Unruhen in Alto Paraná

Der Konflikt ist angeheizt. Auf der einen Seite stehen einige zehntausend Landlose Paraguayer_innen, die die nationalistische Karte auszuspielen versuchen. Auf der anderen Seite steht ein reicher brasilianischer Unternehmer, der sich selbst als Opfer einer bösartigen Kampagne von „Banditen“ sieht.
In dem Konflikt geht es nicht um einen Pappenstiel: Streitpunkt ist ein 167.000 Hektar großes Gebiet in der Region Ñacunday in Alto Paraná, Paraguay, rund hundert Kilometer von der brasilianischen Grenze entfernt. Nach Meinung der Landlosen, die in Paraguay „Carperos“ genannt werden (nach dem spanischen Wort „carpa“ für Zelt), handelt es sich bei dem Stück Land um Staatseigentum. Der brasilianischstämmige Soja-Produzent Tranquilo Favero soll es sich in den Jahren der Diktatur widerrechtlich angeeignet haben. Favero weist diese Vorwürfe jedoch von sich. Er behauptet, dass er das Land in den 1990er Jahren von privaten Verkäufer_innen erworben habe. Favero verweist dabei auf die Eigentumstitel, die öffentlich einsehbar seien. Doch davon wollen die Carperos nichts wissen. Alles gefälscht, behaupten sie und halten seit Wochen einen Teil des Gebietes besetzt. Sie haben die Regierung zum Eingreifen aufgefordert. Sie solle das Land zurückfordern und unter den Landlosen aufteilen.
Die Aufteilung des umstrittenen Landes lehnt die Regierung allerdings ab. Sie hat ihrerseits 30.000 Hektar staatlichen Landes in der Nähe des umstrittenen Gebietes als Kompensation angeboten. Doch darauf wollen sich die Carperos nicht einlassen. Es gehe um das Land des Sojaunternehmers Favero, „aus Gründen der Souveränität“, erklärte Victorino López Cardozo, der Führer der Carperos. Man werde nicht abziehen.
Die Lage bleibt also angespannt. „Wir campieren hier in prekären Bedingungen, ohne Wasser, ohne Strom, ohne ausreichend Lebensmittel und ohne Hilfe der Regierung“, so López Cardozo gegenüber der brasilianischen Tageszeitung O Globo. In dem Camp aus Baracken und Zelten unweit der Besitzungen Faveros leben derzeit 12.000 Familien, darunter zweitausend Kinder. Es gibt weder Schulen noch Gesundheitsstationen. „Wenn mehr Leute hier auftauchen, könnten wir die Kontrolle über die Situation verlieren, und wir wissen nicht, was dann passiert“, drohte López Cardozo. Von Zeit zu Zeit entlädt sich die Anspannung in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auch haben nach Angaben der paraguayischen Tageszeitung Última Hora die Carperos mehrfach Journalist_innen bedroht und ihnen den Zugang zu dem Areal verweigert.
Auf der anderen Seite haben die Grundbesitzer_innen um Favero angefangen, bewaffnete Männer anzuheuern. Und auch verbal wurde aufgerüstet. Die Carperos bezeichnete der auch als „Soja-König“ titulierte Favero als „Banditen, die nichts zu verlieren haben.“ Gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo legte er noch nach. Man habe während der Regierungszeit von Alfred Stroessner (1954-1989) sicherer gelebt, erklärte Favero. Dabei bezog er sich auf eine der blutigsten Militärdiktaturen Südamerikas mit Tausenden Folteropfern und „Verschwundenen“. Er hasse Armut und lehne einen Dialog mit den Carperos ab. Die müsse man behandeln „wie eine ungezogene Frau, die sich nur Stockschlägen fügt“, sagte er.
Die Aussagen Faveros provozierten eine Welle der Entrüstung. Parteien, Gewerkschaften und Frauenorganisationen zeigten sich empört. Selbst die Vereinigung der Sojabauern APS forderte eine Klarstellung. Die Regierung der Hauptstadt Asunción erklärte Favero zur „Persona non grata“, und im Senat wurde gefordert, ihm die paraguayische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die er vor Jahren erhalten hatte.
Favero versuchte daraufhin, den Scherbenhaufen zu beseitigen. Er sei falsch verstanden worden, gab er in einer Pressemitteilung bekannt. Er habe sich nicht für die Wiedereinführung der Diktatur als Regierungsform ausgesprochen. Auch wies er die Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit zurück. Doch der Schaden war angerichtet und Faveros Bild in der Öffentlichkeit von ihm selbst ordentlich angekratzt. Bis dahin war von ihm in der Presse wenig die Rede gewesen; und wenn, dann stellte man ihn als erfolgreichen Selfmade-Unternehmer dar, der es mit harter Arbeit nach oben geschafft hatte.
Das Auftreten der Carperos stellt die Presse dagegen meist als anmaßend dar. Die Gruppe ist in den letzten Jahren schnell gewachsen und hat sich zu einem ständigen Kopfschmerz für die Regierung entwickelt. Die Gruppierung zeichnet sich durch einen radikaleren Diskurs und ein gewaltsameres Vorgehen als die meisten anderen sozialen Bewegungen in Paraguay aus. Das Vorbild der Carperos kommt wie ihr Gegner auch aus Brasilien: Sie orientieren sich an der Landlosenbewegung MST.
Die berechtigte soziale Forderung der Carperos nach Umverteilung in dem lang anhaltenden Konflikt mit den brasilianischstämmigen Landbesitzer_innen wird immer wieder mit einem latent fremdenfeindlichen Unterton versehen. In Paraguay leben geschätzt eine halbe Million Brasilianer_innen oder Paraguayer_innen mit brasilianischen Wurzeln. Sie werden auch als „Brasiguayos“ bezeichnet.
Viele Paraguayer_innen begrüßten die Brasilianer_innen als Modernisierer der Landwirtschaft, dem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes. Im Jahr 2010 wuchs der Agrarsektor um erstaunliche fünfzig Prozent – in erster Linie wegen eines Produkts: Soja. Vor allem die Nachfrage aus China und Indien legte enorm zu. Die Ausbreitung des Sojaanbaus aber steht in engem Zusammenhang mit brasilianischem Kapital. Laut Marielle Palau vom Sozialforschungszentrum Base „gab es eine sehr aggressive Politik brasilianischer Siedler, die sich paraguayisches Land aneignen“, wie sie bereits 2010 gegenüber Le Monde Diplomatique sagte.
Viele der Brasiguayos sind, wie Favero, seit Jahrzehnten im Land und besitzen die paraguayische Staatsbürgerschaft. Trotzdem wird ihnen immer wieder abgesprochen, Teil der Nation zu sein. Diese skeptische Haltung liegt nicht zuletzt daran, dass die brasilianische Außenpolitik auch immer wieder massiv Druck auf Paraguay ausübt, um die Interessen der Brasiguayos zu verteidigen. Nicht ganz zu Unrecht kritisieren viele Paraguayer_innen einen brasilianischen Imperialismus. Seit dem Tripel-Allianz-Krieg (1864-1870), bei dem Paraguay fast vernichtet wurde, steht die paraguayische Politik stark unter dem Einfluss Brasiliens. Und das brasilianische Militär hat in den letzten Jahren bereits demonstrativ Manöver an der Grenze zu Paraguay abgehalten, bei denen es um die Evakuierung brasilianischer Staatsbürger_innen im Notfall ging.
Paraguays Regierung erklärte, die Sicherheit der Brasiguayos zu schützen. Gerichte müssten klären, wem das Land gehöre. „Die Regierung garantiert die Sicherheit der gesamten Bevölkerung und kann weder Land verteilen noch wegnehmen; dies muss auf juristischem Weg geklärt werden“, sagte der Kabinettschef López Perito auf einer Pressekonferenz. Man werde dem Druck der Landlosen nicht nachgeben und das Privateigentum schützen. Eine Kommission wurde eingerichtet, die zwischen den beiden Seiten vermitteln soll. Ihr gehören der Chef der Nationalen Behörde für Ländliche Entwicklung (Indert), Marciano Barreto, Generalstaatsanwalt Enrique García und der Rechtsberater der Regierung, Emilio Camacho, an. Ziel ist die Befriedung des Konflikts.
Die strukturelle Gewalt, die dem Ganzen zugrunde liegt, wird dabei weitgehend ausgeblendet: die enorme Ungleichverteilung von Land. Tranquilo Favero, der mehr als eine Million Hektar Boden besitzt, ist ein paradigmatisches Beispiel dieser absurden sozialen Realität. Zahlen der Nachrichtenagentur Prensa Latina zufolge besitzen rund 500 Familien in Paraguay 90 Prozent des Landes. Zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze; und diese Armut konzentriert sich vor allem auf die ländlichen Gebiete.
Als Fernando Lugo an der Spitze der Patriotischen Allianz für den Wandel (APC), einer Sammelbewegung aus sozialen Bewegungen und Parteien aller politischen Richtungen, 2008 die Partido Colorado nach 61 Jahren Herrschaft von der Macht ablöste, war eine der Hauptforderungen an seine Regierung, endlich eine Agrarreform durchzuführen, die diesen Namen auch verdiente. Doch von Anfang an sah er sich diversen Schwierigkeiten gegenüber. In den mehr als sechs Jahrzehnten Herrschaft der Partido Colorado hatte sich eine Kultur der Korruption in allen Bereichen der Verwaltung bis hinein in höchste Stellen etabliert. Lugo und seine kleine, überschaubare Mannschaft an Getreuen standen vor der Mammutaufgabe, einen Staat umzukrempeln, der komplett nach dieser Korruptionskultur strukturiert ist. Dies mussten sie tun, ohne eine parlamentarische Mehrheit und ohne die Macht, den ebenfalls korrupten Justizapparat schnell verändern zu können. Zudem traten recht bald die Differenzen seiner heterogenen Wahlallianz immer offener zu Tage. Insbesondere die Liberale Partei, die die Mehrheit im Parlament stellt, hat wirtschaftliche Interessen, die sich kaum von denen der Colorados unterscheiden.
Trotzdem brachte die Regierung einiges auf den Weg: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben alle Paraguayer_innen das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung; zum ersten Mal wird auch die indigene Bevölkerung des Landes angehört und als politischer Akteur ernst genommen; die Wasserversorgung in den ländlichen Gebieten wurde verbessert und vieles mehr.
Doch der zentrale soziale Konflikt, die Landfrage, wartet weiter auf eine Lösung. Nicht zuletzt, weil sich die mit dem Agrarsektor verbundenen Ministerien in der Hand von rechten Parteien befinden. Und die sind bisher in dieser Frage nicht aktiv geworden. Bauernorganisationen dagegen fordern von der Regierung weiterhin die Einhaltung ihrer Versprechen.
In diesem Kontext ist auch das Auftreten der Guerillagruppe Paraguayische Volksarmee (EPP) zu betrachten. Die Guerrilla wurde immer wieder zum Vorwand für die Unterdrückung sozialer Bewegungen genommen. Die sozialen Kämpfe – und dazu zählen eben auch Landbesetzungen – werden zunehmend kriminalisiert. „Die EPP bietet jetzt den perfekten Vorwand, die Regierung anzuschwärzen und damit den Prozess der Landbesetzungen und der sozialen Versorgung im Norden zu stoppen, damit die tatsächlich kriminellen Organisationen und traditionellen Netzwerke der Drogenmafia, der Schmuggler und der Steuer- und Polizeikorruption geschützt werden“, sagt Juan Martes von der paraguayischen Menschenrechtskoordination (Codehupy) in Le Monde Diplomatique. „Aber Lugos Reaktion grenzt auch an politischen Selbstmord, denn er kriminalisiert die Bauern und beschleunigt die Auflösung der Basisorganisationen, die ihn unterstützt haben.“
Nach Angaben der Agrarkoordination von Paraguay (CAP) gibt es derzeit Landkonflikte in fünf Departamentos des Landes. In den vergangenen Tagen fanden zudem Räumungen in Jejuí (San Pedro) und Itakyry (Alto Paraná) statt, die friedlich verliefen. Vierhundert Polizist_innen, unterstützt von zwei Hubschraubern, vertrieben rund achtzig Familien von einem privaten Grundstück in Jejuí, das sie seit zwei Jahren besetzt hielten. Kurz darauf zerstörten Mitarbeiter_innen des Grundbesitzers die Behausungen und Anpflanzungen. Ebenfalls ohne Widerstand zu leisten, ließen sich rund einhundert Personen in Itakyry räumen. In La Fortuna, Alto Paraná, dagegen sind zweihundert Hektar Sojapflanzen verbrannt, die mutmaßlich von Besetzer_innen in Brand gesteckt wurden.
Wie die Sache in Ñacunday ausgeht, wird sich in den nächsten Tagen oder Wochen zeigen. „Es gibt ein politisches Interesse, dass es da zu Zusammenstößen kommt. (…) Meine Vermutung ist, dass jemand möchte, dass sich die Regierung die Hände mit Blut besudelt“, befürchtet López Perito gegenüber Última Hora. So kann man den Dingen, die kommen mögen, auch das Wort reden.

Widerstand im Soja-Meer

„Als ich nach dem Schwimmen zur Schule ging, konnte ich noch sehen“, erzählt der junge Silvio Peralta. „Doch schon während des Unterrichts konnte ich die Bücher nicht mehr sehen.“ Anfangs glaubte ihm niemand, doch als er dann gegen Bäume lief, ließ man ihn von Zuhause abholen. „Jetzt bin ich blind und kann so vieles, was ich früher konnte, nicht mehr machen. Und das nur wegen dieser verdammten Gifte.“ Seine Mimik verrät die Trauer um sein verlorenes Augenlicht.
Silvio Peralta ist mit seinen Freunden im Bach geschwommen, der nahe seines kleinen Dörfchens in Paraguay fließt, so wie es Generationen vor ihm schon getan hatten. Doch nun kann man sich nicht mehr einfach so im Wasser abkühlen. Die Großgrundbesitzer_innen, die auf den riesigen Feldern rings um das Dorf Soja anbauen, holen von diesem Flüsschen Wasser, um es mit Glysophat anzureichern und über ihren Feldern zu versprühen. Die Kisten, in denen das extrem aggressive Herbizid transportiert wird, lassen sie offen am Bach stehen, wo es das Wasser verseucht. Silvio Peralta hat es am schlimmsten erwischt, er ist nun blind.
Der Film Raising Resistance zeigt die kleinen Landwirte Paraguays bei ihrem Kampf ums Überleben. Dörfer mit kleinen Landwirten wie das von Silvio Peraltas Eltern gibt es immer weniger. Zu oft müssen die Kleinbäuerinnen und -bauern ihr Land aufgeben. Die Flächen werden dann von Großfarmer_innen aufgekauft, die dann mit großen Maschinen Soja auf ihnen produzieren. Die fortschreitende industrielle Landwirtschaft macht den Kleinbäuerinnen und -bauern dann den Garaus: Durch den Einsatz von Glysophaten auf den riesigen Sojafeldern wird deren Ernte vernichtet. Im schlimmsten Fall werden die Kinder vergiftet. Immer häufiger kommen in Südamerika Kinder mit Missbildungen zur Welt, was direkt auf den wachsenden Anbau von gentechnisch modifiziertem Soja beruht. Durch die Vergiftung der Landschaften werden die Kleinbäuerinnen und -bauern regelrecht vertrieben, was dann der Expansion der industriellen Landwirtschaft schließlich noch mehr Raum bietet.
Doch gegen dieses Phänomen wächst der Widerstand. Und der Film Raising Resistance beobachtet diesen Konflikt. So sieht man Geronimo Arevalos auf seinem kleinen Stückchen Land. Drumherum stehen Bäume, es wachsen neben Melonen und Maniok eine Vielzahl anderer Feldfrüchte, keine Monokulturen wie bei den Großfarmer_innen. „Da, in etwa 200 Metern, beginnt ein Sojafeld.“ Geronimo zeigt in eine Richtung. „In 1.500 Metern das nächste.“ Rundherum liegen die Felder. Geronimos Farm ist „eine Insel im Soja-Meer“, wie er es selbst nennt. Wenn die Gifte gesprüht werden, trägt der Wind sie auch auf seine Ernte. Später im Film sieht man ihn auf einem riesigen Soja-Feld: „Hier stand einmal ein Dorf,“ erklärt er. Sein eigener Ort soll nicht so enden. Deshalb wehrt er sich gegen die Zerstörung seiner Heimat – und organisiert Widerstand gegen das „verdammte Soja“. Das Feld, auf dem einmal ein Dorf stand, wird von Geronimo und seinen Leuten besetzt. Früher standen überall in der Gegend Bäume, erinnert sich eine Kleinbäuerin, eine Gefährtin von Geronimo, die in dem Film erzählt.
Auch Clemente Busanello erinnert sich gut an diese Zeit. Das war vor Jahrzehnten. Damals war er gerade aus Brasilien nach Paraguay gekommen. „Wir haben die ganzen Bäume umgesägt. Das war viel Arbeit“, erzählt er. Doch es habe sich gelohnt. Inzwischen besitzt er riesige Flächen, auf denen Soja wächst. Den Widerstand dagegen versteht er nicht. „Das sind Leute mit einem ganz niedrigen kulturellen Niveau. Wenn die Land besetzen und es erhalten, wissen die doch gar nichts damit anzufangen!“ Er sieht sich als einen Macher, einen, der Fortschritt und Wohlstand nach Paraguay brachte. Inzwischen ist er reich geworden, sogar sehr reich. Doch das sieht er als den gerechten Lohn für die Risiken und harte Arbeit, die er auf sich genommen hat.
Valirio Eichelberger ist noch nicht so weit, aber es ist sein Ziel, dorthin zu kommen. Auch er ist aus Brasilien gekommen – vor 29 Jahren, als er 13 Jahre alt war, mit seinem Vater. Sein Lebensmittelpunkt ist Paraguay, dennoch wird er von vielen als Fremder betrachtet. Er hat die kleinere Farm, die er von seinem Vater geerbt hatte, verkauft, um im weiter westlichen San Pedro eine größere zu ersteigern. EIchelberger hat kein großes Haus, keinen ganzen Fuhrpark wie etwa Clemente Busanello. Um seinen einzigen Traktor zu bezahlen, musste er eine Hypothek aufnehmen. „Ich muss das Soja säen, so oder so. Ansonsten verliere ich alles“, erzählt er, während er vor seiner Hütte sitzt. Im Hintergrund hört man die Rufe der Campesinos, die sein Feld besetzt haben, um die Aussaat zu verhindern. Es sieht so aus, als sei auch für ihn das Soja ein Fluch.
Es ist die große Leistung des Films Raising Resistance, dass er die verschiedenen Sichtweisen auf den Soja-Anbau darstellt, ohne zu werten. Die Menschen kommen zur Sprache, mit Empathie werden ihre Interessen gezeigt. Den Zuschauer_innen wird klar, dass das, was ein Großfarmer wie Busanello macht, falsch ist. Doch der Film spricht dies nicht aus, er macht auch Busanellos Position verständlich und verteufelt niemanden. Auch Sojabäuerinnen und -bauern, zumal kleinere wie Eichelberger, können Opfer des Sojabooms sein.
Ebenso wie auf die komplexe Situation in Paraguay, geht der Film auch auf die weltweite Verstrickung des Soja-Anbaus ein. Er zeigt Interviews mit Wissenschaftlern, die die Herbizide und die genmanipulierten Sojasorten entwickelt haben und beleuchtet deren Motivation. Auch die Verbindung der boomenden industriellen Landwirtschaft mit der internationalen Finanzwelt wird thematisiert. In einem Interview kommt auch der Manager eines Schweizer Investmentfonds mit seiner Sicht auf den Soja-Boom zur Sprache. Im Film wird deutlich, wie sehr auch unser Konsumverhalten in Europa mit der verheerenden Situation in Paraguay zusammenhängt.
Wie bei allen guten Dokumentarfilmen gibt es ruhigere Passagen, in denen einfach Bilder gezeigt werden. So kann die/der Zuschauer_in auch zur Ruhe kommen und über das, was da gezeigt wird, nachdenken. Dies ist wohl auch Ziel dieses Films. Und es ist ein wichtiger Film, der Bettina Borgfeldt, David Bernet und ihrem Team gelungen ist. Denn die Zerstörung der Lebensgrundlage der Menschheit durch die industrielle Landwirtschaft schreitet immer weiter voran. Oder in den Worten von Geronimo: „Es kann sein, dass wir die letzte Generation von Bauern in Paraguay sind.“

Raising Resistance // Bettina Borgfeld und David Bernet // Deutschland/Schweiz 2011 // 84 Minuten // Der Film ist über den Pandora Filmverleih erhältlich // Über die Internetseite www.raising-resistance.info kann man eine Filmvorführung für den eigenen Wohnort erbitten.

50 Jahre und kein Ende in Sicht

Was haben Thomas Drach, der Entführer von Jan Philipp Reemtsma, und Hartmut Hopp, die einstige rechte Hand Paul Schäfers, gemeinsam? Einen Rechtsanwalt namens Helfried Roubicek aus Börgerende-Rethwisch an der Ostsee. Der Fall Colonia Dignidad war schon immer für Skurilitäten gut.
Hartmut Hopp braucht gerade einen guten Anwalt. In Chile ist der ehemalige Krankenhaus-Direktor und „Außenminister“ der Colonia Dignidad bereits mehrfach verurteilt. Die meisten gegen ihn gerichteten Verfahren sind jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen – auch weil ganze Anwaltsteams den ehemaligen jerarcas (Führungspersonen) der Colonia Dignidad zur Seite stehen und alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen. Keine_r der Täter_innen der Colonia Dignidad musste bisher eine Haftstrafe antreten – nur der im vergangenen Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago verstorbene Sektenführer Paul Schäfer. Doch das könnte sich schon bald ändern: Für die kommenden Wochen wird der endgültige Urteilsspruch des chilenischen Obersten Gerichtshofs im Verfahren um den systematischen Kindesmissbrauch in der Colonia erwartet. Die Eltern von 26 chilenischen Kindern hatten 1996 gegen Paul Schäfer und seine Helfershelfer Strafanzeige wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch erstattet. 26 Personen waren deswegen seit 2004 erstinstanzlich verurteilt worden. 2006 wurde Paul Schäfer – nach seiner Festnahme und Ausweisung aus Argentinien – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im vergangen Januar bestätigte das Berufungsgericht Talca die Urteile, nach denen ein Großteil der noch lebenden Führungsriege der Colonia Dignidad zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt wurde. Fünf Jahre betrug das Strafmaß für Hartmut Hopp – ohne Bewährung.
Fünf Jahre Gefängnis vor Augen, entschied sich Hartmut Hopp im vergangenen Mai zur Flucht nach Deutschland. Schließlich liefert Deutschland seine eigenen Staatsbürger_innen nicht aus, und die Chancen, dass ihm die deutschen Staatsanwaltschaften nicht zu nahe treten, standen – ein Blick in die Vergangenheit genügte – recht gut: 22 Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Bonn gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ermittelt, im September 2010 wurden die Ermittlungen eingestellt, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. Nach dem Tod von Paul Schäfer könne man das Ermittlungsbuch zuklappen, so dachte man wohl bei der Staatsanwaltschaft.
Hopp flüchtete trotz eines chilenischen Ausreiseverbots über Argentinien und Paraguay nach Deutschland und ließ sich mit seiner Frau Dorothea – die bereits vorgereist war – in Willich bei Krefeld nieder. Dort beantragten beide Sozialhilfe. Der chilenische Ermittlungsrichter hingegen beantragte einen internationalen Haftbefehl und richtete ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Justiz, doch Hopp blieb erst einmal auf freiem Fuß.
Bereits eine Woche nach Hopps Ankunft in Deutschland meldete die chilenische Presse seinen Aufenthaltsort: Bärbel Schreiber, die mit Hopps Adoptivsohn Michael verheiratete Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Sekte, Albert Schreiber, hatte geplaudert, Hopp sei in Krefeld. Krefeld ist eine wichtige Anlaufstelle für nach Deutschland zurückkehrende Dignidad-Mitglieder: Hier hat die „Freie Volksmission“ des freikirchlichen Predigers Ewald Frank ihren Sitz. Frank, der Paul Schäfer bereits seit den 1950er Jahren kennen soll, war 2004 erstmals in die Villa Baviera (ex-Colonia Dignidad) gereist und hatte dort Massentaufen durchgeführt. Auch Hartmut Hopp wurde von Ewald Frank getauft. Die chilenische Regierung befürchtete daraufhin, dass Frank das Erbe von Schäfer als „neuem Messias“ der Colonia Dignidad antreten wolle und verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Einreisesperre.
Seither waren mehrere Mitarbeiter Franks nach Chile in die Villa Baviera gereist – und Deutschland-Rückkehrer der Kolonie kommen zahlreich zu seinen monatlichen Massengottesdiensten nach Krefeld. Albert Schreiber, zum Beispiel, besuchte nach seiner Flucht vor der chilenischen Justiz nach Deutschland die Gottesdienste in der Freien Volksmission – und Hartmut Hopp nutzte zumindest das sekteneigene Faxgerät: „Zunächst möchte ich emphatisch erklären, dass ich weder zu Kindesmissbrauch noch Menschenrechtsverletzungen, noch irgendwelchen anderen strafrechtlichen Verstößen gleich welcher Art zu irgendeinem Augenblick Beihilfe oder andere Beteiligung gehabt habe. Alle Behauptungen, die das Gegenteil zu manifestieren versuchen, sind Verleumdungen“, faxte Hartmut Hopp Ende August aus der Freien Volksmission als Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung.
Die Opfer der Colonia Dignidad sehen das anders. Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichten daraufhin im August und Oktober drei Strafanzeigen gegen Hartmut Hopp ein. Tatvorwürfe sind dabei mehrfacher Mord an chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwere Körperverletzung durch systematische Verabreichung von Psychopharmaka an Siedlungsbewohner_innen. Die Staatsanwaltschaft Krefeld leitete infolgedessen ein neues Ermittlungsverfahren gegen Hopp ein. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Schreiber gab die Übersetzung des 500-seitigen chilenischen Missbrauchsurteils gegen Hopp in Auftrag. Im November dann, so Schreiber, könne gesagt werden, wie es mit den Ermittlungen weitergehe.
Mehrere hundert Menschen, vor allem aus Krefeld und Umgebung sind inzwischen Teil einer Facebook-Gruppe mit dem Titel: „Herr Hopp, Sie sind in Krefeld unerwünscht!“. Als im August bekannt wurde, dass Hartmut und Dorothea Hopp aus Willich in den Stadtteil Krefeld-Linn ziehen wollten, organisierten einige Dutzend Krefelder_innen eine Unterschriftensammlung vor der neuen Wohnung der Hopps. Der Vermieter kündigte daraufhin den Hopps.
Indessen wird in Chile des 50-jährigen Bestehens der Siedlung gedacht. In der Festschrift „50 Jahre Villa Baviera“ wird die landschaftliche Schönheit des Koloniegeländes betont und die harte Aufbauarbeit gewürdigt, die notwendig war, um das Land urbar zu machen. Und auch das Auswärtige Amt ist aktiv geworden. Seit 2008 führt das AA mit Haushaltsmitteln von ca. 250.000 Euro pro Jahr „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Dazu gehören die psychotherapeutische und seelsorgerische Betreuung, Bildungsprojekte sowie – mit über der Hälfte der Gelder – Betriebsberatung durch die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ und den Senior Experten Service. Eine Thematisierung der dunklen Vergangenheit der Colonia Dignidad unterbleibt hingegen vollständig. Während viele andere Orte des Foltern und Mordens des Pinochet-Geheimdienstes DINA inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt wurden oder wenigstens eine Gedenktafel an die dort begangenen Verbrechen erinnern, ist das in der ehemaligen Colonia Dignidad bislang gänzlich unterblieben.
Regelmäßig heißt es, die Firmen der Villa Baviera stünden kurz vor der Pleite, doch irgendwie geht es immer weiter. In die genauen Vermögensverhältnisse der ehemaligen Colonia Dignidad hat niemand so richtig Einblick: „Nähere Erkenntnisse hierzu liegen der Bundesregierung nicht vor“, so die Antwort auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Jan Korte (Linkspartei). Die Vermögenswerte der Colonia Dignidad wurden durch jahrzehntelange unentlohnte Arbeit der Siedlungsbewohner_innen, aber auch durch Waffenhandel, Steuer- und Zollbetrug und andere kriminelle Tätigkeiten angehäuft. Um eine Auflösung der Colonia Dignidad durch die chilenische Regierung nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zu umgehen, wurden alle Vermögenswerte auf ein Geflecht von Aktiengesellschaften übertragen und zu ungleichen Anteilen unter den Kolonie-Bewohner_innen verteilt. Unbekannte Summen wurden zudem ins Ausland verbracht. Hartmut Hopp sagte im September 2005 vor dem chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda aus, er wisse von Konten und Vermögenswerten in den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay und auf Karibikinseln. Geld sei auch über die Zweigstelle der Chemical Bank in New York geflossen. Ob die Justiz diese Geld- und Vermögenswerte untersucht hat, ist nicht bekannt.
Seit zwei Jahren hat die Villa Baviera einen externen Berater engagiert, um die Kolonieunternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Er heißt Falk W. Spahn und arbeitet unentgeltlich. 25 Jahre lang war er in Bogotá Vorstand der Sarah Consult, einer Firma, die deutsche Unternehmen bei ihrer Niederlassung in Kolumbien berät. Davor war er bei der Unternehmensberatung Kienbaum tätig. Auch Helfried Roubicek, der neue Anwalt von Hartmut Hopp, arbeitete bei Kienbaum und war davor Geschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie und Handelskammer. Vielleicht kennt man sich ja noch aus alten Zeiten.

Infokasten: Systematische Fluchtbewegung

Hartmut Hopp ist nicht das erste Mitglied der Colonia Dignidad, das sich durch Flucht nach Deutschland dem Zugriff der chilenischen Justiz entzieht. Etwa zehn weitere Colonia Dignidad Mitglieder werden teilweise mit Interpol-Haftbefehlen von chilenischen Justizbehörden gesucht. Weltweit könnten sie festgenommen und nach Chile ausgeliefert werden. Nur in Deutschland nicht, denn das Grundgesetz verbietet eine Auslieferung an Drittstaaten. Jedoch besteht bei von deutschen Staatsbürger_innen begangenen schweren Straftaten wie Mord oder sexuellem Missbrauch eine Ermittlungspflicht für hiesige Strafverfolgungsbehörden. Ermittlungsverfahren deutscher Staatsanwaltschaften gegen von der chilenischen Justiz flüchtige Colonia Dignidad-Mitglieder wurden bislang regelmäßig eingestellt. Vor Hartmut Hopp war Albert Schreiber der bekannteste nach Deutschland geflüchtete Colonia Dignidad-Funktionär (er ist inzwischen verstorben). Auch seine Frau Lilli und sein Sohn Ernst, die sich in Chile den gegen sie erhobenen Ermittlungen wegen Kindesentführung durch Flucht entzogen hatten, wohnen unbehelligt in Deutschland.
Ähnliches gilt auch für das ehemalige Führungsmitglied Hans-Jürgen Riesland und auch für den ehemaligen Chauffeur Paul Schäfers, Reinhard Döring. Riesland wird von der chilenischen Justiz Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Döring hingegen soll nach vertraulichen Zeugenaussagen vor Gericht auch an Gefangenentransporten zu Exekutionsstätten beteiligt gewesen sein.

Infokasten: Wikileaks-Enthüllungen zum Fall Colonia Dignidad

Auch in Chile gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad schwierig. Bereits 1991 hatte der Bericht der chilenischen Wahrheitskomission („Informe Rettig“) angedeutet, dass viele politische Gefangene während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad verhört, gefoltert und ermordet wurden. Dutzende Gerichtsaussagen von ehemaligen DINA-Agenten und Mitgliedern der Colonia Dignidad haben dies in den letzten 20 Jahren bestätigt. Trotzdem tut sich die chilenische Justiz schwer damit, die Täter_innen zu benennen und zu verurteilen.
Kürzlich von Wikileaks enthüllte State Department-Berichte deuten an, dass Sonderrichter Zepeda mit Informant_innen in der Colonia Dignidad zusammenarbeitet. Diese fungieren möglicherweise als Kronzeug_innen und verraten Taten – aber keine Täter_innen – und könnten dafür selbst straffrei ausgehen. Botschafter Kelly schickte am 20. Dezember 2005 zwei Berichte an das State Department, die ein ausführliches Treffen des US-Konsuls Sean Murphy mit Sonderrichter Jorge Zepeda am Vortag wiedergeben. Zepeda berichtete dem Konsul, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass direkt nach dem Putsch 1973 sowie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene von der DINA und den Wachmannschaften der Kolonie zu Verhören und Folterungen in die Colonia Dignidad gebracht wurden und teilweise auch dort ermordet worden seien. Er habe solide Beweise über fünf politische Gefangene, die in der Colonia gefoltert, ermordet und vergraben worden seien, und plane, die Ermittlungen dazu im Januar 2006 abzuschließen.
Zepeda betonte die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden der Diktatur und der Kolonie und zeigte dem Konsul ein Foto, das Paul Schäfer gemeinsam mit dem Chef der Geheimpolizei DINA, Manuel Contreras, auf einem nächtlichen Jagdausflug auf dem Sektengelände zeigt. Verbindungen wie diese seien der Grund dafür, dass die Colonia Dignidad bis weit in die demokratischen Transitionsjahre hinein weiterbestand. Der Richter erzählte dem Konsul ferner, dass er in der Kolonie mit einer Reihe von Informant_innen zusammenarbeite, die ihm präzise Informationen zukommen lassen. Trotz der Ankündigung Zepedas, die Fälle im Januar 2006 abzuschließen, sind diese weiterhin offen, der Ermittlungsstand ist weitgehend unbekannt.

Zwischen Patriotismus und Plünderung

Bei Investoren, die sich heute auf die weltweite Jagd nach fruchtbaren Böden machen, ist Lateinamerika sehr beliebt: Anders als Afrika bietet der Subkontinent den Vorteil größerer Rechtssicherheit und entwickelter Infrastrukturen. Angetrieben durch hohe Profitaussichten dank steigender Lebensmittelpreise kanalisieren Banken und Fonds Milliarden-Summen in südamerikanische Agrarfirmen, die meist mehrere Anwesen zugleich für internationale Anleger_innen verwalten. In einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird davon ausgegangen, dass „ein Drittel der Fonds, die weltweit in Farmland investieren, Gelder in Brasilien angelegt haben“.
Cosan, der Gigant unter den brasilianischen Zuckerfabrikanten, ist einer der Land Grabber, in dem nationales und internationales Kapital verschmelzen. Eigene Zuckerrohrfelder in der Größe von 700.000 Hektar liefern den Rohstoff für Cosans 23 Zucker- und Ethanolfabriken. Anfang des Jahres gründete der Großgrundbesitzer mit der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell das Gemeinschaftsunternehmen Raízen, das den internen und internationalen Markt mit Ethanol beliefern soll. Um die Expansion zu ermöglich, füllen deutsche Kleinanleger_innen Cosans Kriegskasse auf. Mehrere Fonds der DWS, die Investmentgesellschaft der Deutschen Bank, beteiligen sich an dem berüchtigten Konzern. 2010 setzte das brasilianische Arbeitsministerium Cosan auf die schwarze Liste der Sklavenhalter, nachdem 42 Zwangsarbeiter_innen auf einer seiner Plantagen befreit werden mussten. Ebenso beschuldigte die Staatsanwaltschaft im Bundesstaat Mato Grosso do Sul das Unternehmen, Zuckerrohr auf einer Plantage anzubauen, die es illegal auf Indigenen-Land der Guarani-Kaiowá angelegt hatte.
Die Deutsche Bank lässt ihre Anleger_innen auch an der Waldzerstörung mitverdienen. So investieren drei DWS-Fonds in die argentische Cresud, die über 650.000 Hektar in Argentinien, Brasilien, Bolivien und Paraguay besitzt. Neben Viehzucht und Getreideanbau für den Export, gehören Aufkauf und Erschließung von Ackerland zum Schwerpunkt des Unternehmens. In der nordargentinischen Provinz Salta führt Cresud die Liste der lokalen Abholzer an: Über 56.000 Hektar artenreicher Quebracho-Wälder fielen dem Konzern zum Opfer, um Platz für Felder und Weiden zu schaffen. Leidtragende sind vor allem die Indigenen der Wichí, die mit den Wäldern einen Teil ihrer Lebensgrundlagen verloren haben. „Die Wichí sind traditionell Jäger und Sammler“, erläutert Ana Álvarez von der Nichtregierungsorganisation Asociana. Durch den Waldverlust ist ihre Verarmung mittlerweile so groß, dass in diesem Jahr bereits zehn Kinder an Unterernährung gestorben sind.
Doch die Milliarden, die internationale Investoren in landraubende Agrarfirmen pumpen, heizen auch Debatten um den Verlust nationaler Souveränität in der Region an. Als 2010 im Vorwahlkampf brasilianische Medien mit Berichten über Investitionspläne chinesischer, arabischer und europäischer Unternehmen überquollen, warnte auch der damalige Präsident Lula da Silva vor dem „Missbrauch von Landkäufen durch Ausländer“. Wenn Brasilien diesen Trend nicht aufhalte, werde das Land auf „ein winziges Territorium“ zusammenschrumpfen. Guilherme Cassel, der Minister für Agrarentwicklung, sekundierte: „Brasilianisches Land muss in der Hand von Brasilianern bleiben“.
Die brasilianische Zentralbank untermauerte die Befürchtungen vom Ausverkauf mit ihrer Schätzung, dass Ausländer_innen zwischen 2002 und 2008 2,4 Milliarden US-Dollar in Landkäufe investierten. Doch wie groß die Flächen in ausländischem Besitz konkret sind, ist unbekannt. So weist die Agrarreformbehörde INCRA nur die Zahl der Grundstücke aus, die sich auch namentlich im Besitz von Ausländer_innen befinden. Dies seien 34.000 mit einer Gesamtfläche von über vier Millionen Hektar. Da viele Investoren aber brasilianische Strohmänner, Briefkastenfirmen oder Unternehmen als formale Grundeigentümer einsetzen, ist der von Ausländer_innen kontrollierte Besitz faktisch weit größer. Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Hektar aus.
Im August 2010 schließlich ließ Lula eine neue Interpretation eines Gesetzes von 1971 durch den Generalstaatsanwalt verkünden, die den Landkauf von Ausländer_innen oder Unternehmen, die von Ausländer_innen kontrolliert werden, beschränkt. Danach dürfen ausländische Investoren künftig nicht mehr als 50 Parzellen einer brasilianischen Gemeinde erwerben. Da die Parzellen je nach Region und physischer Ausstattung unterschiedlich groß ausfallen, kann die Gesamtfläche, die sie künftig noch kaufen dürfen, zwischen 250 und 5.000 Hektar betragen. Doch darf sie nicht 25 Prozent der gesamten Ackerflächen einer Gemeinde überschreiten.
Generalstaatsanwalt Luís Lucena Adams versicherte zugleich, dass die Maßnahme ausländische Investitionen nicht ausbremsen werde: „Wir schließen nicht die ausländische Beteiligung aus, aber wir wollen die nationale Kontrolle über den Landbesitz ausüben. Die Unternehmen werden sich anpassen und enger mit lokalen Firmen kooperieren müssen.“ Genau daran aber setzt die Kritik von Linken und sozialen Bewegungen an. Professor Horácio Martins de Carvalho, Agraringenieur und Berater des Kleinbauernetzwerks Via Campesina, schimpft: „Nichts verhindert, dass ausländische Aktionäre Anteile nationaler Unternehmen erwerben, die Land kaufen.“ Für ihn steht außer Frage, dass sowohl die Regierung als auch wichtige Teile der Unternehmerschaft das ausländische Kapital willkommen heißen.
Ohnehin sei die Effektivität dieser Maßnahme zu bezweifeln, da ihre Umsetzung vom guten Willen der Katasterämter abhänge. Diese jedoch sind längst privatisiert worden und berüchtigt für die Korruption bei der Registrierung von Landtiteln. All die Sorgen um den Ausverkauf wären letztlich erst dann hinfällig, wenn die Regierung eine umfassende Agrarreform durchführen würde, die vier bis fünf Millionen Landlose ansiedelt und die Latifundien zerschlägt. Dann nämlich, so Carvalho, stünde das brasilianische Territorium „unter der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontrolle der Bauernschaft“. Dagegen werde der Vormarsch des Agrobusiness solange nicht zu stoppen sein, wie nur halbherzige Maßnahmen ergriffen würden, „die sich auf das ausländische Kapital in unserer Landwirtschaft beschränken“.
Ähnliche Initiativen werden nun auch in anderen Ländern diskutiert, etwa in Argentinien, Bolivien und Uruguay. „Die Verfügung über Land ist eine vitale, strategische Frage im 21. Jahrhundert“, erklärte Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner bei der Vorstellung ihres Entwurfs für ein Landgesetz, das derzeit im Kongress debattiert wird. In Anlehnung an die brasilianischen Regeln sieht es vor, den Landbesitz von Ausländer_innen und Unternehmen, die von Ausländer_innen dominiert werden, auf 20 Prozent der Agrarflächen auf nationaler, Provinz- und Gemeindeebene zu beschränken. In den fruchtbaren Gebieten der zentralen Pampa sollen Ausländer_innen nicht mehr als 1.000 Hektar kaufen dürfen. Ähnliche Schwellen will man auch in anderen Regionen etablieren.
Weil auch in Argentinien unbekannt ist, wie groß die Grundstücke in ausländischem Besitz tatsächlich sind, soll ein nationales Grundbuch eingeführt werden. Eine Besonderheit des Kirchner-Entwurfs ist, dass der Erwerb von knappen und nicht erneuerbaren Gütern wie Land nicht als Investition betrachtet wird. „Eine Investition ist es, wenn jemand Technologie mitbringt, nicht wenn er ein Grundstück kauft“, erläutert der an dem Entwurf beteiligte Jurist Eduardo Barcesat. Mit dieser Regelung will die Regierung Ausländer_innen die Möglichkeit verbauen, im Streitfall die in bilateralen Investitionsschutzabkommen vorgesehenen Schiedsgerichte anrufen zu können.
Doch der argentinische Gesetzentwurf bleibt ebenfalls nicht von Kritik verschont. Die Zeitung Página/12 verweist darauf, dass die 20-Prozent-Schwelle 40 Millionen Hektar entspricht. Da die Regierung das Land, das derzeit in Besitz von Ausländer_innen ist, auf sieben Millionen Hektar schätzt, bekundet sie mit dieser Schwelle letztlich die Absicht, das Drei- bis Vierfache der bisherigen Flächen an das internationale Agrobusiness zu verkaufen. So kann nicht verwundern, dass die Aktivist_innen der Grupo Reflexión Rural Kirchners Gesetz als „nutzlos“ bezeichnen, da es der Plünderung keinen Riegel vorschiebe.
Tatsächlich lassen die derzeit ergriffenen Regierungsmaßnahmen nicht erkennen, dass Kleinbauern und -bäuerinnen sowie Indigene, also jene, die am stärksten unter Verdrängung leiden, profitieren könnten. Im besten Fall sorgen die Beschränkungen für ausländische Investoren nur dafür, dass die Verflechtungen zwischen nationalem und ausländischem Kapital zunehmen und die intensivlandwirtschaftlichen Produktionsmethoden sich noch rascher ausbreiten. Während so das Paket aus Monokultur, Hochleistungssaatgut und Agrarchemie immer mehr zur Norm wird, fehlt es weiterhin an Initiativen, die den Vormarsch der Agrarfront und die Landnahme effektiv eindämmen könnten.

„Niemand will wissen, wie viele Opfer es gibt“

Seit wann ist Frauenhandel ein Thema in Argentinien, das öffentlich diskutiert wird, und seit wann beschäftigt sich die Regierung damit?
Das Thema des Menschenhandels wurde in Argentinien mit dem Fall von María de los Ángeles Veron – „Marita Veron“ – publik. Die 23-jährige Frau aus Tucumán verließ im April 2002 ihr Haus und wurde daraufhin nie wieder gesehen. Seit dem Zeitpunkt des Verschwindens begann ihre Mutter nachzuforschen, was mit Marita geschehen war und entdeckte ein Frauenhandelsnetz in Tucumán. Die Händler entführten Frauen und brachten sie dann in andere Provinzen Argentiniens, um sie dort zur Prostitution zu zwingen. So wurde das Thema in Argentinien öffentlich gemacht. Diese Geschichte gelang an internationale Medien und im Jahre 2007 wurde der Mutter Maritas der Preis der „Frau des Jahres“ von den Vereinigten Staaten überreicht.
Im Jahr 2002 wurde in Argentinien das Protokoll von Palermo unterzeichnet, welches für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, inklusive des Menschenhandels, steht. Im Jahr 2008 wurde das Gesetz zu Menschenhandel in Argentinien verabschiedet. Abgesehen von Präventions- und Bestrafungsmaßnahmen beinhaltet das Menschenrechtsgesetz Unterstützungsmaßnahmen für die Opfer. Trotzdem ist dieses Gesetz ziemlich polemisch und wird von sozialen Organisationen in Frage gestellt, die schon viel früher als der Staat mit dieser Thematik gearbeitet haben. Zur Zeit wird das Gesetz im Parlament überprüft, um es zu verbessern.

Können Sie uns Ihre Arbeit genauer erklären? Nach der Verabschiedung des nationalen Menschenhandelsgesetzes hat die Stadt Buenos Aires auch ihr eigenes Gesetz verabschiedet, das den Schwerpunkt auf die Unterstützung der Opfer des Menschenhandels setzt. Somit verpflichtet sich die Stadt Buenos Aires zur Unterstützung und Beherbergung von Frauen, die aus den Menschenhandelsnetzen befreit wurden. Diese Einrichtung wurde im September 2010 eröffnet. Ich arbeite dort als administrative Koordinatorin. Im Refugium sind wir 21 Personen. Dieser Zufluchtsort kann 18 Frauen oder Kinder aufnehmen. Er ist rund um die Uhr geöffnet. Es arbeiten hier zwei Psychologinnen, eine Sozialarbeiterin, eine Hauptkoordinatorin und ich – wir bilden das technische Team. Der Rest des Personals unterteilt sich in zwei Rollen: Einerseits Betreuerinnen, die mit den Frauen den Alltag verbringen, mit ihnen den Tagesablauf festlegen und ihnen wieder Gewohnheiten wie Zähneputzen, sich zum Essen zu setzen, regelmäßig zu baden und so weiter näher bringen, die oft nach so vielen Jahren der Ausbeutung verloren gingen – und jene Mitarbeiterinnen, die Workshops und Aktivitäten mit den Frauen realisieren.

Wie viele Frauen kommen im Durchschnitt pro Woche oder Monat in das Refugium?
Um die Privatsphäre der Opfer zu schützen, können wir keine spezifischen Angaben über die Anzahl der Fälle geben. Wir haben Kapazität für 18 Personen. Es sind auch schon Jungen gekommen, obwohl der Ort ausschließlich für weibliche Opfer sexueller Ausbeutung gedacht ist.

Müssen die Opfer, die sich illegal im Land aufhalten, nach der Befreiung das Land verlassen?
Argentinien hat im Vergleich zu Europa ein flexibleres Einwanderungsgesetz, welches es Migrant_innen, vor allem Staatsbürger_innen des Mercosur und lateinamerikanischer Staaten, leichter macht, eine Aufenthaltsgenehmigung in Argentinien zu bekommen. Zusätzlich existiert ein spezifisches Menschenhandelsgesetz, das besagt, dass der argentinische Staat Verantwortung übernehmen muss für die, die nicht in ihr Land zurückkehren wollen. Unsere Betreuung ist für Argentinierinnen sowie für Ausländerinnen die gleiche. Wir helfen den Opfern, eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen, wenn sie das wollen. Sobald sie den DNI (Personalausweis; Anm.d.Red.) bekommen haben, haben sie Zugang zu allen Unterstützungen, genauso wie jeder andere Staatsbürger.

Was sagen die offiziellen Statistiken?
Offizielle Statistiken gibt es nicht, vor allem aus politischen Gründen. Niemand will wissen, wie viele Menschenhandelsopfer es in Argentinien gibt, da es sich um eine Verletzung der Menschenrechte handelt und der Staat nicht dagegen interveniert. Allerdings gibt es allgemeine Daten auf Basis der Anzahl der verschwundenen oder wieder aufgetauchten Frauen. In der Regel handelt es sich um Frauen im Alter zwischen dreizehn und maximal 25 Jahren. Die Definition des Menschenhandels beinhaltet auch eine Ortsversetzung von Personen. Die Opfer werden beispielsweise von Tucumán nach Buenos Aires und nach einer gewissen Zeit, in der bereits sexuelle Ausbeutung stattfindet, in den Süden Argentiniens gebracht. So ist es besonders schwierig, die Opfer zu finden. Argentinien ist ein Transit- und Empfängerland für Opfer. Deswegen werden die Mädchen, die in Buenos Aires entführt werden, oft ins Ausland oder in andere Provinzen gebracht. Sie bleiben nie am gleichen Ort. In Buenos Aires gibt es eine hohe Anzahl an Arbeitsausbeutung von Frauen aus Bolivien und an sexueller Ausbeutung von Frauen aus der Dominikanischen Republik.

Viele Opfer kommen aus dem Norden des Landes. Warum?
Der Nordosten Argentiniens, wie beispielsweise Misiones, ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Es gibt viel Armut. Viele Menschen sprechen kein Spanisch, sie sprechen Guaraní oder Deutsch. Es gibt viele deutsche Siedlungen und die Regierung ist für diese Menschen nicht präsent. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Frauen von dort angeworben werden. Zum Beispiel macht die Nähe zu den Grenzen der Nachbarländer Brasilien und Paraguay es besonders leicht, die Mädchen aus dem Land zu bringen. Obwohl es seit einigen Jahren viel mehr Kontrollen gibt und sogar ein eigenes Ministerium gegründet wurde, bleibt Misiones immer noch die Provinz mit der höchsten Opferzahl.

Wie können die Opfer den Ausstieg schaffen und welche Unterstützung erhalten sie dabei?
Normalerweise flüchten sie. Letzte Woche gab es einen Fall von einem Mädchen aus Paraguay. Sie reiste von Paraguay nach La Plata, da eine Cousine sie anrief und ihr erzählte, dass Reinigungspersonal in La Plata gesucht werde. Die Cousine sagte ihr, dass sie sie von der Bushaltestelle abholen würde, aber als das Mädchen ankam, wartete nicht ihre Cousine auf sie, sondern ein Mann, der ihr sagte, dass er sie zum Haus der Familie bringen würde. Tatsächlich brachte er sie jedoch in ein Bordell, genauso wie es im Film Nina gezeigt wird. Das Mädchen war sieben Tage lang allein in einem Zimmer ohne Licht eingesperrt. Das einzige, was sie bekam, war Essen. Pro Tag kamen zwischen sieben und zehn Männer, die sie vergewaltigten. Sie erzählte jedem dieser „Kunden“, die 100 Peso (circa 17 Euro) bezahlten, dass sie gegen ihren Willen hier war, dass man sie entführt hat. Nur ein Mann vergewaltigte sie nicht, sondern erstattete Anzeige – ein einziger von circa siebzig. Sie wurde befreit und nach Paraguay zurückgebracht, da sie darauf bestand. Normalerweise wird in diesen Fällen empfohlen, den Frauen zuerst eine psychologische Behandlung zukommen zu lassen, da sie natürlich traumatisiert sind. Die meisten Frauen befreien sich, indem sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit der Aufseher_innen aus dem Bordell flüchten.

Gibt es auch Fälle, in denen Familienangehörige Teil des Geschäfts sind?
Ja, oft sind es Familienangehörige, die ihre Kinder verkaufen. Meist sind es nicht die Eltern, oft aber Tanten oder Onkel. Oft sind die Familien Mittäter, und daher ist es auch schwierig bis unmöglich, die Opfer nach der Befreiung in ihr Herkunftsland zurückzubringen.

Wie bekannt ist die Einrichtung, in der Sie arbeiten?
Unser Haus ist einer der ersten Zufluchtsorte und ist nicht sehr bekannt, da der Ort der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und zum Schutz der Opfer geheim gehalten werden muss.

Warum eröffnete die Stadtregierung den Zufluchtsort?
Der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, war wegen des Gesetzes dazu gezwungen. Sobald der Nationalstaat in Argentinien ein landesweites Gesetz verabschiedet, werden die Provinzen verpflichtet, Gesetze in Abstimmung mit diesem zu erlassen. Die Stadt Buenos Aires musste daher ihr eigenes Menschenhandelsgesetz im gleichen Jahr verabschieden, in dem das Nationalgesetz beschlossen wurde. Bei diesem geht es hauptsächlich um Betreuung und Hilfe, da man weiß, dass Buenos Aires eine Empfängerstadt für Opfer ist. Auf Bundesebene soll die Nationalregierung einen Zufluchtsort für Opfer des Menschenhandels in der Stadt geschaffen haben, aber man weiß es nicht sicher, da keine Informationen preis gegeben werden. Bekannt ist, dass man befreite Opfer in Hotels brachte, um ihnen dort zwei oder drei Tage Beratung zu leisten. Was danach weiter mit ihnen passierte, weiß man nicht.

Was wäre Ihrer Meinung nach wichtig?
Für mich ist grundlegend, dass eine wirkliche politische Entscheidung zur Bekämpfung des Menschenhandels gefällt wird. Dies impliziert die Bereitstellung ökonomischer Ressourcen, gut ausgebildeten Personals und Büros in allen Provinzen, welche in dieser Thematik arbeiten, sowie die Säuberung der Polizei und vor allem, dass man die Zivilgesellschaft lehrt, dass Prostitution unvermeidlich zu Menschenhandel führt. Wenn es keine Nachfrage gibt, gibt es kein Angebot, so einfach ist es. Wenn es keine Männer gibt, die Frauen in Situationen der Ausbeutung konsumieren, ist kein Geschäft möglich. Für mich ist ein Umdenken in den Köpfen der Menschen fundamental.

Zur Person:

Victoria Vaccaro
ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2005 bei der Menschenrechtsorgainsation Instituto Social y Político de la Mujer (ISPM). Seit 2010 koordiniert sie die Verwaltungsaufgaben im Zufluchtsort, das von der Stadtregierung Buenos Aires für Opfer des Menschenhandels und der Zwangsprostitution eingerichtet wurde.

// DOSSIER: LANDHUNGER

Ein Bauer der Siedlung 13 de Mayo in Paraguay, der gegen die Vertreibung von seinem Land kämpft // Foto: Sub [Cooperativa de fotógrafos]

(Download des gesamten Dossiers)

Ackerland gilt neuerdings als höchst lukrativ. Spätestens seit der jüngsten Finanzkrise 2008/2009 widmen Unternehmen, Politik, Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen dem ländlichen Raum unter dem Schlagwort „Land Grabbing“ verstärktes Interesse. Akteure gibt es dabei viele. Private Fonds investieren in Land, um Profite zu erzielen, Schwellenländer bauen jenseits ihrer Territorialgrenzen Lebensmittel für die eigene Bevölkerung an und Unternehmen kaufen oder pachten in vielen Ländern des globalen Südens Ackerland zu Spottpreisen. Die Rechnung ist simpel: Eine anwachsende Weltbevölkerung, steigender Bedarf an Lebensmitteln, zunehmender Fleischkonsum in Schwellenländern und die Begrenztheit landwirtschaftlicher Anbauflächen garantieren auf lange Sicht gute Geschäfte im Agrarbereich.

Hinter dem Trend steht die grundsätzliche Frage, welches Agrarmodell den Menschen nützt, sprich, was zu welchen Bedingungen und für welche Zwecke auf dem zur Verfügung stehenden Ackerland angebaut werden soll. Denn dieses wird nicht nur zur Produktion von Lebensmitteln genutzt, sondern bringt auch Futtermittel für die Massentierhaltung oder Agrosprit hervor. Verliererin ist vor allem die kleinbäuerliche Landwirtschaft, der es oftmals an politischer Unterstützung und technischen Verbesserungen mangelt. Entgegen den Argumenten der Agrarindustrie stellt die kleinbäuerliche Landwirtschaft weltweit einen Großteil der Lebensmittel her und ist nicht selten produktiver als industrielle Landwirtschaft. Durch entsprechende Rahmenbedingungen wären Kleinbäuerinnen und -bauern in der Lage, die Welt nachhaltig zu ernähren. In der heutigen Realität leben von den weltweit etwa eine Milliarde hungernden Menschen die meisten jedoch auf dem Land. Durch die einseitige Handelsliberalisierung und unfaire Freihandelspraktiken müssen viele Staaten, die sich früher weitgehend selbst ernähren konnten, heute einen Großteil der benötigten Lebensmittel importieren. Wenngleich sich der Wandel im Agrarsektor in den letzten Jahren intensiviert hat, ist die Landfrage für Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonisierung stellen Großgrundbesitz und Landkonzentration ein Problem für die Gesellschaften des Subkontinents dar, leiden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern unter Repressalien, werden traditionelle, indigene Bedeutungen und Nutzungen von Land ignoriert. Die zahlreichen Versuche, in lateinamerikanischen Ländern Landreformen durchzuführen sind im Laufe der Jahrhunderte überwiegend gescheitert.

Die Triebkräfte für Landkonflikte sind heute etwa die exportorientierte industrielle Landwirtschaft und der Anbau in Monokulturen. Beide haben häufig eine internationale Dimension. Die Folgen sind verheerend: Das vorherrschende Agrarmodell basiert auf Vertreibungen und Umweltzerstörung, verhindert Ernährungssouveränität und untergräbt Ernährungssicherheit.

Doch es gibt auch vielfältigen Widerstand gegen dieses industrielle Auslaugen von Land. Landlose besetzen Flächen, Aktivist_innen wehren sich gegen Gensoja, und mancherorts werden Alternativen zur industriellen Landwirtschaft erprobt. Viele Landkonflikte werden dabei gewaltsam ausgetragen. Internationalen Organisationen wie der Weltbank oder der Welternährungsorganisa­tion FAO geht es vor allem um die Frage der Ernährungssicherheit, die in erster Linie durch eine Steigerung der Produktion zu erreichen sei. Das internationale kleinbäuerliche Netzwerk La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) und andere so­ziale Bewegungen propagieren hingegen das Konzept der Ernährungssouveränität. Dieses schließt eine lokale Komponente und die demokratische Entscheidung über den Anbau von Lebensmitteln mit ein. Dank des Drucks von unten stehen Landreformen in einigen Ländern zumindest diskursiv immer noch oder wieder auf der Tagesordnung.

Mit dem Dossier Landhunger und satte Gewinne wollen die Lateinamerika Nachrichten und das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) Einblicke in Ausmaß, Entwicklung und Triebkräfte des Land Grabbing in Lateinamerika vermitteln sowie Alternativen zum derzeit vorherrschenden Agrarmodell vorstellen. Dazu wird zunächst in die Thematik eingeführt. Ein historischer Überblick über die Landfrage in Lateinamerika von der Kolonialzeit bis heute zeigt die zahlreichen (gescheiterten) Versuche von Landreformen auf. Dass es in Lateinamerika durchaus Alternativen zur industriellen Landwirtschaft in Monokultur gibt, zeigt ein Text über die milpa, die traditionelle zentralamerikanische Anbauweise, bei der Mais mit Bohnen, Kürbis, Chili und andere Spezies typischerweise eine Symbiose bildet.

Der neoliberale Wandel der Landwirtschaft wird anhand des Beispiels Mexiko erläutert, wo im Vorfeld des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada 1992 die Unverkäuflichkeit des traditionellen Gemeindelandes (ejido) aufgehoben wurde. Als Triebkräfte des Land Grabbing werden in weiteren Artikeln Sojaanbau in Paraguay und Palmölanbau in Kolumbien behandelt. Der kolumbianische Aktivist Mauricio Meza erläutert im Interview die Folgen der kolumbianischen Agrarpolitik für die kleinbäuerliche Landbevölkerung.
Bei der Jagd nach Land mischen dabei keineswegs nur europäische oder US-amerikanische Akteure mit, wie ein Artikel über brasilianische Agrarunternehmen zeigt, die weit über die Landesgrenzen hinaus aktiv sind. Außerdem werden die Rolle von Investment-Fonds sowie die Reaktionen der nationalen Regierungen auf den massiven Ausverkauf von Land an ausländische Investoren beleuchtet. Zuletzt wird beispielhaft die aktuelle Landreform in Bolivien einer kritischen Bilanz unterzogen. Abgerundet wird das Dossier durch ein Glossar, in dem einige der häufiger vorkommenden Fachbegriffe kurz erklärt werden, sowie Tipps zum Weiterlesen.

Bei der Breite des Themas müssen in diesem Rahmen notgedrungen interessante Aspekte auf der Strecke bleiben. Zum Beispiel stehen auch die Ausbeutung nicht agrarischer Rohstoffe sowie die mit der Ressourcenausbeutung einhergehenden Infrastrukturmaßnahmen in Flächenkonkurrenz zu kleinbäuerlicher Landwirtschaft.

Die Möglichkeiten von Widerstand und der Entwicklung von Alternativen werden nur angerissen. Das Dossier bietet Einblicke in einen Themenbereich, der für die Zukunft des Kontinents und darüber hinaus immense Bedeutung hat. Die dabei vorhandenen Lücken sollen auch als Aufforderung dienen, das Thema zu vertiefen.

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

„Für das Leben“

„Noch vor 30 Jahren war hier alles mit Wald bedeckt“, erinnert sich Gerónimo Arévalo und schwenkt den Arm in einer weiten Geste über die Sojafelder die sich bis zum Horizont erstrecken. „Heute leben wir in einem Meer aus Soja“, sagt der Öko-Landwirt, dessen Gemeinde im östlichen Alto Paraná von Sojafeldern umringt ist. Bereits in den 1970er Jahren wurden hier Sojamonokulturen im großen Stil angelegt. Von Brasilien kommend hielt die „grüne Revolution“ Einzug, eine industrialisierte Landwirtschaft die auf riesigen Flächen bis heute gigantische Erträge erzielt. Paraguay gehört zum über 40 Millionen Hektar großen „Sojagürtel Südamerikas“. Dazu zählen neben Paraguay der Süden Brasiliens, Nord-Argentinien, das östliche Bolivien sowie Teile Uruguays.
In Gerónimos Gemeinde bewirtschaften 44 Familien 500 Hektar Land als Selbstversorger_innen. In kleinen Mischkulturen bauen sie die Hauptnahrungsmittel Maniok und Mais, Bohnen, Erdnüsse, Gemüse und etwas Sesam zum Verkaufen an. Tiere laufen frei umher, ein Bach plätschert munter vor sich hin. Doch die Idylle trügt: „Kinder werden blind, Schwangere verlieren ihre Babys, unsere Tiere sterben“ erklärt Gerónimo die Folgen der Ackergifte, die auf den Sojafeldern rundherum regelmäßig versprüht werden. Mit den gentechnisch veränderten Sojasorten, die seit Ende der 1990er Jahre angebaut werden, ist die Belastung enorm gestiegen. Mittlerweile wird zu über 90 Prozent der angebauten Soja gentechnisch verändert. Die Pflanzen wurden gegen bestimmte Breitbandherbizide resistent gemacht, die alles außer den genetisch veränderten Sojapflanzen abtöten. Hersteller, wie Monsanto mit seinem „Roundup Ready“, versprechen mehr Ertrag bei weniger Pestizideinsatz.
Doch „mit der transgenen Soja verringert sich der Einsatz der Ackergifte nicht, im Gegenteil“, betont der Agraringenieur Pedro Peralta von der Nichtregierungsorganisation CECTEC, die nachhaltige Landwirtschaft von Kleinbäuerinnen und -bauern fördert. Seit 15 Jahren beobachtet er die Nebenwirkungen der Sojaexpansion: „Heutzutage werden die Chemikalien viel aggressiver versprüht, weil es in den gigantischen Monokulturen bei Krankheiten oder Plagen keine natürliche Regulation mehr gibt. Also werden mehr Fungizide, Herbizide und Pestizide eingesetzt,“ erklärt er weiter: „Bis zu fünf Mal zwischen der Aussaat im September und der Ernte im Januar.“ Nicht nur ausgelaugte Böden, Erosion und vergiftete Gewässer sind die Folge, insbesondere die familiäre Subsistenzwirtschaft der Kleinbäuerinnen und -bauern ist betroffen „weil die Pflanzen auf ihren Äckern verdorren und sie selbst krank werden“, so Peralta.
Für die Landbevölkerung bedeuten die Ackergifte einen schleichenden Tod,“ bestätigt auch Dr. Silvia Gonzales vom Forschungsinstitut CEIDRA die Langzeitfolgen der Mittel, die vom Wind kilometerweit getragen werden. Besonders fatal sei die Applikation aus der Luft, die nicht einmal angekündigt werden muss, so dass die Landbevölkerung nicht rechtzeitig Schutz vor den giftigen Dämpfen suchen könne. Viele Chemikalien, die in Paraguay zum Einsatz kämen, seien in Europa längst als krebserregend verboten. Immer wieder gebe es Todesfälle, Langzeitfolgen wie Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen nähmen zu. „Der Versuch, gesetzliche Richtlinien zum Schutz der Landbevölkerung zu verbessern, wird immer wieder von der Agrar-Lobby im Parlament boykotiert“, erlebt die energische Soziologin und Anwältin.
Selbst bei Todesfällen wie dem des elfjährigen Silvino Talavera, der 2003 zweimal in Folge mit Pestizid besprüht wurde, verneinen Sojaunterneh­mer_innen ihre Verantwortung: „Dann werden immer Beweise dafür gefordert, wodurch der Tod verursacht wurde und schließlich verkünden sie dann, dass die Betroffenen an Unterernährung, Durchfall oder Fieber starben – was genau die Symptome sind, die von Ackergiften verursacht werden. Aber es ist sehr schwer, Ursache und Wirkung wissenschaftlich nachzuweisen.“ Solche Untersuchungen seien langwierig und unerwünscht. Engagierte Mediziner_innen würden oft bedroht.
Doch die Aktivistin gibt die Hoffnung nicht auf. Genauso wenig wie die Mitglieder von CONAMURI, der Dachorganisation der ländlichen und indigenen Frauenverbände, durch deren breite Lobbyarbeit der Fall Silvino schließlich vor Gericht verhandelt und 2004 gewonnen wurde.
Mit der Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo im Jahr 2008, die die 61-jährige Alleinherrschaft der rechtskonservativen Colorado-Partei beendete, erhofften sich Kleinbäuerinnen und -bauern grundlegende Reformen. Doch ihre Situation hat sich nicht verbessert, und sie kämpfen innerhalb zahlreicher Verbände und Organisationen weiterhin für eine Agrarreform sowie eine selbstbestimmte Landwirtschafts- und Ernährungspolitik in Paraguay. Denn vom Sojaboom profitieren vor allem die vielen brasilianischen, einheimischen, aber auch deutschen Großgrundbesitzer_innen durch unbegrenzten Landerwerb, Steuerfreiheit auf das Exportgut und steigende Weltmarktpreise. Zweieinhalb Tonnen Sojabohnen und mehr werden heute bei guter Ernte pro Hektar erzielt. Das bringt um die 900 US-Dollar Verkaufspreis pro Hektar. Auf 2,7 Millionen Hektar wird in Paraguay zurzeit Soja angebaut und die Anbaufläche wächst unkontrolliert weiter. Die größten Gewinnerinnen sind aber internationale Agrar- und Chemiefirmen wie ADM, Monsanto und BASF. Der Bedarf der Industrieländer an Soja als Viehfutter und in zunehmendem Maße auch als Energiepflanze für Agrotreibstoffe ist enorm. Paraguay stieg in den letzten Jahren zum viertgrößten Sojaexporteur auf. Von den insgesamt 35 Millionen Tonnen Soja, die vor allem aus Südamerika jährlich in die EU importiert werden, sind deutsche Bäuerinnen und Bauern und Massentierbetriebe mit 8 Millionen Tonnen die größten Abnehmer. Während gentechnisch veränderte Lebensmittel hier verboten sind, gilt das nicht für die Futtermittel; Gen-Soja landet somit täglich in Form von Fleisch, Milch und Eiern auf den meisten Tellern.
Ein lohnendes Geschäft, das auch in den kommenden Jahren gigantische Gewinne verspricht. Und so verleiben sich die Sojabarone und internationalen Agrarfirmen immer mehr fruchtbares Land ein, um Soja in Monokulturen anzubauen. Sie verdrängen die kleinbäuerliche Landwirtschaft und damit das traditionelle Modell, von dem immerhin die Hälfte der Bevölkerung lebt.
Die Sojaexpansion verschärft den Landkonflikt, der ohnehin das brennendste soziale Problem ist. Paraguay gehört mit etwa 80 Prozent der Ackerfläche im Besitz von zwei Prozent der Bevölkerung zu einem der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit.
Ginge es nach Héctor Cristaldo, Präsident des wichtigsten Verbandes der Sojalobby, ließe sich die Fläche problemlos um 1,3 Millionen Hektar steigern. Die Zukunft liegt für ihn im globalen Markt: „Das hohe Agrar-Potential in einem Land wie unserem nicht zu nutzen, um eine hungernde Welt zu versorgen, sondern zu sagen wir pflanzen nur, was wir selbst essen, das macht doch keinen Sinn!“ Er wird nicht müde zu betonen, dass der kleinbäuerliche Sektor hoffnungslos rückständig sei. Im übrigen seien in der modernen Landwirtschaft die Pestizide bei sachgemäßer Anwendung sicher.
Das Gegenteil spüren immer mehr Kleinbäuerinnen und -bauern auch im Norden Paraguays wie in der Provinz San Pedro, wo sich die Sojakulturen, vor allem in brasilianischer Hand, seit zehn Jahren immer rasanter ausbreiten. Kopfschmerzen, Hautausschläge, Bauchschmerzen und Durchfall, Übelkeit mit Erbrechen, Missbildungen bei Neugeborenen sind nur einige der Nebenwirkungen, die die Bäuerin Lucía Pavón aufzählt. Schützende Grünstreifen, die für die Großproduzent_innen eigentlich gesetzlich vorgeschrieben sind, gibt es nicht: „Sie wollen ihre Anbaufläche nicht verkleinern sondern jeden Zentimeter mit Soja bepflanzen.“
Weil die Situation unerträglich ist, stellen sie sich immer häufiger dem Besprühen der Felder als lebende Mauern in den Weg. Doch die brasilianischen Sojabäuerinnen und -bauern werden von Polizei und Militär unterstützt und heuern bewaffnete Sicherheitskräfte an, die ganze Gemeinden einschüchtern und Aktivist_innen bedrohen. „Für sie sind wir Kakerlaken“ sagt Lucía. „Aber wenn wir aufgeben und unser Land verlassen, was bleibt uns dann noch?“ fragt sie.
Immer mehr Menschen wandern in die Städte ab, denn sie ertragen das Gift nicht mehr oder werden solange unter Druck gesetzt bis sie ihre wenigen Hektar Land verkaufen. Viele Kleinbauern und -bäuerinnen verlieren ihr Land auch durch Verschuldung, weil sie in der Hoffnung, gut zu verdienen, selbst Soja anbauen. Doch teure Pestizide und Technik lohnen sich nur auf großen Flächen.
Allein 90.000 Familien gaben während des letzten Jahrzehnts ihr Land auf. Sie harren in illegalisierten Camps aus oder landen in den Armutsvierteln der Hauptstadt Asunción. Dort schlagen sie sich als Straßenverkäufer_innen und Müll-Recycler_innen durch, prostituieren sich oder betteln.
„Gürtel der Misere“ nennen die Soja-Gegner_innen diese Orte. Insbesondere die indigene Bevölkerung ist von Vertreibung und Hunger betroffen, denn sie sind die marginalisierteste Bevölkerungsgruppe und haben keine Lobby.
In ganz Paraguay wächst mittlerweile der Widerstand. Viele Bauern sind bereits organisiert. Sie mobilisieren zu Demonstrationen und Straßenblockaden und unterstützen die vielen Landbesetzungen. Ein Kampf um Land und gegen das Agrobusiness, der trotz starker Repression von Seiten des Staates und der Mächtigen im Lande auf vielfältige Weise geführt wird. „Wir haben keine andere Wahl“, betont Gerónimo Arévalo, „wir kämpfen für unser Recht auf Land und für das Leben.“
Für ihn ist die industrialisierte Landwirtschaft kein tragfähiges Modell: „Wir wissen sehr gut, dass hinter der industriellen Sojaproduktion ein großes Geschäft steckt, aber für die kleinen Produzent_innen ist sie weder rentabel noch nachhaltig, denn sie zerstört die Umwelt und damit unsere Lebensgrundlage. Unsere Zukunft kann nur in einer Landwirtschaft liegen, die das Leben verteidigt.“

Der Kolonist von nebenan

„Gilson Pinesso zeigt denselben Pioniergeist wie einst sein Vater!“, schrieb die brasilianische Zeitung Estado de São Paulo im August 2010. Pinessos Vater zog in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom südlichen Bundesstaat Paraná in den Westen Brasiliens, nach Mato Grosso, um dort Landwirtschaft im großen Stil zu betreiben. Nun sucht der Sohn neue Investitionsmöglichkeiten für seinen großen Landwirtschaftsbetrieb – und findet sie jenseits der brasilianischen Grenze, ja, sogar jenseits des Kontinents.
Pinesso hat 2010 einen Pachtvertrag über 10.000 Hektar mit der sudanesischen Regierung abgeschlossen. Im ersten Jahr kultivierte er auf 500 Hektar Baumwolle, in diesem Jahr sollen die restlichen Flächen mit Soja bebaut werden. Verkauft wird auf dem Weltmarkt, Nahrungsmittel für die Bevölkerung der Region produziert Pinesso nicht. Vorteile für sein Geschäft erreicht er vor allem durch eine gute Straßenanbindung und den günstigen Bodenpreis im Sudan. 50 US-Dollar pro Hektar pro Jahr muss er zahlen. „Das ist sehr wenig für die Qualität des Bodens“, sagte er der Estado de São Paulo. Zudem müsse er deutlich weniger Insektizide verwenden, als er es von Brasilien gewohnt sei. Er denke bereits über weitere Investitionen in Äthiopien und Uganda nach. „Brasilianer werden die Region wirtschaftlich entwickeln!“, prophezeit er, und die Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung.
Unternehmer_innen wie Gilson Pinesso sind kein Einzelfall. Brasilien ist eben nicht nur ein Land, das Agrarinvestoren anzieht, viele kommen auch von dort. Zahlreiche Agrarunternehmer_innen in Brasilien sind zu erheblichem Wohlstand gekommen. Die zweite Generation der Agrarbourgeoisie drängt nun auf den weltweiten Agrarmarkt, sie hält Ausschau nach neuen Geschäftsfeldern, auch jenseits der Grenze des Nationalstaats. Nach Afrika drängt es wie Gilson Pinesso bisher aber nur relativ wenige brasilianische Großfarmer_innen – insofern ist er eher die Ausnahme. Aber in der unmittelbaren Nachbarschaft des größten südamerikanischen Landes sind die brasilianischen Geschäftsleute mitt­lerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Im kleinen Nachbarland Paraguay etwa werden auf drei Millionen Hektar Soja angebaut, 60 Prozent dieser Fläche gehört Brasilianer_innen. Allein von Januar bis Juni dieses Jahres wurden hier 100.000 Hektar an ausländische Investoren verkauft, meistens an Unternehmer_innen aus dem großen Nachbarland. Dieser Trend existiert bereits seit Jahren, die sogenannten brasiguayos sind wirtschaftlich sehr einflussreich. Insbesondere in den wenig besiedelten Westen des Landes drängen die Unternehmer_innen, angezogen vom niedrigen Bodenpreis, erklärte Rodrigo Artagaveytia von der Landwirtschaftlichen Studiengruppe Estudio 3000 in einer Untersuchung. Früher galt der Westen des Landes als zu trocken und abgelegen, um dort erfolgreich zu wirtschaften, doch verbesserte Verkehrsanbindungen und Produktiosmethoden machen diese Region zunehmend interessant. Der Bodenpreis ist hingegen weiterhin sehr niedrig: Im Gegensatz zu Uruguay, wo der Preis pro Hektar bei über 2.000 US-Dollar liegt, sei das Land im westlichen Paraguay mit 120 bis 180 US-Dollar pro Hektar unschlagbar billig.
Insgesamt haben die Investoren aus Brasilien dennoch einen guten Ruf in Paraguay. Die meisten Paraguayer_innen schätzen Brasilien und die Brasilianer_innen, da sie Entwicklung und Investitionen in das Land brächten. Doch es gibt auch Kritiker_innen, die eine Gefahr für die nationale Souveränität befürchten. Das brasilianische Außenministerium Itamaraty – dessen Stimme traditionell viel Gewicht in Paraguay hat – übt gerne auch mal Druck auf die Gerichte des Nachbarlandes aus, um juristische Entscheidungen zugunsten brasilianischer Agrarunternehmen zu beeinflussen. Das Bündnis „Front für die Souveränität und das Leben“, das verschiedene Organisationen von Kleinbäuerinnen und -bauern vereint, sieht gar eine schleichende Kolonisierung des Landes durch brasilianische Unternehmer_innen voranschreiten.
In Bolivien will die Regierung den ausländischen Investitionen einen Riegel vorschieben. Auch hier sind es vor allem Brasilianer_innen, die am Agrargeschäft beteiligt sind. Im März dieses Jahres kündigte die Regierung Evo Morales medienwirksam an, in Zukunft eine Million Hektar Land, das sich in den Händen von Ausländer_innen befinde, enteignen zu wollen. Der Vizeminister für Landfragen, José Manuel Pinto, erklärte, dass viele Unternehmer_innen das Land illegal erworben hätten. Nur diese wolle man enteignen. „Wir sind nicht gegen Ausländer in Bolivien. Aber sie sollen sich an unsere Gesetze und Normen halten“, erklärte er. Wie und wann genau dies geschehen soll, ist aber bis heute ungeklärt.
Vor allem mexikanische Mennonit_innen und Brasilianer_innen hätten in Bolivien illegal Land erworben, erklärte Vizeminister Pinto. Nach einer Studie der bolivianischen Stiftung Tierra haben ausländische Investoren in den letzten Jahren über eine Million Hektar Land in Bolivien erworben. Etwa 700.000 Hektar davon gingen auf das Konto brasilianischer Unternehmer_innen.
Nach Informationen der bolivianischen Umweltorganisation PROBIOMA werden auf diesen Flächen vor allem Baumwolle und Soja angebaut. Dabei komme auch transgenes Saatgut zum Einsatz, welches eigentlich seit 2006 verboten ist. „Doch daran wird nichts geändert, denn es gibt praktisch keine Kontrolle der industriellen Landwirtschaft im Osten Boliviens“, heißt es im Bericht.
Nach Bolivien angezogen werden die brasilianischen Unternehmer_innen weniger von den guten Produktionsbedingungen. Die Erträge liegen mit 2,5 Tonnen pro Hektar deutlich niedriger als in Brasilien, wo über vier Tonnen pro Hektar erwirtschaftet werden. Vielmehr ist es der bis zu 50 Prozent billigere Diesel, der in der industriellen Landwirtschaft in großen Mengen benötigt wird, der Bolivien als Investitionsland attraktiv macht. Der bolivianische Staat subventioniert großzügig den Treibstoff und lockt so ausländische Investoren ins Land.
Von den ausländischen Unternehmer_innen gehe vor allem eine Gefahr für die Ernährungssouveränität des Landes aus, sagen Kritiker_innen wie Miguel Urioste. Der Gründer und Forscher von Tierra erklärte der Presse, dass diese Unternehmer_innen für den Export produzierten, anstatt Nahrung für die Bevölkerung. Unter der Regierung Morales hätte sich daran nichts geändert: „Der Staat schützt weiterhin die industrielle Landwirtschaft, obwohl es komplett gegen den Diskurs der Regierung geht“, erklärt er. Die Regierung bejahe öffentlich die Erhaltung der Ernährungssouveränität und verdamme die industrielle Landwirtschaft, konkret geschehe aber wenig. Dies liegt wohl nicht zuletzt an dem Einfluss des mächtigen Nachbarlandes. Ginge die Regierung entschlossener gegen die industrielle Landwirtschaft vor, wären zahlreiche brasilianische Unternehmen betroffen, was das Itamaraty auf den Plan riefe. So wird die Ernährungssouveränität Boliviens durch das Nachbarland direkt gefährdet.
Auch die Natur wird durch den Boom der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der zentrale Chaco, die savannenartigen Ebene im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Paraguay, wird derzeit komplett umgewandelt. Von 1932 bis 1935 führten Bolivien und Paraguay dort den blutigsten zwischenstaatlichen Krieg des 20. Jahrhunderts in Südamerika, doch in den Jahrzehnten danach passierte wenig mit dem so begehrten Land. Als zu kostenintensiv galt die Landwirtschaft im trockenen Chaco, nur einige mennonitische Siedler_innen pflanzten erfolgreich Baumwolle oder züchteten Rinder. Doch wo früher dichte Dornenwälder standen, erstrecken sich heute oft riesige Weideflächen.
Protagonist_innen dieser Verwandlung des Chaco sind neben den Mennonit_innen wieder einmal brasilianische Unternehmer_innen. Vor allem Viehwirtschaft sowie der Anbau von Baumwolle und Sesam rentieren sich im sehr trockenen Chaco. Durch neue Technologien und den Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts wird der Chaco nun kapitalistisch in Wert gesetzt. Der Landwirtschaftsboom im zentralen Südamerika gefährdet nicht nur das fragile Ökosytem des Chaco. Auch die indigenen Ethnien sehen sich zunehmend von den Soja- und Baumwollplantagen bedroht. Die Ayoreo des nördlichen Chaco zum Beispiel leben bis heute weitgehend ohne Kontakt zu der weltweit verflochtenen Gesellschaft. Aus diesem Grund haben sie meist auch keine offiziellen Besitztitel für das Land, das sie seit Generationen bewohnen. Durch den Druck des Landwirtschaftsbooms sind viele Ayoreo gezwungen, ihre selbstgewählte Isolation aufzugeben. Eine Interessenvertretung der Indigenen reichte nun eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen ein. In dem Schreiben beklagen sie die Zerstörung ihres Landes durch brasilianische Unternehmen.
Gerade Brasilianer_innen gehören zur Avantgarde des Land Grabbings, weil sie bereits Generationen übergreifende Erfahrungen mit der industriellen Landwirtschaft gemacht haben. Der Boom der industriellen Landwirtschaft in Brasilien setzte bereits in den 1960er Jahren ein. Mit großzügiger Unterstützung der damaligen Militärregierungen siedelten viele Landwirte aus den Bevölkerungszentren des Südens und Südostens in den kaum wirtschaftlich integrierten Westen des Landes, um Soja, Baumwolle und Getreide im großen Maßstab zu produzieren. Die „grüne Revolution“ nannte man damals dieses neue, auf den Export orientierte Entwicklungsmodell. Für die brasilianische Volkswirtschaft ergaben sich dadurch enorme Einnahmen, und viele Unternehmer_innen sind am Geschäft steinreich geworden. Die Schattenseiten waren Umweltzerstörung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung, auch der indigenen Ethnien.
Die damaligen Konflikte ähneln den heutigen dabei frappant. So ist es keineswegs abwegig, wenn die Zeitung Estado de São Paulo den „Pioniergeist“ des Vaters in Gilson Pinesso, dem Großfarmer, der im Sudan investiert, weiterleben sieht. Er bringt das brasilianische Entwicklungsmodell nun auf einen anderen Kontinent. Der Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung, obwohl die Gefahren für die Ernährungssouveränität und auch -sicherheit durch dieses Agrarmodell, das nur auf Export orientiert ist, gerade in Ostafrika augenscheinlich sind. Wenige hundert Kilometer von Pinessos Farmen entfernt, am Horn von Afrika, verhungern derzeit tausende Menschen.

Verflogene Euphorie

Mit dem Slogan „Cambio“ war der damalige Bischof Fernando Lugo Anfang 2008 an der Spitze der heterogenen Patriotischen Allianz für den Wechsel (APC) in den Wahlkampf gezogen. Übersetzt man cambio mit „Wechsel“, ist ihm das durchaus gelungen. Zum ersten Mal nach 61 Jahren Herrschaft – darunter 33 Jahre Militärdiktatur – musste die rechtskonservative Colorado-Partei das Zepter abgeben. Brasilianische GroßgrundbesitzerInnen in Paraguay fürchteten ebenso wie viele andere Profiteure des alten Regimes Enteignungen. In der Hauptstadt Asunción und in vielen anderen Orten hingegen tanzten die Menschen auf der Straße, sie hofften auf einen Neuanfang des Landes.
Aber die Sorgen und Hoffnungen stellten sich bald als voreilig heraus. Ein „Wandel“, was das Wort cambio auch bedeutet, stellte sich nicht ein. Die Colorado-Partei hält weiterhin die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments und blockiert die Regierung Lugo nach Belieben. Zudem wurde schnell klar, dass die Allianz, die Lugo ins Amt gehievt hatte, außer dem gemeinsamen Kandidaten keine Berührungspunkte hat: Rechtsliberale hatten und haben kein Interesse, die progressiven Ideen der Landlosen- und Kleinbauernbewegungen mitzutragen. Kommunistische Plattformen ebenso wie Indigenen-Verbändeversagten alsbald die Unterstützung.
Die Wahl des Befreiungstheologen Lugo, die international zunächst für viel Aufsehen gesorgt hatte, wurde bald mit Spott bedacht. Lugo tiene corazón („Lugo hat Herz“) war Titel und Refrain des bekanntesten Wahlkampfliedes. Bald wurde es nur noch im Zusammenhang mit früheren Affären des Bischofs gebraucht. Der Präsident musste Putschversuche überstehen ebenso wie Intrigen im Parlament, wegen eines Krebs-Leidens war er lange außer Gefecht gesetzt. Die Unerfahrenheit seiner Regierung genauso wie der Staatsapparat, der seit Jahrzehnten von den Colorados dominiert wird, taten ihr Übriges.
„Ich dachte, wir könnten Paraguay heilen“, sagt Cristina Álvarez aus Asunción. Die Mutter von vier Kindern hat wie viele andere Lugo gewählt. Nicht, weil sie links wäre, wie sie beteuert, sondern weil sie ein Leben ohne Korruption und Vetternwirtschaft wollte. „Meine Kinder sollen eine faire Chance haben“, wünscht sie sich. Doch Heute ist sie enttäuscht, in ihren Augen hat sich nichts verändert: „Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schulen nicht besser, an eine Landreform glaube ich nicht und Korruption und Klientelwirtschaft gibt es wie früher“, ärgert sich die 52-Jährige.
Auch Indigenen-VertreterInnen sind mit dem Präsidenten unzufrieden. 2005 und 2006 wurde Paraguay vom Interamerikanischen Gerichtshof dazu verurteilt, enteignetes Land der Kelyenmagategma zurückzugeben. Passiert ist bis heute nichts. Auf eine Nachfrage von Amnesty International bei seinem Besuch in Deutschland meinte Lugo lapidar, dass „bis Ende des Jahres eine Lösung gefunden werden soll“. Ebenso wenig kam die Regierung mit dem Versuch voran, bisher von der Zivilisation unberührte Ayoreo-Stämme in der Chaco-Region samt der sie umgebenden Ländereien unter Schutz zu stellen. Weiterhin leben zahlreiche Stämme wie die Nivaclé in bitterer Armut in geschlossenen Reservaten, Zugang zu sauberem Wasser ist dort selten. Die Aufwertung der indigenen Sprache Guaraní zur Amtssprache ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Das wichtigste Anliegen der neuen Regierung aber war die Landreform. Durch ungeklärte Besitzverhältnisse, Korruption und Klientelwirtschaft ist in fast keinem Land der Welt Bodenbesitz so ungerecht verteilt wie in Paraguay. Rund 80 Prozent des Landes sind in den Händen von 2,5 Prozent der Bevölkerung. Während die meisten UnterstützerInnen Lugos eine Agrarreform als ihr Hauptanliegen nennen, sperren sich die politisch mächtigsten Verbündeten des Präsidenten, die Liberalen, vehement gegen eine Reform. So war der erste Agrarminister, Cándido Vera Bajarano, Großgrundbesitzer und Gentechnik-Befürworter. Mobilisierungen der GroßgrundbesitzerInnen finden daher sowohl in der Regierung als auch der Opposition bereitwillig Gehör.
„Wir arbeiten daran, ein Kataster zu erstellen, in dem jeder Landbesitz verzeichnet ist, damit wir eine Reform angehen können“, sagte Präsident Lugo dazu vor wenigen Wochen in Berlin. „Erst dann können wir mit einer Umverteilung beginnen“, fügte er hinzu. Nach fast drei Jahren Regierung ist das jedoch zu wenig, finden selbst seine wichtigsten UnterstützerInnen. „Der Wandel stagniert. Trotz unserer Wünsche und unseres Willens haben wir objektiv kaum etwas erreicht“, gibt Camilo Soares im Interview mit den LN zu (siehe LN 439). Soares ist Minister im Kabinett Lugo und wichtigster Repräsentant der Bewegung zum Sozialismus (PMAS).
Auch Sixto Pereira, Vizepräsident des Senats, führendes Mitglied der Campesino-Bewegung Tekojojá und derzeit einziger linker Senator, sieht keine Fortschritte bei der Landreform: „Der große Fehler war, den Rechten das Ministerium zu überlassen“. Beide Politiker sind enttäuscht vom Präsidenten. Mit größerem politischen Mut hätte Lugo mehr bewegen können, sind sie sicher, denn die Bevölkerung hatte er lange auf seiner Seite.
Nicht so den klientelistischen Staatsapparat. Zwar konnte Lugo durch Umbesetzungen in der Spitze des Militärs rechte Kräfte zurückdrängen und Initiativen gegen Korruption umsetzen. Spürbar werden diese Reformen bisher jedoch kaum. VertreterInnen von sozialen Bewegungen klagen weiter über Repression. Auch hat der Präsident zwischenzeitig den Ausnahmezustand ausgerufen, um mit aller Härte gegen Protestierende vorzugehen. Geschuldet sei diese Aktion dem Kampf gegen den Terrorismus gewesen, immer wieder gab es Berichte über eine paraguayische Guerilla, die EPP.
Ähnlich sieht es bei der Bekämpfung der Korruption aus. Zwar gibt es inzwischen verbesserte Mechanismen für öffentliche Ausschreibungen und Entlassungen für Staatsbeamte, die nicht zur Arbeit erscheinen, doch verfolgt die Justiz Vergehen kaum. Posten im Justizwesen sind traditionell Metier der Colorados, daran hat sich bisher nichts geändert.
Auch die erhofften Fortschritte in der Steuerpolitik sind bislang ausgeblieben. Es gibt weiterhin keine Einkommensteuer, die Abgaben auf Soja-Exporte liegen bei derzeit 3,5 Prozent. Zum Vergleich: Im benachbarten Argentinien sind es 35 Prozent.
Um die Staatskassen zu füllen, bleibt nur der Rückgriff auf die Gelder aus dem Itaipú-Staudammprojekt. Hier konnte die Regierung Lugo einen ihrer wichtigsten Erfolge verbuchen. Der noch unter Strössner unterzeichnete Vertrag mit dem Nachbarn Brasilien wurde nachverhandelt. Dadurch erhält Paraguay mehr Stimmrechte im gemeinsamen Ausschuss und mehr Einnahmen. Zudem wurde ein Streit aus der Welt geschafft, der seit Jahren die Beziehungen zu dem einflussreichen Nachbarn belastete.
In den letzten Wochen kam heraus, dass ein Mitarbeiter des Riesenstaudamms Itaipú Millionenbeträge veruntreut hat. Als Berater für die Rentenkasse des binationalen Unternehmens hatte er die Möglichkeit dazu – es passiert ihm jedoch nichts, da der zuständige Minister sein Onkel und der Staatsanwalt mit ihm befreundet ist. Dennoch gelang es Lugo, mit der Neuverhandlung des Itaipú-Vertrages, Paraguay international etwas aus der Isolation zu führen und stärker an seine lateinamerikanischen Nachbarn zu binden. Bleibt zu hoffen, dass damit in Zukunft die viel zu enge Bindung an die USA gelockert werden kann.
Ein weiterer Punktsieg gelang der Regierung bei den Sozialausgaben. Musste die Regierung zunächst mit ansehen, wie die von Colorados dominierten Parlamente die Ausgaben zusammenstrichen, zeichnet sich jetzt eine stückweise Besserung ab. Zu Befürchten steht allerdings, dass viele Gelder ebenso wie der kürzlich erhöhte Mindestlohn in der Praxis niemals ihre EmpfängerInnen erreichen.
Kaum mehr zu nehmen ist der Regierung die Errungenschaft eines kostenlosen Bildungssystems und dessen stückweiter Ausbau, allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Paraguay hat immer noch eine hohe Analphabetenrate, gerade unter der indigenen Bevölkerung. Viele Kinder in ländlichen Gebieten sind Stunden unterwegs, um eine Schule zu erreichen, LehrerInnen werden schlecht bezahlt, und Zugang zu Universitäten hat nur die Oberschicht.
Ähnliches gilt für das Gesundheitssystem, das inzwischen für alle ParaguayerInnen kostenlos ist. Behandlungen und Medikamente werden vom Staat bezahlt. Allerdings sind die meisten öffentlichen Krankenhäuser in einem erbärmlichen Zustand, MedizinerInnen haben an niedrigen Löhnen zu knabbern. Eines der Hauptprobleme bleibt, dass viele auf dem Land geborene Kinder niemals registriert werden. Somit haben sie keine Papiere und dadurch keinen Zugang zu Sozialleistungen.
Und in den Augen der meisten VertreterInnen von sozialen Bewegungen, der wichtigsten Stütze des Präsidenten, können diese kleinen Schritte nach vorn das Versagen etwa bei der Agrarreform nicht aufwiegen. „Deswegen haben wir in der Bewegung diskutiert und uns entschlossen, die Machtfrage zu stellen und eine eigene politische Kraft mit den unzufriedenen Sektoren aufzubauen. Das Ergebnis ist die Partido Popular (Volkspartei, Anm. d. Red), deren Vorsitz ich habe“, sagt Sixto Pereira und bringt sich damit als neuen Präsidentschaftskandidaten der Linken für die Wahl 2013 ins Spiel.
Die Unzufriedenheit mit Lugo ist unter den Linken und AktivistInnen mit Händen zu greifen. Den meisten stoßen die Kompromisse und die Zurückhaltung gegenüber den alten Machteliten sauer auf. Politische AnalystInnen sehen das Problem vor allem in der geringen politischen Erfahrung des Präsidenten: „Lugo ist ein Mensch, der keine Konditionen bietet, um ein Land zu regieren und viel weniger noch um Reformen und Wechselstimmung anzuführen. Dieses Land benötigt tiefe, einschneidende Veränderungen und dies geht nur mit einem unverwechselbaren Führungsstil und mit vertrauenswürdigen Menschen an seiner Seite“, sagte etwa der liberale politische Analyst Gonzalo Quintana der rechten Zeitung ABC Color.
Es sieht im Moment nicht danach aus, dass Lugo in den verbleibenden Jahren noch einmal die Massen bewegt und GroßgrundbesitzerInnen und Colorados zu Zugeständnissen und Reformen zwingt. Dazu hat er inzwischen zu wenig Rückhalt. Ihm Versagen auf der ganzen Linie vorzuwerfen, greift allerdings auch zu kurz. Unter schwierigen Vorraussetzungen sind bereits einige Projekte verwirklicht worden. Mit mehr Mut und Erfahrung könnte jedoch noch vieles mehr erreicht werden. Die Zögerlichkeit des ehemaligen Bischofs ist aber auch auf seinen Respekt vor den politischen Institutionen zurückzuführen. Wohl kein Präsident vor ihm hat die Verfassung und die politischen MitspielerInnen mit dem gleichen gebotenen demokratischen Respekt behandelt.
Auch wenn der Wandel, den Lugo und seine Verbündeten versprochen hatten, bis heute ausgeblieben ist, so hat es doch einen Wechsel gegeben. Zum ersten Mal seit 60 Jahren konnte Paraguay erleben, dass Wahlen zumindest ein bisschen etwas ändern. Jetzt liegt es wieder an den Basisbewegungen, aus dem Wechsel einen tiefgreifenden Wandel zu machen.

Die langen Schatten der bleiernen Zeit

Die „bleiernen Jahre“ Brasiliens sind noch lange nicht aufgearbeitet. Regelmäßig sorgen diese sogenannten anos de chumbo für Auseinandersetzungen darüber, wie heute mit ihnen umgegangen wird. Die brasilianische Militärdiktatur, die das Land von 1964 bis 1985 hart im Griff hatte, hatte Ende 1968 mit dem Erlass des sogenannten „AI-5“ die Repression massiv verschärft – in Anlehnung an den Spielfilm Die bleierne Zeit (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta werden diese Jahre in Brasilien die „Bleiernen“ genannt.
So ging auch der seit Jahren schwelende Streit um die Öffnung der noch geheimen Regierungs- und Militärakten (siehe LN 407) im Juni in eine neue Runde. Die seit Januar dieses Jahres amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hatte angekündigt, die Öffnung der Archive endlich mit Nachdruck voranzutreiben. Zurzeit gilt laut brasilianischer Rechtsprechung für als höchst sensibel eingestufte Dokumente eine maximale Sperrfrist von 30 Jahren – nach Ablauf der Frist kann diese jedoch beliebig oft um weitere 30 Jahre verlängert werden. Seit 2005 fungiert das damals neu geschaffene Nationalarchiv als zentrale Sammelstelle für alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Es steht unter der Aufsicht des Präsidialamts Casa Civil und führt, laut Auskunft des Generaldirektors Jaime Antunes, einen Bestand von 13.850.000 Seiten.
Doch nicht nur die in Brasilien gültigen Klassifizierungsgesetze verhindern die Einsicht in als geheim eingestufte Dokumente. Auch das Militär wehrt sich nach wie vor gegen die Veröffentlichung geheimer Akten und Dokumente aus der Zeit der bleiernen Jahre. Und auch die Kritik aus der Politik an Dilmas Rousseffs angekündigtem Kurs ließ nicht lange auf sich warten. So sprach sich Ex-Präsident José Sarney, der Brasilien von 1985 bis 1990 regierte, gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Agência Brasil mit Nachdruck gegen die uneingeschränkte Veröffentlichung aller brasilianischen Geheimakten aus. Für ihn berge die Öffnung der Archive die Gefahr, dass die „Wunden der Vergangenheit wieder aufreißen“ könnten. Neben der harschen Kritik von Sarney übten auch ein weiterer Ex-Präsident des Landes, Fernando Collor (1990 bis 1992), sowie das Militär Druck auf Dilma Rousseff aus, ihren Kurs zu ändern.
Diese änderte daraufhin laut Medienberichten beinahe wöchentlich ihre Meinung: Erst hieß es, sie wolle die Öffnung der Archive durchsetzen, aber eine maximale Sperrzeit von 50 Jahren für als geheim klassifizierte Dokumente einrichten. Auch laut der Tageszeitung Estado de São Paulo sei Dilma bereit, die im Senat anhängige Entscheidung über die Öffnung der Geheimarchive im Sinne der beiden Ex-Präsidenten umzuändern, indem sie die Möglichkeit einer verlängerbaren Sperrfrist einräume. Wenig später wurde in der Tageszeitung O Globo Dilmas angebliche Meinungsänderung wieder dementiert. Zum Redaktionsschluss zeichnete sich im Senat, wie eine von der Tageszeitung Folha de São Paulo erhobene Befragung der SenatorInnen ergab, eine Mehrheit für die maximale Sperrfrist von 50 Jahren ab.
Familienangehörige von verschwundenen und ermordeten GegnerInnen der Militärdiktatur kämpfen hingegen seit Jahren unermüdlich um die Offenlegung aller geheimen Informationen, die Licht in das Dunkel um das Schicksal der Verschwundenen bringen könnten. Angehörige der seit 1974 verschwundenen Mitglieder der Guerilla im Gebiet der Araguaia führen seit 26 Jahren einen Rechtsstreit gegen den brasilianischen Staat, damit dieser sich endlich der eigenen Verantwortung stellt. Die Guerillagruppe wurde Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei (PCdoB) gegründet und operierte bis Ende 1974 im Grenzgebiet der damaligen brasilianischen Bundesstaaten Pará, Maranhão und Goiás, das Gebiet des heutigen Tocantins. Die geschätzten siebzig bis achtzig Mitglieder sowie eine unbekannte Zahl von BewohnerInnen der Region, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seitdem verschwunden. Das brasilianische Justizministerium hatte im Jahr 2004 einen als „abschließend“ deklarierten Bericht veröffentlicht, in dem 71 Personen offiziell als verschwunden und die Fälle als abgeschlossen deklariert wurden. Im vergangenen Jahr jedoch konnten erstmals sterbliche Überreste von Verschwundenen exhumiert und identifiziert werden, nachdem Militärangehörige in der Presse Hinweise zu mögliche Fundstellen gemacht hatten.
Nachdem das Anliegen der Angehörigen in Brasilien von den Behörden immer wieder auf Eis gelegt worden war, reichten sie ihre Klage beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten ein. Dieser verurteilte den brasilianischen Staat Ende letzten Jahres wegen der Verschleppung und Ermordung von 62 der verschwundenen Mitglieder der Araguaia-Guerilla. Die RichterInnen des CIDH verlangten von Brasilien, alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen. Im 126 Seiten umfassenden Urteilsspruch wurde den Behörden vorgeworfen, die Verantwortlichen für die Morde nicht ermittelt zu haben. Darüber hinaus wurden Entschädigungszahlen für die Angehörigen festgesetzt und der Staat dazu verpflichtet, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Leichen der Ermordeten ausfindig zu machen.
Um diesem Ziel endlich näher zu kommen, setzen die Angehörigen der Verschwundenen auf die Deklassifizierung der Geheimakten. Doch nicht nur PolitikerInnen und das Militär selbst weigern sich, die Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften. Auch die Politik des brasilianischen Außenministeriums versuchte bisher, die Veröffentlichung von geheimen Akten zu verhindern. 2005 hatte der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein Dekret erlassen, nach dem alle Dokumente, die „die Souveränität, die territoriale Integrität oder die Außenbeziehungen“ Brasiliens beeinträchtigen könnten, weiterhin unter Verschluss gehalten werden müssen.
So gibt es beispielsweise noch immer als streng-geheim klassifizierte Dokumente aus der Zeit des brasilianisch-argentinischen-uruguayischen Kriegs gegen Paraguay (1864 bis 1870), die die im Anschluss an den Krieg getroffenen Grenzziehungen betreffen. In diesem Krieg starben über zwei Millionen Menschen, und Paraguay musste in Folge der Niederlage 144.000 Quadratkilometer Land an Brasilien und Argentinien abtreten. Die brasilianische Regierung, allen voran das Außenministerium, verweigerte stets die Herausgabe dieser Dokumente, mit dem Hinweis, eine Veröffentlichung könne „das gute Verhältnis und die Kooperation im MERCOSUR“ gefährden. Paraguays Regierung verurteilte diese Argumentation als „absolut unangemessen“.
Angesichts Rousseffs Engagement zur Offenlegung der Geheimakten ruderte im Juni dieses Jahres das Außenministerium zurück und verkündete, es gebe nach Durchsicht der Aktenlage „keine weiteren Bedenken“ mehr gegen eine Veröffentlichung der Dokumente. Nicht nur HistorikerInnen warten nun gespannt auf die Möglichkeit, die Archive des Außenministeriums einsehen zu dürfen.
Neben der Archivöffnung steht zurzeit ein weiteres Gesetz in der Diskussion, das die Aufarbeitung der repressiven Vergangenheit betrifft. Das Gesetz Nr. 7.376 sieht die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor, welche die Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur untersuchen soll. Ende April hatten Kongressabgeordnete der Regierungsallianz gemeinsam mit ParlamentarierInnen der oppositionellen Parteien im brasilianischen Abgeordnetenhaus die zügige Verabschiedung des Gesetzes gefordert. Für Maria do Rosário, Ministerin des Sondersekretariats für Menschenrechte, wäre die Einrichtung einer solchen Kommission „ein Zeichen für das Recht auf Erinnerung“. Auch Justizminister José Eduardo Cardozo sprach sich vehement für die Wahrheitskommission aus: „Die Wahrheitskommission, die zurzeit im Nationalkongress diskutiert wird, ist eine Pflicht des brasilianischen Staates. Dieser ist historisch und demokratisch dazu verpflichtet, die Verbrechen der Diktatur aufzuklären“, erklärte der Minister. „Wer sich der Suche nach Wahrheit widersetzen möchte, kann dies im Rahmen demokratischer Meinungsäußerung, die wir heute haben, tun. Doch ich bin sicher, dass das, was die brasilianische Gesellschaft heute will, die Wahrheit ist.“
Die Gesetzesvorlage wurde letztes Jahr noch unter der Regierung Lula in den Kongress eingebracht. Sogleich rief es KritikerInnen auf den Plan, die lieber einen Schlusspunkt hinter der Vergangenheit sehen wollen. Etliche Abgeordnete rechter Parteien und das Militär lehnen das Gesetz rundheraus ab. So wandte sich Nelson Jobim, unter Lula Verteidigungsminister, Anfang dieses Jahres gegen die Einrichtung einer Wahrheitskommission. Später ruderte er zurück und erklärte sich mit ihr einverstanden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Wahrheitskommission nicht mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet werde, sondern die Fälle nur untersuchen dürfe.
Führende Militärangehörige hatten zuvor in einem Brief an das Verteidigungsministerium damit gedroht, dass die Wahrheitskommission „Spannungen und ernsten Zwist“ hervorrufen könnte. Die zunehmende Unruhe unter den Militärs über die aktuellen Entwicklungen offenbarte sich abermals, als im April der Sender SBT die Telenovela „Amor e Revolução“ (Liebe und Revolution) gezeigt hatte, die sich kritisch mit der Zeit der Militärdiktatur auseinandersetzt. Zunächst protestierten die Militärs in einer offenen Petition gegen die Telenovela; der Versuch juristisch gegen die Ausstrahlung der Fernsehserie vorzugehen, scheiterte jedoch.
Noch mehr besorgt ist das Militär aber um die Zukunft des bis heute geltenden Amnestiegesetzes von 1979. Dieses verhindert strafrechtliche Anklagen gegen Angehörige des Militärs wegen Verbrechen, die während der Diktatur begangen wurden. 2008 gelang es Opfern der Militärdiktatur jedoch erstmals, einen Folterer vor Gericht zu bringen (siehe LN 405): Im Prozess gegen den ehemaligen Chef vom in den 1970er Jahren berüchtigten Folterzentrum DOI-CODI in São Paulo ging es um das Recht, den Folterer als Folterer bezeichnen zu dürfen. Eine Bestrafung von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra oder eine Entschädigung der Familie war in der Klage nie vorgesehen. Die KlägerInnen gewannen den Prozess: Sie dürfen Ustra heute einen Folterer nennen.
Das Urteil hatte Signalwirkung. Die Staatsanwaltschaft erhob in Folge dessen weitere zivilrechtliche Klagen gegen Ustra sowie andere Täter der Diktatur. Strafrechtliche Klagen werden jedoch durch das Amnestiegesetz verhindert. Dessen Gültigkeit wurde erst 2010 vom Obersten Gerichtshof Brasiliens erneut bestätigt, nachdem der brasilianische Anwaltsverband OAB auf Aufhebung des Amnestiegesetzes geklagt hatte. So bleiben die Folterer der bleiernen Jahre in Brasilien weiter straffrei. Doch das unedle Gebrauchsmetall Blei zeichnet sich neben seiner Schwere vor allem durch seine Formbarkeit aus – es muss nur jemand ernsthaft in Angriff nehmen.

Noch zu wenig linke Akzente

Kaum im Amt sah sich Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff der ersten großen Belastungsprobe in den beiden Kammern des Kongresses ausgesetzt: Ihre Regierung hatte in Absprache mit den Koalitionspartnern einen Vorschlag zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf monatlich 545 Real (umgerechnet etwa 237 Euro) eingebracht. Die Gewerkschaften forderten einen Mindestlohn von 580 Real (circa 252 Euro). Der Ton im Streit zwischen Regierung und den Gewerkschaften und die Anpassung der Steuerstufen hat sich rasant verschärft. Nach Erhebungen des gewerkschaftsnahen Institut Dieese müsste der Mindestlohn in Brasilien bei 2.194 Real (954 Euros), liegen, um die Befriedigung der Bedürfnisse der ArbeiterInnen in den Bereichen Ernährung, Wohnung und Freizeit zu gewähren.
Dilma Rousseff bekräftigte, dass sich ihr Vorschlag am Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahre orientiere. Dieses Vorgehen sei von den Gewerkschaften mit Vorgänger-Präsident Lula so vereinbart worden. Die Gewerkschaft hingegen sah das ganz anders: Der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, Celso Woyciechowski, wies auf das erhebliche Wirtschaftswachstum 2010 und die Notwendigkeit hin, die Arbeitenden angemessen daran zu beteiligen. „Außerdem ist die Anpassung der Steuerstufen absolut notwendig“, sagte Woyciechowski. Ohne eine solche Anpassung der Steuerprogressionssätze würden die Arbeitenden mehr zahlen müssen. Woyciechowski wies auch darauf hin, dass es nur durch gerechtere Einkommensverteilung möglich wäre, die Armut in Brasilien auszulöschen – eine klare Anspielung auf das erklärte Hauptziel von Präsidentin Rousseffs Regierung: die extreme Armut im Land zu besiegen.
Dilma setzte sich durch – gleichwohl war der Graben zwischen den ehemaligen Alliierten der regierenden Arbeiterpartei PT und dem Gewerkschaftsdachverband CUT nicht mehr zu übersehen: Während der Parlamentsdebatte im Kongress pfiffen angereiste GewerkschafterInnen auf den Zuschauerplätzen den PT-Abgeordneten Vicente Paulo da Silva (Vicentinho) aus, als dieser den Regierungsvorschlag einbrachte. Vicentinho war Gründungsmitglied und erster Präsident des Gewerkschaftsdachverband CUT gewesen. Nachdem er damit drohte, die Protestierenden des Saales zu verweisen, schwiegen die GewerkschafterInnen, drehten dem ehemaligen Kollegen und nun Abgeordneten aber demonstrativ den Rücken zu.
Im Zentrum linker Kritik an der Regierungspolitik steht nach wie vor das von Dilma konzipierte und unter Vorgängerpräsident Lula ins Leben gerufene Programm der Beschleunigung des Wachstums (PAC). Dieses soll nun auch vermehrt für Großprojekte zur Realisierung der anstehenden Megaevents Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympische Spiele in Rio 2016 eingesetzt werden. Besorgt zeigen sich die sozialen Bewegungen und Organisationen über die daraus resultierenden Räumungen. Diese Gefahr sieht auch die Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien. Sie befürchtet „massive Umsiedlungen“ von ärmeren Bevölkerungsschichten wegen der geplanten Baumaßnahmen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Die Staatsanwaltschaft kündigte deswegen an, die Vorgänge um die sozialen Auswirkungen rund um die geplanten Baumaßnahmen zur Fußball-WM unmittelbar zu verfolgen. Dazu habe der Bundesstaatsanwalt in São Paulo, José Roberto Pimenta Oliveira, Amtsanfragen an diverse Bundes-, Landes- und Bezirksbehörden versandt, um „detaillierte Informationen über die Prozesse der Umsiedlung und Wiederansiedlung von Familien zu erhalten“, so die Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Da die Fußball-WM ein Projekt mit Auswirkungen auf das ganze Land sei, müsse sich die Staatsanwaltschaft auf Bundesebene des Falles annehmen. Dazu habe die Bundesstaatsanwaltschaft zum Schutze des Bürgers eine Sonderarbeitsgruppe mit dem Namen „Mega-Events und angemessenes Wohnen“ gegründet.
Vor Konflikten auch mit der Regierung scheut die Staatsanwaltschaft bekanntermaßen nicht zurück: Erst im vergangenen Jahr hatte etwa die Bundesstaatsanwaltschaft in Pará mehrere Baustopps gegen den Megastaudamm Belo Monte in Amazonien per Eilverordnung verfügt. Der andauernde Konflikt in Belo Monte bringt die RegierungskritikerInnen besonders auf die Palme. Die Vorgängerregierung unter Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte die Anweisungen mit verschiedenen, teils auch illegalen Maßnahmen zu verhindern versucht. Anfang April 2011 wurde das umstrittene Projekt am Xingu-Fluss im brasilianischen Amazonasgebiet auch durch die Forderung der Menschenrechtskommission CIDH der Organisation Amerikanischer Staaten an Brasilien, das Genehmigungsverfahren und sämtliche Bauarbeiten am Staudamm im Bundesstaat Pará sofort einzustellen, in Frage gestellt. Besonderen Wert legte die Kommission dabei vor allem auf den Umgang mit den indigenen Gemeinschaften. „Brasilien ist nun endlich aufgefordert, alles zu tun, um die isoliert lebenden kleinen Völker im Xingu-Becken zu schützen und dafür zu sorgen, dass die Ausbreitung von Krankheiten und Epidemien verhindert wird, die Siedler und Bauarbeiter einschleppen könnten“, so die CIDH. Binnen 15 Tagen muss Brasilien der OAS über geplante Maßnahmen Bericht erstatten, um die Forderungen zu erfüllen. Mitglieder der Regierung Dilma haben diese Forderungen scharf kritisiert, das Außenministerium zeigte sich „perplex“. Dilma selbst hat sich noch nicht öffentlich dazu geäußert. Gleichwohl bat Brasilien Mitte April um eine Fristverlängerung bei der CIDH, um auf die Forderung nach Baustopp formal zu antworten.
Stehen für massive Infrastrukturprojekte im Rahmen des PAC Milliardenbeträge zur Verfügung, so hat Dilma auf der anderen Seite Kürzungen der Staatsausgaben in Höhe von 50 Milliarden Reais angekündigt. Befürchtet wird, dass weniger Investitionen in Bereich der Erziehung und Gesundheit stattfinden. Der Regierung stehen weniger als zehn Prozent des jährlichen Haushalts frei zur Verfügung, der Rest ist bereits festgeschrieben. Diese Kürzungen werden von der Regierung für notwendig erachtet, um die Bedrohung einer ansteigenden Inflation abzuwenden. Den neoliberalen Medien und der Opposition in Brasilien erscheinen diese Kürzungsmaßnahmen positiv, da sie davon ausgehen dürfen, dass die Regierungsallianz in erster Linie im Bereich der Sozialausgaben den Rotstift ansetzen werde.
Dennoch ist es vor allem der Sozialbereich der Regierungspolitik, der trotz aller Kritik auch gelobt wird. In diesem werde Dilma die wesentlichen Elemente der Regierung Lula nach Meinung des Soziologen Emir Sader „beibehalten und noch verstärken“. Im wichtigsten Sozialprogramm der Regierung, der Bolsa Família (Familienstipendium), werde Dilma keine Kürzungen vornehmen, so Sader, aber eben auch wenig ändern. Dieses Cash-Transfer Programm erreichte Anfang 2011 12,9 Millionen arme Familien in ganz Brasilien und verteilt im Durchschnitt etwa 95 Real (42 Euro) pro Familie. Diese Höhe ist unzureichend für die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und für die Bekämpfung von Hunger und Armut. Das sieht wohl auch Dilma so, hat sie doch bereits im April erklären müssen, dass sie ihr erklärtes Hauptziel, die extreme Armut im Land zu besiegen, nicht wie vorgesehen erreichen werde.
Kritisiert wird das Bolsa Família-Programm neben der unzureichenden Höhe der Mittel aber auch deswegen, weil das Programm Bedingungen stellt, indem es Gegenleistungen und Konditionalitäten verlangt, wie beispielsweise den Nachweis, dass die Kinder regelmäßig zur Schule geschickt werden. Seit 2007 sind mehr als 130.000 Familien deshalb aus dem Programm ausgeschlossen worden, weil sie die Bedingungen nicht erfüllen. Soziale Organisationen haben diese Vorgehensweise scharf kritisiert und das Ende der Konditionalitäten verlangt, da diese vor allem den Ausschluss von Armen bedeutet. Doch die Regierung Lula wie auch die von Dilma zeigen sich in dieser Frage unnachgiebig. Dennoch: Es ist unbestritten, dass das Programm Bolsa Família zu einer Reduzierung von Armut und sozioökonomischer Ungleichheit geführt und zur Verbesserung der Ernährung beigetragen hat. Viele Familien in Brasilien haben jetzt mittels dieser vom Staat verteilten Gelder die Möglichkeit, regelmäßige Mahlzeiten zu erhalten.
Neue Akzente setzte Dilma vor allem in der Frauenpolitik, sie hatte bereits nach kurzer Zeit das Programm „Storch-Netzwerk“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Mütter- und Säuglingssterblichkeit zu verringern. Das Programm wird vom Staat finanziert, um dergestalt der in Brasilien hohen Zahl von ungewollten Schwangerschaften, dem schwierigen Zugang zu pränatalen Tests und dem mangelhaften Zugang zu Entbindungskliniken zu begegnen.
Die Regierung hat auch ein neues vom Staat finanziertes Programm zur Bekämpfung von Gebärmutter- und Brustkrebs gegründet. Dilma sagte, sie wolle sicherstellen, dass alle Frauen die gleichen Bedingungen zur Behandlung von Krebs haben. „Ich möchte, dass alle Frauen in Brasilien den Zugang zu den gleichen Dingen haben, die ich hatte“. Dilma hatte im Jahr 2009 einen Tumor in ihrer linken Achselhöhle im Frühstadium erkannt, der dadurch erfolgreich entfernt wurde. Ziel der Regierung ist, den Zugang zu Prävention von Brustkrebs für alle Frauen zwischen 50 und 69 Jahren zu gewährleisten. Außerdem begann die Regierung den Bau von 718 Kinderkrippen, um die Erziehung der Kinder zu fördern und die Frauen in Brasilien im Berufsleben zu unterstützen. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil die traditionellen Sozialnetzwerke oft nicht mehr so funktionieren wie in der Vergangenheit. Laut Aussage von Planungsministerin Miriam Belchior plant die Regierung bis zum Ende des Mandats den Bau von sechstausend neuen Kinderkrippen. Der Erziehungswissenschaftler Luiz Araújo rechnete allerdings vor, dass in ganz Brasilien insgesamt bis zu 49.000 Krippen fehlten.
In der Außenpolitik wird Dilma die Beziehungen zu den Ländern des Südens vertiefen, besonders zu den südamerikanischen Nachbarländern, Lateinamerika und der Karibik sowie Afrika, dem Nahen Ostern und Asien. Als bedeutsam wurde die im Kongress erkämpfte Zustimmung zur Verdreifachung der Zahlungen Brasiliens an Paraguay für den Überschussstrom aus dem binationationalen Kraftwerk Itaipú bewertet. So setzt Brasilien im MERCOSUR neue Akzente, wird aber auch weiterhin eine wichtige Rolle in der Organisation und Vertretung der Interessen der Länder des Südens spielen, besonders in der wirtschaftlich aufstrebenden Ländergruppe der „BRIC“-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China). Linke Gruppen kritisieren nach wie vor Brasiliens Rolle in der UN-Truppe MINUSTAH in Haiti – doch Dilma setzt hier die Politik ihres Vorgängers Lula nahtlos fort. Leichte Akzentverschiebungen sind in den Beziehungen Brasiliens zum Iran festzustellen, erklärte Dilma doch bereits kurz nach Amtsantritt, Menschenrechtsfragen vermehrt in den bilateralen Beziehungen zu thematisieren. Auch wird Dilma im Vergleich zu Lula ein unvoreingenommeneres Verhältnis zu den USA nachgesagt. Hatte sich Lula bei seiner Abschiedsrede Ende vergangenen Jahres mit unverhohlener Schadenfreude über die Wirtschaftskrise in den USA geäußert und war bei Obamas Besuch in Brasilien Mitte März zum gemeinsamen Dinner mit dem US-Präsidenten demonstrativ nicht erschienen, so erweckt Dilma durch die Ernennung des eher als US-freundlich geltenden Antonio Patriota zum Außenminister den Eindruck, die Beziehungen zu den USA verbessern zu wollen. Dies geschieht nicht zuletzt mit Blick auf einen möglichen ständigen Sitz Brasiliens im UN-Sicherheitsrat.
Die größte Stärke von Dilma sind wohl ihre Management-Fähigkeiten, speziell darin, die Regierungsallianz unter Kontrolle zu halten. Die Opposition hatte gemutmaßt, Dilma sei ein Platzhalter von Lula, ohne besondere eigene Initiativen und Fähigkeiten. Ihr Management hat aber bislang dazu beigetragen, dass sie die Kontrolle der Regierung gut in der Hand hat und somit politische und soziale Legitimität breiter ausbauen kann. Außerdem kann sie den Dialog mit anderen sozialen Sektoren – wie etwa der Mittelschicht – wie auch mit der Opposition erweitern und vertiefen. Hierin kann ein neues Element im Ausbau einer alternativen Politik mit breiter Unterstützung liegen.
Nach Meinung Emir Saders erforderte bereits das geerbte Modell aus Lulas Zeit wirtschaftliche und soziale Anpassungen und muss neue Elemente wie die internationale Konjunktur und die ansteigende Inflation berücksichtigen. Die Regierung Dilma würde versuchen, diesen Herausforderungen zu begegnen, besonders um eine unkontrollierte Inflation zu vermeiden, ohne weitere Ungleichgewichte in der Handelsbilanz aufkommen zu lassen. Tatsache ist, dass Dilma nicht nur vor einer verbesserten Gesamtsituation steht als die, der Lula sich vor acht Jahren gegenüber sah, sondern auch ein derzeit geschwächtes, demoralisiertes und besiegtes bürgerliches Lager erlebt. Das ist ein Szenario, das es Dilma erleichtert, den Kurs der Regierung dann doch noch nach links zu bewegen. Bis jetzt hat sie jedoch wenig in diese Richtung getan.

Frische Fische vom Silberfluss

Es war eine wahre Flut von Veröffentlichungen argentinischer Literatur, die sich im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Frankfurter Buchmessenauftritt des südamerikanischen Landes auf den hiesigen Buchmarkt ergoss. Die letzte Publikationswelle spülte ein interessantes Werk ans deutsche Ufer, das sich explizit der jungen Literatur widmet: Neues vom Fluss nennt sich die Anthologie, die im Oktober im Berliner Lettrétage-Verlag erschienen ist. Der Titel ist dabei Programm, vereinigt der Erzählband doch insgesamt 27 Geschichten, die der Kenner argentinischer Literatur Timo Berger auf einer Reise entlang des mächtigen Río de la Plata gesammelt hat. Dabei sah er sich nicht nur flussabwärts beim viel beachteten Buchmessengast um, sondern warf auch an den anderen Ufern des Stroms und seinen Zuflüssen in Uruguay und Paraguay die Netze aus. Herausgekommen ist ein bunter Fang von Geschichten, die den LeserInnen auf eine thematisch wie stilistisch facettenreiche Flussfahrt mitnehmen.
Zu bestaunen gibt es Texte, die wilden Strudeln gleichen, wie etwa Juan Terranovas skurrile Erzählung „Männer springen in Raubtierkäfige“, die den Sound der in den 1990ern aufgewachsenen Postdiktatur-Generation wiedergibt. Für dessen gassenphilosophischen Protagonisten ist die Gesellschaft „ein nicht enden wollendes, paranoides Gesellschaftsspiel, ein Versuchslabor, in dem Mutter Natur ihre Qualitätsstandards über den Haufen wirft, um zu sehen, was passiert“. Die Suche nach dem Kick einer „Schaumgummidroge“ treibt dagegen junge Frauen in Cecilia Pavóns „I want to be fat“ um: Jeden Freitag verwandelt sich eine Gruppe junger Argentinierinnen mit Hilfe von Schaumstoffstücken in dicke Frauen, um die schicken Clubs von Buenos Aires zu ihrer subversiven Bühne zu machen. Für sie „gibt es keine wirkungsvollere Droge als den Blick des Nächsten, wenn dich dieser in die avantgardistische Position eines Freaks erhebt“. Den umgekehrten, aber nicht minder radikalen Weg wählt Ana María Strahms Protagonistin in „Calle Palma“. Diese marschiert gleich ganz ohne Kleidung über den Boulevard von Paraguays Hauptstadt Asunción – um durch ihren Auftritt, der durch alle Medien des Landes geht, eigentlich nur einen einzigen Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Schrill, rasant und vor allem unerhört originell sind die Begebenheiten, um die viele Texte kreisen. Neben viel Sex, Drugs und Rock’n Roll führt die literarische Flussfahrt aber auch durch stille Gewässer, wie etwa in der Erzählung „Das Gewicht des Hasses“ von Seghers-Preisträger Félix Bruzzone, in der die immer noch langen Schatten der argentinischen Militärdiktatur auftauchen.
Anthologien und Rezensionen von Anthologien teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie sind notwendig selektiv und verkürzend, aber im besten Fall sind sie wie ein schönes Flussufer, das Lust macht, von Bord zu gehen und das Hinterland zu entdecken. Timo Berger ist das mit seinem imposanten Fang der frischen literarischen Fische vom Silberfluss auf vorzügliche Weise geglückt.

Timo Berger // Neues vom Fluss: Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay // Verlag Lettrétage // Berlin 2010 // 200 Seiten // 12,90 Euro // http://www.lettretage.de

„Der Wandel stagniert“

Sie sprechen sich für eine zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas aus. Was verstehen Sie darunter?
Die erste Unabhängigkeit, deren 200-jähriges Bestehen wir gerade feiern, brachte uns eigenständige Regierungen. Allerdings sind wir bis heute nicht unabhängig vom System der ehemaligen Kolonisatoren. Eine kleine Machtelite beutet in den meisten Ländern Lateinamerikas einen großen Teil der Bevölkerung aus. Mit Hilfe bürokratischer Macht profitieren die ehemaligen „Mutterländer“ heute noch genauso von ihren „unabhängigen“ Kolonien. Wir brauchen nach der formalen Unabhängigkeit jetzt eine Befreiung von der Denkstruktur der Ausbeuter, von den gegebenen ökonomischen Strukturen.

Was heißt das genau?
Wir müssen uns von den Begriffen „Entwicklung“ und „Modernisierung“ befreien. Unter dem Diktum „Entwicklung“ werden Jahrhunderte alte Machtstrukturen bis heute fortgesetzt. Entwicklung kann es aber nur geben, wenn die Mehrheit profitiert. Das ist im Moment nicht der Fall.

Was ist zu tun?
Es gilt, die immer noch existierenden Machtstrukturen in Lateinamerika und im Speziellen in Paraguay aufzubrechen. Dazu braucht es aber viel Kraft.

Wie äußern sich diese Machtstrukturen?
Das beste Beispiel ist Soja. Es verdienen nur der Agroexporteur, der seinen Sitz meist irgendwo im Ausland hat, sowie europäische und nordamerikanische Großunternehmen, die etwa Saatgut verkaufen. Sie reinvestieren ihre Gewinne nicht im Land. Was sie konsumieren, wird importiert. Gleichzeitig kommt es zu einer Konzentration von Landbesitz, Vernichtung von Ressourcen und Krankheiten in der Bevölkerung durch massiven Einsatz von Pestiziden. Die Bauern, die wegen des schnellen Geldes ihr Hab und Gut verkauft haben oder vor den Pestiziden fliehen, werden dann in völlig unakzeptable Beschäftigungsverhältnisse meist am Rande der großen Städte gedrängt. Die Strukturen sind die gleichen wie vor Hunderten von Jahren. Deshalb wollen wir das vorherrschende Exportmodell zerstören, nicht nur „verbessern“.

Was tun Sie, als Teil der Regierung, dafür?
Der Prozess eines Wandels, den wir seit der Wahl umzusetzen versuchen, stagniert. Trotz unserer Wünsche und unseres Willens haben wir objektiv kaum etwas erreicht. Es fehlt an Macht.

Wie kommt das?
Wir sind zwar die Exekutive, aber in Polizei, Militär und bei der Verwaltung sitzen vielfach noch die gleichen Leute, die dort schon seit Jahren sind (Paraguay wurde 61 Jahre von der Partei Colorados regiert, Anm. d. Red.). Auch in der Judikative sind noch dieselben Leute, ebenso ist das Parlament in der Hand der Feinde. Sie blockieren alles, was wir tun wollen. Außerdem sind die Liberalen innerhalb der Regierungskoalition sehr stark, die Linke in der Minderheit. Die alte Verfassung, die Korruption, die Wirtschaft, die Organisation des Staates, alles bleibt wie es war.

Die Regierung Lugo wird inzwischen auch von den eigenen Leuten scharf kritisiert.
Kritik ist etwas absolut Wichtiges, um uns zu hinterfragen, welche Fehler wir gemacht haben. Wir müssen vor allem zwei Arten von Kritik einstecken. Einerseits konservative, von Leuten, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Andererseits progressive, meist von den Linken. Die meinen oft, dass ein Präsident oder Minister von Heute auf Morgen komplett die Wirtschaft und das soziale Leben umkrempeln kann.

Aber in der Kritik steckt auch ein Fünkchen Wahrheit, oder?
Ja, wir müssen selbstkritisch sagen, dass wir sehr große Fehler gemacht haben. Lugo hatte die Mehrheit des Volkes hinter sich. Er hätte sich von Anfang an an das Volk wenden, hätte Druck auf der Straße erzeugen müssen. Denn die Gegner, die übrigens in der Minderheit sind, haben in Wirtschaft und Medien das Sagen. Mit einer Agenda von drei, vier Punkten hätte er direkt das Volk ansprechen können, das die Macht auf die Straße trägt. Wenn das Volk nicht explizit auf unserer Seite ist, können wir keine Agrar- oder Arbeitsmarktreformen durchführen. Wir müssen die Massen bewegen, aber die Massen müssen auch kommen. Lugo hat stattdessen versucht, die Probleme des Volkes in der gegebenen staatlichen Ordnung zu lösen. Diese Ordnung ist aber noch die gleiche wie vor der Wahl, sie schützt die Reichen und schadet dem Volk.

Was könnten Sie tun?
Eine Entwicklung kann es innerhalb Lateinamerikas nur gemeinsam geben, wir müssen stärker mit anderen Ländern zusammen arbeiten. Innerhalb der bestehenden Regierung in Paraguay wird es schwer, etwas zu ändern. Die Liberalen, der größte Koalitionspartner, wollen alles bis zu den nächsten Wahlen 2013 aufschieben, um dann selbst den Präsidenten zu stellen.

Was kann die Linke dem entgegensetzen?
Wir wollen weiter auf die Probleme des Landes aufmerksam machen und dadurch eine echte Alternative zu den Liberalen und den Colorados bieten Zurzeit sieht es eher ungünstig für uns aus. Bei den Kommunalwahlen haben die fast alles gewonnen. Unsere Hoffnungen liegen derzeit auf einer neuen linken Vereinigung namens Frente Guasú (Breite Front). Sie soll verschiedene linke Bewegungen bündeln und damit die Fehler verhindern, die wir seit 2008 gemacht haben. Die Linke braucht vor allem aber auch einen Kopf, ein Gesicht.

Man liest hier viel über eine Guerilla namens Paraguayische Volksarmee (EPP). Wie ist diese einzuordnen?
Die EPP ist keine Guerilla. Sie sind sehr klein, eher unzusammenhängende Zellen in ganz Paraguay. Sie kämpfen nicht wirklich, sind nicht militärisch aufgestellt. Es kommt aber immer wieder zu Entführungen und Überfällen durch die EPP.

Ist sie mit linken Bewegungen verbunden?
Nein, sie sind auf sich allein gestellt. Sie begehen immer wieder taktische Fehler, Leute sterben. Das ist kontraproduktiv und spielt den Konservativen in die Hände, die das als Vorwand nutzen, Militär und Polizei im Land einzusetzen und den Ausnahmezustand auszurufen. Die Ultrarechten schüren Angst und sprechen von der „Gefahr durch Kommunisten“. Sie kriminalisieren damit linke Aktivisten. Die EPP gibt sich zwar sozialistisch, aber sie helfen den Sozialisten in Paraguay keineswegs. Sie kämpfen gegen eine linksgerichtete, demokratische Regierung, nicht gegen eine faschistische Diktatur.

Schwere Zeiten für Lugo

Anfang Oktober 2010 befand sich Präsident Fernando Lugo infolge einer Thrombose in Lebensgefahr. Er wurde zur Behandlung nach Brasilien geflogen, wo er sich aber nach einer Woche wieder erholte. Währenddessen waren wieder Spekulationen über seine Nachfolge in der Bevölkerung laut geworden. Der Hauptverantwortliche für die angeheizte Stimmung war einmal mehr Vizepräsident Luís Federico Franco Gómez, der seine Absicht, das Amt des Präsidenten anzutreten, nicht verhehlen konnte.
Während sich Präsident Lugo im syrisch-libanesichen Krankenhaus in São Paulo erholte, versicherte sein politischer Beraterstab, von ihm persönlich den Befehl erhalten zu haben, vier Ämter im militärischen Bereich neu zu besetzen. Lugos Vize Franco nutzte diesen Zwischenfall, um der Öffentlichkeit kundzutun, dass dieser Befehl eigentlich zu seinem Aufgabenbereich als offizieller Vertreter des Präsidenten gehöre. Daraufhin wurden zwei Wochen lang heftige Diskussionen über dieses Thema geführt, auch im Abgeordnetenhaus, wo eine Rüge des Präsidenten beschlossen wurde.
Diese Begebenheit ist nur eine von vielen, mit der der Vize-Präsident seit der Machtübernahme Lugos 2008 mit tatkräftiger Unterstützung oppositioneller Gruppen versucht, das Land zu destabilisieren. Die oben genannte Sitzung im Parlament wurde dazu genutzt, um wieder einmal das Kräfteverhältnis zu messen, in der Hoffnung, den Präsidenten endlich seines Amtes entheben zu können.
Verteidigungsminister Cecilio Pérez gab zu, dass „es unhöflich vom Präsidenten gewesen ist, den Vize-Präsidenten nicht informiert zu haben”, während er aber gleichzeitig hervorhob, dass sich Lugo gesetzeskonform verhalten habe. Innenminister Rafael Filizzola sagte, dass „die Tatsache, dass diese Situation zu einer politischen Krise auswachsen konnte, uns Ministern völlig übertrieben vorkommt und ungerechtfertigt ist.” Die Episode blieb letztlich ohne Folgen, trotz der gezielten Stimmungsmache von Teilen der Presse für ein Amtsenthebungsverfahren.
Die Wahl Lugos hatte viele Erwartungen unter den WählerInnen ausgelöst, doch seine Amtsführung bleibt wenig überzeugend. Dies hat der Kolumnist Miguel H. López von der Tageszeitung Última Hora sehr gut zusammengefasst: „Wir mögen darin übereinstimmen, dass Lugo kein guter Regierungschef ist, dass er keinerlei staatsmännisches Profil hat und dass er ein Tollpatsch ist (…) und versucht, die Träume und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung zu kanalisieren, die nach sechs Jahrzehnten nichts mehr hören will von Raub, Korruption und Mord. Von fünf Dingen macht Lugo zwei gut und drei schlecht. (…) Aber er ist der konstitutionell gewählte Präsident und der Zwischenfall mit der Neubesetzung der militärischen Posten hat keine nachhaltigen Folgen gezeigt. Wenn es anders wäre, glauben Sie denn, dass Lugos Opposition, mit dem Vize-Präsidenten an der Spitze, nicht alles unternommen hätte, um die Macht in unserem Land an sich zu reißen?” Die Kommunalwahlen am 7. November wurden als eine Art Referendum über die Amtsführung Lugos eingeschätzt, die nun über zwei Jahre an der Macht ist. Aus diesen Wahlen ging die Oppostionspartei Colorados eindeutig gestärkt heraus. Sie erreichte knapp 46 Prozent der Stimmen.
Die Landlosenbewegung, die Lugo noch bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt hatte, hielt sich vor den Kommunalwahlen eher bedeckt. Doch versicherte ein Bauernanführer, der aus Angst vor Repressalien ungenannt bleiben will: „Nach den Wahlen werden wir wieder Land besetzen”. Tatsache ist, dass das Wahlversprechen des Präsidenten, eine Landreform in Angriff zu nehmen, sich in Luft aufgelöst hat. Bis heute konnte das zuständige Institut (INDERT) nur kleine Parzellen erwerben.
Momentan steht dieses Thema, das vor allem die 300.000 landlosen Bauern und Bäuerinnen betrifft, nicht auf der politischen Agenda. Auch wenn dies vor allem der Blockadehaltung der Opposition zugeschrieben werden kann, trägt auch die geringe Effizienz der aktuellen Regierung ihren Teil dazu bei. Die neu gegründete Koordinationsstelle der Exekutive für die Agrarreform CEPRA kann keine größeren Erfolge bei der Unterstützung der Dörfer auf dem Land vorweisen. Ebenso gibt es keine nennenswerten Aktionen, ungenutzte Landstriche fruchtbar zu machen und zu besiedeln – eine der wichtigsten Forderungen der auf dem Land aktiven Bewegungen.
Große Beunruhigung rief auch der vom Präsidenten im Kongress eingereichte Gesetzesvorschlag hervor, die wichtigsten Flughäfen Silvio Pettirossi, im Großraum Asunción, und Guaraní, in Ciudad del Este an der Grenze zu Brasilien, zu privatisieren. Der Vorschlag sieht auch vor, die militärische Anlage in Mariscal Estigarribia, im Herzen des Chaco nahe der Grenzen zu Brasilien und Bolivien gelegen, ausländischen Operationen zu öffnen. Der Vorschlag wurde persönlich von Lugo eingereicht, mit der Begründung, das Land müsse „sich auf das Niveau der anderen Länder der Region begeben.“ Die staatlichen Gewerkschaften protestierten umgehend. Leonardo Beraud, Generalsekretär der Gewerkschaft der FlughafenarbeiterInnen Seodinac, sagte, dass „dieses Projekt wie ein Bonbon angeboten wird, damit das private Kapital in das Straßennetz und die Schifffahrt investieren kann, wo sie sehr viel Geld verdienen werden. Unserer Auffassung nach ist es Unsinn, ein rentables Unternehmen zu opfern, und den multinationalen Unternehmen die Einkünfte der Flughäfen von Pettirossi und Guaraní zu schenken.” Der Gewerkschafter erinnerte daran, dass die 1.380 Angestellten des für die Luftfahrt zuständigen Amtes DINAC nun um ihre Arbeitsplätze fürchten. Die Einnahmen dieses Amtes seien vollkommen ausreichend um die laufenden Kosten der Flughäfen zu decken und neue Investitionen zu tätigen. Jedoch werde das Geld momentan vom Finanzministerium zurückgehalten. Ebenfalls kritisieren die sozialen Bewegungen die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik von Finanzminister Borda. Er zahlt pünktlich die Auslandsschulden (etwa 400 Millionen US-Dollar pro Jahr) und nimmt gleichzeitig Kürzungen im sozialen Bereich vor.
Besorgniserregend sind auch die Anzeichen für die Anwendung „kolumbianischer“ Methoden bei der Aufstandsbekämpfung. So beschloss die Regierung, die Prämie für weitergehende Informationen über den Aufenthalt von Magna Meza, Manuel Cristaldo Mieres und Osvaldo Villalba aufzustocken. Diese gelten als die Anführer der Guerilla namens Armee des paraguayischen Volkes (EPP). Der Innenminister veranlasste diese Maßnahme drei Tage nachdem eine Spezialeinheit der Polizei Gabriel Zárate Cardozo dank eingegangener Informationen über seinen Aufenthalt eingekreist und niedergeschossen hatte. Zárate galt als drittwichtigster Kopf der EPP. Der Guerillero soll einen als Informanten überführten Lehrer Tage zuvor erschossen haben. Es wurde außerdem bekannt, dass die Regierung 250.000 US-Dollar an sieben Informanten ausgezahlt hat. Die Regierung versucht auf diese Weise, die logistische Unterstützung aufzuweichen, die die Guerilla in ländlichen Gebieten im Norden des Landes erhält. Dort befinden sich Soja-Plantagen, Rinderfarmen, Marihuana-Felder und eine große Zahl von landlosen Bauern und Bäuerinnen. Innenminister Filizola äußerte: „Wir fordern die Guerilleros auf, sich umstandslos der Justiz zu stellen, damit dem paraguayischen Volk nicht noch mehr Schmerz zugefügt wird und damit sie sich selbst retten können.“ Auch informierte er, dass die sieben belohnten Informanten sich „alle in einem guten Zustand befinden, ihre Identität wird niemals preisgegeben werden.“
Bis jetzt hat die Polizei zwei Mitglieder der EPP erschossen und fünf weitere festgenommen. Die Guerilleros wurden mit mehreren Schüssen aus Waffen des Militärs getötet. Ihre Familienangehörigen haben nun eine erneute Autopsie gefordert, denn sie vermuten, dass die beiden lebend gefangen genommen, gefoltert und daraufhin umgebracht wurden, was aber vom Innenminister heftig abgestritten wird. Angesichts der zahlreichen Konfliktherde wird Präsident Lugo jedenfalls kaum auf eine ruhige Genesungsphase hoffen können.

KASTEN:
Schwieriges Gleichgewicht

Die Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo zum Präsidenten im April 2008 war Ausdruck des Wunsches der paraguayischen Bevölkerung, die herkömmliche Form der politischen Gestaltung radikal zu verändern. Angetreten war Lugo als Kandidat einer Parteienallianz namens Patriotische Allianz für den Umschwung (APC). Damit endete die Vorherrschaft der Colorado-Partei nach 61 Jahren.
Lugo ist keiner traditionellen Partei zuzurechnen, an ihn richtete sich die Hoffnung, dass er Programme zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der verarmten Bevölkerungsteile einführen würde. Nach zwei Jahren Amtszeit sind viele Menschen enttäuscht, doch muss man berücksichtigen, dass die Opposition gegen die Regierung von der mächtigen Oligarchie und dem rechtsgerichteten Parlament ausgeht. Diesen Kräften ist das Scheitern der derzeitigen Regierung ein Herzenswunsch und sie setzen alles daran, ihre jahrzehntelang genossenen Privilegien nicht zu verlieren. Das Parlament hat beispielsweise die Haushaltsausgaben für alle sozialen Ministerien gekürzt, so dass selbst geringfügige Veränderungen nicht möglich sind. Die Vorgehensweise von Polizei und Justiz zeigt, dass sie von einer mafiösen Oligarchie instrumentalisiert werden mit dem Ziel, das Erstarken der sozialen Bewegungen zu verhindern. Hinzu kommen die andauernden Androhungen, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten in die Wege zu leiten und damit den aktuellen Demokratisierungsprozess zu stoppen.
Die letzten zwei Jahre haben die Schwächen der gegenwärtigen Regierung und des wankelmütigen Präsidenten offengelegt, der sehr schnell dem Druck der Rechten nachgibt. Der unmittelbare Beraterkreis um Lugo hat wenig Interesse daran gezeigt, die Forderungen der sozialen Bewegungen aufzunehmen und auf Veränderungen innerhalb des Staatsapparates zu setzen. Zudem hat sich die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen zugespitzt. Dies geschieht unter dem Vorwand, dass eine Guerilla die Stabilität und Sicherheit des Landes gefährde – ein idealer Vorwand, um eine Art Plan Colombia für Paraguay einzuführen.
Die Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, die sich aus Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften zusammensetzt, hat bei mehreren Gelegenheiten öffentlich die Verletzung der Menschenrechte unter der aktuellen Regierung angeklagt. Vor kurzem zeigte sie bei der Interamerikanischen Kommision für Menschenrechte in Washington unrechtmäßige Verhaftungen und Folterungen an, die im Rahmen der Polizei- und Militäreinsätze gegen die Guerilla Armee des Paraguayischen Volkes (EPP) stattgefunden haben sollen. Ein klares Beispiel für die widerspruchsvolle Haltung der Regierung war die Feier des Wahlsiegs am 20. April. Es versammelte sich eine große Menschenmenge, die Lugo ihre politische Unterstützung zusagte, doch der rief wenige Tage später den Notstand aus und stellte kurz darauf im Parlament ein Antiterror-Gesetz vor, das auch prompt verabschiedet wurde.
Dieses komplizierte Szenario stellt die sozialen Bewegungen und die progressiven Parteien vor vielfältige Herausforderungen: Auf der einen Seite müssen sie ihre Ziele und Grundsatzerklärungen verteidigen (Vertiefung des demokratischen Prozesses, integrale Agrarreform und nationale Souveranität) und ihre Fähigkeit zurückgewinnen, die Menschen zu mobilisieren. Auf der anderen Seite müssen sie ihre kritische Haltung und Autonomie im Hinblick auf die Regierung bewahren, die eine Reihe von unpopulären Maßnahmen durchgesetzt und einen Rechtsruck vollzogen hat. Allerdings sollten sie den Dialog mit dem Präsidenten abbrechen, um die ohnehin schon schwierigen politischen Verhältnisse nicht noch zusätzlich zu verschärfen.
Das Schlimmste scheint derzeit noch abwendbar. Gegen einen Putsch der rechten Opposition stehen die klaren Zeichen der Nachbarländer Brasilien und Argentinien, keinen Bruch des konstitutionellen Systems zu akzeptieren. Zudem macht ein großer Teil der Bevölkerung deutlich, dass er bereit ist, die aktuelle Regierung notfalls auf der Straße zu verteidigen, und nach wie vor Hoffnungen auf den Präsidenten setzt.
// Regine Kretschmer

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