verglichen. Die Ähnlichkeiten sind beeindruckend. Anfang der 1980er Jahre hatten wir auch eine Schuldenkrise. Sie rührte daher, dass das internationale Finanzkapital uns Kredite geradezu aufgezwungen hatte. Und als die Krise kam, standen wir dem Problem des over-borrowing gegenüber. In vielen Fällen war dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte zudem an Diktaturen ohne jedwede soziale Kontrolle oder demokratische Legitimation geflossen. Als dann die Krise einsetzte, kam der Internationale Währungsfonds mit seinen sogenannten Hilfspaketen. Ging es ihnen darum, diese Krise zu überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der immensen Schulden zu gewährleisten. Deswegen hat sich die Lösung der Krise über zehn Jahre hinausgezögert. Heute ist von dem verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador etwa ist in die 1990er Jahre mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen gestartet wie es das Land schon 1976 hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Diesen Fehler sehen wir heute auch in Europa.

In Lateinamerika sind in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Bündnisse entstanden wie die Celac oder ALBA. Wie hat das die internationale Politik verändert?
Das kann sehr viel verändern. Wir entwickeln diese Projekte Schritt für Schritt und haben schon einiges erreicht. Etwa in der neuen regionalen Finanzarchitektur, die wir diskutieren und hoffentlich bald ausbauen. Was die Union südamerikanischer Staaten, die UNASUR, seit ihrer Gründung 2008 geleistet hat, geht weit über die Entwicklung der Europäischen Union im gleichen Zeitraum hinaus. Im Handel etwa. Es ist jedoch erstaunlich, wie sich 27 Länder mit verschiedenen Themen und politischen Kulturen, Religionen und Sprachen vereinen konnten. Und es ist ebenso erstaunlich, dass das den lateinamerikanischen Staaten mit einer einigermaßen gleichen Sprache, Kultur und einem politischen System in der Vergangenheit lange Zeit nicht gelungen ist.

Wie kann die Finanzarchitektur in Lateinamerika beeinflusst werden?
Wir schaffen ein neues System der Abrechnung. Wenn ich 500 Millionen US-Dollar aufwende und der regionale Handelspartner 400 Millionen US-Dollar, brauchen wir dann 900 Millionen? Nein, wir rechnen das gegenseitig auf und benötigen 100 Millionen. Das ist eine Sache.
Eine andere Absurdität ist die Politik der autonomen Zentralbanken, die die staatlichen Reserven außer Landes geschafft haben. In Ecuador haben wir das schon korrigiert. Wir sprechen hier von 400 Milliarden US-Dollar, mit denen wir reiche Länder finanziert haben. Für diese Reserven in ihren Banken haben wir lediglich 0,5 Prozent Zinsen bekommen, vielleicht bis zu ein Prozent. Im Gegenzug aber mussten wir uns für sechs bis sieben Prozent Zinsen Gelder leihen.

In Honduras und Paraguay wurden progressive Regierungen gestürzt. Gegen Ihre Regierung gab es einen Putschversuch, ebenso in Bolivien und Venezuela. Weshalb schaffen es die linken Regierungen in Lateinamerika nicht, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen?
Wie können wir einen Konsens erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben fünf Versuche der Destabilisierung erwähnt, zwei davon erfolgreich. Alle fünf Putschversuche und Staatsstreiche richteten sich gegen progressive Regierungen. Keine einzige rechte Regierung war davon betroffen. Das zeigt doch ganz klar, was hier geschieht. Offenbar sind wir die Gefahr. Die Demokratie ist solange gut, wie sie nichts verändert. Aber mit den neuen Demokratien und den progressiven Regierungen gibt es eine Veränderung und das ruft mächtige Feinde auf den Plan.
Wenn es ihnen genehm ist, verteidigen sie die Demokratie, aber wenn wir die Gegebenheiten auf demokratische Weise reformieren, zögern sie nicht, Präsidenten zu stürzen und zu ermorden. Diesen Kräften müssen wir uns in unseren amerikanischen Staaten stellen und sie besiegen.
Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer gemeinhin, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den 1960er Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage in Lateinamerika zu verstehen. Oder an den Kampf gegen die Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg geraten und fast zerbrochen sind. Das ist ein guter Vergleich und Kontext, um das aktuelle Geschehen in Lateinamerika zu verstehen.

Erklärt sich durch diese massiven Differenzen in den Gesellschaften auch der Konflikt nach den jüngsten Wahlen in Venezuela?
Ja. Die venezolanische Rechte hat immer versucht, ein knappes Ergebnis zu erreichen, um ihre Pläne der Destabilisierung in Gang zu setzen. Auch in der Ära von Hugo Chávez. Zum Glück sind während seiner Regierungszeit alle Wahlergebnisse sehr deutlich ausgefallen und das hat ihre Pläne durchkreuzt. Wenn Hugo Chávez mit nur wenigen Prozentpunkten Abstand gewonnen hätte, hätte die Opposition einen solchen Sieg bis heute nicht anerkannt.
Der nun unterlegene Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung durchgesetzt. Nach dem Argument, das er nun anführt, hätte er damals das Amt nicht antreten dürfen. Nicolás Maduro hat sich am vergangenen Sonntag mit über 200.000 Stimmen durchgesetzt. Das entspricht gut einem Prozent. Und das erlaubt ihnen wieder Unruhe zu stiften, was sie ja immer angestrebt haben.
Wir als ecuadorianische Regierung haben eine sehr klare Position. Nach der Wahl soll nachgeprüft werden, was nachgeprüft werden muss. Das ist die Entscheidung der Venezolaner und ihrer staatlichen Institutionen. Für uns aber ist und bleibt Nicolás Maduro der Gewinner dieser Wahl. Und wir müssen sehr deutlich den Versuchen der Destabilisierung entgegentreten.

Sprechen wir über das Verhältnis zu den Medien. Weshalb stehen die linken Reformregierungen ausnahmslos in ständigem Konflikt mit den Medien?
Wer, denken Sie, gehört zu den Gegnern der laufenden Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Zu denjenigen, die Chaos schaffen und putschen? Wer war zur Zeit der Regierung Salvador Allendes der größte Verschwörer? Die Tageszeitung El Mercurio! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.
Wir unterscheiden sehr gut zwischen der Meinungsfreiheit und bestimmten korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren. Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Vertretern der Kräfte gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten, sondern aller Menschen weltweit. Stellen Sie sich vor: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Privatkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. Konzernen, die sich, wenn es um das Recht auf Information und eigene Interessen geht, immer für mehr Gewinn entscheiden werden.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis für die progressiven Kräfte Lateinamerikas in der breiten Öffentlichkeit Europas?
Sicher, weil zwischen uns keine Information, sondern Propaganda steht. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, Mario Vargas Llosa, ein ausgemachter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt El Comercio in Lima während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet. Er tat das, weil die Redaktion die Wahrheit verdreht und andersdenkende Journalisten gefeuert hat. Eine Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist ebenso absurd wie wenn wir Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Demokratie ablehnen würden. Die Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld hatten, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Wir sehen also, dass es zwei unterschiedliche Diskurse über Menschenrechte und die Meinungsfreiheit in Europa und Lateinamerika gibt. Spielt das auch im Fall Julian Assange eine Rolle?
Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt. Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechtes gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas.

Infokasten:

Rafael Correa
ist seit 2006 Präsident Ecuadors. 2009 und 2013 wurde er mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Der linksgerichtete Staatschef hatte vor seiner politischen Karriere an Universitäten in Ecuador und den USA als Dozent gearbeitet. Während seines Aufenthalts in Berlin war es ihm nach eigenen Angaben ein besonderes Anliegen, an der Technischen Universität einen Vortrag über die Eurokrise und die wirtschaftlichen Konzepte der Neues Linken in Lateinamerika zu halten.

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