„Abtreibung ist immer noch gesellschaftlich geächtet“

Das Recht auf Abtreibung ist ein brisantes Thema in Argentinien. Kann eine Abtreibung dort momentan legal durchgeführt werden?
Daniela García: In Argentinien ist ein Schwangerschaftsabbruch laut Gesetz nicht strafbar, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet oder wenn die Frau durch eine Vergewaltigung schwanger geworden ist. Jedoch werden in Argentinien nicht einmal diese beiden Gründe respektiert. Viele Ärzte weigern sich aus religiöser Überzeugung eine Abtreibung durchzuführen. Die Frauenbewegung kämpft deshalb erst einmal dafür, dass zumindest die Rechte, die das Gesetz einräumt, genehmigt werden. Außerdem wird gefordert, dass ein Schwangerschaftsabbruch legal durchgeführt werden kann. Seit 2003 gibt es in Argentinien eine nationale Kampagne, die für das Recht auf eine legale, sichere und kostenfreie Abtreibung eintritt.

Wie wird das Thema von Euch in die Öffentlichkeit getragen?
D. G.: Es gibt zahlreiche öffentliche Aktionen, beispielsweise werden Kundgebungen abgehalten, Plakataktionen gestartet, Theater gespielt, es gibt auch Filmvorführungen und Diskussionsrunden. Und es wird Lobbyarbeit betrieben. Eine kürzlich durchgeführte Initiative, die unter anderem von der nationalen Kampagne „Recht auf Abtreibung“ mit gestaltet wurde, hat es zumindest geschafft, dass die Problematik eines neuen Abtreibungsgesetzes im Parlament vorgetragen wurde.

Und konnte dadurch etwas bewirkt werden?
D.G.: Nein. Es gibt einfach keinen politischen Willen, das Gesetzesprojekt in die notwendigen Instanzen zu bringen, damit es genehmigt werden kann. Die Kampagne „Recht auf Abtreibung“ startet daher immer wieder Aktionen, damit die Abgeordneten über das Projekt diskutieren. Es ist offensichtlich, dass die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner das Thema nicht voranbringen wird. Es besteht nicht einmal die Chance, dass darüber zumindest diskutiert wird.
Soledad Ceballos: Mal abgesehen davon, dass es keinen politischen Willen gibt und das Thema immer wieder verschoben wird, muss auch berücksichtigt werden, dass der Einfluss der katholischen Kirche ziemlich stark ist. Sie beeinflusst die Bevölkerungen Lateinamerikas nach wie vor sowohl publizistisch als auch politisch. So gab es sogar Rückschritte in den vergangenen Jahren: Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Nicaragua zum Beispiel wurde 2006 wieder zurück genommen.
D.G.: Die Folge ist, dass in Argentinien die medikamentösen Schwangerschaftsabbrüche im letzten Jahr rasant angestiegen sind. Dadurch wird es immer schwieriger, an die Medikamente heranzukommen und die Frauen suchen andere, gefährliche Methoden für Schwangerschaftsabbrüche. Sie führen sich jedwede Substanz oder gar Objekte ein, um ihre Schwangerschaften zu beenden. Viele Frauen sterben bei diesen Versuchen.

Inwieweit unterstützt die Regierung die Frauen, damit es gar nicht erst zu ungewollten Schwangerschaften kommt?
S.C.: Seit 2002 gibt es ein Gesetz, das die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen schützt. Jedoch werden ihnen praktisch nicht einmal die grundlegendsten Dinge garantiert, wie zum Beispiel das Recht auf Verhütungsmittel oder medizinische Beratung. Das nationale Programm zur sexuellen Gesundheit hat noch eine weitere Schwachstelle, denn es gelingt der Regierung nicht, alle Bewohner des Landes zu erreichen. Die Leidtragenden sind oftmals Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Denn sie sind vom Gesundheitszentrum ihres Viertels abhängig, haben keine soziale Absicherung und können es sich nicht leisten, ein größeres Krankenhaus aufzusuchen. In den kleinen Gesundheitszentren gibt es aber häufig keine Verhütungsmittel und außerdem werden dort wichtige Informationen zum Beispiel über Verhütung einfach nicht bereitgestellt. Das hat auch dazu geführt, dass sich die Zahl der Todesopfer durch heimliche Schwangerschaftsabbrüche erhöht hat.
D.G.: So sind es die Frauen ohne finanzielle Ressourcen, denen der Weg zu einer gesundheitlich vertretbaren Abtreibung versperrt bleibt. Erschwerend kommen die Schuldgefühle hinzu, da den Frauen gesellschaftlich nicht suggeriert wird, dass sie ihr freies Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper wahrgenommen haben, sondern dass sie sich eines kriminellen Aktes schuldig gemacht haben, der von der Gesellschaft geächtet wird.

Gab es im Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den vergangenen Jahren dennoch kleine Erfolge?
D.G.: Ich denke ein großer Verdienst der Kampagne „Recht auf Abtreibung“ ist es, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch in die Öffentlichkeit getragen worden ist. Die Leute sprechen darüber, diskutieren. Es ist also nicht mehr nur eine private Angelegenheit jeder einzelnen Frau. Es wurde eine Realität geschaffen, in der wir über das Thema debattieren und in der Vorschläge gemacht werden können. Und das auf einer Ebene, die nicht den Fall einzelner Frauen betrachtet, sondern eine Auseinandersetzung auf einer gesellschaftlichen Ebene erlaubt.

Ein weiteres Problem ist die innerfamiliäre und sexuelle Gewalt gegen Frauen. Wie klärt ihr darüber auf?
S.C.: Es gibt Aktionen, die sich vor allem auf die Prävention und Verringerung der Gewalt gegen Frauen konzentrieren. Im März dieses Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, das Gewalttaten gegen Frauen sanktioniert. Das heißt natürlich nicht, dass die Gewalttaten deshalb aufhören. Dazu gehört eben auch eine öffentliche Politik, das heißt, dass die Gesellschaft für das Thema sensibilisiert wird. Es ist ein Thema das alle angeht und nicht nur unter Frauen diskutiert werden sollte. Die täglichen Fälle, über die in der Presse berichtet wird, werden aber oft als isolierte Fälle abgebildet. Die Berichterstattung liefert ziemlich archaische, stereotype Entschuldigungen dafür, warum eine Frau Opfer von Gewalt geworden ist. Dabei wird die Erziehung unserer Kinder und das Bild, das ihnen über die Macht- und Gewaltbeziehungen zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft vermittelt wird, völlig außer Acht gelassen. Wir Frauen sind keine Minderheit, wir sind die Hälfte der Weltbevölkerung! Die Anzeige einer Frau, die geschlagen wurde und Hilfe bei der Polizei sucht, wird oft genug von den Beamten zurückgewiesen. Diese nehmen sie nicht ernst, schicken sie wieder nach Hause. Es herrscht eine Situation, in der Frauen auf Grund von kulturellen Leitbildern entrechtet werden. Dieses Rollenverständnis und die damit einhergehenden Machtbeziehungen müssen aufgebrochen werden.
D.G.: Gewalt von Männern gegen Frauen ist keine alleinige Angelegenheit der Entwicklungsländer oder geschieht nicht ausschließlich in Familien mit geringen finanziellen Mitteln. Es ist ein Problem der ganzen Gesellschaft und kommt in allen sozialen Klassen vor. In reicheren Familien werden Fälle von Gewalt oder auch Vergewaltigung innerhalb der Ehe oft nicht zur Anzeige gebracht. Eine reiche Frau zum Beispiel wird wahrscheinlich die Hilfe des Staates nicht in Anspruch nehmen und lieber ihren Psychologen aufsuchen.
Gibt es noch andere Themen, auf welche die Frauenbewegung in Argentinien derzeit ihre besondere Aufmerksamkeit gelenkt hat?
D.G.: Ein drittes Thema, das uns derzeit stark beschäftigt, ist der Handel mit Frauen und Kindern. Auch hier gibt es Kampagnen auf nationaler Ebene. Es ist unglaublich, wie viele Frauen in einer Demokratie verschwinden, weil sie Opfer von Menschenhändlern werden, die die Frauen zur Prostitution zwingen. Frauen aus Lateinamerika, vor allem aus Argentinien, Paraguay und Mittelamerika, werden nach Europa geschmuggelt. Es gibt geheime Netzwerke, die unbehelligt arbeiten können, weil es unglaublich kompliziert ist, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und die Fälle aufzuklären. Häufig sind Polizei und Politiker selber involviert. Der Menschenhandel ist mittlerweile nach dem Waffenhandel das zweit rentabelste Geschäft der Welt geworden. Hat man diese Dimension vor Augen wird deutlich, warum es so äußerst schwierig ist dagegen etwas auszurichten.

// Interview: Helen Hahmann

Red de Nosotras en el Mundo
Red de Nosotras en el Mundo ist eine Radioinitiative, die sich für den thematischen Austausch von Frauen zwischen Europa und Lateinamerika einsetzt. Koordiniert wird das Projekt von Radio Vallekas in Madrid und dem Zentrum für Kommunikation und Geschlechterbeziehungen in Córdoba, Argentinien. Die von der Initiative produzierten Audiobeiträge werden in verschiedenen freien Radios in Europa und Lateinamerika gesendet. Die Reportagen und Interviews berichten über Themen der Frauenbewegung, beleuchten feministische Ansätze, behandeln Gender-Themen oder klären über sexuelle Gesundheit und Frauenrechte auf. Aber auch Berichte aus Kunst und Kultur werden spanischsprachigen Frauen auf diesem Weg zugänglich gemacht. Auf der Internetseite www.rednosotrasenelmundo.org werden alle Audiobeiträge in einer Datenbank zur Verfügung gestellt. Informationen zur Nationalen Kampagne für das Recht auf Abtreibung unter www.derechoalaborto.org.ar

Klare Fronten vor der Präsidentschaftswahl

Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen, stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem 67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828 die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte, vom Volk gestoppt: „ … 1992, als die ganze westliche Welt von einer Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war, den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“ Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied. Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien. Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“ Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche „Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay, ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen, von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von „strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“. Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert, fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei, den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen. Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan. Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat, weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete, die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis „eigenartigem Land“.

Der zwiespältige Boom

Ein Haufen gelber Körner rieselt durch zwei Hände. Rodney Villalba begutachtet vor einem Getreidesilo eine Stichprobe des heute angelieferten Sojas. Ein paar der Bohnen sind schwarz, andere vertrocknet. Das Soja habe dieses Jahr eine mindere Qualität, sagt Villaba, und die Ernte falle geringer aus – eine Folge der Dürre, die Paraguay den Sommer auf der Südhalbkugel über fest im Griff hält.
Wir sind in Puerto Antequera am Getreidehafen der Grupo Severo Villalba: 300 Kilometer, 4 Stunden Autofahrt über die neue asphaltierte Überlandstraße, nördlich der paraguayischen Hauptstadt Asunción. Eine trockene Hitze liegt in der Luft. Eigentlich wäre jetzt, Ende April, die Zeit, in der es in dem südamerikanischen Binnenland am meisten regnet. Rodney Villalba schätzt, dass in Antequera dieses Jahr 15 Prozent weniger Soja verschifft werde. Vergangenes Jahr wurden 60.000 Tonnen, 40 Prozent der Gesamtproduktion des Departamentos San Pedro, in die flachen Frachtschiffe verladen, die das Getreide den Río Paraguay hinunter zu argentinischen Häfen transportieren, von wo aus es hauptsächlich nach Europa exportiert wird.
Rodney ist der Sohn von Severo Villalba, einem paraguayischen Unternehmer, der seit Jahren in das boomende Sojageschäft investiert. Der Hafen in Antequera wurde 2006 eingeweiht. Eine „100 Prozent paraguayische Investition“, versichert er. Wenn es nach dem Sojaunternehmer geht, soll San Pedro in den nächsten Jahren zu einem der Departamentos werden, das zu den SpitzenproduzentInnen der Hülsenfrucht aufrückt. Die diesjährige Dürre, davon ist Villalba überzeugt, sei ein normales Phänomen: „Alle fünf bis sechs Jahre bleibt hier der Regen aus.“
Ganz anders sieht das Oscar Meza. Der Agraringenieur empfängt uns in einem verdunkelten Büro in Asunción. Obwohl es noch früh am Morgen ist, läuft der Ventilator schon auf Hochtouren. Für Mesa steht die Dürre mit dem Sojaanbau in Zusammenhang. Die Abholzung großer Landesteile für die Ausweitung der Plantagen und Viehweiden habe zu ungewöhnlichen Klimaveränderungen geführt. Insgesamt sei eine Verstärkung der Wetterextreme zu beobachten, sagt Meza.
In der Tat hat Paraguay sein Antlitz in den vergangenen Dekaden stark verändert. Noch 1945 standen im fruchtbaren Ostteil des Landes 8 Millionen Hektar Wald. Heute sind nur noch etwas weniger als 1 Million Hektar davon übrig. Paraguay, ein Land so groß wie die BRD und die Schweiz zusammen, ist in derselben Zeit zum sechstgrößten Sojaproduzenten weltweit aufgestiegen. Bei den Ausfuhren ist das Land nach den USA, Brasilien und Argentinien sogar auf den vierten Platz vorgerückt.
Die Sojabohne ist nicht nur das bedeutendste Exportprodukt, sie ist mit knapp vierzig Prozent der landwirtschaftlichen Produktion auch der zentrale Pfeiler der paraguayischen Wirtschaft. Die steigende Nachfrage nach Tierfutter und Agrartreibstoffen lässt die Preise für die Hülsenfrucht auf dem Weltmarkt steigen. Die eiweiß- und ölhaltige Bohne wird ausgepresst, das Sojaöl als Nahrungsmittel und Treibstoff verkauft, der Schrott als Futtermittel, das in der Tiermast der großen europäischen Fleischfabriken eingesetzt wird.
Ende der 1960er Jahre begann der extensive Sojaanbau. Oscar Meza erzählt, dass die Regierung des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner von 1966 bis 1968 eine „grüne Revolution“ angestoßen habe, die Mechanisierung der bis dahin kleinbäuerlich geprägten Landwirtschaft. Oberste Priorität hatte die Ausweitung des Weizenanbaus, weil das Land bis dahin auf Importe angewiesen war. Doch da das Getreide im subtropischen Klima Paraguays nur im Winter wachse, habe man nach einem Anbau für den Sommer gesucht und mit Soja die geeignete Pflanze gefunden. In den vergangenen Jahren mit den steigenden Preisen für Soja auf dem Weltmarkt ist das Geschäft immer lukrativer geworden – multinationale Konzerne wie Cargill und Monsanto, Dreyfuss und ADM engagieren sich in Paraguay. 95 Prozent des angebauten Sojas, schätzt Rodney Villalbar, sei transgen. Saatguthersteller wie Monsanto lieferten gleich das ganze Paket, Samen plus passend darauf abgestimmte „Pflanzenschutzmittel“. Denn die riesigen Sojamonokulturen sind sehr anfällig für Schädlinge.
Die Schattenseiten des Soja-Booms werden auch in Paraguay zunehmend sichtbar: Agraringenieur Meza, der das staatliche Programm für die landwirtschaftlichen Entwicklung leitet, beklagt, dass im Zuge des Sojabooms auch Wälder in Gebieten gerodet wurden, deren Böden nicht für den Ackerbau geeignet sind. Riesige Flächen mit sandigen Böden wurden so der Erosion ausgesetzt. Der Niederschlag wasche die Böden aus, transportiere Sediment in Bäche und Flüsse. Viele Gewässer seien inzwischen versandet.
Auf den ersten Blick scheint Soja als Devisenbringer für die klamme paraguayische Staatskasse ein gutes Geschäft für das Land zu sein. Trotz Dürre und des aufgrund der Finanzkrise gesunkenen Weltmarktpreises, schätzt die paraguayische Zentralbank, dass dieses Jahr die Sojaexporte einem Wert von 963 Millionen US-Dollar entsprechen werden. Zwar wären das 36 Prozent weniger als im Vorjahr (1,5 Milliarden US-Dollar), aber immer noch mehr als 2007. Doch vom Soja-Geschäft profitieren nur wenige Menschen in Paraguay. Warum das so ist, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler und international tätige Berater Ricardo Rodríguez Silvera: Soja sei ein „exkludierendes und konzentriertes Produkt“. „Erfolg mit Soja zu haben“, bedeute, so Silvera, Erfolg mit einer Enklavenökonomie zu haben. Das Produkt integriere nicht die Bevölkerung. Die zum Teil mehrere hundert Hektar großen Plantagen erfordern wenig Arbeitskräfte: Ein, zwei Männer können mit den entsprechenden Maschinen 500 Hektar bewirtschaften. Außerdem erhebe der paraguayische Staat sehr geringe Steuern auf die Produktion und anders als die Nachbarländer keinerlei Abgaben auf die Ausfuhr. „Paraguay ist das Land mit der geringsten Steuerlast in der Region“, betont Rodríguez Silvera. So wundert es nicht, dass der Staat kein Geld für eine Umverteilungspolitik oder Mikrokredite an Kleinbauern und -bäuerinnen hat. Rodríguez Silvera rechnet vor, dass die Armut in Paraguay in den vergangenen Jahren – trotz des landwirtschaftlichen Booms – sogar zugenommen habe. „Mehr als eine Million Menschen lebt in extremer Armut, weitere anderthalb Millionen unter der Armutsgrenze.“ 2,5 Millionen bei 6,5 Millionen Einwohnern sei viel. Zu viel, wie der Wirtschaftswissenschaftler findet: „Das ist das erbärmlichste Anzeichen dafür, dass unsere Gesellschaft gescheitert ist, und es dem Staat es nicht gelungen ist, ein Modell zu installieren, dass diese Bevölkerungsteile integriert“.
In der Bauernschaft, bei den kleinen ProduzentInnen, regt sich mittlerweile Widerstand gegen die Sojamonokulturen. Paraguay ist bis heute ein stark agrarisch geprägtes Land. Von den nur 6,5 Millionen EinwohnerInnen leben noch fast 40 Prozent auf dem Land – eine absolute Ausnahme im zunehmend urbanisierten südamerikanischen Subkontinent. Doch auch in Paraguay nimmt die Landflucht zu. Die Bauernvereinigungen geben die Schuld den großen Sojaplantagen, die ihre ursprünglichen Kulturen und Subsistenzwirtschaft verdrängen.
Wir sind in Guayabí, einer kleinen Stadt im Departamento von San Pedro, VertreterInnen von Bauernvereinigungen, Basisbewegungen und linken Parteien aus dem ganzen Land treffen sich Ende April ein Wochenende lang, um über die Lage der Kleinbäuerinnen und -bauern zu diskutieren und eine gemeinsame Aktionsplattform zu gründen. Vergangenes Jahr wählten viele von ihnen den Mitte-Links Kandidaten Fernando Lugo: „Eine Stimme für den Wandel“, wie der ehemalige Bischof in der Kampagne um das Amt des Präsidenten versprochen hatte. Doch heute, fast zehn Monate nach seinem Amtsantritt ist man skeptisch. Zwar hat Lugo der über 60 Jahre währenden Herrschaft der Colorado-Partei ein Ende gesetzt. Aber viel bewegt, so die einhellige Meinung, habe er nicht. In die Schlagzeilen kam er zuletzt nur wegen der unehelichen Kinder, die Lugo noch als Geistlicher in die Welt gesetzt haben soll. Ein Kind hat er mittlerweile anerkannt, mehrere Vaterschaftsklagen laufen noch.
Die Bäuerinnen und Bauern in Guayabí fordern, dass der Präsident sein Wahlversprechen einer Landreform endlich einlöst. Aber auch der massive Pestizideinsatz auf den großen Plantagen, der in den umliegenden Dörfern zu Krankheiten und Missbildungen führt, sind ein Thema (siehe LN 419). Bauernaktivist Miguel Ángel Insfrán schildert die Situation der Kleinbäuerinnen und -bauern im Departamento San Pedro: Für eine kleinbäuerliche Gemeinschaft bedeutete es ein große Bedrohung, wenn ein großes Stück Land ungenutzt in ihrer Nähe liegt. „Das könne jeder Zeit in eine Sojaplantage verwandelt werden. Und dann wehen die Agrogifte herüber“. Manuel Barrera, ein Kleinbauer aus Santani, einer Stadt zehn Kilometer südwestlich von Guayabí, beschreibt die Schwierigkeiten der KleinproduzentInnen: „Wir sind von großen Sojaplantagen umgeben, die Wälder sind gefällt worden, wir haben Probleme mit der Verschmutzung der Umwelt durch Agrochemikalien.“ Heute stehen nur noch 12 Prozent des Waldes in San Pedro. „Es heißt zwar“, sagt Barrera, „die Rodung von Wald sei verboten, aber wir erleben Tag für Tag, dass Traktoren die letzten Bäume fällen.“ Als er noch jung war, erinnert sich der 53-jährige, gab es dort noch viel Wald, kristallklare Bäche mit Fischen, Wildtiere, die sie jagen konnten und Wildfrüchte.
San Pedro ist eines der konfliktreichsten Departamentos, erzählt Miguel Ángel Insfrán, während wir Richtung Requena aufbrechen. Hier kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und Sicherheitskräften. Die LandwirtInnen wehren sich, weil San Pedro, einer der ärmsten Landesteile, noch über eine hohe Anzahl von intakten kleinbäuerlichen Strukturen verfügt. Doch die Großgrundbesitzer, so Insfrán, schicken Schlägertrupps vorbei, sie wollen die Aktivisten einschüchtern. Es gäbe aber auch gezielte Attentate. Seit 1992 wurden 150 AktivistInnen umgebracht. Noch schlimmer seien die Krankheiten und Gesundheitsschäden, die Missbildungen bei Kindern in Folge der Besprühungen. Vor allem nachts werden Pestizide und Herbizide mit kleinen Flugzeugen auf die Felder gebracht. Großzügige Verwehungen über die angrenzenden Dörfer nehme man in Kauf, weil das für die ProduzentInnen natürlich viel kostensparender ist. Jahrelang habe man den DorfbewohnerInnen nicht geglaubt, als sie über Gesundheitsprobleme klagten.
José Parra Goana, ein Bauernaktivist und Arzt aus Yateity del Norte, erklärt den Zusammenhang zwischen Besprühungen und der Expansion der Sojaplantage: „Der Mechanismus ist wie folgt. Die Sojaunternehmer vergrößern ihr Territorium durch den direkten Ankauf oder den Druck mit dem Einsatz von Agrargiften. In diesen Gebieten sehen die Menschen ihre Familienangehörigen gesundheitlich in Mitleidenschaft gezogen, sehen ihre Tiere, ihre Umwelt zugrunde gehen. Irgendwann fliehen sie, lassen Ihr Land zurück oder verkaufen es an den Unternehmer zu einem Preis unter Wert.“ So vergrößert sich der Sojaanbau immer mehr. Der Arzt zählt die Folgen der Pestizideinsätze auf: „Es gibt viele Hautkrankheiten, Diabetes, Bluthochdruck und Krebskrankeiten, die es früher in der Region nicht gab. Vor allem die Hautkrankheiten sind auf die Verschmutzung von Wasser und Umwelt durch die Agrargifte zurückzuführten.“
Das Land, das die Kleinbäuerinnen und -bauern heute besitzen, ist knapp geworden. Von den ursprünglich 20 Hektar, welche die SiedlerInnenin der Vergangenheit einmal vom Staat zugeteilt bekamen, ist aufgrund der Erbteilung nicht mehr viel übrig. Fünf, sechs Familien, so Kleinbauer Barrera, lebten jetzt auf derselben Fläche. Die Böden seien ausgelaugt und brächten kaum noch Ertrag.
Die Kleinbäuerinnen und -bauern und die Landlosen fordern deshalb neues Ackerland von der Regierung. Doch die Regierung hat das staatliche Land an die großen Soja- und Viehbarone verkauft, sagt Miguel Ángel Insfrán. Und bislang habe sie auch keine Initiative gezeigt, altes Land wieder urbar zu machen oder unproduktive Fläche in Privathand zu enteignen. Auch wenn Lugo immer wieder bekräftigt – wie zuletzt Ende Mai gegenüber der argentinischen Zeitung Clarín – dass eine umfassende Landreform ein „unverzichtbarer Teil“ seiner Regierungsagenda sei. 85 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen, rechnete das Staatsoberhaupt zur Begründung seiner Pläne vor, seien im Besitz von nur 2,5 Prozent der Bevölkerung. „Eine Ungleichheit“, die man langsam korrigieren müsste, mahnte Lugo. Doch wie, das verrät er nicht. Ob die Kleinbauern und -bäuerinnen jedoch noch viel Zeit zu warten haben, ist fraglich. Immer mehr von ihnen fliehen vor Armut und Umweltverschmutzung in die großen Städte, wo sich viele von ihnen in den schnell wachsenden Vorstädten wiederfinden. „Viele Leute haben hier Ihr Land verkauft“, erzählt Bauernaktivist Insfrán. „Warum? Weil ihnen ein Bündel Geld angeboten haben. 5 Millionen Guaraní (ca. 720 Euro, Anm. d. Red.) pro Hektar. Das erscheint erstmal viel. Für die durchschnittlich 10 Hektar, die heute eine Campesinofamilie besitzt, sind das 50 Millionen. Das erscheint den Kleinbauern viel Geld, da sie mit ihrer Parzelle pro Jahr nur eine Million erwirtschaften.“ Sie würden das Geld also annehmen, mit dem Vorsatz nach Asunción zu ziehen und dort in der Stadt ein kleines Geschäft aufzumachen. „Doch viele kommen schnell wieder zurück“, erzählt Insfrán, „ohne Geld und jetzt auch ohne Land. Sie sind einige Landlose mehr.“
So kommt es immer wieder zu Besetzungen von Landstücken. Zwischen Guayabí und Requena, bei Toro Pirú, haben sich 100 Familien auf dem Seitenstreifen Hütten gebaut, sie besetzten die Zufahrt zu einer Länderei. „Seit fünf Jahren kämpfen wir hier schon“, erzählt ein Mann in einem Mischmasch aus Guraní und Spanisch. Hinter ihm, seiner Frau und seinen zwei Kindern steht der Zaun, der das Grundstück begrenzt. Noch steht Wald steht darauf, Eukalyptus. Als sie das Land besetzten, hieß es, der Besitzer wolle es in eine Sojaplantage verwandeln. Jeden Tag kann der Befehl zur Räumung kommen. In den vergangenen Jahren hat sich vor allem die Justiz als zuverlässiger Bündnispartner der großen LandbesitzerInnen gezeigt.
In Paraguay ist bislang kein Anzeichen erkennbar, dass sich an der Situation kurzfristig etwas ändern könnte. Solange die staatlichen Stellen der Entwicklung hinterher schauen, wie Agraringenieur Meza beklagt, werden die großen multinationalen Konzerne weiterhin, zu für sie traumhaften Konditionen, investieren. Zwar existieren auch in Paraguay Umweltauflagen und Vorschriften über den Einsatz von Pestiziden. Doch es gibt kaum jemanden, der die Einhaltung kontrolliert. Der öffentliche Sektor verfügt weder über ausreichendes und ausgebildete Personal, noch über die geeignete Organisationsstruktur, um mit den privatwirtschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten, erklärt Meza. „Wir bewegen uns immer ein paar Schritte hinter der privaten Initiative.“
25 Prozent Wald muss zum Beispiel laut Gesetz auf einem Grundstück stehen gelassen werden – doch meistens wird alles restlos abgeholzt. Eine Sojaplantage bringt so viel Gewinn, dass selbst ein anfallendes Bußgeld leicht bezahlt wird. Oder es werden als Alibihandlung auf ruhenden Flächen schnell wachsende Eukalyptuswälder gepflanzt – mit den ursprünglichen dichten Wäldern Paraguays hat dies natürlich nichts zu tun.
So geht es in Paraguay trotz anders lautender Versprechen der Regierung weiter wie bisher: Man rechnet mit einer Ausweitung der Plantagen in den kommenden Jahren. Der US-Konzern Cargill baut in Zeballos Cué, nördlich von Asunción, einen riesigen Getreidehafen. Im Chaco, dem westlichen, dünnbesiedelten und trockeneren Landesteil werden jeden Tag 1.400 Hektar Wald gefällt. Dorthin zieht es vor allem die Viehbarone, die ihre Weiden im Ostteil für gutes Geld an die Sojabauern verkaufen und dafür riesige Flächen im steppenartigen Chaco erwerben. Die Fleischproduktion mausert sich im Schatten des Sojabooms zur zweiten Säule der paraguayischen Landwirtschaft, doch das ist ein anderes Thema. Die Folgen für die Umwelt aber sind ähnlich verheerend.

Im Kampf um die Erde der roten Menschen

Im dichten Blätterwerk am Flussufer raschelt es, ein Tier bewegt sich. Ein großes Tier muss es sein. Oswaldo und Ireneu greifen zu Pfeil und Bogen, zielen und schießen gerade noch rechtzeitig, bevor die Kuh im Unterholz verschwinden und flüchten kann. Endlich etwas zu jagen, endlich etwas zu essen für die beiden Jungen und für Ihre Familie vom Stamm der Guarani-Kaiowa. Sie kampieren am Rande eines Feldes, das heute dem Großgrundbesitzer Lucas Moreira gehört und früher ihr Stammesland war. Sie bereiten eine retomada, eine Landbesetzung, der Rinderfarm vor.
Zu Jagen gibt es hier eigentlich nichts. Zu Essen auch nicht. Wasser holen sie sich vom nahen Fluss. Die Indigenen im Camp haben kein fruchtbares Feld, das sie bestellen könnten, wie jenes, auf das sie nun täglich schauen. Doch das gab es ebenso wenig in dem Reservat, aus dem sie hierher gezogen sind. Dort war die Situation so hoffnungslos, dass sich die indigene Gruppe zur Besetzung entschloss.
Nach der Jagd schleppen Oswaldo und Ireneu blutverschmiert und verschwitzt eine riesige Rinderkeule zurück zum Camp. Sie mögen sich zwar freuen, aber es ist zu offensichtlich, dass ihr Glück von kurzer Dauer sein wird, denn ihre Beute war Teil von Moreiras Rinderbestand.
„Von denen hat er mehr als genug“, wird Maria, Moreiras Tochter, später sagen. Und es scheint, als hätte er von allem genug: Vieh, Land, Geld, Arbeit, die richtigen Kontakte und damit Macht und Einfluss wann und wo immer er es braucht. Gegen ihn und sein Auftreten wirken die Guaraní-Kaiowa verloren und ausgeliefert. Verzweiflung und Ohnmacht prägen ihr Dasein ebenso wie Respekt ihren Traditionen und Rechten gegenüber. Über lange Strecken scheint es, als siege die Verzweiflung. Wir erfahren sehr früh, dass Selbstmorde unter jugendlichen Indigenen keine Seltenheit sind. Sie finden im Leben im Reservat zwischen indigenen Traditionen und moderner brasilianischer Gesellschaft keine Perspektive: Gehen sie als ErntehelferInnen zum Arbeiten auf die Felder der LandbesitzerInnen, um wenigstens ein paar Groschen einstecken zu können, verraten sie ihre Familie und den Stolz, sich der Macht derer, die Land besitzen, zu widersetzen. Lassen sie es sein, bleibt ihnen nicht einmal genug Geld für Reis und Bohnen.
Eingesperrt in der Enge und Armut des Lebens im Reservat, verdingen sich die Indigenen als Touristenattraktion. So werden sie Teil unzähliger Erinnerungsfotos von Brasilienreisenden, die in exquisiten Vogelbeobachtungstouren in kleinen Booten „die Wildnis erkunden“. Organisiert und angeboten werden die Touren mit Fernglas und Kamera von Moreiras Frau. Zu einer wirklichen Begegnung und Berührung mit dem indigenen Alltag kommt es nie. Das komfortable Leben der LandbesizterInnen und die kärgliche Existenz der Indigenen könnten unterschiedlicher nicht sein.
Birdwatchers, der in Venedig mit dem UNESCO Filmpreis ausgezeichnet wurde, erzählt, wie weit voneinander entfernt Weiße und Indigene leben, obwohl ihre Welten sich tagtäglich berühren. Ausgelebt wird die gegenseitige Neugier jedoch vor allem von den Jüngeren. In einer Romeo-und-Julia-ähnlichen Nebenhandlung erkunden sich Oswaldo und Maria. Sie als gelangweilte Tochter des Großgrundbesitzers auf Abenteuersuche, die sich herausgefordert fühlt von Oswaldo und seinem bisweilen absonderlichen Gebaren, das ihn auf seinem Ausbildungsweg zum Schamanen auszeichnet.
Doch letztlich scheitert der Kontakt zwischen den beiden Welten. Dies zu zeigen, war auch das Anliegen des italienisch-chilenischen Autors, Regisseurs und Co-Produzenten Mario Bechis. „Seit 500 Jahren gibt es den Kontakt zwischen den Nachfahren von Europäern und Indigenen. Und seit 500 Jahren hat sich der grundlegende Konflikt, der Landkonflikt, kaum gewandelt“, erklärte er gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Auf die gewaltsamen Sequenzen im Film folgt als Kontrapunkt oft eine ruhige Kameraeinstellung, die von barocker Sakralmusik untermalt wird. Diese wirkt meditativ, als stehe sie über den weltlichen Dingen. Die Musik stammt aus der Feder von Domenico Zipoli, einem italienischen Jesuiten, der Anfang des 18. Jahrhunderts auf einer Guaraní-Mission in Paraguay wirkte. Die Werke schrieb Zipoli für die Chöre der Indigenen in den Kirchen der Jesuiten. „Die Musik Zipolis war ein Versuch, die Indigenen in die westliche Kultur zu integrieren. Heute müssen wir feststellen, dass dieser Versuch misslungen ist“, erzählt Bechis weiter. Diese alte Musik schafft ein Gefühl für die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, mit der die indigene und die weiße Welt nebeneinander existieren. Sie lässt die ZuschauerInnen die archaische Qualität des Konflikts spüren.
Mario Bechis erzählt nüchtern und einfühlsam über Verzweiflung und Ausgrenzung der Guaraní-Kaiowa. Es sind LaiendarstellerInnen, die uns in Birdwatchers den Reichtum ihrer Traditionen und gleichzeitig auch die Würdelosigkeit ihrer heutigen Existenz erzählen. Der Film lebt von scharfen Close Ups, die uns ohne viel Worte, dafür aber mit großer Kraft und Dichte die Charaktere des Films und die ständig wechselnde Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung nahe bringen.
Der Film bezieht eindeutig politische Stellung für die Indigenen, gegen die Interessen der landbesitzenden Elite Brasiliens. Dementsprechend waren auch die Reaktionen auf den Film in Brasilien. „Der Film wurde vor allem totgeschwiegen“, berichtet Bechis, „Ein Freund erzählte mir, dass die Brasilianer nicht gerne traurige Indigene im Kino sehen und nicht gerne an die Unterdrückung erinnert werden, die in ihrem Land stattfindet.“ Doch Bechis ist dennoch optimistisch: „Ich habe gesehen, dass illegale Kopien des Films bereits auf den Straßen Brasiliens verkauft werden. So wird der Film vielleicht doch noch von vielen Leuten gesehen.“

Marco Bechis // Birdwatchers // 108 Min. // Brasilien 2008 // Pandora Filmverleih // www.birdwatchersfilm.com

Der Survival Fund wirbt mit dem Film für Spenden für die Sache der Guaraní. Mit den gesammelten Geldern sollen retomadas im wirklichen Leben mit Sach- und Lebensmittelspenden unterstützt werden. Mehr Informationen:
www.survival-international.org sowie
www.guarani-survival.org

Gefährliche Verwicklungen

Nur wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Dezember 2009 hat sich Boliviens extreme Opposition aus dem Tiefland sprichwörtlich ins eigene Knie geschossen. In den Morgenstunden des 16. April hatte eine Spezialeinheit der Polizei das Hotel Las Américas im Stadtzentrum der Oppositionshochburg Santa Cruz gestürmt, drei Männer getötet und zwei weitere verhaftet. Bei den Toten handelte es sich um Arpád Magyarosi (Rumäne), Michael Dwayer (Ire) und dem mutmaßlichen Kopf der Gruppe, Eduardo Rózsa Flores (kroatisch-bolivianischer Staatsbürger). Die unmittelbar ins Gefängnis der Hauptstadt La Paz überführten Festgenommenen sind Mario Tadic Astorga (kroatisch-bolivianischer Staatsbürger) und Elöd Tóazó (ungarischer Rumäne). Bei ihnen wurden laut Polizeiangaben neben automatischen Waffen und Granaten ausführliche Pläne und Organigramme gefunden, die Präsident Morales, Vizepräsident Álvaro García Linera, mehrere MinisterInnen und Kardinal Julio als Attentatsziele nennen. Wochen zuvor hatte es in Santa Cruz immer wieder Sprengstoffanschläge auf Regierungsmitglieder der Bewegung zum Sozialismus (MAS) gegeben, zuletzt einen Tag vor dem Polizeizugriff auf das Haus des Oberhauptes der katholischen Kirche in Bolivien, Kardinal Terrazas. Ziel der Gruppe sei zudem die Destabilisierung der Region und die Verunsicherung der Bevölkerung gewesen.
Die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeichnen derweil ein immer klareres Bild: Weite Teile der politischen Elite der im Tiefland gelegenen „Halbmond“-Region waren seit dem Morales-Sieg 2005 fest entschlossen, ihren faktischen Machtverlust auf zentralstaatlicher Ebene durch die Einführung departamentaler Autonomie mit allen Mitteln zu kompensieren, notfalls durch Krieg und Gewalt. Ihr Ziel der Abspaltung der Departamentos Santa Cruz, Tarija, Beni, Pando und Chuquisaca habe man laut Regierungskreisen durch die „Balkanisierung Boliviens“ angestrebt. Aus diesem Grund hatte Morales im September 2008 den obersten US-Gesandten Philip Goldberg des Landes verwiesen, der vor seinem Amtsantritt in La Paz ein hoher Funktionär im Kosovo war. Angesichts immer neuer Indizien müssen sich nun auch die mutmaßlichen Involvierten und radikalen Morales-Gegner wie Branko Marinkovic, kroatischstämmiger Millionär und Ex-Präsident des Unternehmerbündnisses Bürgerkomitee Pro Santa Cruz, der Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, sowie hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft vor der Justiz verantworten. Ihnen droht ein Verfahren wegen „Vaterlandsverrat und Sezession“ und mehrjährige Haftstrafen. Ein jüngst erlassenes Präsidialdekret erlaubt zudem die Beschlagnahmung von Besitz und Geld all derer, die des „Terrorismus, der Abspaltung und des bewaffneten Aufstandes« beschuldigt sind. Genau ein Jahr nach dem illegalen Autonomie-Referendum zur Annahme einer eigenen Departamento-Verfassung, das mit Geld, Personal und Know-how ausländischer Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus den USA und Europa vorangetrieben worden war, steht die Tieflandrechte heute mit dem Rücken zur Wand.
Mit Marinkovic zittern dutzende Mitglieder der oligarchischen Elite von Santa Cruz. Anlass für Sorgenfalten bereitet vor allem der geständige Kronzeuge Ignacio Villa Vargas, Ex-Chef der rechtsradikalen Jugendunion für Santa Cruz (UJC). Dieser beschuldigt die Crème de la Crème der Autonomie-UnterstützerInnen als alleinige Auftraggeber der aufgeflogenen Söldnertruppe. Präfekt Costas habe den Männern per Telefon je ein Haus versprochen, wenn sie Morales töten würden. Marinkovic persönlich habe in direkten Treffen eine Viertelmillion US-Dollar für die Bewaffnung von Milizen zur „Verteidigung von Santa Cruz“ versprochen. Andere Untersuchungsergebnisse über mögliche GeldgeberInnen führen direkt in die Industrie- und Handelskammer Santa Cruz (Cainco). Eindeutig bewiesen ist, dass der mittlerweile ins Ausland geflohene Cainco-Anwalt Alejandro Melgar Pereira in direktem Kontakt mit Flores stand. Er stellte die Verbindung her zu einem Mann, der diesen sein Auto verkaufte. Zudem bezahlte ein Berater der privaten Telekommunikationsfirma Cotas, Luis Alberto Hurtado Vaca, die Hotelrechnungen der Terroristen. In Cotas-Büros hielt sich Flores vor seinem Tod regelmäßig auf, wie Fotos zeigen. Auch entdeckte die Polizei hier ein Waffenarsenal mit Sprengstoff und Handgranaten. Das Unternehmerbündnis Cainco ist Sammelbecken der einflussreichsten Clans von Santa Cruz, denen auch Cotas gehört.
Noch Mitte April hatte Morales am Rande seines Hungerstreikes für ein von der Opposition im Senat blockiertes Wahlgesetz über eine eventuelle Gefährdung seines Lebens spekuliert: „Vielleicht sind meine Tage gezählt. Das Volk soll eines wissen: Wenn mir, Álvaro oder den Ministern etwas zustößt, dann war dies das Werk der faschistischen Rechten, die von der Botschaft der Vereinigten Staaten unterstützt wird“. Was sich damals nach kruder Verschwörungstheorie und paranoidem Verfolgungswahn anhörte, gründete allerdings auf handfesten Informationen bolivianischer Sicherheitsbehörden. Diese waren dem Söldner-Netzwerk seit Ende 2008 auf der Spur, kurz nachdem ein Putschversuch durch die oppositionellen Tiefland-Präfekturen im September 2008 gescheitert war. Damals hatten Präfekturangestellte und Mitglieder der UJC in einer konzertierten Aktion zentralstaatliche Verwaltungen, Flughäfen und Büros regierungsfreundlicher NRO besetzt, geplündert und angezündet. Trauriger Höhepunkt war am 11. September die Ermordung von mindestens 18 indigenen Bauern und MAS-Anhängern in Pando durch Milizen der Präfektur. Die Ausrufung des Kriegsrechts in Pando, die Loyalität der Streitkräfte zur MAS-Regierung, die besonnene Reaktion der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowie die breite internationale Rückendeckung vor allem durch die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) hatten das Land vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges bewahrt.
Ob Zufall oder nicht – nur wenige Tage vor den blutigen September-Ereignissen war der Kroatienkrieg-Veteran Eduardo Rózsa Flores in Santa Cruz eingetroffen. Der im Hotel getötete 49-jährige Flores ist ohne Zweifel eine schillernde Figur. Nach seiner Geburt als Sohn eines ungarischen Kommunisten und Malers in Santa Cruz lebte seine Familie in Chile, wo sie vor Militärdiktator Pinochet nach Budapest floh. Flores studierte später in der Sowjetunion, wurde laut eigenen Angaben „enttäuscht vom real existierenden Sozialismus“ und wandelte sich zum erbitterten Kommunistenfeind. Für den Top-Terroristen Illich Ramírez Sánchez (alias Carlos der Schakal) arbeitete Flores laut eigenen Angaben in den 1980ern als Übersetzer. Zunächst bei der katholischen Fundamentalorganisation Opus Dei aktiv, trat er später zum Islam über, in Ungarn war er Präsident einer islamischen Vereinigung. Anfang der 1990er Jahre ging er dann als Journalist für die BBC nach Kroatien, wo er sich schnell der separatistisch-nationalistischen Bewegung des später wegen Kriegsverbrechens angeklagten Ex-Präsidenten von Kroatien, Franjo Tudjman, anschloss. Hier gründete er eine internationale Freiwilligenbrigade, die im Kampf für die Unabhängigkeit Kroatiens bekanntermaßen auch von US-Beratern ausgebildet wurde, und die sich als Nachfolger der Ustascha betrachtete. Diese faschistische Terrortruppe tyrannisierte während des Zweiten Weltkrieges ganz Kroatien und ermordete in Kollaboration mit den Nazis Hunderttausende SerbInnen, Roma, Jüdinnen und Juden sowie AntifaschistInnen. Ein britischer Journalist beschuldigt Flores später der Ermordung zweier Kollegen, die kritisch über die professionellen „Freiwilligenbrigaden“ berichteten und die unter fragwürdigen Umständen erschossen wurden. Für seine Dienste erhielt „Kriegsheld“ Flores von Tudjman persönlich die kroatische Staatsbürgerschaft. Mitte der Neunziger kehrte er dann nach Ungarn zurück, wo er den Filmemacher und Poeten gab. Gegenüber einem Freund hatte er geäußert, er werde in Bolivien „gegen die kommunistische Regierung“ und für ein unabhängiges Tiefland Santa Cruz kämpfen. Es gelte, die „nationalsozialistischen Indianer zu stoppen“.
Auf der Suche nach militärischer Expertise suchte und fand Boliviens Rechte Schützenhilfe in Europa und Lateinamerika. Zwei Komplizen von Bandenchef Flores, der getötete Árpád Magyarosi und der in Haft sitzende Tóazó, waren bekannte Mitglieder der rechtsextremen Székely-Legion in Ungarn. Die von der Logia Secuiesti (LS) aufgestelle paramilitärische Organisation wurde 2002 vom ungarisch-rumänischen Rechtsextremen Tibor Révesz gegründet. Sie will die Region Székely, wo eine ungarische Minderheit lebt, gewaltsam von Rumänien abspalten. Der LS-Chef Révesz, der eine Sicherheitsfirma betreibt, die im Irak Aufträge für die US-Regierung und Ölfirmen ausführt, traf sich mit Flores im Dezember 2008 in Santa Cruz. Interessiert haben wird Flores vor allem die von der Sicherheitsfirma laut Geschäftsprofil angebotene paramilitärische Ausbildung für „Sicherheitspersonal und Geschäftsleute“. Trainingsmethode ist das nach außen unverdächtige, als Freizeitsport bezeichnete Militärspiel Airsoft, bei dem Nahkampf und Taktik mit ungefährlichen Waffen trainiert wird. Erst kürzlich hatten in Bolivien Fotos für Aufsehen gesorgt, bei denen Airsoft-Spieler in Kampfmontur und Santa-Cruz-Flagge posierten. Bekannt wurde zudem, dass Flores auf dem Gelände des internationalen Flughafen Víru Víru von Santa Cruz regelmäßig UJC-Mitglieder trainierte.
Aber auch in Lateinamerikas reaktionären Kreisen fanden die Morales-Gegner hilfsbereites Fachpersonal in Sachen Demokratiebekämpfung. Ende 2008 traf sich der umtriebige Flores mit dem Ex-Militärgeheimdienstler und Mitglied des rechtsextremen Soldatenbundes Caras Pintadas (Bemalte Gesichter) Jorge Mones Ruíz aus Argentinien. Soldaten der Caras Pintadas verdingten sich ebenfalls im Kroatien-Krieg, daher auch der Kontakt zu Flores. Ruíz hingegen war schon in den 1980er Jahren im Rahmen der berüchtigten Operation Condor für Bolivien zuständig, als Tausende linke Oppositionelle in ganz Südamerika von den Geheimdiensten der Militärdiktaturen systematisch verfolgt und umgebracht wurden. Allein in Argentinien zählt man etwa 30.000 Verschwundene. Zusammen mit der Witwe des argentinischen Leutnants Horacio Fernández Cutiellos, der 1989 bei einem Putschversuch von Militärs mit über 50 Toten ums Leben gekommen war, reiste dessen ehemaliger Kampfgefährte Ruíz direkt weiter nach La Paz, um dort den wegen des Pando-Massakers in Haft sitzenden Ex-Präfekten von Pando, Leopoldo Fernández, zu besuchen. Beide gaben sich dabei als Journalisten einer argentinischen Zeitung aus.
Ruíz ist zudem hochrangiges Mitglied des im Bürgerkriegsland Kolumbien sitzenden Rechtsbündnisses UnaAmérica, einer 2008 gegründeten Vereinigung von NRO aus Bolivien, Venezuela, Nicaragua, Paraguay, Argentinien und Brasilien, die massiv gegen die UNASUR-Linksregierungen agitieren. Finanziert wird UnaAmérica von Kolumbiens Rechten wie Miguel Posada Samper, Manager der Finanzgruppe Bolívar und Sicherheitsberater der Uribe-Regierung. Samper ist Vorsitzender der Vereinigung Wahrheit Kolumbien, hervorgegangen aus dem 1995 vom kolumbianischen Militär gegründeten Zentrum für soziopolitische Studien, das Vorwürfe kolumbianischer Menschenrechtsorganisationen von einer Zusammenarbeit mit den antikommunistischen Paramilitärs widerlegen sollte. Auch das Pando-Massaker sei entgegen der offiziellen Version, die von einer Untersuchungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt wurde, nicht von Präfekturmilizen verübt worden, sondern von der MAS-Regierung selbst, argumentiert UnoAmerica. Von UnoAmerica verläuft der Weg direkt in die USA: Gesponsert und gecoacht wird das kontinentale Rechtsbündnis von der neoliberalen US-Denkfabrik Heritage Foundation, der Entwicklungsbehörde USAID und der vom US-Kongress abhängigen Stiftung zur Demokratieförderung (NED). Dass auch Boliviens Tiefland-Opposition mit Geldern aus den USA rechnen konnte, belegen jüngst freigegebene Akten der US-Regierung. Über USAID pumpten die Vereinigten Staaten seit 2004 rund 100 Millionen Dollar nach Bolivien. Allein 2009 wurden 30 Millionen US-Dollar für die „Förderung von Demokratie, Dezentralisierung, Autonomie, politische Parteien der Opposition und Zivilgesellschaft“ im an Erdgas reichen Tiefland ausgegeben, so die US-venezolanische Journalistin und Rechtsanwältin Eva Golinger. Und auch aus Deutschland kommt Unterstützung. Die der FDP nahe stehende Friedrich Naumann-Stiftung ist Gründerin des Liberalen Netzwerkes Lateinamerika (RELIAL), dem die Stiftung Freiheit und Demokratie (FULIDE) aus Santa Cruz angehört und an dessen Spitze Branko Marinkovic steht. Damit nicht genug. Einziger Kooperationspartner der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Bolivien ist die Stiftung für Unterstützung des Parlaments und Bürgerlicher Beteiligung (FUNDAPACC), dessen Vorstandsmitglieder der erwähnte Pandos Ex-Präfekt Fernández sowie der ehemalige Senatspräsident José Villavicencio sind. Letzterer ist in einem UNASUR-Beweis-Video zum Pando-Massaker in eindeutiger Angriffspose zu sehen, laut schreiend: „Wenn Evo Blut will, dann soll er Blut bekommen“.

Die Archive der Erinnerung

Im Verlauf des 36 Jahre dauernden internen Krieges verübten die staatlichen Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverbrechen an der Zivilbevölkerung Guatemalas, unter dem Vorwand der Bekämpfung der bewaffneten Guerilla. So wurden Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen aber vor allem indigene Gemeinden Opfer von Gräueltaten. Dem Staat werden nach internationalem Recht Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angelastet.
Der Kampf für die Aufklärung dieser Menschenrechtsverletzungen und für die Erinnerungsarbeit stützte sich bisher auf zwei Fundamente: die ZeugInnenaussagen von Überlebenden und Familienangehörigen der Opfer sowie die Ausgrabungen der Skelette von Opfern von Massakern, die in geheimen Massengräbern verscharrt wurden, und deren forensisch-anthropologische Analyse. Sie dienten als Grundlage zur Erarbeitung der zwei Wahrheitsberichte Guatemalas, des Berichts des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros Guatemala – Nunca Más (Guatemala – Nie Wieder, 1998) sowie des Berichts der UNO-Wahrheitskommission Guatemala. Memoria del Silencio (Guatemala. Erinnerung des Schweigens, 1999). Während der Recherchen zu Letzterem forderten VertreterInnen  dieser Kommission mehrmals Zugang zu Archiven der staatlichen Sicherheitskräfte, dessen Existenz die Regierung bis vor wenigen Jahren systematisch negierte.
Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge 1996 und vor allem nach der Präsentation der Wahrheitsberichte wurden die Forderungen der zivilen Bevölkerung und der sozialen Bewegungen für die Öffnung der Militär-, Polizei- und Geheimdienstarchive konkreter und stärker. Der Ruf nach Justiz und Aufklärung der zu tausenden verübten Menschenrechtsverletzungen während des Krieges wurde laut.Erste Hoffnung kam mit dem Fund der historischen Archive der ehemaligen Nationalpolizei vor knapp vier Jahren auf. Der Ombudsmann der Menschenrechte in Guatemala erhielt eine anonyme Anzeige über Sprengstofflagerungen in einem scheinbar stillgelegten Gebäude der Polizei inmitten eines ungeordneten Autofriedhofs in einem Randviertel der Hauptstadt. Beim Verifizierungsbesuch vom 5. Juli 2005 fand man nicht nur Sprengstoff vor, sondern auch fast 15 Räume gefüllt mit Akten und Papieren: das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei in Guatemala. Verwahrlost, verfault – vergessen? Nicht ganz. Im Widerspruch zur systematischen Verneinung des Archivs von Seiten des Staates, ist dieses bis heute in den polizeilichen Verwaltungsapparat eingebunden und der Sitz des aktuellen Zentralarchivs der Polizei. „Das war eine große Überraschung, niemand von uns hätte geglaubt, dass diese Archive tatsächlich existierten, und das sogar an einem Ort, der auf den ersten Blick gar nicht so schwer zugänglich zu sein scheint“, erklärt Carla Villagrán, ehemalige Beraterin des Ombudsmannes.
Dieser handelte schnell. Einige Tage nach dem historischen Fund gab ihm ein Gericht ausschließlichen und unbegrenzten Zugang zu den Beständen um eine Untersuchung über Verletzungen von Menschenrechten durchzuführen. Aufgrund des extrem schlechten Zustandes des Archivs war es notwendig, mit der Sicherung und archivarischen Aufarbeitung der Dokumente und auch der Restaurierung des Gebäudes zu beginnen.
Tausende von Akten, Büchern und Papieren waren der absoluten Verwahrlosung ausgesetzt. Fledermäuse, Ratten, Insekten, Wasser und Feuchtigkeit hatten die Dokumente stark beschädigt und teilweise oder ganz zerstört. „Ich habe schon viele Archive dieser Art kennen gelernt, in Argentinien, in Paraguay, aber nichts hat mich auf den Schock vorbereitet, als ich diese Archiv das erste Mal betrat“, meint Kate Doyle vom National Security Archive (USA).
Die Größe der Bestände wurde mit Laufmetern berechnet, somit wären die geschätzten 7.900 Meter Dokumente umgerechnet 80 Millionen Akten. „180 Personen arbeiten in Vorgängen zur Reinigung, Identifizierung, Archivierung, Konservierung und Digitalisierung nebst den eigentlichen Forschungsarbeiten. Digitalisiert wurden bisher knapp 10 Prozent der Dokumente. Hier gibt es noch Arbeit für unsere Enkelkinder“, erklärt Gustavo Meoño, Koordinator des Projektes zur Aufarbeitung des historischen Archivs der Nationalpolizei.
Das Archiv ist das größte bis jetzt aufgefundene dieser Art in Lateinamerika. Doch was gibt es her? „Erstens lassen sich Struktur und Funktionieren der Nationalpolizei exakt nachverfolgen, dazu gehört auch deren Unterordnung unter das Militär während der Jahre des Bürgerkriegs. Neben alltäglichen verwaltungstechnischen Kommunikationen, Personallisten und Diensteinteilungen findet man hier aber auch viele Berichte bezüglich der Überwachung und Kontrolle der meist linken Opposition. Immer wieder tauchen aber auch Daten auf zu Verhaftungen von bisher als verschwunden geglaubten Personen und in manchen Fällen deren Übergabe ans Militär“, erklärt ein Mitglied des Forschungsteams des Archivprojektes. Diese und andere Informationen wurden vom Ombudsmann im März dieses Jahres in einem Bericht der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Fund des Archivs erweckte Hoffnung bei tausenden von Familienangehörigen von Opfern der Repressionspolitik in Guatemala. Während des bewaffneten Konfliktes war die Polizei – vor allem in der Hauptstadt – ein verlängerter Arm des Militärs. Obwohl Armeeinstanzen strategische Planungen zur Bevölkerungskontrolle erarbeiteten, wurden oft spezifische Aktionen dazu von Polizeieinheiten ausgeführt oder unterstützt. Zum Beispiel Hausdurchsuchungen, Razzien ganzer Viertel, Kontrollpunkte auf Straßen und auch systematische Überwachung von politisch oder gewerkschaftlich aktiven Persönlichkeiten und Infiltrierung in zivile Bewegungen. Oft endeten diese Aktionen mit der Gefangennahme oder Entführung von Personen, deren Folterung und oft auch außergerichtlichen Hinrichtung. Man nimmt sogar an, dass das heutige Archivgebäude einst zu solch menschenunwürdigen Zwecken diente.
Die wenigen laufenden gerichtlichen Prozesse gegen Verantwortliche von Menschenrechtsverbrechen stützen sich ausschließlich auf Zeugenaussagen und Resultate forensischer Ausgrabungen. „Die Öffnung der verschiedenen Staatsarchive ist ein wichtiger Schritt in der Erinnerungsarbeit, aber auch für die Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Erforschung der Verbrechen in den Archiven und die Ergänzung bisheriger Untersuchungen mit Archivmaterial hat eine besondere Bedeutung und bringt aktuelle und zukünftige gerichtliche Prozesse in eine andere Dimension“ erklärt Héctor Soto, Direktor des Zentrums für forensische Analyse und angewandte Wissenschaft (CAFCA).
Dies zeigt sich im Fall von Fernando García, einer von 45.000 verschwundenen Personen und Ehemann der Menschenrechtsaktivistin und Kongressabgeordneten Nineth Montenegro. Der Gewerkschafter García wurde 1984 von Polizeibeamten im Rahmen einer Straßenkontrolle verhaftet. Trotz intensiver Suche und gerichtlichen Verfügungen wurde seine Inhaftierung immer bestritten, bis zu dem Tag, als diese mit Archivdokumenten bestätigt werden konnte. Aufgrund der Dokumente ordnete ein Gericht Haftbefehle gegen vier teils immer noch aktive Polizeiagenten an und beschuldigt sie des Verbrechens des gewaltsamen Verschwindenlassens. Zwei dieser Agenten sind Anfang März dieses Jahres verhaftet worden.
Doch nicht nur die Polizeiarchive sind von großer Wichtigkeit. Im Februar 2008, einen Monat nach Amtsantritt, kündigte Präsident Álvaro Colóm im Rahmen des „Tages der Opfer des bewaffneten internen Konfliktes“ an, die Militärarchive zu öffnen und beauftragte den Friedenssekretär Orlando Blanco mit dem Aufbau einer Abteilung zur Bearbeitung und Analyse dieser Dokumente. Genau ein Jahr darauf wurde der Sitz der Friedensarchive des Sekretariats für Frieden eröffnet, mit dem Ziel, Dokumente aus der Zeit zwischen 1954 bis 1996 zu systematisieren, konservieren und analysieren. Doch bis heute weigert sich das Militär seine Archive abzugeben, mit dem Argument, dass es sich bei diesen um Dokumente der nationalen Sicherheit handle. Das kürzlich in Kraft getretene Gesetz für den öffentlichen Zugang zu Information staatlicher Institutionen hebt jedoch in seinem Artikel 24 hervor: „In keinem Fall kann Information bezüglich Untersuchungen von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als vertraulich oder mit Vorbehalt klassifiziert werden“.
Eine spezielle Kommission soll nun darüber entscheiden, welche Dokumente freigegeben werden und welche nicht. Auch wenn die dazu nötigen Richtlinien erst erarbeitet werden müssen, ist die Kommission bereits im Besitz von drei Militärplänen, während die Armee versucht, die Freigabe weiterer Dokumente so lange wie möglich hinauszuzögern. „Wir wissen nicht, um welche Menge von Dokumenten es sich handelt und wo sie sich befinden“, erklärt Marco Tulio Álvarez, Direktor des Friedensarchivs und Mitglied dieser Kommission. Es bestehe auch die Gefahr, dass Material vernichtet werden könnte. Die Armee selbst gibt als Argument gegen die Herausgabe der Dokumente deren frühere Vernichtung vor.
Obwohl der Schwerpunkt der Friedensarchive auf den Archiven des Militärs liegen sollte, werden auch Dokumente anderer staatlicher Behörden systematisiert und analysiert. So werden derzeit zum Beispiel Dokumente des sozialen Wohlfahrtssekretariats bezüglich der durchgeführten Adoptionen zur Zeit des bewaffneten Konfliktes bearbeitet. „Wir nehmen an, dass die Freigabe von Kindern zur Adoption zwischen 1976 und 1986 mit dem Verschwinden von tausenden von Kindern in Verbindung steht. In mindestens einem Fall können wir dies auch nachweisen“, erklärt Álvarez.
Doch die Erforschung von Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges ist nach wie vor keine ungefährliche Tätigkeit. Davon zeugt der Angriff auf einen mit dem Fall von F. García betrauten Mitarbeiters des Ombudsmannes, der schwer verletzt wurde oder die vorübergehende Entführung und ebenfalls schwere Verletzung der Frau des Ombudsmannes am Tag nach der Veröffentlichung seines ersten Berichtes über das Polizeiarchiv. Ebenso die phasenweise Überwachung des Personals des Archivprojektes und auch die Todesdrohungen gegen MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Freigabe der Militärbestände einsetzen.
Vielleicht ist dies eine Erklärung dafür, warum eines der wichtigsten Archive Lateinamerikas zur Aufklärung der jüngsten Geschichte vom guatemaltekischen Staat weder unterstützt noch geschützt wird, dieser jedoch dem Friedensarchiv, dessen klägliche Bestände nicht vergleichbar sind mit jenen des Polizeiarchivs, institutionelle Förderung gewährt.

Kein Vergessen. Nirgends

Bringt ein Mensch böswillig einen anderen um, so ist der Tatbestand des Mordes gegeben. Kann ihm oder ihr die Tat nachgewiesen werden, wird der oder die MörderIn nach geltendem Recht verurteilt. Dass dieser Grundsatz umso schwieriger einzufordern ist, je gravierender die begangene Menschenrechtsverletzung ausfällt, zeigen Knut Rauchfuss und Bianca Schmolze anhand von zwölf Beispielen in ihrem Buch Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit.
Alfredo Astiz ist einer der wenigen lateinamerikanischen Militärverbrecher, die man auch in Europa namentlich zuordnen kann. Dabei gehörte er keineswegs zu der absoluten Führungsriege der argentinischen Militärdiktatur, die das Land von 1976 bis 1983 regierte und die für Entführung, Folter und Mord von bis zu 30.000 Zivilpersonen verantwortlich ist.
Alfredo Astiz’ traurige Berühmtheit gründet sich auf einen Auftrag, dessen späteren Symbolcharakter er damals, im Jahr 1977, noch gar nicht abschätzen konnte. Der Geheimdienstler sollte sich als Spitzel in eine Angehörigenorganisation einschleusen, die öffentlich für die Herausgabe der Entführten demonstrierte. Astiz erfüllte seinen Auftrag derart gut, dass die Frauen und Mütter ihn schon bald den „blonden Engel“ nannten.
Er konnte zehn der Frauen an die Entführungskommandos denunzieren, bevor man ihn entdeckte. Und obwohl die Mütter der Plaza de Mayo heute zu Recht zur vielleicht berühmtesten NRO der Welt avanciert sind, sollte es fast 30 Jahre dauern, bis Astiz schließlich auch in Argentinien 2006 rechtskräftig verurteilt werden konnte.
Bis dahin war es ein weiter Weg, der sich über Knut Rauchfuss’ detaillierte Ausführungen nachvollziehen lässt. Denn viele der lateinamerikanischen Militärdiktaturen erließen Gesetze, welche die begangenen Menschenrechtsverletzungen unter Straffreiheit stellten, sodass es bis heute oftmals nicht möglich ist, die Täter von Verbrechen wie Entführung, Folter oder Mord juristisch zu belangen. Rauchfuss beschreibt, welcher juristischen Leistungen es bedarf, um in der verfahrenen Situation der Straffreiheit in Lateinamerika den Einzelerfolg einer Verurteilung oder gar einen nationalen Prozess wie die Wiederaufnahme der Verhandlungen in Argentinien in Gang zu setzen.
In fünf dicht recherchierten Kapiteln führt er aus, wie die zumindest formaldemokratischen Nachfolgeregierungen in Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Guatemala mit dem Erbe der Diktatur umgehen. Anhand der beiden Instrumente Amnestiegesetz und Wahrheitskommission zeigt Rauchfuss das Ringen um Strafverfolgung zwischen Regierung und Zivilbevölkerung, das nun schon mehrere Dekaden andauert.
Rauchfuss’ Ausführungen bleiben dabei immer basisorientiert, und der Autor hat mit seiner Gewichtung völlig Recht. Denn in vielen Fällen sind es gerade Einzelne, kleine Zusammenschlüsse von Angehörigen und Überlebenden des Staatsterrors, die sich dem staatlichen Willen zum Vergeben und Vergessen entgegenstellen.
Wie der Fall des paraguayischen Anwalts Martín Almada, der Anfang der 70er Jahre verdächtigt wurde, ein „Linker“ zu sein. Er teilte das Schicksal von vielen, er wurde entführt und gefoltert. Seine Frau musste sich zu Hause seine Schmerzensschreie über das Telefon anhören. Mit der Nachricht seines angeblichen Todes konfrontiert, starb sie an einem Herzinfarkt. Martín Almada jedoch überlebte und widmet seither sein Leben der Verfolgung der Militärverbrecher. Denn da, wo alle Bestrebungen des Staates und seiner Organe darauf hinauslaufen, abzuwiegeln und zu vergessen, kann die Forderung nach Gerechtigkeit nur von Zivilpersonen kommen. Mit erstaunlichem Mut, mit Beharrlichkeit und Kreativität fanden einige sogar Möglichkeiten, die Straflosigkeit zu unterwandern. Die Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter des Platzes der Mairevolution) etwa entdeckten mit dem Tatbestand der Kindesentführung ein Verbrechen, das nicht von der argentinischen Amnestieregelung gedeckt wurde. Heute gibt es sogar einen Paragraphen in der Internationalen Kinderrechtskonvention, der nach ihnen benannt ist.
Bianca Schmolze beschäftigt sich im zweiten Teil des Buches mit Ländern aus anderen Teilen der Welt wie Ruanda, Sierra Leone oder Osttimor, die ebenfalls eine Tragödie in der jüngeren Landesgeschichte aufzuarbeiten haben. Ein deutlicher Unterschied zu den Nachfolgeregierungen in Lateinamerika besteht jedoch darin, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen in den von Schmolze betrachteten Beispielen meist jüngeren Datums sind und ein überstaatliches Strafgericht zu deren Aufklärung eingriff.
Schmolze gelingt es, auch bei der Betrachtung der Internationalen Strafgerichtshöfe den basisorientierten Ansatz des Buches weiterzuverfolgen. Weniger als für die Täter interessiert sich Schmolze dafür, was die Tribunale für die oftmals stark traumatisierte Gesellschaft bedeuten können. Die Autorin zeigt, dass die Verurteilung einiger weniger Schlüsselfiguren von der Bevölkerung als zu abstrakt abgelehnt wird. Aufbauend auf den Erfahrungen aus den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda spannt Schmolze einen Bogen zum neueren Modell der gemischten Tribunale, wie sie etwa in Sierra Leone eingesetzt wurden. In diesen Hybridtribunalen, die auch auf nationale Belegschaft und Rechtsprechung zurückgreifen, sieht die Autorin zumindest eine Möglichkeit, der Bevölkerung erneut Vertrauen in ihre Regierung zu vermitteln.
Überraschend ist deshalb, dass in den letzten beiden Kapiteln, die sich ausschließlich mit dem ICTY beschäftigen, der basisorientierte Ansatz beinahe gänzlich aufgegeben wird. Wie es um die Glaubwürdigkeit des ICTY bei der Bevölkerung bestellt ist, wird hier nur gestreift.
Beide AutorInnen bemühen sich, dem Leser größtmögliche Aktualität zu gewährleisten. Was auffällig ist und unter dem Hinweis der „besseren Lesbarkeit“ fehlt, ist, neben einem vernünftigen Lektorat, das wohl der gebotenen Eile zum Opfer gefallen ist, ein Literaturverzeichnis. Zwar kann man auf der Website der NGO Gerechtigkeit heilt, bei der die AutorInnen auch Mitglieder sind, Bücher einsehen, aber natürlich fehlen auch hier die Verweise. Rauchfuss/Schmolze haben mit Kein Vergeben. Kein Vergessen einen wichtigen Beitrag zu einem wichtigen Thema vorgelegt, der ganz bewusst das Engagement der Einzelnen in den Vordergrund stellt, was in den „offiziellen“ Betrachtungen ja gerne etwas zu kurz kommt. Aber mit dieser Herangehensweise haben sie ihre eigene Abhandlung auch ins Niemandsland katapultiert: Vielleicht etwas zu detailreich für NormalleserInnen sind die Texte wissenschaftlich kaum weiter zu verwenden. Was schade ist, denn für dieses „Nirgends“ ist das Buch einfach zu gut.

Bianca Schmolze, Knut Rauchfuss (Hg.) // Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2009 // 422 Seiten // 20 Euro // www.assoziation-a.de

Die Sicht der Betroffenen

Am 16. und 17. April versammelten sich in Paraguays Hauptstadt Asunción über 100 Personen.Die große Mehrheit kommt aus den ländlichen Gebieten der Ostregion, um eine Koordination von Pestizidopfern auf nationaler Ebene aus der Taufe zu heben. Angesichts fehlender Antworten seitens der neuen Behörden wegen den Vergiftungen mit Pestiziden soll diese Koordination das Werkzeug sein, um sich kollektiv Gehör zu verschaffen.

Es war das erste Mal, dass Pestizidopfer so viel Platz in den Medien bekamen.

Zentral für den Kongress war der Protagonismus der direkt Betroffenen. Männer, Frauen und Kinder, Alte und Jugendliche kamen aus den Sojaanbaugebieten des Grenzgebietes zu Brasilien im Norden und Osten. Auch aus dem urbanisierten Landesteil Central kamen VertreterInnen. Es handelt sich um die Menschenrechtskoordination Ñemby, die seit 3 Jahren gegen die Pestizidfabrik Chemtec in ihrem Viertel Los Naranjos kämpft. Die unterstützenden Nichtregierungsorganisationen (NRO) beschränkten sich auf Logistik und Pressekontakte. Schnell stellte sich heraus, dass die Lage in Bezug auf Sojaanbau und Pestizide für alle VertreterInnen ähnlich ist: die Sojamonokulturen fressen sich wie ein Krebs immer weiter ins Land hinein. Dies kostet Menschenleben und zerstört die Lebensräume der Kleinbäuerinnen und -bauern und der Indigenen [dieses Problem existiert auch in der Amazonasregion, siehe Artikel in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.].
In vielen Landesteilen gibt es Schulen, die vollständig von Soja umgeben sind, wo die Kinder kilometerweit durch die Felder zur Schule kommen müssen. Wenn gesprüht wird, weigern sich viele Kinder, zur Schule zu gehen. Und diejenigen, die kommen, leiden sehr oft unter akuten Vergiftungserscheinungen wie Schwindel, Sehstörungen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Erbrechen. Aus dem Dorf Minga Pora aus Alto Paraná reiste eine Mutter mit 4 Kindern an. Minga Pora liegt an der Straße von Ciudad del Este Richtung Norden. Der Weg dorthin ist gepflastert mit Silos der multinationalen Konzerne Cargill, Bunge, ADM und Luis Dreyfus. Die Landschaft ist ausgeräumt, wo vor 20 oder 30 Jahren noch der atlantische Regenwald stand. Die Kinder, die das erste mal ihr Dorf verließen, stehen der anwesenden Presse Rede und Antwort und halten die roten Pusteln und abgelösten Hautflecken in die Kameras. Es war das erste Mal, das Pestizidopfer so viel Platz in den Medien bekamen. Sie waren in allen Fernsehkanälen mit Interviews präsent. Die Printmedien hingegen, blockierten jegliche Artikel über den Kongress, obwohl ihre JournalistInnen und FotografInnen vor Ort eine gute Arbeit leisteten und viel Sensibilität an den Tag legten.
Pedro Caballero, ein junger Bauernführer der Gemeinde Nueva Germania aus der Region San Pedro, wurde zu einem der vier Koordinatoren des Kongresses gewählt. Mit viel Elan und Hintergrundwissen geißelte er die Expansionspolitik der Konzerne des Agrobusiness in seinem Departement San Pedro: „Der Manager des bislang einzigen Silos am Hafen von Antequera am Río Paraguay hat mir gesagt, dass die benachbarten Grundstücke von Cargill, ADM, Dreyfus und anderen Firmen gekauft wurden. Die 85 Kilometer von Santa Rosa nach Antequera sind nun fertig asphaltiert. Der Transport der Soja wird viel einfacher und kostengünstiger. Täglich kommen mehr Brasilianer nach San Pedro, um Soja anzubauen. Im Silo von Antequera haben sie mir gesagt, dass viele Brasilianer nach San Pedro kommen wollen, weil die Erde hier noch jungfräulich sei. In Alto Paraná dagegen, wo sie heute noch zu hause sind, sei der Boden steril geworden wegen der Monokultur und den Pestiziden. Sie lassen eine Wüste zurück und machen sich nun daran, unser Territorium zu zerstören.“

Die Sojamonokulturen fressen sich wie ein Krebs immer weiter ins Land hinein.

In ihrer Analyse stimmten die RepräsentantInnen überein, dass es einen strukturellen Plan gibt, die bäuerliche Bevölkerung in Paraguay zu eliminieren. Jorge Galeano vom Movimiento Agrario y Popular erklärt die Pläne der Weltbank über schnelle Titulierung von Kleinbauernland und Sozialwohnungsbau rund um die städtischen Zentren: „Die schnelle Titulierung von Kleinbauernland dient dazu, dass die Familien in ihrer verzweifelten Situation zu einem besseren Preis und vor allem legal an die Sojafarmer verkaufen können. Um sie in der Stadt aufzunehmen, gibt es Kredite für sozialen Wohnungsbau. Eins ist glasklar: Die kleinbäuerliche Bevölkerung und die dezentrale Besiedelung des Landes sind ein Hindernis für die kapitalistische Inwertsetzung des Agrobusiness.“ Alle Anwesenden kritisierten die Zersplitterung der sozialen Organisationen, die oft verhindere, dass sie gemeinsam kämpfen. Diese Einheit ist aber umso wichtiger, weil alle Gemeinden und Organisationen die Rechtsmittel ausgeschöpft haben, um ihr Leben und ihre Umwelt zu verteidigen. Und es kommt noch schlimmer.
Im Parlament wurde das neue Pestizidgesetz in Rekordtempo von der großen Kammer angenommen. Es wurde von den rechten Parteien der Colorados und Oviedistas präsentiert, im Interesse der Sojaproduzenten. Es nimmt den Leuten die wenigen legalen Werkzeuge zu ihrer Verteidigung und übergibt alle Kompetenzen der Pflanzenschutzbehörde SENAVE, die traditionell auf Seite der chemischen und Agrarindustrie steht. Das Gesundheitsministerium soll kaltgestellt werden, denn dort haben viele Gemeinden in der Zwischenzeit Gehör gefunden. Etliche der TeilnehmerInnen arbeiten gemeinsam mit NRO in der Lobbyarbeit mit verschiedenen SenatorInnen, um die Annahme des Pestizidgesetzes in der kleinen Kammer zu vereiteln.
Als sich am Freitag, dem 17. April, die Umweltstaatsanwaltschaft weigerte, eine Delegation der anwesenden Kleinbäuerinnen und -bauern, in ihrem Protest gegen deren chronische Untätigkeit, zu empfangen, begannen die TeilnehmerInnen Farbe und Pinsel auszupacken und ihrem Unmut künstlerisch Ausdruck zu verleihen: Korrupte Staatsanwälte raus! Schluss mit Pestiziden! Es lebe das Leben! Soja tötet!

„Eins ist klar: Die kleinbäuerliche Bevölkerung ist ein Hindernis für die kapitalistische Inwertsetzung des Agrobusiness.“

Für den Nachmittag wurden verschiedene staatliche Institutionen eingeladen, doch nur vier Ministerien fanden den Weg zur Versammlung. Von der Umweltbehörde SEAM, dem Landreforminstitut INDERT, dem Erziehungsministerium und des Ministeriums für Kinder und Jugendliche. Letztere Institution wurde von der Ministerin Liz Torres persönlich vertreten. Sie hat ein Team geschaffen, welches gezielt zur Problematik von Pestiziden arbeitet. Sie sind in den Sojawüsten von Alto Paraná, Caaguazú und Canindeyú präsent, um die katastrophale Lage der eingeschlossenen indigenen Bevölkerung zu überwachen und entsprechende politische Schritte zu ihrem Schutz einzuleiten. Doch sie selber gab zu bedenken, dass „die ökonomischen Interessen in diesem Falle sehr groß sind und dass es eine Kraftanstrengung von breiten Schichten der Gesellschaft braucht, um das Leben von Indigenen- und Bauernkindern darüber zu stellen“. Auch Marta López vom Erziehungsministerium will eine Abteilung schaffen, die sich der Lage der eingeschlossenen Schulen annimmt und darüber hinaus eine Gratistelefonnummer einrichten, wo die Leute Pestizidsprühungen in der Nähe von Wohnhäusern und Schulen anzeigen können. Alle VertreterInnen der Regierung unterstrichen die Wichtigkeit der neuen Koordination von Pestizidopfern und boten institutionelle Zusammenarbeit an. Dies bedeutet eine politische Anerkennung dieser gemeinsamen Anstrengung, die es in der Zukunft erlauben wird, die Klagen zu bündeln und die Lobbyarbeit besser zu koordinieren.

Von Wandel keine Spur

Bei seiner Amtseinführung Mitte August des letzten Jahres sang Fernando Lugo in der Nacht ein Ständchen mit Hugo Chávez: „Cambia, todo cambia“ (Es ändert sich, alles ändert sich). Die Erwartungen in der Bevölkerung und den sozialen Bewegungen, dass schnelle Veränderungen eintreten würden, waren hoch. Mit Ecuador als Vorbild, träumten nicht wenige von einer verfassunggebenden Versammlung in Paraguay. Nach knapp acht Monaten Amtszeit ist jedoch nichts von dem erwünschten Wandel zu spüren. Die erwartete Allianz zwischen der Exekutive und den sozialen Bewegungen ist ausgeblieben. Die sozialen Bewegungen rechneten fest mit ihr, da Präsident Lugo eine Mehrheit im Parlament fehlt. Im Gegenteil sind jedoch viele alte und korrupte Kräfte weiterhin im politischen und Justizapparat verankert: Mitglieder der Colorado-Partei und der Partei UNACE, Ex-Militärs und Ex-Putschisten wie Lino Oviedo. Selbst Lugos wichtigste Verbündete, die liberale Partei PLRA, ist mittlerweile gespalten.
Anstelle von Wandel gibt es widersprüchliche politische Signale. Mit seinem sozialdemokratischen Innenminister Rafael Filizola reiste Lugo nach Chile und Kolumbien, wo Sicherheitsabkommen unterzeichnet wurden, in denen es um eine Kooperation auf dem Gebiet der Aufstandsbekämpfung geht. Beide Abkommen wurde in Paraguay nicht öffentlich diskutiert. Lugo besuchte auch noch den scheidenden US-Präsidenten George W. Bush. Dann aber wieder war Paraguays gewählter Präsident einer der Stargäste bei den Feierlichkeiten des Jahrestages der sandinistischen Revolution am 19. Juli 2008 in Managua.
Vielleicht hätte ein nüchtern-kritischer Blick auf Lugos MinisterInnenriege genügt, um die hohen Erwartungen von vornherein zu dämpfen. Das Kabinett entsprach nicht wirklich den strategischen politischen Zielen wie Landreform, Gesundheitsversorgung und Ausbildung für alle, die er in seinem Wahlkampf versprochen hatte. Es folgte in vielen Fällen eher einer klientelistischen Vergabepolitik. Der Pharmaunternehmer Martín Heisecke hatte Lugo in seinem Wahlkampf offen unterstützt, indem er ihm sein Privatflugzeug gratis zur Verfügung gestellt hatte. Heisecke erhielt nach Lugos Amtsantritt das Ministerium für Handel und Industrie. Zentrale Ministerien mit großen Budgets wie Verkehr und Landwirtschaft gingen an die liberale Partei. Für das Finanzministerium entdeckte Lugo Dionisio Borda neu. Der hatte unter Lugos Vorgänger Nicanor Duarte Frutos schon einmal dasselbe Amt inne, musste allerdings nach Massenprotesten zurücktreten, da er die neoliberalen Rezepte von Internationalem Währungsfonds und Weltbank durchsetzen wollte.
Zentral sind aus heutiger Sicht vor allem die Ministerien für Landwirtschaft und Gesundheitswesen. Die Berufung von Cándido Vera Bejarano als Landwirtschaftsminister provozierte ein erstes Donnergrollen innerhalb der sozialen Bewegungen, das vor allem von Seiten der Kleinbauernorganisationen kam. Vera Bejarano stammt aus einer alteingesessenen Familie aus San Pedro del Ycuamandyju, der Hauptstadt des Departamentos San Pedro, wo Lugo bis 2007 Bischof war. Die Vera Bejaranos sind Liberale, allerdings gehören sie zum reaktionären Flügel der Partei, der die Interessen der GroßgrundbesitzerInnen repräsentiert. Gesundheitsministerin wurde eine scheinbar progressive Kraft, Esperanza Martínez von der linken Volksbewegung Tekojoja. Doch ausgerechnet sie sollte diejenige werden, welche die offene Konfrontation zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen auslöste.
Ernsthafte Schritte in Richtung einer Landreform sind bis heute nicht in Sicht. Zwar erkämpfte das breite Basisbündnis Frente Social y Popular mit einer Massenmobilisierung Anfang November 2008 in Asunción die Gründung einer zentralen Koordinationsstelle für die Landreform CEPRA. Der neu geschaffenen Institution fehlen jedoch Gelder, um ihre Arbeit ernsthaft aufzunehmen. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob es der Regierung wirklich noch um eine Landreform im eigentlichen Sinne geht. Anfang Februar dieses Jahres äußerte Alberto Andrade, Minister für ländliche Entwicklung, dass es in der staatlichen Landreforminitiative weniger um die Neuverteilung von Land als vielmehr um ländliche Entwicklung gehe: landesweite direkte Unterstützung für 5.500 Familien in einem ersten Schritt und Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Straßen, Schulen und Kliniken.
Kleinbäuerliche Armut und Landlosigkeit im Kontrast mit Großgrundbesitz kennzeichnen die Departamentos San Pedro und Concepción, die nördlich der Hauptstadt Asunción im mittleren Teil des Landes liegen. Trotz der Nähe zur Hauptstadt sind sie Beispiele für vom Staat völlig vernachlässigte Gebiete. Der Großteil der bäuerlichen Bevölkerung lebt dort in extremer Armut. Es blüht vor allem der Anbau von Marihuana. Paraguay ist der größte Marihuanaproduzent Lateinamerikas. In der Region gibt es viele GroßgrundbesitzerInnen: ParaguayerInnen, die sich der extensiven Viehzucht und dem Holzschlag widmen, und BrasilianerInnen, die auf den agroindustriellen Anbau und die Produktion von gentechnisch manipulierter Soja setzen. Der Regierungswechsel in Asunción führte vermehrt zu Landstreitigkeiten zwischen ländlichen Gemeinden und GroßgrundbesitzerInnen. Mit Lugo als Hoffnungsträger mobilisierten sich die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie die Landlosen. Sie errichteten Zeltlager am Rande von umstrittenen Latifundien, die in einigen Fällen auch direkt besetzt wurden.
Die territoriale Kontrolle in den genannten Regionen wird jedoch von einer Mafia ausgeübt, die aus den korrupten Teilen von Polizei und Justizapparat, alteingesessenen PolitikerInnen und UnternehmerInnen besteht. Teil dieser Kontrolle sind die Morde an BauernführerInnen, die auch unter Lugo nicht gestoppt wurden. So erschossen im Januar dieses Jahres zwei Unbekannten Martín Ocampos, Direktor der Radiostation von Hugua Ñandú und Kleinbauernführer in Concepción.
In San Pedro und Concepción soll offiziellen Angaben nach zudem das Paraguayische Volksheer EPP agieren, eine Kleingruppe von bewaffneten Leuten um ehemalige Mitglieder der Partei Patria Libre. Paraguayische Medien behaupten, die EPP trage die Verantwortung für einige Entführungsfälle in der Gegend. Der bekannteste war der von Luis Lindstroem, Großgrundbesitzer und Ex-Bürgermeister von Tacuatí, der nach der Bezahlung einer enormen Lösegeldsumme wieder freigelassen wurde. Zum letzten Jahreswechsel wurde darüber hinaus der Militärposten von Tacuatí von vermummten und bewaffneten Personen überfallen. Der Posten steht auf dem privaten Land von Maris Lloren, Großgrundbesitzerin und Direktorin der paraguayischen Exportkammer REDIEX. Angeblich wurden nach dem Überfall Flugblätter des EPP gefunden. Auf den Überfall folgte eine massive mediale Kampagne im Land, deren Druck Fernando Lugo letztlich nachgab und den „Plan Jerovia“ in Gang setzte. Hunderte von SoldatInnen, PolizistInnen und StaatsanwältInnen fielen daraufhin in den Distrikten Tacuatí und Horqueta im Departamento Concepción ein, um die vermeintlichen Guerilla-KämpferInnen festzunehmen. Zimperlich ging man dabei nicht vor: Türen wurden eingetreten, Einrichtungsgegenstände und Nahrungsmittel gestohlen und viele Leute misshandelt. Auch Fälle von Folter wurden denunziert. Der bekannte Arzt und Menschenrechtsaktivist Joel Filartiga untersuchte betroffene Bauern und konnte unter anderem Abdrücke von Fingernägeln an ihren Hoden nachweisen. Die Gefolterten gaben an, dass die Militärs sie zwingen wollten, bekannte BauernführerInnen des Gebiets mit der vermeintlichen Guerilla in Verbindung zu bringen. Auch der ermordete Martín Ocampos wurde in die Ecke der EPP gerückt. Gegenüber einer Delegation von MenschenrechtsaktivistInnen, darunter die Nationale Menschenrechtskoordination von Paraguay CEDHUPY, sagten Mitte Januar etliche Kleinbauern und -bäuerinnen aus, dass sie sich nicht mehr trauen, aufs Feld arbeiten zu gehen aus Angst vor Schlägen, Verhaftungen und Verschleppungen.
Die gesammelten Zeugenaussagen wurden Präsident Lugo und dem Innenminister persönlich vorgetragen. Beide räumten zwar ein, dass es in Einzelfällen zu Folterungen gekommen und dies abscheulich sei. Doch würden sie sich nicht beirren lassen und die militärischen Aktionen fortsetzen. Da jedoch bis heute keine „Guerrilleros“ verhaftet werden konnten, verlagerte sich der Schwerpunkt der Aktionen darauf, Marihuanapflanzungen kurz vor der Ernte in schwer zugänglichen Gebieten zu vernichten.
Anhand von San Pedro lässt sich zeigen, wie sehr der von Lugo besungene Wandel auf sich warten lässt. Die alten Strukturen bestehen weiter und so befindet sich die Hauptstadt des Departamentos San Pedro immer noch fest in der Hand der Familie Vera Bejarano. Pastor Vera ist Bürgermeister der Stadt und des Distriktes, Ángel Vera Direktor des regionalen Krankenhauses und Cándido Vera, ein weiterer Bruder, ist Lugos Landwirtschaftsminister. Da Paraguay ein sehr zentralistisch verwalteter Staat ist, kommt nur relativ wenig Geld in den Departamentos an. Und das wenige Geld, das in San Pedro für das Gesundheitswesen bestimmt ist, verwaltet Ángel Vera, der sich lieber seiner Privatklinik als den Dienstzeiten im öffentlichen Spital widmet. Die staatlichen Mittel bleiben fast gänzlich im urban geprägten Distrikt San Pedro, das öffentliche Gesundheitswesen im Rest des Departamentos ist nahezu inexistent.
Als Gesundheitsministerin Esperanza Martínez bei Amtsantritt beschloss, einige wenige, sehr häufig verschriebene Medikamente gratis abzugeben, begannen die offenen Auseinandersetzungen zwischen Establishment und sozialen Bewegungen. Da die Veras die Apotheken in der Stadt kontrollieren, sahen sie ihr Geschäft in ernster Gefahr. Zu ihrem Unmut berief Ministerin Martínez auch noch die Ärztin Raquel Rodríguez zur Gesundheitsdirektorin von San Pedro. Rodríguez gilt als sehr kritische Ärztin mit einer ganzheitlichen Vision von Gesundheit. Sie begann eng mit dem Team des sehr populären Gouverneurs von San Pedro, José „Pakova“ Ledesma, zusammenzuarbeiten, mit dem sie ununterbrochen ländliche Gemeinden besuchte. In spontanen Versammlungen wurden dort die geplanten Konzepte vorgestellt und abschließend gemeinsam mit den BewohnerInnen eine Diagnose zum Gesundheitszustand der Bevölkerung von San Pedro erstellt. Eines der Resultate dieses Austauschs war ein äußerst kritischer Bericht für das Gesundheitsministerium über den negativen Einfluss der in den Sojamonokulturen eingesetzten Pestizide auf die menschliche Gesundheit. Dieser Bericht dürfte Landwirtschaftsminister Cándido Vera überhaupt nicht gefallen haben, denn er und seine Familie besitzen in San Pedro Tausende von Hektar Land, auf denen Soja angebaut wird.
Es kam daraufhin zu Auseinandersetzungen in der Stadt San Pedro. Ángel Vera organisierte mit anderen planilleros/as (BeamtInnen, die nur auf dem Papier in einer öffentlichen Institution arbeiten) aus dem Gesundheitswesen eine Demonstration von etwa Hundert Leuten zum Sitz der regionalen Gesundheitsdirektion, wo sie eindrangen und Raquel Rodríguez massiv einschüchterten und bedrohten. Polizei und Staatsanwaltschaft sahen dem Treiben tatenlos und halb belustigt zu. Am folgenden Tag demonstrierten 2.000 Bauern und Bäuerinnen für das Verbleiben von Rodríguez im Amt und strukturelle Veränderungen im Departamento San Pedro. Einige Zeit später riefen dann wiederum die alteingesessenen BeamtInnen des Gesundheitswesens zum Streik auf und zogen nochmals zur Gesundheitsdirektion. Dort wurden sie jedoch von der Polizei zurückgehalten und es kam zu einem kurzen, aber heftigen Schlagstock- und Tränengaseinsatz. Zum ersten Mal seit dem Machtwechsel erfuhren VertreterInnen der Oligarchie, was die arme Landbevölkerung seit Jahrzehnten gewohnt ist.
Während die Regierung Lugo bei Fällen von Repression gegen oder sogar Morden an BäuerInnen stets versuchte, die Schuld den Opfern zuzuschreiben, berief sie nun eine Untersuchung über die Amtsführung von Raquel Rodríguez ein und setzte diese befristet ab. Die sozialen Bewegungen reagierten im Rahmen eines neu geschaffenen, politischen Raumes, dem Espacio Unitario Popular del Departamento San Pedro, und mobilisierten innerhalb von acht Tagen insgesamt 17.000 Menschen. Nach einer Woche verkündete Gesundheitsministerin Martínez die Wiedereinsetzung von Raquel Rodríguez und die Protestierenden kehrten in ihre Dörfer zurück. Drei Tage später wurde Rodríguez jedoch erneut abgesetzt. Nun hat sie einen Posten im Gesundheitsministerium, der ihr den permanenten Kontakt zur ländlichen Bevölkerung unmöglich macht.
Die Verwerfungen zwischen Rodríguez und Martínez sind überraschend. Während des Wahlkampfes bildeten sie noch ein starkes Gespann bei der Ausarbeitung des nationalen Gesundheitsplans. Der Bruch mag persönliche Gründe haben, da Rodríguez aufgrund ihres Engagements viel, möglicherweise zu viel Zuspruch erhielt. Doch daneben gibt es wichtigere politische Gründe: Beide Ärztinnen arbeiteten viele Jahre für die Nichtregierungsorganisation CIRD, die Beratungen für die Gesundheitsprogramme von USAID durchführte. USAID, die staatliche Behörde der USA für Internationale Entwicklung, ist ein klassisches Instrument für US-amerikanische Einflussnahme. Doch Raquel Rodríguez begann seit ihrer Ankunft in San Pedro, sehr eng mit der regionalen Regierung von José Ledesma zusammenzuarbeiten. Diese wiederum ist bolivarianisch ausgerichtet und an lateinamerikanischer Integration interessiert. USAID ist im Gesundheitssektor von San Pedro mit Programmen und Projekten sehr präsent. Die Absetzung von Rodríguez und das Zurückdrängen des bolivarianischen Einflusses können als Bedingungen gesehen werden, um die Pläne von USAID in die Tat umzusetzen. Lugo scheint sich geopolitisch deutlich gegen die ALBA-Länder zu stellen. Darauf weist auch seine verstärkte Nähe zur US-Botschafterin Liliana Ayalde in Paraguay hin. Diese war „zufälligerweise“ vorher USAID-Direktorin in Kolumbien.
Lugo riskiert damit, von den sozialen Bewegungen nicht mehr als ein Partner für ein neues politisches Projekt angesehen zu werden. In einer Stellungnahme ruft der Espacio Unitario Popular die Bevölkerung von San Pedro dazu auf, den politischen Raum, der mit dem Wahlsieg am 20. April 2008 erobert wurde, zu verteidigen.

// Reto Sonderegger

Die ungelöste Landfrage

Fernando Lugo ist seit einem halbem Jahr im Amt. Sie sagten vor der Wahl, dass Sie mit einem Präsident Lugo keine allzu großen Hoffnungen verbänden.Sie sahen eher die Gefahr, dass seine Präsidentschaft zu einer großen Enttäuschung für die Landbevölkerung führen könnte. Haben sich Ihre Befürchtungen bestätigt?
Lugo hat große Erwartungen geweckt und nach den Wahlen sprachen ihm laut Umfragen über 90 Prozent der ParaguayerInnen das Vertrauen aus. Er erbat sich hundert Tage für den Beginn einer neuen Politik des Wandels. Ende Oktober endete diese Phase. Bis jetzt hat er jedoch noch keine wegweisenden Sachentscheidungen in Bezug auf die Landfrage getroffen. Er hat jedoch in einigen Personalfragen gut gehandelt, das gilt vor allem für den neuen Präsidenten des Nationalen Instituts für ländliche Entwicklung und Land (INDERT). Die Großgrundbesitzer, die Ultrarechten um Ex-General Lino Oviedo und natürlich die Colorado Partei üben jedoch großen Druck auf den Präsidenten aus. Wenn die Regierung diesem Druck nachgibt und sie nicht auf die Basisbewegungen zugeht, dann könnten Lugo und seine Regierung das Vertrauen der Bevölkerung verlieren. Wir als Kleinbauern müssen den Druck aufrecht erhalten, damit die Regierung auch tatsächlich die notwendigen progressiven Schritte unternimmt.

Die Verfolgungen von KleinbauernsprecherInnen und AktivistInnen auf dem Land gehen auch unter Lugo weiter. Wie erklären Sie sich das?
Das Justizwesen und die Polizei sind auch nach der Wahl noch Instrumente der Großgrundbesitzer und der Colorado-Partei geblieben. Beide Organe werden über Geld gesteuert. Mit dem Wahlerfolg Lugos im Rücken haben die Landlosen Hoffnung bekommen, dass sich endlich etwas zu ihren Gunsten ändert und deshalb ist der Kampf um Land in eine neue Runde gegangen. Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben wir Landbesetzungen organisiert. Die Polizei hat mit Verhaftungen geantwortet. Allein in Alto Paraná gab es im Oktober und November 164 Verhaftungen. Die Verfolgung durch die Polizei ist äußerst brutal. Im Moment haben wir wegen dieser Situation die Intensität der Landbesetzungen zurückgefahren, dafür tragen wir unsere Forderungen um so entschiedener dem INDERT und der Regierung vor. ASAGRAPA fordert von INDERT in Alta Paraná 70.000 Hektar Land, die sogenannte Tierra Maravilla, vor allem von Diktator Strössner an Günstlinge verschenktes Land. In Paraguay haben wir rund 300.000 Landlose. Um dieses Problem zu lösen, bräuchten wir etwa drei Millionen Hektar Land. Das klingt viel, ist aber relativ wenig, wenn man bedenkt, dass der Präsident des INDERT davon spricht, dass es sieben Millionen Hektar Tierra Maravilla in Paraguay gibt, die es gelte für den Staat zurück zu gewinnen. Wenn uns das gelänge, dann könnten wir den Landkonflikt in Paraguay auf lange Sicht lösen. Und damit auch die Entvölkerung Paraguays, die Migration, den Hunger sowie das Elend und die Gewalt in den Städten. Dagegen stehen jedoch die Soja- und Viehbarone, die ihren Besitz nicht nur verteidigen, sondern sogar noch ausdehnen wollen.

Auch Sie selbst haben die Repression zu spüren bekommen…
Ja, diese Geschichte begann bereits im Oktober 2007, als man mich wegen verschiedener Delikte anzeigte, die ich angeblich gegen die Sojaproduzenten begangen haben soll. Im März 2008 wurde ich dann wegen versuchten Totschlags angezeigt. Die „Ermittlungen” dauerten mehrere Monate, in denen die Staatsanwaltschaft keinen einzigen Beweis gegen mich vorbringen konnte. Wir haben dann selbst Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen die Staatsanwaltschaft erstattet. Die Sache endete mit dem Rücktritt des zuständigen Staatsanwalts. Im Oktober wurden dann der Vorwurf des versuchten Totschlags und eine weitere Anschuldigung fallengelassen. Drei Ermittlungsverfahren gegen mich laufen aber immer noch.

Angenommen es würden tatsächlich mehrere Millionen Hektar Land an landlose Kleinbauern und KleinbäuerInnen verteilt. Damit allein ist es ja noch nicht getan. Wie soll Ihrer Meinung nach eine moderne kleinbäuerliche Landwirtschaft aussehen?
Das Land erfüllt für uns Kleinbauern zwei Aufgaben: Es ist Produktionsmittel und Lebensraum. Neben der Landfrage geht es also um den Wiederaufbau ländlicher Gemeinschaften. Dazu gehören auch Handwerker und Transporteure, ein Vertriebssystem, Handelsunternehmen, um unsere Produkte an die Kunden zu bringen – alles was nachhaltiges Wirtschaften auf dem Land bedeutet. Ziel einer neuen Agrarpolitik muss es zudem sein, nicht nur Wenigen Exporterlöse zu garantieren, sondern die Ernährungssouveränität zur Priorität zu erklären. Beides schließt sich nicht aus, aber der Staat muss sehen, dass er am Soja-Exporterfolg beteiligt ist. Dazu gehört vor allem eine Exportsteuer, die in Brasilien fast 20 und in Argentinien 40 Prozent beträgt, in Paraguay aber abgeschafft wurde. Dieses Geld brauchen wir, um zum Beispiel eine umfassende Neuausrichtung der Landwirtschaftspolitik und des Neuaufbaus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu finanzieren.

In den ländlichen Regionen Paraguays sind auffallend viele Kinder und Alte zu sehen, aber kaum junge Menschen. Die meisten verlassen die ländlichen Regionen in Richtung der Städte oder ins Ausland. Wie soll das ländliche Paraguay ohne junge Menschen eine Zukunft haben?
Es ist richtig, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten eine gewaltige Migration von jungen Menschen vom Land nach Asunción und in andere Länder gab. Jetzt gibt es aber eine neue Situation. In den Städten Paraguays gibt es ebenfalls keine Arbeit, in Argentinien arbeitet die große Mehrheit der Paraguayer hart und für sehr wenig Geld, viele werden ausgebeutet und als Menschen zweiter Klasse behandelt. Die Möglichkeiten, in die USA oder nach Europa zu gelangen, sind heute minimal. Ich glaube, der Prozess der Migration hat seinen Höhepunkt bereits überschritten. Dagegen gibt es im Moment viel Jugendliche, die sich in der Bewegung engagieren. Unter den Landbesetzern sind zwei Drittel junge Menschen. Ich sehe also viel Enthusiasmus und viel Hoffnung bei den Jungen. Und ich glaube, dass wir den Jugendlichen wieder eine Perspektive auf dem Land geben können, auch im 21. Jahrhundert. Wenn es uns gelingt, die Landfrage in Paraguay zu beantworten.

// Interview: Markus Plate

Ein bisschen zu viel des Guten

Die härteste Kritik an Romanverfilmungen kommt meist aus der Fangemeinde der gedruckten Vorlage. Die Adaption, so der häufige Vorwurf, lasse vom Original nur wenig übrig. An El Niño Pez („Das Fischkind”) von Lucía Puenzo wird dies wohl kaum jemand bemängeln können. In ihrem nun zweiten Film, der auf der diesjährigen Berlinale in der Sektion Panorama lief, verarbeitet die argentinische Regisseurin ihren eigenen Debütroman von 2004. Und von den rund 170 Seiten des Werkes kann sie nicht viele ausgelassen haben.
Puenzos erster Film XXY, in welchem sie die Geschichte eines intersexuellen Menschen und dessen Konflikten mit gesellschaftlichen Normen erzählt, wurde hoch gelobt und vielfach ausgezeichnet. Und ähnlich wie XXY überzeugt auch El Niño Pez durch einen sehr feinfühligen Umgang mit den komplexen sozialen und emotionalen Konflikten der beiden Protagonistinnen. Doch hat sich Puenzo dieses Mal ein klein wenig zu viel vorgenommen.
Der Film erzählt von der Beziehung zweier junger Frauen, die einiges auf sich nehmen, um gemeinsam leben zu können. Lala, gespielt von Ines Efron, ist die Tochter eines angesehenen Richters aus Buenos Aires, Ailín ist Guaraní aus Paraguay und seit ihrem dreizehnten Lebensjahr die Hausangestellte der Familie. Neben ihrer Beziehung mit Lala hat Ailín auch noch ein Verhältnis mit Lalas Vater. Der behandelt sie mal wie seine Geliebte, mal wie eine zweite Tochter und im nächsten Moment wieder wie seine Dienerin.
Lala liebt Ailín abgöttisch und realisiert langsam, dass Ailín nicht willens oder fähig ist, ihre Zuneigung so exklusiv zu vergeben wie sie selbst. Kurz bevor die beiden zusammen nach Paraguay durchbrennen wollen, stirbt Lalas Vater eines unnatürlichen Todes, der Ausgangspunkt der Erzählung ist. Schon aus diesen Wirren und Konflikten hätte man einen Film mit Überlänge spinnen können.
Doch in den gut 90 Minuten von El Niño Pez geht es zudem noch um Korruption und rassistische Diskriminierung im argentinischen Polizei- und Justizapparat, sexuellen Missbrauch und die Legende des Fischkindes, die sich die Guaraní in Paraguay erzählen.
Nach dem Tod des Vaters fährt Lala allein nach Paraguay. In Ailíns Heimatdorf trifft sie deren Vater, dem sie durch beharrliches Nachfragen Informationen über eine frühe Schwangerschaft ihrer Freundin und den anschließenden Tod des Kindes abringen kann. Währenddessen wird Ailín als mutmaßliche Mörderin in Buenos Aires verhaftet und in eine Besserungsanstalt für Minderjährige gesteckt. Hinter Gittern wird ihr immer deutlicher, wie weit ihre und Lalas Lebenswelten voneinander entfernt sind. Dass der Film bei einer solchen Themenvielfalt alles andere als oberflächlich bleibt, muss der handwerklichen Klasse der Regisseurin zugeschrieben werden. Durch seine raffinierte unlineare Erzählweise mit einigen magisch-realistischen Elementen gelingt es dem Film, einen Eindruck von Lalas Gefühlschaos und den willkürlich aufblitzenden Erinnerungsfetzen zu vermitteln. Lucía Puenzo versteht es, mit wenigen Einstellungen und Worten darzustellen, was sie sagen will. Nichts scheint dem Zufall überlassen, kein Kameraschwenk und kein Ton der dezenten Filmmusik. Dabei wird die Regisseurin in El Niño Pez durch das herausragende Schauspiel der beiden Protagonistinnen, insbesondere Inés Efrons, unterstützt. Auf diese Weise entsteht ein sehr dichter Film, der seinem Publikum keine geistige Verschnaufpause zugesteht. Ein bisschen weniger wäre da vielleicht mehr gewesen. Nichtsdestotrotz, El Niño Pez ist mehr als sehenswert. Bleibt zu hoffen, dass er in Deutschland einen Verleih findet und bald in den Kinos anläuft.

// Jannes Bojert

El Niño Pez // Lucía Puenzo // Argentinien, Spanien, Frankreich 2009 // Berlinale Sektion Panorama Special

Kasten:
Gold, Silber und Teddy
Auf der diesjährigen 59. Berlinale gehörten die beiden Wettbewerbsfilme aus Lateinamerika zu den Gewinnern. Der Film La Teta Asustada („Die Milch des Leids“) der peruanischen Regisseurin Claudia Llosa gewann den Goldenen Bären für den besten Film. Mit einem Silbernen Bären als Großem Preis der Jury wurde der uruguayische Film Gigante ausgezeichnet. Dieser Film von Adrián Biniez hat bereits einen deutschen Verleih und wird voraussichtlich im Herbst dieses Jahres in den Kinos anlaufen.
Der Teddy-Award für den besten Queer-Film ging nach Mexiko für den Spielfilm Rabioso sol, rabioso cielo von Julián Hernández.

Investitionsschutz als Vorwand

Während Ihres Besuches in Deutschland trafen Sie sich auch mit Vertretern der Bundesregierung. Was genau wollen Sie erreichen?
Einer der Gründe für meine Reise war es, über das Investitionsschutzabkommen zwischen Deutschland und Paraguay zu sprechen. Dieses Abkommen wird vom Senat als eine Ausrede benutzt, um unserer indigenen Gemeinschaft der Sawhoyamaxa die Übergabe unseres angestammten Landes zu verwehren, für das wir seit 1991 kämpfen. Unser Ziel ist es, einen sicheren und würdigen Ort zum Leben zu erhalten, und zwar auf dem Land, auf dem unsere Vorfahren begraben liegen. Mitarbeiter der deutschen Regierung sagen zwar, dass es sich um eine interne Angelegenheit Paraguays handelt, haben uns gegenüber aber zumindest eingeräumt, dass das Abkommen einer Enteignung nicht prinzipiell im Wege steht.

Was haben Sie in Paraguay bisher unternommen, um Ihr Land wieder zu bekommen?
Wir haben sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene eine Kampagne gestartet. Denn das Problem betrifft nicht nur den Landerwerb in Paraguay, sondern die Verletzung der Menschenrechte im Allgemeinen. Der paraguayische Staat hat bisher jedoch noch keinerlei Anzeichen gemacht, einen Verhandlungsprozess mit dem Besitzer Heribert Rödel einzuleiten, obwohl er laut einem Gerichtsurteil des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte dazu verpflichtet ist.
Was genau hat der Gerichtshof beschlossen?
Der Gerichtshof hat 2006 beschlossen, dass kein internationaler Vertrag über den Menschenrechten stehen darf und Paraguay gegen diesen Grundsatz verstoßen hat. Dabei spielte nicht nur die Frage des Landbesitzes eine Rolle, sondern es ging auch um die unwürdigen Verhältnisse, in denen die Sawhoyamaxa leben. Durch die Vergabe von Land könnte die extreme Armut deutlich verringert werden.

Wie ist die Situation der Sawhoyamaxa zurzeit?
Wir leben am Rand einer Landstraße, direkt neben dem beanspruchten Land. Es gibt keinen ausreichenden Zugang zu Wasser, Bildung, medizinischer Versorgung und Lebensmitteln. Seit 2006 sind bereits 13 Menschen gestorben, an heilbaren Krankheiten oder durch Verkehrsunfälle. Diese Todesfälle sind darauf zurückzuführen, dass der paraguayische Staat nicht tätig geworden ist. Unsere Gemeinschaft lebt selbst an diesem Ort unter permanenter Bedrohung, gewaltsam geräumt zu werden. In Paraguay kommt es immer wieder zu gewaltsamen Räumungen durch Großgrundbesitzer.

Gibt es eine Art Vernetzung mit anderen Gruppen, die für Land kämpfen?
Auf kommunitärer und organisatorischer Ebene gibt es einige Initiativen. Eine Strategie ist auch, Allianzen mit Nichtregierungsorganisationen zu bilden. Die NRO können beispielsweise Unterstützung bei den juristischen Fragen leisten, wie dies in unserem Fall die Organisation Tierra Viva tut. Wir stehen auch in Kontakt mit kleinbäuerlichen Organisationen.

Der neue Präsident Fernando Lugo hat sich in der Vergangenheit häufig für eine Agrarreform ausgesprochen. Hat sich seit seiner Amtseinführung in diesem Punkt etwas getan?
Rhetorisch hat sich auf jeden Fall einiges geändert. Aber wir warten darauf, dass es wirklich den Wandel geben wird, von dem Lugo sprach. Eine Agrarreform wird bisher mit dem Argument verhindert, dass nicht genügend finanzielle Mittel vorhanden seien.

Laut Gesetz muss in Paraguay jede einzelne Enteignung vom Kongress beschlossen werden. Lugo hat allerdings in keiner der beiden Kammern eine Mehrheit. Was also könnte er überhaupt machen?
In unserem Fall denken wir, dass die einzige Möglichkeit wäre, dass Lugo ein Gesetz zur Enteignung in den Kongress einbringt und es dort diskutiert wird. Es ist aber auch denkbar, dass er alleine tatsächlich nichts machen kann. Denn viele der Abgeordneten und Senatoren besitzen selber große Ländereien im Chaco oder dem Osten Paraguays.

KASTEN

Landkonflikte in Paraguay
Paraguay verfügt über eine der ungerechtesten Landverteilungen der Welt. Auch viele deutsche StaatsbürgerInnen halten Latifundien in dem südamerikanischen Binnenland. Die Enteignung unproduktiver Ländereien ist juristisch zwar möglich, der aus Abgeordnetenhaus und Senat bestehende Kongress muss jedoch jedem einzelnen Fall zustimmen. Die Enteignung deutschen Landbesitzes wurde vom Senat in den letzten Jahren stets mit dem Hinweis auf das 1993 zwischen Deutschland und Paraguay geschlossene Investitionsschutzabkommen abgelehnt. Die über 400 Personen umfassende Gemeinschaft der Sawhoyamaxa beansprucht ihr angestammtes Land von gut 14.000 Hektar im Chaco-Gebiet. Da das Landstück zu einem insgesamt über 60.000 Hektar großen Anwesen des deutschen Großgrundbesitzers Heribert Rödel gehört, lehnte der Senat eine Enteignung ab. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Paraguay im März 2006 unter anderem dazu, das beanspruchte Land innerhalb von drei Jahren an die indigene Gemeinschaft zu übergeben (siehe LN 408).
// Tobias Lambert

Lateinamerikanisches Poesiefeuerwerk

Festivals wie in Lateinamerika, gibt es auch in anderen Teilen der Welt – aber es gibt da diesen lateinamerikanischen Zauber, der ein Feuer entfacht. Die Farben brennen, die Stirn glänzt, die Augen sehen hinter das feierliche Ambiente: Kälte und Schnee Berlins schienen durch das Wirken der PoetInnen aus Übersee geschmolzen zu sein.
Die Latinale 2008, die dritte Ausgabe des lateinamerikanischen Poesiefestivals, vereinte erneut PoetInnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas auf deutschem Boden. Sie ermöglichte ihrer Dichtkunst, uns einzuhüllen und in andere Sphären zu entführen – so, wie es eben nur die Poesie vermag. Das exzellente Team von Rike Bolte und Timo Berger war verantwortlich für diese bereichernde Reise nach Lateinamerika.
Einige Stimmen hinterließen einen ganz besonderen Eindruck. Die Mexikanerin Minerva Reynosa besitzt Stimme und Kraft ohne Grenzen; aus ihrem Gedicht UFO strahlt ein direktes Licht. Die Poetin benutzt in ihrem Werk Masken, die nicht verdecken, sondern eine neue Sprache offenbaren. Genau dadurch hinterlassen ihre Gedichte einen Nachgeschmack, eine Bewegung der Seele bei den HörerInnen. Spannung liegt in der Luft, wenn Montserrat Álvarez (Spanien/Paraguay) ihre Worte in den Raum schleudert. Die edle und präzise Wahl ihrer Formulierungen, ein Aufatmen, das Zurechtrücken des Pullovers, die Mütze – und wieder fällt ein Wort, fliegt und verhallt, als zupfe sie an einer Saite. Ihre Poesie vibriert und versetzt den HörerInnen innerlich in Bewegung. Auch Rafael Muñoz Zayas aus Panama ist die personifizierte Poesie. Er transportiert uns mit seinen ausgewählten Texten durch die Welt, mit Hilfe von Personen, Situationen und dem Leben selbst, mit klarer Stimme, dem nötigen Schweigen und – warum nicht? – dem Lachen. Dieser Poet offeriert mit seinen Versen eine Vision wie ein magisches Kaleidoskop für die vielen Augen der LeserInnen. Ohne „das Ganze“ aus den Augen zu verlieren, zeigt er uns ein Zentrum: visuelle Poesie, Realität, vor der man ein Paar Augen verschließen muss, um von den Versen nicht zu erblinden. Diese Welt und diese Verschwiegenheit. Luis Felipe Fabre aus Mexiko begegnet der Situation der sogenannten Dritten Welt gleichzeitig mit Koketterie und Spott. Seine Gedichte handeln von Wüste, Essen, Politik, der sozialen Tiefe eines sich im Taumel drehenden Landes, einem Volk, das sich nicht unterwerfen lässt. Mit seinem frischen Rhythmus bietet er Bilder, Legenden und corridos eines neuen Mexikos. Der aus Peru stammende Domingo de Ramos ist ein Rockstar der andinen Poesie. Er kennt das Mark seiner Texte wie ein Kind seine Kartensammlung. Mit erprobter und funktionaler Intonation präsentiert er sein Werk, welches auf dem unerschöpflichen Fundus der Legenden, Geschichten und Epochen Perus basiert und so reichhaltig ist wie dessen Täler und Gipfel der Anden. Die Worte des jungen venezolanischen Schriftstellers Eduardo Mariño schließlich kleiden sich in die Demut einer zittrigen Stimme, um sich gleich darauf in die aufrechte und sichere Haltung Evaristo Jiménez zu verwandeln. Das Alter-Ego in seinen Gedichten erteilt Lehren über die Kunst des Lebens. Mariño schreibt außerhalb des sterilen revolutionären Diskurses und trotzdem implizieren seine Verse den Beginn eines Kampfes, in dem man die Truppen kommen hört, die in Unheil beschwörendem Rhythmus marschieren.
Die Latinale 2008 – ein wandernder, mobiler Event – schaffte es erneut, würdige RepräsentantInnen der neuen lateinamerikanischen Literatur nach Deutschland zu bringen. Die literarischen Kostproben erreichten das Publikum wie ein Kaleidoskop der Stimmen und bereicherten die ZuhörerInnen auf dem Weg zum Verständnis der aktuellen Situation des Kontinents und seiner Realität.
// José V. Sández
// Übersetzung: Barbara Buxbaum

www.pepe-vazquez.blogspot.com

„Bolívars Traum wird umgesetzt werden“

Wie schätzen Sie die aktuellen Transformationsprozesse in Lateinamerika ein?
Ich denke, dass Bolívars Traum von den Vereinigten Staaten von Lateinamerika in zehn oder fünfzehn Jahren umgesetzt werden wird. Die Grenzen auf dem Subkontinent sind total künstlich. Wir haben dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselbe Sichtweise. Ich glaube, wir müssen dem Beispiel der Europäer folgen und einen lateinamerikanischen Markt schaffen. Der Rest wird sich von allein ergeben. Wie Bolívar es wollte.
Wir sehen, dass in Lateinamerika eine ganz neue Bewegung entstanden ist. Früher war es nur ein Traum zu denken, dass die Bevölkerung sozialistische Regierungen wählen würde. Aber jetzt gibt es die Prozesse in Venezuela, Kuba, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Brasilien und Uruguay. Das ist ein Prinzip: Früher waren alle lateinamerikanischen Regierungen so wie die aktuelle Regierung in Kolumbien. Militärdiktaturen oder Regierungen, die viel versprachen, aber nichts verändert haben.

Werden denn die jetzigen linken Regierungen ihren Ansprüchen gerecht?
Es sind einige positive Sachen umgesetzt worden. Aber die Angst ist, dass die Bevölkerung, die große Erwartungen gehabt hat, müde wird. Diese Angst existiert auch in Argentinien. Wenn die ökonomischen Probleme großer Teile der Bevölkerung nicht gelöst werden, wird die Bevölkerung müde. Und dann kommen vielleicht wieder die Militärs mit Hilfe der Vereinigten Staaten. Das war immer die Erfahrung, die Argentinien gemacht hat.

Wo verorten Sie Argentinien im lateinamerikanischen Zusammenhang?
Kirchner ist nicht so eine typische Repräsentantin des Kapitalismus. Der linke Peronismus, der manchmal auch ganz rechts sein kann, hat verschiedene Aspekte. Cristina hat in ihrer einjährigen Amtszeit bereits viele Fehler gemacht. Beispielsweise die gleiche Besteuerung der kleinen und der großen Landbesitzer. Zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte haben sich die kleinen und die großen Landbesitzer vereinigt. Die Regierung ist jetzt in einer so genannten Minderheitenregierung, eine Art Patt-Situation. Im Inneren Argentiniens hat Cristina sehr viel an Sympathie verloren. Auf der anderen Seite hat sich die Linke zusammen geschlossen und sie gegen die Großgrundbesitzer unterstützt. Jetzt herrscht eine Periode der Sprachlosigkeit. Fernández hat einige Abgeordnete im Kabinett ausgetauscht. Wir erwarten jetzt von dieser Regierung eine soziale Politik.

Besitzt Cristina Fernández de Kirchner denn innerhalb ihrer Partei eine Basis, auf die sie sich verlassen kann?
Der Peronismus ist im Moment total geteilt. Nur die Bürokraten der Gewerkschaftsdachverbände CGT und der CTA unterstützen Kirchner. Aber die kleine Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und verschiedene Gouverneure, die vorher für Kirchner waren, sind jetzt gegen die Regierung. Es ist eine Frage der Ethik, ob nach der Regierungszeit eines Präsidenten die Frau des Präsidenten an die Macht kommt. Das ist für eine Demokratie nicht richtig. Cristina hat als Senatorin viele gute Sachen gemacht, aber sie ist der Präsidentschaft nicht gewachsen.

Wie sieht die wirtschaftliche Situation unter der Regierung Fernández de Kirchner aus?
Die Inflation in der letzten Zeit ist nicht so groß, aber es ist wie immer: viele Arbeitslose, die Preise steigen jeden Monat und die Arbeiter müssen kämpfen, um mehr Gehalt zu bekommen. Und jetzt will Kirchner den Tren Bala, den Zug, der mit fast 300 Stundenkilometern fährt. Es ist ein staatliches Projekt, aber es gibt eine große Opposition gegen den Bau und scheinbar hat Argentinien gerade kein Geld, ihn umzusetzen. Dafür haben wir gekämpft – keine Luxuszüge, sondern keine hungernden Kinder.

Manche HistorikerInnen sind der Meinung, dass man angesichts der heutigen Probleme die Vergangenheit in Argentinien ruhen lassen sollte.
Wir haben beide Arten von Problemen, die der Geschichte und die heutigen. Warum gab es in Argentinien 14 Diktaturen? Warum hat nicht einmal jemand die Demokratie verteidigt? Wir hatten keinen Präsidenten wie Salvador Allende in Chile, der sich den Militärs entgegengestellt oder das Volk aufgerufen hat, die Demokratie zu verteidigen. Und in der Bevölkerung hat sich auch niemand bewegt.

Woran liegt es, dass sich in Argentinien niemand hinter die Demokratie gestellt hat?
Wir hatten nie wirklich ideologische Parteien. Chile hatte eine starke sozialistische Partei. In Argentinien war die sozialistische Partei sehr klein und hatte nur ein paar Repräsentanten in wenigen Städten. Die zwei großen Parteien, die immer gewählt wurden (die Peronistische und die Radikale Partei; Anm. D. Red.), waren nicht sehr klar umrissen. Der Peronismus hat sehr viel für die Arbeiter getan, aber es war kein Sozialismus, sondern Populismus. Die Zustände blieben wie immer, nur dass sich die Lebensbedingungen für die Arbeiter ein bisschen verbesserten. Mit der radikalen Partei war es ähnlich, eine Art liberale Partei.

Wie schätzen Sie die Vergangenheitspolitik der Kirchners ein?
Der erste, der etwas getan hat, war Néstor Kirchner, das muss man ganz laut sagen. Es geht ganz langsam voran, nicht so, wie wir wollten. Aber wenigstens müssen die ersten Verbrecher der Diktatur mittlerweile ins Gefängnis – nach 30 Jahren. Wir müssen weiter kämpfen, um die Sache zu beschleunigen, denn sonst werden alle wie Videla vor ihrer Haft sterben.
// Interview: Katja Fritsche

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Osvaldo Bayer
geboren 1927 in der argentinischen Provinz Santa Fe, ist unter anderem Anarchist, Publizist, Historiker, Menschenrechtsaktivist und Drehbuchautor. Berühmt wurde er unter anderem durch Werke wie Patagonia Rebelde über Arbeiteraufstände Anfang des 20. Jahrhunderts in Patagonien. Für die gleichnamige Verfilmung des Regisseurs Héctor Olivera schrieb Bayer das Drehbuch. Beide wurden wegen des Films politisch verfolgt. Bayer lebte von 1976 bis 83 im Exil in Deutschland. Von 1958 bis 1973 war er Redaktionssekretär der argentinischen Zeitung Clarín, später Herausgeber der Zeitschrift Imagen. Heute ist er Mitarbeiter der Tageszeitung Página 12 und war bis 2006 Professor für das Fach Menschenrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität von Buenos Aires.

Infrastruktur im Dienste des Großkapitals

Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 verfolgt die Initiative zur regionalen Infrastrukturintegration in Südamerika (IIRSA) eine Strategie der Einbindung Südamerikas in die Weltwirtschaft in den Bereichen Transport, Energie und Kommunikation. Die Region soll den dynamischen Zentren des Kapitalismus als Lieferantin von Agrarprodukten, Rohstoffen und Energie dienen. IIRSA umfasst 348 Projekte in einem Zeitraum von 20 Jahren bei annähernd 38 Milliarden Dollar Investitionskosten. Die Projekte verlaufen dabei entlang der so genannten zwölf Integrationsachsen, die sich, über ganz Südamerika erstreckend, miteinander verbinden.
Diese „Achsen“ fungieren als Korridore für den Rohstoffexport in die Industrieländer. Eine der wichtigsten Achsen ist die Amazoniens, welche die Pazifikhäfen Paita in Peru, Esmeraldas in Ecuador und Tumaco in Kolumbien mit der Amazonasmündung bei Belém verbinden soll. Durch diesen Korridor sollen vor allem Mineralien aus dem Andenraum nach Europa sowie in der Gegenrichtung Produkte Amazoniens wie Fleisch und Holz zu den Märkten Asiens und Nordamerikas transportiert werden.
Die zentrale interozeanische Achse zwischen Brasilien, Bolivien und Peru soll die Transportkosten des brasilianischen Agrobusiness für den Export zum Pazifik enorm reduzieren. Dies ist das erklärte Ziel zwei der umstrittensten Bauvorhaben: Rio Madeira, wo neben den Staudämmen eine Wasserstraße geplant ist, und die Interozeanische Straße, die bei 2.586 Kilometern Länge durch Peru die Anden überqueren soll. Des weiteren umfasst IIRSA ein Netz von Gaspipelines nach Bolivien und Peru sowie die Wasserstraße Paraná-Paraguay. Sie soll auf einer Länge von 3.442 km den Flusshafen Cáceres im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso mit Buenos Aires am Atlantik für den Export von Soja und anderen Rohstoffen verbinden.
IIRSA entstand auf Betreiben der IDB im August 2000 in Kooperation mit der Andinen Entwicklungskooperation (CAF) und dem Finanzfonds für die Entwicklung des Rio de la Plata Beckens (FONPLATA). Der damalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, wurde Schirmherr der IIRSA-Gründungsversammlung aller südamerikanischen Länder – mit Ausnahme von Französisch-Guyana. Seither hat sich zwar das Politikszenario in der Region deutlich gewandelt, aber die IIRSA besteht fort, mit Unterstützung aller Regierungen und ohne grundlegendes Hinterfragen durch die als links geltenden PräsidentInnen. IIRSA wurde hingegen von den sozialen Bewegungen, von WissenschaftlerInnen und Umwelt-NRO scharf kritisiert. Die Kritik bezieht sich auf die grundlegende Ausrichtung der IIRSA und auf die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Projekte: Sie wurden ohne Rücksicht auf die Belange der von den Bauten Betroffenen geplant.
Aus Sicht der KritikerInnen folgt IIRSA der gleichen Logik wie zuvor: Es werde die Abhängigkeit Südamerikas vom Norden erhöhen, die Ungleichheiten in der Region noch verschärfen und dabei den Aderlass an reichen Rohstoffen auf Kosten künftiger Generationen ausweiten. Außerdem erregt die Hegemonie brasilianischer Unternehmen – vor allem des Agrobusiness‘ und der großen Baufirmen – Argwohn, da diese voraussichtlich mit IIRSA am meisten zu gewinnen haben.
Die KritikerInnen haben von Beginn an auf die harschen Auswirkungen auf FlussanwohnerInnen, Indigene sowie Bäuerinnen und Bauern hingewiesen. „Die bisherigen Integrationsmodelle missachten die Identitäten der lokalen Bevölkerung, ihrer Kulturen und ihres Landes“, kritisiert Magnólia Said, Vorsitzende der NRO Esplar aus Fortaleza. Anstatt gefragt zu werden, ergänzt sie, werden die AnwohnerInnen aufgefordert, „sich einer Entwicklungslogik anzupassen, deren einziges fortwährendes Interesse die Interessen des Marktes sind“.
Der Großteil der IIRSA-Projekte findet sich in Regionen mit reicher Biodiversität, fragilen Ökosystemen und mit einer Bevölkerung, die Umweltveränderungen schutzlos ausgeliefert ist. Obwohl die Vorhaben als „nachhaltig“ deklariert werden, sind die Umweltfolgen unleugbar, in einigen Fällen gar zerstörerisch. Die Wasserstraßen und Dämme verändern die Flüsse, beeinträchtigen die Fischerei und bedrohen eine große Anzahl der Fische mit dem Aussterben. Die Straßen führen zwangsläufig zu weiterer Waldrodung. Bezeichnenderweise erfolgten seit 2006 die Bewilligungen zum Bau der Interozeanischen Straße ohne vorhergehende Umweltfolgenstudie. Es handelt sich um eine der an Biodiversität reichsten Regionen, die zur Zeit noch weitestgehend unberührt ist. Laut einer Studie der peruanischen Zivilgesellschaft werden der Region in zehn Jahren alle Zerstörungen durch Straßenbau widerfahren. Hinzu wird die geplante Straße ein Gebiet durchschneiden, in dem mehrere indigene Völker in selbstgewählter Isolation leben.
In der Technokratensprache der IIRSA werden geographische Gegebenheiten wie die Anden und der Amazonaswald als „Barrieren“ tituliert, die es im Namen des Fortschritts zu „überwinden“ gelte. Naturressourcen werden zu Lagerbeständen von zukünftig an den Terminmärkten zu handelnden Rohstoffen. Magnólia Said warnt, dass „die Umsetzung dieser Projekte die Beseitigung all dessen, was als Hindernis gilt, bewirken wird: jahrhunderte alte Bäume, kleine Ansiedlungen, Indigenengebiete, Quiolombolagemeinden, gemeinschaftliche Landwirtschaft sowie kulturelle Traditionen. Gleichzeitig aber bleibt die soziale Exklusion unberührt bestehen“.
Das brasilianische Amazonien durchlaufen vier der so genannten Integrationsachsen und beeinflussen damit ein Gebiet von 2,5 Millionen Hektar Land, ein Gebiet, in dem fast ein Viertel der indigenen Bevölkerung Brasiliens in 107 Indigenengebieten lebt. Weitere 484 Gebiete, die für den Erhalt der Biodiversität als prioritär klassifiziert sind, liegen in dieser Einflusszone. Der nordamerikanische Wissenschaftler Tim Killeen, Direktor des Nationalen Zentrums für Atmosphärenforschung nennt dieses Szenario den „perfekten Sturm im Wald Amazoniens“. Killeen kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die Auswirkungen der Transport-, Energie- und Kommunikationsprojekte von IIRSA den Großteil des Tropenwaldes Amazoniens in den nächsten Dekaden zerstören könnten.
Killeen skizziert den ansteigenden Druck auf das Ökosystem Amazoniens sowie seiner traditionellen BewohnerInnen und sieht die Ursachen in der Ausweitung von Land- und Viehwirtschaft, in der Ausbeute von Bodenschätzen und in der Rodung zur Holzgewinnung. Zudem werden die Anbauflächen für Bioenergie rapide ansteigen: „Fehlende Folgenabschätzung für IIRSA bedeutet einen perfekten Sturm der Umweltzerstörung. Der größte tropische Regenwald der Welt sowie die vielfachen Dienste, die er leistet, sind in Gefahr.“ Killeen resümiert, dass die größte Herausforderung in der Balance zwischen legitimen Entwicklungsaussichten und der Wahrung des amazonischen Ökosystems liege.
Hinzu kommt jedoch, dass IIRSA ein gewaltiges Demokratiedefizit innewohnt. Grundsätzlich werden die Projekte als bereits beschlossen bekannt gegeben. Die demokratische Debatte beschränkt sich dann auf die Wege und Mittel zur Anpassung an diese Unumkehrbarkeiten. In vielen Fällen wird die lokale Bevölkerung nicht über die direkten Konsequenzen der geplanten Bauten informiert.
Im ewigen Hader zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz lautet die nur selten gestellte Frage, welches die eigentlichen Interessen hinter diesen gleichsam pharaonischen Infrastrukturprojekten sind: Wem dient die zu produzierende Energie? Wer gewinnt am Warentransport? Wer sind die NutznießerInnen der schiffbaren Flüsse? Welche Strategie steckt dahinter? Für den Soziologen Luiz Fernando Novoa von der NRO Rede Brasil wird IIRSA durch die Interessen großer Firmen – vor allem nordamerikanischer, aber auch brasilianischer – geleitet, Firmen, die eine nie gesehene Kontrolle über die Naturressourcen Südamerikas erlangen werden. „Die Projekte richten sich an der Wettbewerbsfähigkeit nach außen aus. Sie dienen nicht dazu, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ländern zu vertiefen“, so Novoa. „Es handelt sich hierbei um eine Hierarchie der Prioritäten, die nicht mit den Interessen unserer Bevölkerungen korrespondiert“.
Die Logik von IIRSA ist – so Novoa – die Schaffung regelrechter „Unternehmensterritorien“, befreit von Herkunft, Kultur und interner Dynamik der Völker selber. „Regierungshandeln soll im Sinne der Unternehmenskonglomerate die Regeln zur Ausweitung der fortschreitenden Unternehmensfront schaffen und ausüben“, kritisiert Novoa und fügt hinzu: „Der Nationalstaat, die Bevölkerung und die Umwelt hängen dann von der Gnade privater Investitionen ab. Gleichzeitig sollen sie deren Bedingungen und Forderungen folgen. So werden wir letztlich zu Ausländern in unseren eigenen Staaten“.
Der Sektor der Energieproduktion ist hierzu beispielhaft: „Die wachsende Nachfrage nach Energie ist direkt gekoppelt an die Ausweitung energieintensiver Produktion wie Aluminium und Zellulose“, erläutert Elisângela Soldatelli Paim von der NRO Núcleo Amigos da Terra Brasil aus Porto Alegre. Der Staudamm von Tucuruí, gebaut in den 1970er Jahren mit immenser Umweltzerstörung und der Vertreibung von mehr als zwanzigtausend Menschen, liefert den Strom vor allem für die drei großen Aluminiumfabriken, die im brasilianischen Bundesstaat Pará angesiedelt wurden. Eine der Fabriken ist nordamerikanisch, die beiden anderen gehören der brasilianischen CVRD als Joint-Venture mit japanischem Kapital. Die brasilianische Regierung subventioniert die drei Firmen, aber die umgesiedelten BewohnerInnen bekamen weder eine Entschädigung, noch erhalten sie Strom. Während das Aluminium ins Ausland transportiert wird, werden die „externen Kosten“ lokal beglichen.
Doch auch die sich als „links“ bezeichnenden Regierungen werden von den GegnerInnen der IIRSA kritisiert. Ein Venezuela mit Hugo Chávez, das auf der einen Seite gegen das neoliberale Modell Initiativen wie ALBA, den Sender Telesur oder die Bank des Südens ins Felde führt, beteiligt sich nicht nur an IIRSA, sondern schlägt auch noch den Bau der Gaspipeline des Südens vor. Dabei geht es um ein pharaonisches Projekt, das von der Karibik bis nach Argentinien den amazonischen Wald durchschneiden, die Umwelt beeinträchtigen und die Lebensform der lokalen Bevölkerungen gefährden wird. Die Präsidenten Boliviens und Ecuadors, Evo Morales und Rafael Correa, erklärten noch im Dezember 2006, dass IIRSA einer neuen Orientierung im Interesse der Völker zu folgen habe. Dennoch sind Bolivien und Ecuador an mehreren IIRSA-Projekten beteiligt – und nicht alle entsprechen annehmbaren sozialen oder umweltgerechten Kriterien. Zwar hat sich die Regierung Morales dem Bau der Staudämme am Rio Madeira wegen der zu erwartenden Auswirkungen auf der bolivianischen Seite, wie Flutung von Land durch Rückstau der Dämme, widersetzt, aber angesichts der Aussicht auf brasilianische Unterstützung bei anderen Projekten diese Meinung geändert. „Diese Regierungen sind noch immer gefangen vom Glauben an wirtschaftliche Entwicklung durch Raub an Natur und Bevölkerung“, meint Mariângela Soldatelli Paim: „Die Frage ist, ob dieses kapitalistische Wirtschaftsmodell, nicht eher in seinen Grundstrukturen zu bekämpfen ist“.
Das Überlaufen der „bolivarianischen“ Regierungen zu IIRSA lässt eine Frage im Raume: Gibt es eine Alternative? Luiz Fernando Novoa glaubt daran: „Indem wir IIRSA kritisieren, bestreiten wir nicht die Notwendigkeit, Straßen, Eisenbahnstrecken, Wasserwege, Häfen und Flughäfen zu bauen oder in den Energie- und Telekommunikationssektor zu investieren“, stellt er klar. Wichtig, so Novoa, sei ein Umdenken, ein neuer Konsens, eine neue Ausrichtung in Bezug auf Infrastruktur und Integration: Indem die Binnenmärkte und die soziale Entwicklung zuerst berücksichtigt werden. „Die Produktion und Verteilung von Energie im Kontinent muss im Hinblick auf die Förderung regionaler Wirtschaftsdynamik erfolgen – und nicht als reiner Nachschub für die transnationalen Produktionsketten“, führt Novoa aus.
Gleichzeitig weist er die Kritik zurück, dass gegen IIRSA zu sein bedeute, den externen Markt zu ignorieren. „Es ist möglich und notwendig, die Exportpalette dahingehend zu diversifizieren, dass Einkommen und Jobs bei einem Minimum an Umweltschäden geschaffen werden“. Das werde aber nur mit einer öffentlichen Planung für den Bereich Infrastruktur erreicht, mit einer Planung, die sich stützt auf öffentliche Institutionen, in denen auch die Zivilgesellschaft vertreten ist. „Das wäre also das genaue Gegenteil von dem, was wir heute in Brasilien durchleben“, urteilt Novoa.
// Igor Fuser
// Übersetzung: LN
Copyleft Le Monde Diplomatique Brasilien, März 2008

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