Fokus Emanzipation

OrganisatorInnen sowie die große Mehrheit der TeilnehmerInnen zogen eine positive Bilanz des 3. Amerikanischen Sozialforums (FSA), das vom 7. bis 12. Oktober 2008 in Guatemala-Stadt veranstaltet wurde. Die eher überschaubare TeilnehmerInnenzahl sowie die Abwesenheit vieler bekannter Persönlichkeiten der globalisierungskritischen Bewegung öffneten den Raum für eingehende Diskussionen im kleinen Kreis. Es erstaunte kaum, dass die Anliegen der Indígena-Bewegung in Vordergrund standen, da deren Themen ähnlich wie in Bolivien oder Ecuador seit Jahren auf der Tagesordnung stehen. Überraschend war hingegen die breite Präsenz von Frauengruppen, denen es gelang, die Diskussion über Herausforderungen eines neuen Feminismus zum zweiten zentralen Diskussionsstrang dieses Forums zu machen.
Dabei waren die Ausgangsbedingungen alles andere als günstig. Es gab unzählige organisatorische Schwierigkeiten, zumal die Behörden Guatemalas in Vorfeld versucht hatten, die Ausrichtung des FSA zu blockieren. Als endlich die nationale San Carlos Universität (USAC) als Veranstaltungsort errungen werden konnte, weigerte sich die Unileitung, dem Forum vernünftige Räume zur Verfügung zu stellen. So fand das Forum in Mitten des Lehrbetriebs statt, viele Räume wurden abwechselnd von Forumsveranstaltungen und normalen Uni-Seminaren genutzt. Es mangelte auch an gemeinsamen Treffpunkten, die dem FSA einen verbindlicheren Charakter gegeben hätte. Da die USAC weit außerhalb liegt, kam es jenseits der Veranstaltungen kaum zu gemeinsamen Aktionen. Andererseits war es das erste Mal, dass ein solches Forum in Mittelamerika stattfand, einer Region, die auf der politischen Landkarte der wichtigsten Bewegungen Südamerikas weit entfernt liegt. Um so wichtiger das politische Signal, dass die globalisierungskritische Bewegung auch auf dem Isthmus zwischen Mexiko und Kolumbien präsent ist.
Auf dem Campus war die Stimmung gut, aus ganz Amerika waren Delegationen, VertreterInnen sozialer Bewegungen, AktivistInnen und WissenschaftlerInnen angereist. Die offiziell knapp 7.000 TeilnehmerInnen verteilten sich auf weit über Hundert Veranstaltungen, die nach sechs Themengruppen sortiert waren. Es ging um regionale Integration, Militarisierung, Perspektiven der sozialen Bewegungen angesichts der Aufbruchstimmung in Südamerika sowie Reaktion auf die zunehmende Kriminalisierung dieser Akteure, Femizid, Solidarität mit der indigenen Regierung Boliviens und vieles mehr. Präsent war auch eine Vielzahl alternativer Medien, die im Geflecht der sozialen Bewegungen eine immer wichtigere Rolle einnehmen. In einem Zentrum unabhängiger Medien, das ebenfalls unter Raummangel und technischen Barrieren zu leiden hatte, versammelten sich MedienvertreterInnen des ganzen Kontinents und berichteten in Text, Ton und Bild über das Geschehen. Mehrere Radioinitiativen, darunter Pulsar aus Buenos Aires und Brasilien, Aler aus Ecuador und Onda aus Berlin, berichteten live per streaming oder mittels Reportagen auf ihren Internetseiten. Ein wichtiges Gegengewicht zu dem weitgehenden Boykott seitens der guatemaltekischen Massenmedien, die dem FSA in all den Tagen nur wenige Zeilen und kaum Sendeplatz widmeten. Ein wichtiges Thema war die Diskussion um ein Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und der Europäischen Union. Weit weniger bekannt als die Einigungsbemühungen mit dem südamerikanischen Mercosur, ist es den lokalen Bewegungen umso wichtiger, auf die sozialen Auswirkungen eines solchen Abkommens hinzuweisen. Ganz im Gegensatz zur offiziellen Lesart würde ein solches Abkommen wie schon im Fall von Mexiko höchstens bestimmten Wirtschaftssektoren, aber nicht der verarmten Bevölkerung zu Gute kommen. Erstaunlich in diesem Zusammenhang, dass die momentane Finanzkrise kaum thematisiert wurde, obwohl doch gerade dieser Kollaps des neoliberalen Dogmas zeigt, wie wenig die altbekannten Vorschläge zur Wirtschaftsförderung eine nachhaltige Ökonomie herbeiführen.
Trotz des generell herrschenden Konsens bezüglich der Kritik des herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systems in der Region sowie bezüglich der Rolle und Forderungen der sozialen Bewegungen als ProtagonistInnen der Veränderung, gab es zumindest an einem Punkt handfesten Streit: Nicaragua und die Politik des umstrittenen Präsidenten Daniel Ortega. Für einige AktivistInnen ist das neu-sandinistische Nicaragua ein weiteres Land, dass sich in die Gruppe der fortschrittlichen Regierungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador – nach eher gemäßigter Lesart auch Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile und Argentinien – einreiht. Andere hingegen prangerten den autoritären Regierungsstil Ortegas und das Ausbleiben einer sozialen Politik bei zugleich höchst revolutionärer Rhetorik an und kritisierten vor allem dessen reaktionäre Haltung in Sachen Abtreibung. Insbesondere Frauengruppen verwehrten sich dagegen, einen Präsidenten, der allen Forderungen nach Selbstbestimmung von Frauen eine Absage erteilt, als fortschrittlich zu bezeichnen. Schade – wenn auch vorhersehbar – war, dass Boliviens Präsident Evo Morales seinen geplanten Besuch kurzfristig absagte. Es wäre ein wichtiges Signal gewesen, wenn der Repräsentant eines jahrelangen und erfolgreichen Indígena-Kampfes aus Südamerika zu den Menschen in Guatemala, die einen ähnlichen Leidensweg haben, aber bisher noch wenig politische Errungenschaften vorweisen können, gesprochen hätte. Zwar bedeutet die Präsidentschaft von Álvaro Colom durchaus einen gewissen Fortschritt für das nach wie vor durch Repression und Kriegsfolgen gekennzeichnete Guatemala, doch beschränkt sich dieser angesichts vieler Kompromisse mit althergebrachten Machthabern eher auf Gesten denn auf konkrete Veränderungen.
Eine dieser Gesten sind die riesigen Transparente an der Fassade des Präsidentenpalastes mit den Konterfeis der beiden Präsidenten, die vor dem Putsch von 1954 einen neunjährigen politischen Frühling in dem zentralamerikanischen Land ermöglicht hatten. Die Abschlussdemonstration des 3. Amerikanischen Sozialforums entsprach mit rund 2.000 Menschen nicht ganz den Erwartungen. Dass sie am Sonntagmittag auf dem zentralen Platz von Guatemala-Stadt unter dem Augenschein dieser beiden Präsidenten Arévalo und Árbenz stattfand, wäre allerdings vor gerade einmal zehn Jahren undenkbar gewesen. Wirklich Neues hat es auf dem Treffen nicht gegeben, doch es zeigt sich, dass die von einigen schon tot gesagte Organisation der Sozialforen immer noch ein wichtiger Anziehungspunkt für die Bewegung darstellt. Viele der Diskussion wurden allerdings schon vorzeitig vertagt, mit Hinweis auf das Weltsozialforum, dass Ende Januar 2009 in der Amazonasregion stattfinden wird. Austragungsort wird das brasilianische Belém sein (siehe Schwerpunkt in dieser Ausgabe), wo sich dann entscheiden dürfte, ob Foren, die nur breiten Diskussionen und dem Austausch dienen, aber keine politischen Richtlinien verabschieden, auch das nächste Jahrzehnt noch schmücken werden.
// Andreas Behn

Schwieriger Weg zum Wandel

Eine klare Linie sieht anders aus. In den ersten Tagen seiner Regierung positionierte sich Präsident Fernando Lugo Méndez zunächst an der Seite von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Direkt nach seiner Amtseinführung empfing er seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez. Doch inzwischen hat er mehrfach abgewiegelt und sich auf Chile und Uruguay als Vorbilder berufen. Je nachdem, woher der Druck kommt, gibt er – zumindest in seinen Reden – nach.
Die größte Kraft der Regierung ist die Unterstützung und das Vertrauen vieler gesellschaftlicher Sektoren, die ihre Hoffnungen in Lugo setzen. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Colorado-Partei hoffen die bisher vom politischen System Ausgeschlossenen auf einen grundlegenden Wandel. Doch deshalb steht die Regierung auch unter einem enormen Druck: Wenn sie es nicht schafft, schnell spürbare Lösungen für die drängendsten sozialen Probleme zu finden, könnte es mit dieser Unterstützung schnell wieder vorbei sein.
Die Regierung wird es nicht leicht haben, die Erwartungen zu erfüllen. Das größte Problem sind die Altlasten des vorhergehenden Systems. Die Colorado-Partei und die mit ihr verbündeten AgrarunternehmerInnen besitzen weiterhin Einfluss auf die Legislative und Judikative des Landes. Im Parlament haben die Abgeordneten der Opposition eine Mehrheit.
Und auch innerhalb der staatlichen Institutionen sind die alten Mächte noch präsent. In den Ministerien wurden nur die Führungskader ausgewechselt. Das bedeutet, dass der größte Teil der alten MitarbeiterInnen übernommen wurde. Diese werden wohl innerhalb der betreffenden Institutionen mindestens passiven Widerstand leisten.
Aus diesem Grund vermochte es die neue Regierung bisher nicht, einen strukturellen Wandel einzuleiten. Vielmehr handelt es sich um einen Übergangsprozess, der verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Möglichkeiten bietet, sich zu organisieren und Kräfte zu akkumulieren.
Wichtigste Plattform der „neuen“ politischen Akteure ist die Sozial-Populäre Front (FSP). Die FSP wurde nach dem Wahlsieg vom 20. April von verschiedenen Basisorganisationen als Instanz gegründet, welche die Debatten, Analysen und Vorschläge der sozialen Bewegungen bündeln und der neuen Regierung vortragen soll. Damit wollen die beteiligten Organisationen eine Politik der öffentlichen Hand erreichen, die auch wirklich für die Interessen der Armen und Ausgeschlossenen arbeitet. In der FSP sind über 100 Organisationen vereinigt. Darunter sind Kleinbauern und -bäuerinnen, Indígenas, Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Obdachlose, arbeitende Kinder, KünstlerInnen, StudentInnen, RentnerInnen, kleine und mittlere Unternehmen und die Sozialpastorale der katholischen Kirche. Dabei betont die FSP, von der neuen Regierung unabhängig zu sein. Wichtigstes Ergebnis der Arbeit ist ein so genannter agrarischer Notstandsplan. Er zielt darauf ab, die bäuerliche Familienlandwirtschaft wieder zu beleben und zu stärken.
Das Landwirtschaftsministerium hat diesen Plan aber bislang nicht akzeptiert. Der neue Landwirtschaftsminister Cándido Vera Bejarano ist ein Mann ohne neue Visionen. Er will mit Gentechnologie die Welt vor dem Hunger retten. Andererseits ist die FSP bei der Agrarreformbehörde INDERT auf offene Ohren gestoßen. In der obersten Hierarchie der Behörde sitzen seit Lugos Regierungsantritt Vertrauensleute der FSP. Auch im Gesundheitsministerium oder der Indigenenbehörde INDI sitzen nun Leute aus den sozialen Bewegungen oder wenigstens solche, die deren Vertrauen genießen, auf verantwortungsvollen Posten.
Ein anderes Problem ist, dass es die Regierung bis heute nicht geschafft hat, materielle Antworten auf die Klagen der Bevölkerung zu finden. Dies hat seine Gründe auch in der fünfmonatigen Übergangszeit zwischen April und August, also dem Wahlsieg Lugos und seiner Amtsübernahme. In dieser Zeit plünderten die Mitglieder der früheren Regierung regelrecht die Institutionen des Staates: Gelder landeten in den Taschen der PolitikerInnen und etliche Archive wurden zerstört, um Spuren zu vernichten. Der damalige Präsident Nicanor Duarte Frutos sabotierte alle Versuche, derartige Exzesse zu kontrollieren oder einzudämmen.
Um diese von Korruption geprägte Situation zu beenden, wären juristische Schritte und Gerichtsverfahren nötig. Die Justiz liegt jedoch weiterhin in den Händen der Mafia aus GroßgrundbesitzerInnen sowie Drogen- und Waffenschmugglern um den ehemaligen Präsidenten Nicanor Duarte Frutos. Das Justizsystem ist das Bollwerk der Colorado-Partei. Sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes wurden auf Fingerzeig Duarte Frutos‘ ernannt. Eine unabhängige Justiz existiert nicht einmal in Ansätzen. Auch die Staatsanwaltschaft wird von der Colorado-Partei kontrolliert.
Doch langsam bekommt die Hegemonie der Colorados und ihrer Verbündeten Risse. Auf dem Land mobilisieren derzeit Landlose, Indigene sowie Kleinbäuerinnen und -bauern in 130 Zeltlagern gegen die mechanisierte und gentechnische Landwirtschaft in Monokulturen. Sie fordern, dass der Großgrundbesitz neu vermessen wird, um irregulär angeeignetes Staatsland zu identifizieren. Dazu legte die Agrarreformbehörde INDERT kürzlich einen Bericht vor, wonach fast acht Millionen Hektar Staatsland illegal an die Parteielite, Militärs und UnternehmerInnen verteilt wurde. Die Landlosen fordern die Enteignung und Neuverteilung dieser illegal angeeigneten Ländereien.
Auf der anderen Seite mobilisieren die Landlosen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern gegen Umweltverschmutzung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Dabei geht es vor allem um die massive Besprühung von Sojamonokulturen mit Pestiziden, von denen die Gemeinden betroffen sind, die neben den Latifundien liegen. Dabei erhalten sie auch Unterstützung vom Gesundheitsministerium, das immer stärker die negativen Folgen des massiven Pestizideinsatzes für die Bevölkerung in Paraguay thematisiert. Ebenfalls wenden sich die Menschen in den Protestcamps gegen die Vernichtung von Sumpflandschaften und den letzten Wäldern.
Obwohl sich die Camps nicht auf Privatland befinden, geht die Staatsanwaltschaft repressiv gegen die Mobilisierungen vor. Seit dem 15. August räumte die Polizei bereits 27 Protestcamps. Dabei wurden viele Leute verhaftet und verletzt. Doch die Repression der GroßgrundbesitzerInnen und der mit ihnen verbündeten Staatsanwaltschaft beschränkt sich nicht auf Räumungen. Am 4. August wurde in Paraguarí Sindulfo Britez, ein Anführer der paraguayischen Bauernbewegung MCP, in seinem eigenen Haus ermordet. Mutmaßlich waren die TäterInnen AuftragsmörderInnen, die von GroßgrundbesitzerInnen bezahlt wurden. Am 3. Oktober wurde Bienvenido Melgarejo ermordet, diesmal waren die Täter PolizistInnen. Es gibt Berichte, dass sich um die 800 brasilianische Paramilitärs in Paraguay befinden, die im Auftrag der GroßgrundbesitzerInnen die anstehende Soja-Aussaat schützen sollen.
In der Provinz San Pedro stoppten Kleinbäuerinnen und -bauern schon einige Traktoren der Sojabauern und wurden dafür kriminalisiert. Die Spannung steigt täglich. Die Systemfrage in der Landwirtschaft wird sich in Paraguay in den nächsten Wochen noch dringlicher stellen, denn für die Kleinbäuerinnen und Landlosen geht es ums Überleben. Wenn sie es nicht schaffen, in diesem Jahr die Sojaexpansion zu bremsen, sind sie zum Untergang verurteilt.
Die alten Eliten aus Colorado-PolitikerInnen, Militärs, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen, die seit Jahrzehnten daran gewöhnt sind, die praktischen AlleinherrscherInnen Paraguays zu sein, versuchten noch aggressiver, ihre Macht zu bewahren. Anfang September machte Präsident Fernando Lugo im Fernsehen eine Putschverschwörung öffentlich. Dabei handelte es sich um ein Treffen im Haus des Ex-Generals Lino César Oviedo mit Ex-Präsident Nicanor Duarte Frutos, Generalstaatsanwalt Rubén Candia Amarilla und Juan Manuel Morales vom Obersten Wahlgericht. Zu ihrem Treffen luden sie General Máximo Díaz ein, Verbindungsmann zwischen Parlament und Streitkräften. Von ihm wollten sie wissen, was das Heer von der Krise im Senat hält, wo die Regierung kaum über Rückhalt verfügt. Der General antwortete, dass dies ein politisches Problem sei und er sich als Militär dazu nicht äußern könne. Am nächsten Morgen berichtete er dem Präsidenten von dem Treffen. Wegen General Díaz‘ Warnungen konnte dieser Putschversuch im Keim erstickt werden. Doch zeigt sich, dass der Konflikt um die Zukunft Paraguays noch viel Sprengstoff birgt.
Der soziale Prozess, den Lugo auf den Präsidentensitz gehievt hat, ist von seiner Schwäche und Improvisation gekennzeichnet. Keinesfalls kann man den Prozess in Paraguay mit dem in Bolivien vergleichen, wo die sozialen Bewegungen der Motor der Veränderung waren.
Die nächsten Wochen werden wegweisend sein. Der Wille von Lugo, die Familien der Kleinbäuerinnen und -bauern vor der Vergiftungen durch Pestizide zu schützen, scheint da zu sein. Doch der Druck der SojaproduzentInnen ist enorm. Es bleibt zu hoffen, dass sich die neue Regierung in diesem Spannungsfeld geschickt und strategisch verhält und Paraguay eine weitere Eskalation der Gewalt erspart bleibt.

Agrarbusiness setzt sich durch

Der Konflikt zwischen der Regierung und den AgrarproduzentInnen in Argentinien wurde zumindest für den Moment beigelegt. Indem Vizepräsident Julio Cobos bei der Abstimmung über die Erhöhung der Quellensteuer für Agrarexporte mit einer überraschenden Geste im Senat für eine Pattsituation sorgte, wurde das entsprechende Gesetz nicht verabschiedet.
Die Steuer auf Exporte wurde ursprünglich als Dekret entworfen, aufgrund der Proteste im Landwirtschaftssektor schließlich aber dennoch dem Parlament vorgelegt. Anfang Juli stimmten die Abgeordneten in der zweiten Kammer des Parlamentes knapp für die Vorlage. Im Senat kam diese aufgrund des unerwarteten Votums des Vizepräsidenten allerdings nicht durch. Das Verhalten von Cobos und die Pattsituation im Senat sind Ausdruck einer tiefen politischen Spaltung in der Frage, welches die Ziele und Instrumente der ökonomischen Entwicklung sind. Um zu verstehen, wer die Abstimmung im Senat vom 18. Juli 2008 gewonnen hat, lohnt es sich zu rekapitulieren, wer die AgrarproduzentInnen, ihre politischen Alliierten und ihre GegnerInnen sind.
Von den rund 330.000 landwirtschaftlichen ProduzentInnen in Argentinien waren etwa 70.000 in die Proteste der letzten Monate verwickelt. Ihre Anbauflächen befinden sich in der so genannten Feuchtpampa, die die Provinzen von Buenos Aires, Entre Rios, Santa Fé, La Pampa und Teile der Provinz Córdoba umfasst. Hier konzentrieren sich 88 Prozent der Sojaproduktion des Landes.
Die große Mehrheit der AgrarproduzentInnen sind hingegen Kleinbauern und -bäuerinnen, die auf ihren Anbauflächen leben und den Binnenmarkt beliefern. Diese wären von den vorgesehenen erhöhten Exportzöllen nicht betroffen gewesen. Die Steuererhöhung hätte vielmehr die AgrarexporteurInnen getroffen, allen voran die SojaexporteurInnen.
Soja wird auf riesigen Flächen angebaut. Die Sojaproduktion boomt seit Mitte der 1990er Jahre und wird vornehmlich von Familien der Oberschicht betrieben. Ebenso wie in Paraguay und seit einiger Zeit in Brasilien wurden auch in Argentinien Kleinbauern und -bäuerinnen und BesitzerInnen von kleinen Parzellen von ihrem Boden vertrieben und zum Verkauf ihres Landes gezwungen. Die erfolgreichen Proteste der Landbesitzervereinigungen bekräftigen nun dieses Modell, anstatt es in Frage zu stellen.
Wer aber sind die GegnerInnen der geplanten Erhöhung der Exportzölle? Sie vereinen einerseits Opponenten des „Kirchnerismus“ wie Elisa Carrío, die eigentlich den Mitte-Links-Flügel der argentinischen Politik repräsentiert, und Eduardo Duhalde, der Nestór Kirchner in seiner Anfangszeit als Präsident unterstützt hatte. Andererseits lehnten der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, sowie die Brüder Rodríguez Saa oder Carlos Reutemann als Repräsentanten der Rechten die Maßnahmen ab.
Bei den Gewerkschaften spaltete sich [an der Frage der Exportzölle, Anm. d. Red.] die peronistische CGT. Die unabhängigen Gewerkschaften wie die CTA unterstützten ebenso wie die Menschenrechtsorganisationen die Regierung.
Auch Intellektuelle äußerten sich zum Thema. Eine Gruppe von „ÖkonomInnen gegen den Lockout“, zu der einige namhafte VertreterInnen der argentinischen Nationalakademie gehören, schrieb in ihrem Blog: „Die Steuern sind ein Werkzeug, um zu verhindern, dass die ansteigenden internationalen Preise die nationalen Preise beeinflussen und um eine diversifizierte Produktion zu begünstigen.” Sie erklärten, dass durch derartige Steuern die Inflation kontrolliert werden könne, weil sie sich auf lange Sicht positiv auf einen wettbewerbsfähigen Wechselkurs auswirkten. Die Proteste der SteuergegnerInnen beurteilten sie folgendermaßen: „Wir sehen mit Besorgnis, dass der aktuelle Druck zum Ziel hat, den regulativen Spielraum des Staates zu beschränken.“
Der Ökonom Mario Rapoport hat eine Analyse der Beziehungen zwischen dem Agrarexportsektor und der argentinischen Politik im 20. Jahrhundert durchgeführt. Er zeigt dabei auf, wie sich die durch große Gewinne mächtig gewordene Agraroligarchie immer wieder dem demokratischen Projekt widersetzte und die Politik destabilisierte. So wurde beispielsweise das wiederholte Scheitern des Präsidenten Hipólito Yrigoyen (1919, 1922 und 1924) beim Versuch, eine Steuer auf die Gewinne zu erheben, wie heute von einer konservativen Mehrheit im Senat vereitelt. Außerdem erklärt Rapoport, dass „die Konzentration des Landes nicht nur ein Hindernis in Bezug auf die produktive Verarbeitungskette ist, sondern durch die politische Macht der Landbesitzer auch verhindert, dass die Gewinne des Agrarsektors durch eine Grundsteuer oder relevante Exportzölle belegt werden.“
Das ist der Charakter des Konfliktes um die Exportabgaben in Argentinien. Dabei ist es wichtig zu verstehen, wer hier wen repräsentiert, ganz unabhängig von einer Bewertung über die Art der Auseinandersetzung. Die Niederlage der Regierung Cristina Fernández de Kirchner markiert eine Neugruppierung der Kräfte der Rechten innerhalb und außerhalb des Peronismus. Und die Wahl von Mauricio Macri in Buenos Aires hat gezeigt, dass die argentinische Rechte, die durch das „Sie sollen alle abhauen“(„Que se vayan todos“, Ende 2001) einen herben Schlag erlitten hatte, sich neu gesammelt hat und nicht wenige Anhänger mobilisieren kann.
Das, was in Argentinien passiert ist, ist für andere Agrarexportländer wie Uruguay sehr lehrreich. Die Lebensmittelpreise explodieren und die Preise für fruchtbares Land steigen weiter an. Studien zeigen, dass das außergewöhnliche Wachstum des Agrarsektors in Uruguay nicht nach unten durchgesickert ist: Die Beschäftigungszahlen im Agrarsektor sind zurückgegangen und die Löhne sind gesunken.
Erinnern wir uns, dass der Batllismus [zurückgehend auf den Reformpräsidenten José Batlle y Ordoñez, Anm. des Übers.] zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf der Basis der Gewinne entstanden ist, welche auf dem Land geschaffen wurden und welche unter der Mittelklasse, den ArbeiterInnen und dem Staat verteilt wurden. Und erinnern wir uns, dass der zweite Batllismus versuchte, dieses Modell neu aufzulegen. Die Phasen des ersten und zweiten Batllismus sind in Uruguay diejenigen Perioden des 20. Jahrhunderts mit dem höchsten Wohlstand, sie werden als „goldene Zeit“ erinnert. Ohne einen eingreifenden Staat, der in der Lage ist, die Gewinnsucht der Agrarexporteliten zu begrenzen, wäre dieses Modell der sozialen Modernisierung in der uruguayischen Geschichte nicht möglich gewesen. Was wir zurzeit in Argentinien sehen ist eine Auseinandersetzung eines neuen Typs, die jedoch auf einem alten politischen Konflikt beruht. Ein Konflikt, der unsere Länder bestimmt hat, seit wir unabhängig wurden.

Heilung statt Revolution

Von Paraguays Hauptstadt Asunción geht es auf einer der wenigen asphaltierten Landstraßen Richtung Osten. Nach drei Fahrtstunden verlässt der alte Geländewagen der Kleinbauernorganisation MCNOC den Asphalt und müht sich vier weitere Stunden über Lehmstraßen gen Süden. MCNOC betreut derzeit etwa 300 Landbesetzungen. Gut zwei Wochen vor den Wahlen am 20. April befindet sich Belarmino Balbuena auf Wahlkampftour in entlegene Kleinbauerngemeinden. Nebenher ist er Vorsitzender der Sozialistischen Allianz für den Wandel. Diese unterstützt neben fast einem Dutzend anderer Gruppen den ehemaligen Bischof und mittlerweile gewählten Präsidenten Fernando Lugo.
Auf den ersten Blick ist San Francisco eine arme, aber friedliche Gemeinde. Kleine, einfachste Gehöfte an einem Bach, Mais- und Baumwollfelder. Kühe, Schweine, Hühner, Pferdekarren und immer wieder Waldstücke. In einem Kilometer Entfernung, auf den Hügeln rund um das Dorf herum, liegen Sojafelder und breiten sich von dort scheinbar endlos in Richtung Osten aus. Diese Sojafelder bergen politischen Sprengstoff. Bauernführer Belarmino erklärt warum: „Die Soja-Latifundien erdrücken die Bauern hier, rücken immer näher an die Weiler heran. Auch hier in der Gegend gibt es Besetzungen von Brachland und dann schicken die Großgrundbesitzer Polizei und Militär.“ Viel Gewalt habe es gerade in der letzten Zeit gegeben, ein Bauernsprecher sei sogar ermordet worden, berichtet Belarmino weiter.
Der seit Jahrzehnten von der Colorado-Partei dominierte Staat zeigt Präsenz, wenn die Interessen der SojafarmerInnen tangiert werden. Dagegen tut er für die Kleinbauern und -bäuerinnen, die immerhin fast 40 Prozent der Bevölkerung Paraguays ausmachen, nichts. Die Straßen zu den Weilern sind schlecht, ebenso die wenigen staatlichen Schulen. Einen Gesundheitsposten gibt es weit und breit nicht. In den durch die Soja-Monokulturen eingekesselten Dörfern stirbt langsam das wirtschaftliche Leben, erklärt Belarmino, da sich „in dieser Isolation kein Handel entwickeln kann“. So gebe es keine Ersatzteile, kaum noch Geschäfte und keine Arbeit.
Doch nicht nur das wirtschaftliche Leben stirbt: Weiter Richtung Osten, in Richtung Brasilien, verläuft die Landstraße stundenlang an Sojafeldern entlang. Ab und an durch verlassene Weiler, deren Bauern und Bäuerinnen in den letzten Jahren aufgeben mussten. Hier und da vorbei an kleinen Baumgruppen, wo noch vor dreißig Jahren atlantischer Urwald wuchs. Dort, wo die Sojafelder gerade abgeerntet sind, wirken sie aufgrund ihrer schieren Ausmaße und des fehlenden Waldes fast wie eine Wüstenlandschaft. Dort wo die Ernte kurz bevorsteht, schimmern sie bis zum Horizont fast künstlich grün.
Fast die gesamte Sojaproduktion in Paraguay ist gentechnisch manipuliert und benötigt einen massiven Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Der Wind treibt die Giftstoffe hinüber in die Weiler und Dörfer, wo sie Äcker, Vieh und Menschen vergiften. Oft, so Belarmino, würden die Gemeinden bewusst besprüht, um sie zum Aufgeben zu zwingen. Ein Vorwurf, den Regine Kretschmer bestätigen kann. Die deutsche Anthropologin arbeitet seit vielen Jahren im Osten Paraguays mit Kleinbauerngemeinden zusammen: „Die Bauern hier errichten menschliche Mauern gegen die Traktoren, die mit ihren Pestiziden bewusst gegen die Dörfer vorrücken.“ Die Regierung der Colorados antworte wiederum mit Polizeieinsätzen, offiziell, um die Sojaernte zu schützen.
Bauer Ramón, keine vierzig Jahre alt, erzählt von seinen neun Kindern, wie stolz er ist, dass alle früh morgens die fünf Kilometer zur Schule marschieren, wie sehr er sich abrackert, um das Geld zusammen zu kratzen, um wenigstens einem den College-Besuch zu ermöglichen. Wie viele in den von Soja umringten Gemeinden ist er verzweifelt, versteht nicht, warum für die campesin@s kein Platz in Paraguay sein soll. „Wir Kleinbauern leiden oft Hunger, aber wenn wir brachliegendes Land nutzen, schicken sie immer das Militär. Dabei haben die doch wirklich genug Land.“
Bei den Präsidentschaftswahlen Ende April ist den Colorados jedoch ein wichtiger und vielleicht entscheidender Teil der Macht abhanden gekommen. Mit seiner Allianz aus Liberalen, SozialistInnen, campesin@s und einem halben Dutzend weiterer Gruppen hat es Fernando Lugo geschafft, rund 40 Prozent der Stimmen einzufahren. Da es in Paraguay keine Stichwahl gibt und die relative Mehrheit der Stimmen reicht, wird Lugo der nächste Präsident des Landes.
Lugo, ehemaliger Bischof von San Pedro im Norden Paraguays und Anhänger der Befreiungstheologie, kennt die Probleme auf dem Land genau. Er hat jahrelang Kleinbauerngemeinden und Landlose unterstützt und genießt gerade unter ihnen große Unterstützung. Paraguays Kleinbauern und -bäuerinnen mag es zwar dreckig gehen, aber allein zahlenmäßig sind sie eine Macht. Außerdem politisieren sie sich zunehmend, organisieren und vernetzen sich. Seinen Sieg hat der zukünftige Präsident so nicht zuletzt ihnen zu verdanken. Der Landkonflikt ist das brennendste soziale Problem des Landes – Lugo steht hier also unter erheblichem Erwartungsdruck.
Lugos Programm indes spiegelte von Anfang an den Minimalkonsens seiner Allianz wieder: Der allgegenwärtigen Korruption, durch die sich die Colorados jahrzehntelang bereicherten, wird der Kampf angesagt. Die große Mehrheit der ParaguayerInnen hält das nicht nur für bitter nötig, sondern traut Lugo hier auch Erfolge zu, was ein weiterer Grund für Lugos Wahlsieg war. Des Weiteren soll die Unabhängigkeit der Justiz, die sich fest in der Hand und zu Diensten der Colorados befindet, wiederhergestellt werden.
Der versprochene und ersehnte Wandel auf dem Land ist indes längst nicht gewiss. Denn Lugos Allianz vereint auch den liberalen Teil von Paraguays Oligarchie, die sich vor allem einer Landreform widersetzen dürfte. Gerade deswegen gibt es einige AkteurInnen im Land, die Lugos Chancen nach dem Wahlsieg pessimistisch betrachten. Tomás Zayas von der Kleinbauernorganisation ASAGRAPA zum Beispiel spricht in Bezug auf Lugos Wahlbündnis von einer sozialreformistischen Allianz à la Bachelet, Lula oder Vázquez. Diese werde keineswegs irgendwelche Besitzverhältnisse auf dem Land anrühren und dürfte deswegen gerade für die KleinbäuerInnen zu einer herben Enttäuschung werden.
Auch der Umweltaktivist Diego Segovia vom sozialwissenschaftlichen Institut BASE IS sieht angesichts seiner heterogenen Allianz kaum Gestaltungsspielraum für Lugo. Diese ist im Parlament gegenüber den Colorados zudem in der Minderheit.
Also keine Landreform, kein Kampf den Sojabaronen, der Gentechnik, der massiven Umweltzerstörung, der Landflucht, der Emigration? Ist Lugo noch vor seiner Vereidigung gescheitert? Nein, Lugo habe eine Reihe von Möglichkeiten, die er nutzen werde – diese Position ist links von der Mitte immer noch die bestimmende. Vor allem besteht hier die Hoffnung, dass mit einer veränderten Politik die Staatskassen gefüllt werden können und die Regierung Lugo mit diesem Geld einen bislang unbekannten Gestaltungsspielraum erhält.
So will Lugo zunächst mit Brasilien über den Vertrag von Itaipú verhandeln. Hier betreiben die beiden Länder seit Anfang der siebziger Jahre ein riesiges Wasserkraftwerk. Laut Vertrag steht beiden Partnern 50 Prozent des erzeugten Stroms zu, dieser darf jedoch nicht an Dritte verkauft werden.
Da Paraguay seinen Anteil nicht verbrauchen kann, muss es ihn zum Erzeugerpreis an Brasilien verkaufen. Der Erzeugerpreis beträgt jedoch nur einen Bruchteil des Marktpreises. Für Brasilien ein Riesengeschäft. Lugo will nachverhandeln, ist dabei aber vom Wohlwollen Brasiliens abhängig. Immerhin hat sich Lula bisher gesprächsbereit gezeigt.
Exportsteuern könnten ein weiteres Element von Lugos Regierungspolitik werden. Bislang zahlen Paraguays GroßgrundbesitzerInnen überhaupt keine Steuern für den massenhaften Export der lukrativen Sojabohne. In Argentinien hingegen beträgt der Steuersatz rund 40 Prozent auf den Exporterlös. Das ist, was Tomás Zayas als sozialreformistisch kritisiert: Das kleinbäuerliche Leben und die Umwelt würden weiterhin zerstört, „aber man lässt sich das wenigstens gut bezahlen.“ Gelingt zudem der Kampf gegen die Korruption zumindest in Teilen, könnten dem Staat in Zukunft Hunderte Millionen US-Dollar zur Verfügung stehen. Genug Geld, um das bewusst kaputt gesparte öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem zu reformieren. Genug, um staatliche Programme zur Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft aufzulegen. Genug für Sozialprogramme, für Wirtschaftsförderung, für Straßenbau.
Ob das gelingt, ist eine ganz andere Frage. Colorados und Rechte dominieren weiterhin den Kongress, Lugo wird also Kompromisse machen oder mit Dekreten und Vetos regieren müssen. Die Parlamentsmehrheit der Colorados ist die Quittung für das Versagen, aus dem Anti-Colorado-Lager mehr zu machen, als einen reinen Lugo-Wahlverein. Denn sämtliche Parteien und Gruppierungen in Lugos Allianz traten bei den Parlamentswahlen getrennt an und verschenkten so im Kongress eine Mehrheit. So kommen ernsthafte Zweifel an ihrer politischen Handlungsfähigkeit auf.
Fernando Lugo hatte sich im Wahlkampf dazu entschlossen, mehr versöhnlich denn agitativ aufzutreten – und dabei ist es bislang geblieben. Der Landkonflikt spielt in den Debatten kaum eine Rolle, eine Landreform noch weniger. Die Colorados seien eigentlich eine gute Partei, die von einer bösen Machtclique entführt worden sei, so Lugo. Das Land müsse geheilt werden, predigte er auf seinem „Marsch der Hoffnung“ gut eine Woche vor der Wahl in Asunción. Heilung hört sich nicht nach revolutionären Veränderungen an, die viele für bitter nötig halten.
Klar ist jedoch: Ein Präsident Lugo wird bei zukünftigen Besetzungen von Brachland wohl nicht mehr die Armee schicken und Gifteinsätze gegen die Landbevölkerung nicht mit Polizeieinsätzen begleiten lassen. Es wird also eine politische Debatte, vielleicht einen Dialog, vielleicht auch einen Konflikt zwischen Regierung und Parlament geben. Der Landkonflikt steht so zwar nicht vor einer Lösung, aber er ist endlich auf der Tagesordnung.
Und in erster Linie bedeutet der Wahlsieg des Ex-Bischofs das Ende der seit sechs Jahrzehnten währenden Herrschaft der Colorados. Das wird mittlerweile als epochaleres Ereignis angesehen, als das Ende der Stroessner-Diktatur 1989. Die Colorados könnten, so die Hoffnung in Paraguay, in Zukunft noch mehr Terrain verlieren. Oder, wie Wahlkämpfer Belarmino sagt: „Wir haben jetzt die Möglichkeit, in den nächsten fünf Jahren zumindest die politische Kultur und spätestens danach das Land zu revolutionieren.“

Deutsch-Land in Paraguay

„Fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik, bei nur 2,8 Millionen Einwohnern, bietet Paraguay noch viel Raum und heißt Investoren willkommen. Wir, das große Farm-Management-Unternehmen in Paraguay unter deutscher Leitung, helfen dem Anleger bei seiner Investitionsentscheidung. Daher: Über uns ins freie Paraguay“. Anzeigen wie diese fanden sich in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zuhauf in deutschen Tageszeitungen. Oft zwielichtige Unternehmen buhlten um das Geld deutscher AnlegerInnen und boten im Gegenzug dafür Landtitel an. Sie versprachen – in kaum zu überbietenden Euphemismen – nicht nur ein stabiles und freiheitlich gesinntes Paraguay ohne soziale Konflikte, sondern auch ein Land, das fernab der Konfliktzonen des Kalten Krieges ein sicheres „zweites Standbein“ für investitionswillige Deutsche bereitstelle. Die Diktatur des deutschstämmigen Generals Alfredo Stroessner (1954-1989) galt als verlässliches Bollwerk gegen den Kommunismus. Die guten Beziehungen zur BRD sowie den tausenden deutschen EinwanderInnen und die versprochenen hohen Renditen machten Paraguay zu einem attraktiven Ziel westdeutschen Kapitals. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte ein permanenter Zuzug aus dem deutschen Reich eingesetzt, später bot das „freie“ Paraguay zahlreichen Nazis ein neues und sicheres Domizil.
Infolge der früheren Landkäufe besitzen deutsche StaatsbürgerInnen noch immer einen beträchtlichen Teil paraguayischen Landes. Genaue Zahlen existieren nicht, da die Nationalität der LandbesitzerInnen in den Landtiteln nicht vermerkt ist. Viele Latifundien, die einst Deutsche erworben haben, liegen brach. Die BesitzerInnen haben sich oft seit Jahren nicht blicken lassen. Dennoch verhindern sie erfolgreich, dass das entsprechende Land Kleinbauern und -bäuerinnen zur Landnutzung übertragen wird. Dabei gehört die Landverteilung in Paraguay zu den ungleichsten auf dem amerikanischen Kontinent. Auf ein Prozent der LandbesitzerInnen entfallen 77 Prozent des Landes, während 40 Prozent der unter fünf Hektar besitzenden Kleinbauern und -bäuerinnen insgesamt nur über rund ein Prozent des Landes verfügen. Etwa 120.000 Familien – knapp 30 Prozent der gesamten Landbevölkerung – gelten als landlos. Zwar ist Paraguay laut Verfassung und internationalen Abkommen dazu verpflichtet, eine Agrarreform durchzuführen und verfügt auch über die dazu erforderlichen Institutionen, wie das Land- institut INDERT. Dieses kann für Landbesitz, der nicht seine „soziale und öffentliche Funktion“ erfüllt, eine Enteignung veranlassen, um das Land anschließend kleinen und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Allerdings muss der aus Abgeordnetenhaus und Senat bestehende Kongress jeder einzelnen Enteignung zustimmen. Bisher ist kaum etwas passiert. Die Colorado-Partei, die von 1947 bis zum diesjährigen Wahlsieg des Befreiungstheologen Fernando Lugo (siehe Artikel in dieser Ausgabe) die Regierungen stellte, förderte als landwirtschaftliches Entwicklungsmodell zuletzt den großflächigen Anbau meist genmanipulierten Sojas.
Enteignungen unproduktiven Landbesitzes werden nur infolge oft jahrelang andauernder Landbesetzungen und des Drucks von Bauernorganisationen überhaupt debattiert. Die in den letzten Jahren dem Kongress zur Entscheidung vorgelegten Fälle deutschen Landbesitzes weisen eine auffällige Gemeinsamkeit auf: Der Senat lehnte die Enteignung jedes Mal ab, nachdem das Abgeordnetenhaus diese zuvor jeweils genehmigt hatte. Begründet wurde dies in sämtlichen Fällen mit dem 1993 zwischen Deutschland und Paraguay geschlossenen Investitionsschutzabkommen, das seit 1998 in Kraft ist. Dieses soll zwar für deutsche Kapitalanlagen in Paraguay (und paraguayische in Deutschland – sic!) rechtliche Sicherheit garantieren, Enteignungen „zum allgemeinen Wohl und im öffentlichen Interesse“ sind gegen Entschädigung gemäß Artikel 4 (2) des Abkommens jedoch ausdrücklich möglich. Eine von Brot für die Welt, dem Evangelischen Entwicklungsdienst, FIAN und Misereor herausgegebene Studie von 2007 dokumentiert fünf derartige Fälle, in denen das Abkommen angewandt wurde. Die Studie macht nicht nur deutlich, dass das Investitionsschutzabkommen für die Interessen der deutschen GroßgrundbesitzerInnen instrumentalisiert und missbraucht wird, sondern auch, dass die deutsche Bundesregierung dies tatenlos in Kauf nimmt. Rolf Künnemann, Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation für das Recht auf Nahrung FIAN International, ist einer der MitherausgeberInnen der Studie und übt gegenüber den Lateinamerika Nachrichten harsche Kritik an der deutschen Regierung: „Wir werfen der Bundesregierung vor, dass sie in Paraguay einer bestimmten, falschen Sichtweise des bilateralen Investitionsschutzabkommens Vorschub leistet und den Senat somit de facto daran hindert, die eigene Agrarreformgesetzgebung umzusetzen.“
Im Jahr 2000 verhinderte der Senat Paraguays beispielsweise die Enteignung eines 694 Hektar großen Landstücks in der Verwaltungsregion Itapúa, das von 85 landlosen Familien besetzt worden war. Das Land erwies sich nach Prüfung als verlassen, der deutsche Eigentümer Johann Bollmann lebte außerhalb Paraguays und hatte das beanspruchte Land seit fünfzehn Jahren nicht mehr betreten. Dennoch wurden die Familien mehrfach gewaltsam von dem Gelände vertrieben. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung im Senat tauchte ein Bevollmächtigter Bollmanns auf und forderte die Anwendung des Investitionsschutzabkommens. Selbst die deutsche Botschaft in Paraguay meldete sich zu Wort. Sie sei „sehr besorgt“ über die mögliche Enteignung, die dem zwischen Deutschland und Paraguay geschlossenen Investitionsschutzabkommen widerspreche. Der Senat lehnte die Enteignung daraufhin ab.
In einem anderen Fall, ebenfalls im Jahr 2000, stand die Enteignung von Land in der Verwaltungsregion Ñeembucú an. Auf 1.669 verlassenen Hektar hatten sich bereits seit 1996 etwa 100 zuvor landlose Familien niedergelassen. Als Besitzer des Latifundiums entpuppte sich der von Interpol wegen Betrugs gesuchte Joachim Leske, der Paraguay nach dem Ende der Stroessner-Diktatur den Rücken gekehrt hatte. Der Senat lehnte die Enteignung im Juni 2001 zunächst ab, woraufhin die auf dem Grundstück lebenden Familien brutal vertrieben sowie ihre Häuser und Ernte zerstört wurden. Zahlreiche Personen wurden verletzt, darunter Frauen und Kinder. Nachdem die betroffenen Familien das Grundstück daraufhin mehrfach neu besetzten und vertrieben wurden, kam es 2005 zu einem weiteren Versuch der Enteignung. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung forderten einige Mitglieder des Senats die polizeiliche Akte sowie die Nationalität Leskes an. Als sich herausstellte, dass Leske die schwedische, nicht aber die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, stimmte der Senat einstimmig für die Enteignung. Die 100 Familien durften bleiben, weil das von ihnen beanspruchte Land nicht einem Deutschen gehörte.
Der Fall der indigenen Gemeinschaft Sawhoyamaxa führte 2006 sogar zu einer Verurteilung Paraguays vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die über 400 Personen umfassende Gemeinschaft beanspruchte ihr traditionelles Land von gut 14.000 Hektar im Chaco-Gebiet. Da sich das Landstück im Besitz des deutschen Großgrundbesitzers Heribert Rödel befindet, lehnte der Senat im Februar 2003 eine Enteignung ab. Rödel besitzt in ganz Paraguay etwa 120.000 Hektar Land, davon alleine 60.000 im Chaco. Auf Initiative der Sawhoyamaxa landete auch dieser Fall schließlich vor dem Menschenrechtsgerichtshof, der Paraguay am 29. März 2006 unter anderem dazu verurteilte, das beanspruchte Land innerhalb von drei Jahren an die indigene Gemeinschaft zu übergeben. In Bezug auf das Investitionsschutzabkommen stellte das Gericht fest, dass dieses „keine Rechtfertigung für einen Verstoß gegen staatliche Verpflichtungen aus der Amerikanischen Menschenrechtskonvention“dar-stelle. Passiert ist bisher nichts, die Frist zur Umsetzung des Urteils läuft 2009 ab.
„Solange hier keine Änderung erfolgt, muss sich die Bundesregierung unter anderem vorhalten lassen, dass sie mitschuldig ist an den fortdauernden Todesfällen unter den Kindern der Indígenas, die im Elend am Straßenrand neben ihrem Land leben und sterben müssen“, sagt Künnemann dazu. Deutschland verletze dadurch den Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, der unter anderem die Verpflichtung enthält, in Zusammenarbeit mit Paraguay das Recht der Unterernährten und Landlosen auf Nahrung zu gewährleisten. FIAN forderte von der Bundesregierung bereits mehrfach ohne Erfolg, durch eine diplomatische Note an Paraguay klar zu stellen, dass das Investitionsschutzabkommen der Enteignung deutschen Landbesitzes nicht entgegensteht. „Die Regierung weigert sich weiterhin, mit einer Note zur Klärung beizutragen ohne dafür überzeugende Gründe vorzubringen“, resümiert Künneman. „Vielleicht sind ihr die Interessen deutscher Spekulanten in Paraguay wichtiger als die grundlegenden Menschenrechte.“ FIAN jedenfalls werde weiterhin Druck ausüben.
Ob sich bezüglich der Konflikte um deutschen Landbesitz unter dem neuen Präsidenten Fernando Lugo etwas grundlegend ändern wird, ist fraglich. Der linke ehemalige Bischof setzt sich zwar für eine Agrarreform ein, verfügt aber im Senat über keine eigene Mehrheit.

Wie deutscher Landbesitz in Paraguay effektive Hungerbekämpfung verhindert. Eine Studie von Brot für die Welt, eed, FIAN und Misereor; November 2007. Die Studie kann von den Internetseiten der beteiligten Organisationen frei heruntergeladen werden.

Hauen und Stechen um Paraguay

Kurz vor dem Urnengang in Paraguay ist die Stimmung äußerst gespannt. Täglich erscheinen in der Hauptstadt Asunción neue Plakate an Hauswänden oder Inserate in Tageszeitungen, die den politischen Gegner zu diffamieren suchen. Hauptopfer dieser Attacken ist Fernando Lugo, Befreiungstheologe und vormalig Bischof der Region San Pedro. Er kandidiert für das sehr heterogene oppositionelle Parteienbündnis Concertación. Erstaunen müssen die Attacken nicht auslösen, denn in verschiedenen Umfragen liegt Lugo in Führung. Der Neueinsteiger auf der politi­schen Bühne gefährdet damit nichts weniger als die politische Macht der Colorado-Partei, die seit über sechs Jahrzehnten im Lande herrscht, denn für die Präsidentschaft reicht bereits die einfache Mehrheit im ersten und einzigen Wahlgang.
Lugos HauptkonkurrentInnen um das Amt des Präsidenten sind Blanca Ovelar und Lino Oviedo. Ovelar, ehemalige Bildungsministerin des Landes und Kandidatin der regierenden Colorado-Partei, wird vom aktuellen Präsidenten Nicanor Duarte Frutos unterstützt. Lino Oviedo war bis 2005 Mitglied der Colorados und hoher General unter Diktator Alfredo Stroessner. 1989 beteiligte er sich jedoch an Stroessners Sturz. Bis Ende vergangenen Jahres saß Oviedo wegen der Anstiftung zur Ermordung des Vizepräsidenten und eines Massakers an DemonstrantInnen im Jahr 1999 in Haft. Seine Kandidatur wurde erst möglich, nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes seine Verurteilung aufgehoben hatte. Präsident Duarte hatte sich für Oviedos Freilassung eingesetzt. Schließlich schwächte die Rückkehr Oviedos Lugos Parteienbündnis Concertación: Oviedos Partei „Nationale Union ethischer Bürger“ und die neoliberale Rechte der Partei Patria Querida („Geliebtes Vaterland“) verließen die Concertación. So hat Duartes Kandidatin statt einem Gegner zwei.
In den Umfragen in Zeitungen Paraguays erhielt Fernando Lugo bisher mit um die 35 Prozent die höchsten Zustimmungsraten. Damit läge er zwischen fünf und zehn Prozent vor den beiden anderen KandidatInnen. Die jüngste Umfrage des kanadischen Meinungsforschungsinstituts Angus Reid Global Monitor sieht für Lugo jedoch nur noch 31 Prozent und einen schwindenden Vorsprung auf Ovelar. In allen Umfragen liegt der Anteil der Unentschlossenen bei etwa zehn Prozent.
Dennoch: Die Reaktionen des amtierenden Präsidenten Nicanor Duarte Frutos auf die Umfragen sind nur noch als krankhaft zu bezeichnen. Laut dem Präsidenten ist die Presse gekauft und nur dazu da, die Colorado-Partei in den Dreck zu ziehen. Überall wittert er Verschwörung, regt sich fürchterlich auf und verliert die Fassung. Dabei schlägt er vor allem gegen Lugo aus. Wenn er sagt, das Bündnis, das Lugo führt, sei „eine pathetische Allianz zum Plündern des Landes“, dann ist das noch eine der harmloseren Formulierungen.
Ihm gleich tut es Lino Oviedo, der in den 1970er Jahren mit dem Plan Condor und somit der Unterdrückung der Opposition beschäftigt war. Auch heute noch macht er keinen Hehl aus seinem Hass auf alles Linke. Kein Tag vergeht, an dem er oder die Jugendorganisation der Colorado-Partei Fernando Lugo nicht zu diffamieren versuchen. Im Januar kleisterte die Coloradojugend das Zentrum Asuncións mit einem Plakat zu, welches Lugo in Guerilla­uniform im Dschungel zeigt und ihn als FARC-Botschafter in Paraguay bezeichnet. Im März erschien ein Inserat von Oviedos Partei UNACE in allen Tageszeitungen, das Lugo zusammen mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und dem bolivianischen Staatsoberhaupt Evo Morales zeigt. Auf der anderen Seite ist Lino Oviedo mit Cristina Kirchner und Luiz Inácio „Lula“ da Silva zu sehen – also den so genannten moderaten Linken unter den Präsidenten Südamerikas. Ein Präsident Lugo, so prophezeit Oviedo in der Wahlwerbung, werde Armut, Kapitalflucht, Zensur, Arbeitslosigkeit und fehlende Rechts­sicher­heit bedeuten. Sich selbst präsentiert er als Garanten für eine unabhängige Presse, freie Meinungsäußerung, Vertrauen und Investitionen sowie den Respekt vor der Verfassung.
Lugo ist aber nicht nur Feindbild, er wird auch instrumentalisiert. Mitte März hatte er seine Wahlkampftour im Departement Canindeyú wegen schlechter Witterung und angeblichen Morddrohungen abgebrochen. Daraufhin war es wiederum Lino Oviedo, der am 28. März in der paraguayisch-amerikanischen Handelskammer vor die Presse trat, um einen angeblichen Attentatsplan der Coloradopartei gegen Lugo aufzudecken. Laut Oviedo wollten die Colorados, verzweifelt wegen der schlechten Umfragewerte, ihren Hauptkonkurrenten Lugo aus dem Weg räumen und dann ihn, Oviedo, dieses Mordes beschuldigen, um ihn aus dem Rennen zu werfen. Somit wäre die Bahn frei für Blanca Ovelar. Die Colorados und auch Fernando Lugo wiesen die Äußerungen des Ex-Generals als Hirngespinste zurück. Im gleichen Atemzug aber ließen sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, auf die Verwicklung Oviedos in die Ermordung des paraguayischen Vizepräsidenten Luis María Argaña von 1999 hinzuweisen.
Mindestens ein tödliches Attentat mit politisch-mafiösem Hintergrund ist im Wahlkampf schon geschehen. Ende Februar wurde in der Siedlung San Antonio im südlichen Departement Caazapá der 32-jährige Geraldino Rotela Miranda erschossen und sein Bruder Emanuel schwer verletzt. Sie waren als Basisaktivisten der Bewegung Tekojoja, die Lugo unterstützt, mit einem Motorrad auf Wahlkampftour, als aus dem Hinterhalt auf sie geschossen wurde. Geraldino hatte viele Feinde, denn er zeigte den illegalen Holzhandel und die Korruption in der Region an. Außerdem engagierte sich der Lehrer stark für die sozial Ausgeschlossenen. Vor seinem Tod hatte er sich mehrmals beklagt, dass die mafiösen Strukturen seine Arbeit erschwerten. Wegen des Mordes verhaftet wurde bisher niemand. Die Straflosigkeit ist integraler Bestandteil des Systems.

Der amtierende Präsident Duarte wittert überall Verschwörungen und verliert darüber häufig auch die Fassung.

Die Opposition warnt seit Monaten vor massivem Wahlbetrug auf verschiedenen Ebenen. Zunächst gibt es eine groß angelegte Kampagne unter den Staatsangestellten. Auf zwei SteuerzahlerInnen kommt in Paraguay ein staatlicher Beamter. Der Staat ist Selbstbedienungsladen der Colorado-Partei und deshalb sind seine Bediensteten dazu angehalten, Mitglieder der Partei zu sein, für sie zu werben und zu stimmen. Wer das nicht will, läuft Gefahr, dass er selbst oder seine Familie ihre Arbeit verlieren. Gibt es offizielle Wahlveranstaltungen mit Blanca Ovelar in einer Stadt, werden die dort angestellten LehrerInnen und das Pflegepersonal der Krankenhäuser gezwungen, hinzugehen und zu jubeln. Die Partei führt Anwesenheitslisten. Laut Medienberichten bekommen die Staatsangestellten nur noch einen Teil des ihnen zustehenden Lohnes ausbezahlt, der Rest geht in die Wahlkampfkasse der Colorado-Partei.
Auch das offizielle Wahlregister bevorzugt die Colorados. Das beginnt bei der Einschreibung: Die lokalen Sektionen kennen alle Jugendlichen in jedem Viertel, denn sie verfügen über ein Informationsnetz, das jeden Geheimdienst blass aussehen lässt. Steht ein Jugendlicher kurz vor dem 18. Geburtstag, klopfen auch schon die BeamtInnen vom Wahlregister an seine Tür und bieten ihm an, sich um die Bürokratie zu kümmern. Für viele oppositionelle Jugendliche wird die Einschreibung zum sehr ermüdenden Hindernislauf. Dank der vielen Informationen über die BewohnerInnen der Viertel kennen die Colorados die Bedürfnisse und Notlagen der betreffenden Familien und beginnen Versprechen und Angebote zu machen, wenn sie „richtig“ wählen. Außerdem gibt es im Wahlregister zahlreiche Verstorbene. Von den 400 Toten einer Brandkatastrophe im Supermarkt Ykua Bolaños 2004 dürfen 39 noch immer wählen.
Am Wahltag schließlich stehen die Colorados mit ihren Geldscheinen vor den Wahllokalen und kaufen ganz offen Stimmen. In einem unteren Mittelklasseviertel in Asunción kostet eine Stimme etwa drei Dollar. Darüber ist am Wahltag auch die Präsenz von BeobachterInnen an den Auszählungstischen einschüchternd. Viele oppositionelle Stimmen werden von anwesenden Colorados einfach als ungültig erklärt.
Dank dieser Betrügereien könnte es Blanca Ovelar doch noch schaffen, Fernando Lugo zu überrunden. Angeblich gibt es Pläne, die zeigen, dass Kräfte von Polizei und Militär massiv zusammengezogen werden, um Proteste gegen Wahlfälschungen zu unterdrücken. Einige ParaguayerInnen beginnen schon, vor dem 20. April einen größeren Lebensmittelvorrat anzulegen.

Streng geheim!

Seit nunmehr 26 Jahren prozessieren die Angehörigen von Verschwundenen der Guerrilha do Araguaia gegen den brasilianischen Staat, um das Schicksal der seit 1974 verschwundenen Mitglieder der Guerilla aufzuklären. Es ist einer der langwierigsten Gerichtsprozesse in Brasilien.
Die Guerrilha do Araguaia wurde Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB) gegründet und operierte bis Ende 1974. Deren geschätzte 70 bis 80 Mitglieder und eine unbekannte Zahl von ZivilistInnen, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seitdem verschwunden. Das brasilianische Justizministerium legte im Jahre 2004 einen offiziell als „abschließend“ deklarierten Bericht vor, nach welchem 71 Personen als „verschwunden“ gelten und deren sterbliche Überreste bis heute nicht gefunden wurden.
Die Angehörigen der Verschwundenen fordern von der Regierung die Lokalisierung und Öffnung der Akten, um Aufschluss über das Schicksal dieser seit 34 Jahren vermissten Personen zu bekommen. Der Prozess um die Freigabe der Dokumente und die Aufklärung um den „Verbleib“ der Verschwundenen wird seit 1982 von 22 Angehörigen geführt. Der brasilianische Staat beteuert, keine diesbezüglichen Akten zu besitzen, da diese von Seiten der Militärs vernichtet worden seien. Daher sei eine weitere Klärung der Umstände des Verschwindens nicht möglich.
Im März dieses Jahres veröffentlichte die Nachrichtenagentur Agência Estado jedoch ein Dokument aus dem Privatbesitz eines ehemaligen Oberleutnants, das den Aktionsplan des Militärs „zur Suche und Verhaftung“ der mutmaßlichen UnterstützerInnen der Guerilla aufzeigt. In dem Dokument werden 17 Bauern namentlich genannt und nach abgestuften „Verwicklungsgraden mit der bewaffneten Guerilla“ klassifiziert. Der Oberleutnant selbst, José Vargas Jiménez, berichtete im Interview als erster ehemaliger Militär über die Aktion und den Verbleib der gueriller@s: „Der Befehl war, erst zu schießen und dann zu fragen. Wir gingen da rein, um zu töten, zu zerstören. Es ging nicht darum, Gefangene zu machen.“ Laut der Nachrichtenagentur war er selbst für die Exekution von 32 Angehörigen der Guerilla verantwortlich.

Die Angehörigen der Verschwundenen fordern von der Regierung die Lokalisierung und Öffnung der Akten.

Die KlägerInnen sehen sich durch das Auftauchen dieses Dokuments in ihrem Verdacht bestätigt, dass sehr wohl noch Dokumente existieren und sehen den Staat in der Pflicht, die Archive auf entsprechende Dokumente zu durchsuchen. Sie kritisieren des Weiteren, dass der von der Regierung bevorzugte Weg des „guten Dialogs“ mit den Militärs nicht ausreicht und fordern die Öffnung und Einsicht in alle Archive. Die Präsidentin der Menschenrechtsorganisation Tortura Nunca Mais in Rio de Janeiro, Elizabeth Silveira, hält die komplette Öffnung der Archive für essentiell: „Wann werden wir die Informationen bekommen, die uns zustehen? Wir sind das rückständigste Land Südamerikas in der Aufarbeitung der Vergangenheit.“
21 Jahre nach Prozessauftakt, im Jahre 2003, gab eine Richterin in Brasília dem Staat 120 Tage Zeit, um den Verbleib der Verschwundenen zu klären sowie die entsprechenden Archive zu lokalisieren und freizugeben. Die Regierung hatte dagegen Widerspruch eingelegt, aber der Oberste Gerichtshof Brasiliens bestätigte im Dezember 2007 abschließend das Urteil, welches den brasilianischen Staat zur Lokalisierung und Öffnung der Dokumente verpflichtet. Es ist jedoch noch immer nicht restlos geklärt, ob der Großteil der Akten zerstört wurde, oder aber nach wie vor existiert. Deswegen hat die brasilianische Anwaltsvereinigung OAB im März dieses Jahres – zum Ablauf der 120-Tagesfrist – eine Klage vor dem Obersten Militärgericht eingereicht, um den Verbleib der Dokumente zu klären. Für den Fall, dass diese zerstört worden sind, hat sie angekündigt, wegen Unterschlagung und Vernichtung offizieller Dokumente Klage gegen die verantwortlichen Militärangehörigen einzureichen. „Das Unterschlagen dieser Dokumente darf nicht ohne Untersuchung bleiben“, bekräftigt der Präsident der OAB, Cezar Britto, und ergänzt, dass die Unterschlagung der Dokumente deswegen auch militärstrafrechtlich relevant sei, „weil sie nicht durch das seit 1979 gültige Amnestiegesetz gedeckt ist, da die Tat später verübt wurde“.
Die Angehörigen der Verschwundenen und Menschenrechtsorganisationen bezweifeln, dass alle Unterlagen vernichtet wurden. So hatten im Juli
2007 Recherchen der brasilianischen Zeitung Correio Braziliense ergeben, dass ein der Öffentlichkeit bis dato nicht bekanntes geheimes Archiv in den Kellern des brasilianischen Außenministeriums lagerte. Dieses enthielt brisante Unterlagen und Dossiers aus der Zeit der Militärdiktatur, erstellt von brasilianischen DiplomatInnen und Botschaftsangehörigen im Ausland. Das vom Außenministerium geleitete Zentrum für Informationen aus dem Ausland (Ciex) fungierte zwischen 1966 und 1985 als „Informationsagentur zur Überwachung der Gegner des Militärregimes im Ausland“ und führte Akten sowie an die 8.000 Berichte über potenzielle brasilianische RegimegegnerInnen im Ausland (siehe LN 405). Zwar hatte die zentrale Informationsorganisation der brasilianischen Repression der Militärdiktatur, der Geheimdienst SNI, beim Übergang zur Demokratie die Vernichtung von vier Millionen Dokumenten angeordnet. Das Archiv des Ciex wurde, im Gegensatz zu vielen anderen Archiven, jedoch nicht zerstört. Vitória Grabois, Tochter des 1973 verschwundenen Maurício Grabois, weist angesichts des „gefundenen“ Archivs mit Nachdruck darauf hin, dass die Entdeckung dieses Geheimarchivs des Außenministeriums die Vermutung nahe lege, dass die angeblich zerstörten oder verlorenen geheimen Archive der Marine, des Heeres, der Luftwaffe oder der Bundespolizei vielleicht doch noch irgendwo existieren.

Angehörige fordern die Öffnung der Akten, um endlich Auskunft über das Schicksal der Vermissten zu erhalten.

Nach dem Übergang zur Demokratie war vom Staat angeordnet worden, dass die verbliebenen Dokumente der Repression aus allen Archiven übergeben und zentral gesammelt werden müssen. Dass dies bei den einzelnen Institutionen nicht so genau gesehen wurde, davon zeugt nicht nur das Auftauchen des Archivs des Ciex, sondern beispielsweise auch die Archivverbrennung auf dem Luftwaffenstützpunkt Base Aérea de Salvador im Dezember 2004. Das Fernsehmagazin „Fantástico“ des Senders Rede Globo hatte Aufnahmen der Verbrennung von über 70 Meter Akten im Sonntagabendprogramm gezeigt. Zuvor hatte die Militärbasis immer behauptet, alle Unterlagen seien bereits bei einem Brand 1998 auf einem Flughafen in Rio de Janeiro vernichtet worden.
Diese Verbrennung von Dokumenten offenbarte, dass offensichtlich entgegen der Anordnung, alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur zentral zu verwahren, Teile des Militärs oder mittlerweile pensionierte ehemalige Militärangehörige, nicht daran dachten, „ihre“ Dokumente aus der Hand zu geben. So kann es keineswegs als sicher gelten, dass nicht noch unzählige weitere Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur in Kasernen, anderen Militärstützpunkten oder gar privat aufbewahrt werden. Der Minister für Menschenrechtsfragen, Paulo Vannuchi, räumte im September 2007 im Interview mit Radiobrás ein, dass „die Militärorgane des Heeres, der Marine und Luftstreitkräfte bislang noch immer keine Dokumente übergeben haben“ und zudem die Vermutung nahe liege, dass „sich viele Dokumente in privaten Händen von Ex-Militärs befinden“.
Seit 2005 fungiert das neu geschaffene Nationalarchiv als zentrale Sammelstelle für alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Das Archiv steht unter der Aufsicht des Präsidialamtes Casa Civil und führt, laut Auskunft des Generaldirektors Jaime Antunes, einen Bestand aus Zeiten der Militärdiktatur von 13.850.000 Seiten. Doch der im Namen des Archivs anklingende Anspruch, „Memórias Reveladas“, also „enthüllte Erinnerungen“, wird nicht eingelöst. Denn nicht nur die bisher kaum vorhandene Kooperation seitens des brasilianischen Militärs, Akten und Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur zu übergeben, sondern auch die gültigen Klassifizierungsgesetze verhindern nach wie vor die Einsicht in brisante Dokumente.

„Wir sind das rückständigste Land Südamerikas in der Aufarbeitung der Vergangenheit.“

Denn obschon die brasilianische Verfassung von 1988 in Artikel 5 das Recht der BürgerInnen auf Zugang zu Dokumenten verbürgt, verhindert nach wie vor die Klassifizierung der Dokumente den unbeschränkten Zugang. Die Regierung unter Fernando Henrique Cardoso hatte im Dezember 2002, in ihrem letzten Regierungsmonat, die Sperrfrist für „streng geheime“ Dokumente auf 50 Jahre erhöht. Der aktuelle Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte am 18. November 2005 öffentlichkeitswirksam ein Dekret erlassen, welches der Öffnung der Archive aus der Zeit der Militärdiktatur dienen sollte. Darin wurde die neue Sperrfrist für „streng geheime“ Dokumente wieder „nur“ auf 30 Jahre taxiert, „geheime“ Dokumente verbleiben demnach 20 Jahre und „vertrauliche“ Dokumente zehn Jahre lang verschlossen. Zwar hatte die Regierung Lula damit eine Strategie der Öffnung verfolgt, diese aber gleichzeitig wieder eingeschränkt, indem nach Ablauf der Sperrfrist erneut über den Verschluss bestimmt werden kann: So verfällt zwar nach 30 Jahren die Geheimhaltung, doch kann aus Gründen des „nationalen Interesses“ diese Frist nach Ablauf nochmals um 30 Jahre verlängert werden, bevor sich dann, nach insgesamt 60 Jahren, eine „interministerielle Kommission“ darüber verständigen soll, ob die Dokumente freigegeben werden – oder eben auch nicht.
Elizabeth Silveira kritisiert, dass das Dekret zur Archivöffnung aus dem Jahr 2005 durch ein anderes Gesetz, ebenfalls von Lula unterzeichnet, konterkariert wird. Laut diesem werden all jene Dokumente weiterhin unter Verschluss gehalten, die die „Souveränität, die territoriale Integrität oder die Außenbeziehungen“ Brasiliens beeinträchtigen könnten.
So gibt es, wie die Folha de São Paulo schon im Jahr 2004 heraus fand und in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember 2007 wiederholt darlegte, noch immer als „streng geheim“ klassifizierte Dokumente aus der Zeit des brasilianisch-argentinisch-uruguayischen Kriegs gegen Paraguay (1864 bis 1870), welche die im Anschluss an den Krieg getroffenen Grenzziehungen betreffen. Die paraguayische Akademie für Geschichte forderte daraufhin schon Ende 2004 die Öffnung der Archive. Doch die brasilianische Regierung, vornehmlich das Außenministerium, verweigerte dies unter dem Hinweis, die Veröffentlichung dieser Archive könnte „das gute Einvernehmen sowie den aktuellen guten Geist der Kooperation im MERCOSUR“ gefährden – ein Argument, das Paraguay als „absolut unangemessen“ beurteilte.
Laut der Folha de São Paulo kam es im Dezember 2007, im Zuge der aktuell geführten Auseinandersetzung um die nach wie vor spärliche Öffnung der geheimen Archive Brasiliens, sogar innerhalb der brasilianischen Regierung zum Streit über die als „streng geheim“ deklarierten Dokumente. Der brasilianische Außenminister Celso Amorim widersetzte sich der Aufforderung seiner Kabinettskollegin Dilma Rousseff vom Präsidialamt, die Archive zu öffnen, da das Außenministerium fürchtet, dass die Offenlegung dieser Dokumente von 1870 „nationale Interessen“ tangieren könnte. Präsident Lula hatte für Anfang 2008 angekündigt, eine Entscheidung bezüglich der Offenlegung aller historischen Dokumente zu treffen. Diese steht jedoch noch immer aus. Es ist zu vermuten, dass Präsident Lula zwar einerseits ein Interesse an der Öffnung aller Archive hat, andererseits jedoch Einschränkungen veranlassen wird, welche die diplomatischen Bedenken des Außenministeriums gegen die Öffnung der Dokumente über den Paraguay-Krieg berücksichtigen.

Die Schatten der Operation Condor erreichen Brasilien

Die Vermutung, der ehemalige brasilianische Präsident João Goulart sei im Dezember 1976 im argentinischen Exil ermordet worden, steht seit Jahren im Raum. Goularts Schwager, der ehemalige Gouverneur von Rio Grande do Sul und später von Rio de Janeiro, Leonel Brizola, hatte immer wieder die Mordthese betont. Auch Gerüchte um den bis heute nicht restlos geklärten Autounfall, bei dem Juscelino Kubitschek, Präsident Brasiliens von 1956 bis 1961, im Jahre 1976 ums Leben kam, sowie um das plötzliche Ableben des ersten zivilen Präsidenten nach der Militärdiktatur, Tancredo Neves, der in der Nacht vor seinem Amtsantritt am 15. März 1985 in eine Klinik eingeliefert wurde und knapp einen Monat später verstarb, haben immer wieder zu Spekulationen in der brasilianischen Öffentlichkeit geführt: Diese Todesfälle seien kein Zufall, sondern Mord gewesen. Dazu passt nun die Aussage des uruguayischen Ex-Agenten, Goulart sei vergiftet worden.
Ende 2007 hat Goularts Sohn, João Vicente Goulart, mit einem Kamerateam des brasilianischen Parlaments den in Brasilien zur Zeit wegen Raubes, Bandenbildung und illegalen Waffenbesitzes inhaftierten uruguayischen Ex-Agenten Mario Neira Barreiro interviewt. Dieser räumte ein, dass der Mord an Goulart von brasilianischen und uruguayischen Agenten im Rahmen der Operation Condor erfolgte. Unter diesem Namen verfolgten in den 1970er und 1980er Jahren die Geheimdienste von Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay systematisch und in enger länderübergreifender Zusammenarbeit linke Oppositionelle vor allem in Südamerika, aber auch in anderen Kontinenten. Dies erfolgte zumindest unter Kenntnis der CIA. Dieser koordinierten Repression fielen mehrere Tausend Menschen in den südamerikanischen Staaten zum Opfer. Sie wurden inhaftiert, gefoltert, ermordet oder gelten seither als „verschwunden“.

Ein ehemaliger Geheimdienstagent redet über die „Operation Condor“.

Mario Neira Barreiro schilderte dem Sohn Goularts, wie die verbündeten Geheimdienste den im argentinischen Exil lebenden Goulart ermordeten. „Ich erinnere mich nicht genau, ob wir Isordil, Adelpan oder Nifodin benutzten. Es gelang uns,
eine Tablette unter jene aus Frankreich importierten Medikamente zu schmuggeln. Goulart durfte nur für 48 Stunden nicht untersucht werden, sonst wäre die Substanz bemerkt worden“, berichtete Mario Neira Barreiro dem Sohn des Präsidenten vor laufender Kamera. Goulart wurde ohne Autopsie beerdigt. Eine solche war von der Militärdikatur verhindert worden.
Der Ex-Agent berichtete weiter, dass Goulart schon länger im Rahmen der so genannten Operation Skorpion beschattet worden war. Den Sohn Goularts überzeugte Neira Barreiro unter anderem durch die Kenntnis der persönlichen Telefonnummer des Landsitzes der Familie Goulart. Und die brasilianische Zeitschrift ISTOÉ gewann Einblick in Berichte, die der brasilianische Geheimdienst Serviço Nacional de Informações do Brasil (SNI) im Jahre 1975 detailgenau über den 24-stündigen Tagesablauf Goularts auf seinem Landsitz in Argentinien angefertigt hatte. Die Familie Goulart hat nun Anzeige erstattet, und die Bundesstaatsanwaltschaft ermittelt.

Die Familie Goulart forderte auch die brasilianische Regierung auf, die geheimen Archive des „Centro de Informações do Exterior“ (Ciex) auf Informationen bezüglich Goularts Todes hin zu untersuchen und das Archiv zu öffnen. Wie die brasilianische Zeitung Correio Braziliense bereits im Juli 2007 berichtet hatte, fungierte das vom brasilianischen Außenministerium Itamaraty geleitete Ciex zwischen 1966 und 1985 als „Informationsagentur zur Überwachung der Gegner des Militärregimes im Ausland“ und führte Akten und an die 8.000 Berichte über potentielle brasilianische RegimegegnerInnen im Ausland. Die für die brasilianische Öffentlichkeit dabei besonders brisante Information ist, dass die im Archiv des Ciex zusammengetragenen Informationen über RegimegegnerInnen im Ausland von unzähligen brasilianischen DiplomatInnen kamen. Bisher, so der Correio Braziliense, galt das brasilianische Außenministerium in den Zeiten der Militärdiktatur immer als honoriger Ort, gleichsam als „moralische Hüterin der Demokratie“ in den so genannten „Bleiernen Jahren“ der Militärdiktatur.
Die letztes Jahr aufgetauchten Beweise aus dem Archiv des Ciex zeigen nun vielmehr die aktive Rolle, die das Außenministerium und unzählige DiplomatInnen der Zeit bei Identifizierung und Festnahme Oppositioneller im Ausland spielte. Viele der RegimegegnerInnen wurden gefoltert oder sind „verschwunden“. In viermonatiger akribischer Analyse der Dokumente kam der Correio Braziliense zu der Analyse, dass „es niemals eine sichere Zuflucht für Gegner des Putsches von 1964 im Ausland gab“. Die Zeitung schlußfolgert: „Die Regimegegner wurden bei jedem ihrer Schritte überwacht, jedes Wort, jede Aktion oder Reise im Ausland wurde beobachtet, überall in Lateinamerika, auch in Europa, in der Sowjetunion oder in Nordafrika.“ Von den 380 während der brasilianischen Militärdiktatur Ermordeten oder Verschwundenen finden sich 64 im Geheimarchiv der Ciex wieder. Das Identifizieren und Lokalisieren dieser 64 Personen ermöglichte, so der Bericht des Correio Braziliense, letztlich den anderen brasilianischen Geheimdiensten, RegimegegnerInnen zu lokalisieren und zu foltern und zu ermorden. Und der Sohn Goularts erhofft sich neue Erkenntnisse über seinen Vater – doch das Aussenministerium verweigert der Öffentlichkeit den Zugang zum Archiv.

Das Amnestiegesetz von 1979 verhindert nach wie vor die Anklage gegen brasilianische Militärs.

Die Aussagen des Ex-Agenten Mario Neira Barreiro bezüglich Goularts möglicher Ermordung im Rahmen der Operation Condor treffen zeitlich zusammen mit den jüngsten internationalen Haftbefehlen und Auslieferungsersuchen Italiens und Spaniens für insgesamt 146 ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten der Länder Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, denen Ermordung, Folter und Verschwindenlassen italienischer respektive spanischer Staatsangehöriger zur Last gelegt wird.
Die per Interpol ausgestellten Haftbefehle berufen sich sowohl auf Aussagen von ZeugInnen als auch auf gewonnene Erkenntnisse aus den Ermittlungen zur Operation Condor. Vor allem das im Jahr 1992 in einer Polizeistation in Lambaré in Paraguay zufällig gefundene so genannten „Archiv des Terrors“ beinhaltet Tausende von dokumentierten Fällen der länderübergreifenden, staatlich koordinierten Repression gegen „die Subversiven“. Vor allem auf Basis dieses Funds und der seit dem Jahr 2000 in den USA teilweise freigegebenen Dokumente gelingt es, ein genaueres Bild der südamerikanischen Koordination der Repression zu rekonstruieren.
Unter den Personen, für die Italien und Spanien Haftbefehle und Auslieferungsersuche erlassen haben, befinden sich auch brasilianische Staatsangehörige. Die italienische Justiz erhob nach jahrelangen Recherchen nun im Dezember 2007 Anklage gegen 11 brasilianische ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten, gegen die im Januar dieses Jahres auch der spanische Richter Baltasar Garzón Haftbefehle und Anträge auf Auslieferung gestellt hat. Dieser war 1998 bekannt geworden durch seinen Haftbefehl und Auslieferungsantrag gegen den chilenischen Ex-Diktator Pinochet.

Einer der von der italienischen Justiz Gesuchten ist Carlos Alberto Ponzi. Er leitete während des Jahres 1980 die lokale Sektion des brasilianischen Geheimdienstes Serviço Nacional de Informações (SNI) im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Ponzi selbst reagiert im Interview anscheinend gelassen: „Ich bin nicht beunruhigt wegen der italienischen Justiz. Wenn sie prozessieren wollen, sollen sie; wenn sie die Auslieferung erbitten, sollen sie darum bitten. Sollen sie machen, was sie wollen, mich interessiert das nicht.“
Derart gelassen kann er den Auslieferungsersuchen aus Italien nur entgegensehen, weil er die brasilianische Verfassung auf seiner Seite weiß, die die Auslieferung brasilianischer Staatsangehöriger ans Ausland strikt untersagt. In Brasilien selbst wurde bislang noch kein Angehöriger von Militär, Geheimdienst oder Polizei wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur angeklagt, weil das seit 1979 in Brasilien gültige Amnestiegesetz dies unterbindet. Doch kennt das Gesetz eine Einschränkung: Die allgemeine und umfassende Amnestie gilt nur für die Taten, die in dem im Gesetzestext festgelegten Zeitraum zwischen dem 2. September 1961 und dem 15. August 1979 begangen wurden. Im Falle der italienischen Haftbefehle und Auslieferungsersuchen geht es hingegen um den Fall zweier italienischer Staatsangehöriger, die im März und Juni 1980 verschwunden sind, nachdem brasilianische Geheimdienstangehörige und Militärs die italienischen Staatsbürger an der brasilianischen Grenze festnahmen und an den argentinischen Geheimdienst übergaben. Doch auch dies scheint brasilianische Militärs aus der Zeit der Militärdiktatur nicht zu schrecken. Der ehemalige Divisionsgeneral Agnaldo Del Nero Augusto kommentierte in einem Interview mit der Tageszeitung O Estado de São Paulo Anfang Januar dieses Jahres die Vorwürfe, brasilianische Militärs hätten aktiv an dieser Aktion der Operation Condor mitgewirkt: „Wir haben nicht gemordet. Wir haben sie festgenommen und übergeben. Das ist kein Verbrechen.“ Doch im Lichte der Anschuldigungen – Mord, Folter und Verschwindenlassen – wäre auch die Beihilfe dazu ein Straftatbestand. Zwar verjährt Mord in Brasilien, doch Folter und Verschwindenlassen nicht.
Und auch um das Amnestiegesetz wird eine neue Debatte geführt. Dabei geht es um eine Klage wegen einer Tat, die 1972–1973, also im eigentlich amnestierten Strafzeitraum, begangen wurde. Die Klage der fünf Mitglieder der Familie Teles gegen den Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra wurde im September 2006 von der 23. Zivilkammer São Paulo als Zivilklage angenommen. Ustra war Ende 1972 Chef des berüchtigten Folterzentrums DOI-CODI (Sonderkommando für Informationsoperationen – Zentrum für Untersuchungen der inneren Verteidigung) in São Paulo. Maria Amélia de Almeida Teles und ihr Mann César Augusto Teles waren im Dezember 1972 festgenommen und ins Folterzentrum DOI-CODI in der Rua Tutóia in São Paulo gebracht worden, wo sie laut ihrer Aussage von Ustra gefoltert wurden. Die Schwester Amélias und die beiden kleinen Kinder des Ehepaars, vier und fünf Jahre alt, wurden ebenfalls dorthin verbracht. Die Schwester, Criméia de Almeida, damals schwanger im siebten Monat, wurde gefoltert. Den Kindern wurden die Eltern gezeigt, die wegen der erlittenen Folter laut Aussage der Kinder nicht wiederzuerkennen waren, obschon sie wussten, dass es ihre Eltern waren, so die Aussage des Sohnes, Edson Teles. Der ebenfalls verhaftete Carlos Nicolau Danielli, damals führendes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien, PC do B, wurde im DOI-CODI zu Tode gefoltert.
Der angeklagte Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra bestritt in Interviews die Vorwürfe und blieb der ersten Gerichtssitzung fern. Im Prozess steht Aussage gegen Aussage, jedoch ist ein jahrelang von einem Militär privat verwahrtes Dokument aufgetaucht, welches die Aussagen der Familie Teles stützt. Die im Dezember 2006 erhobene Anklage ist in Brasilien die erste gegen einen Militär wegen Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur. Alle bisherigen zugelassenen diesbezüglichen Klagen richteten sich gegen den brasilianischen Staat. Selbst bei einem Schuldspruch verfolgt die Klage der Familie Teles gegen Ustra weder eine Entschädigung noch eine Bestrafung des Täters, weshalb die Klage – auch nach Ansicht des Gerichts – dem Amnestiegesetz nicht zuwiderläuft, da sie nicht strafrechtlicher, sondern zivilrechtlicher Natur ist. Die Klage gegen Ustra verfolgt die Absicht, von dem Gericht die Erklärung zu bekommen, dass Mitglieder der Familie Teles im DOI-CODI gefoltert wurden und der Coronel als „Folterer“ bezeichnet werden darf.
Nach Ansicht von Lúcio França, Mitglied der Menschenrechtskommission der Anwaltsvereinigung in São Paulo (Comissão de Direitos Humanos da OAB/SP – Ordem dos Advogados do Brasil) könnte jedoch ein Urteilsspruch, der Ustra als Folterer bezeichnet, weitere rechtliche Schritte nach sich ziehen. „Mit solch einem Urteil könnte er von der Staatsanwaltschaft auf die Anklagebank gesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft könnte sich kaum weigern, ihn anzuklagen“, erklärt França.

Die Familie Teles kämpft vor Gericht um das Recht, den Folterer als Folterer
bezeichnen zu dürfen.

Auch die Klägerin Maria Amélia de Almeida Teles ist dieser Ansicht. „Wenn er durch die Justiz zum Folterer erklärt wird, dann hat der brasilianische Staat die Pflicht, von ihm alle diesbezüglichen Informationen zu bekommen. Zum Beispiel, wo die Ermordeten und Verschwundenen sind, die immer noch nicht gefunden wurden. Der Ausgang dieses besonderen Prozesses ist zwar vor allem moralischer Natur. Aber die Tatsache, dass er als Folterer verurteilt wird, wird Weiteres nach sich ziehen“, hofft Amélia. Eine Verurteilung Ustras durch die 23. Zivilkammer São Paulos wäre auch politisch sehr bedeutsam, da sie, wie die zum Teil heftigen Debatten in der Presse und die Aussagen diverser PolitikerInnen – sowie einiger Militärs – zum Thema belegen, ebenfalls in der Lage ist, die Diskussion um das bislang unangetastete Amnestiegesetz von 1979 wieder aufzufrischen.

Mercosur – vom Wandel erfasst?

Der MERCOSUR gilt als typisches Beispiel für den „neuen, offenen Regionalismus“ der 90er Jahre. Welche Ziele werden mit dieser Strategie verfolgt?

Anfang der 90er Jahre war es aus Sicht der Regierungen oberste Priorität, sowohl eine Stabilisierung der Wirtschaftslage zu erreichen, als auch politisch zur Konsolidierung der demokratischen Systeme beizutragen. Andernfalls drohten ökonomische Globalisierungsprozesse und die hohe Auslandsverschuldung die Region weiter ins Abseits gleiten zu lassen. Der „offene Regionalismus“ beschreibt einen Weg enger Allianzen zwischen dem Staat und dem privaten Sektor. Über transnationale Netzwerke und Produktionsketten soll die Einbindung in die Weltmärkte erfolgen. Leitprinzipien sind unilaterale Liberalisierung, Privatisierung sowie Ko-Regulierung mit dem Privatsektor. In den Anfangsjahren stand dieses Modell im Zeichen des sogenannten Konsens von Washington.

Wo steht der MEROCSUR heute? Hat sich diese Entwicklungsstrategie bewährt?

Der wirtschaftliche Kollaps in Argentinien in den Jahren 2001/2002 stellt einen tiefen Bruch dieses Entwicklungsweges dar und hat den MERCOSUR-Mitgliedstaaten deutlich das Scheitern der neoliberalen Politik vor Augen geführt. Paraguay und Uruguay waren stark von den Auswirkungen der Argentinienkrise getroffen, Brasilien hingegen weniger. Die Suche nach neuen Wegen für den MERCOSUR hat begonnen. Von den Regierungen werden zunehmend sozial- und wirtschaftspolitische Instrumente angewandt, die auf eine Förderung lokaler Entwicklungsprozesse abzielen. Durch die Errichtung regionaler Fonds wurde zudem ein neuer Mechanismus geschaffen, um ökonomische und soziale Asymmetrien zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen. Sie beinhalten Finanzierungsinstrumente zum Ausbau von Infrastrukturprojekten, zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen und zur Stärkung des Bildungssektors. Derartige, auf Ausgleich angelegte Institutionen deuten auf eine Abkehr vom ursprünglichen Kurs der Integration hin.

Wie ist die RECM innerhalb des MERCOSUR organisiert? Wie gestaltet sich ihr Einfluss?

Es handelt sich um ein unabhängiges Gremium, das als Repräsentationsforum für die Diskussion sämtlicher politischer Fragen dient, die für Kooperativen und die betriebliche Selbstverwaltung eine Rolle spielen. Zudem werden hier eigene
Initiativen und Vorlagen ausgearbeitet, die direkt an das Wirtschafts- und soziale Beratungsforum des MERCOSUR, das Parlament und die Gruppe des Gemeinsamen Marktes gerichtet werden können. Gerade angesichts des mitunter hohen Maßes an Komplexität der Entscheidungsprozesse ist es besonders notwendig, geschaffene Räume wie das gemeinsame Parlament zu nutzen, um Perspektiven in die öffentliche Debatte einzubringen und auf eine breitere Basis zu stellen. In diesem Sinn ist die RECM eine wertvolle Errungenschaft. Übrigens hat sie auf dieser regionalen MERCOSUR-Ebene in Fragen der solidarischen Ökonomie bislang mehr erreicht als die entsprechenden Gremien der Genossenschaften in Europa.

Kannst Du uns hierfür ein Beispiel geben?

Ein großer Erfolg war das erste interparlamentarische Seminar, das die RECM für Mitglieder des Europäischen Parlaments und des MERCOSUR-Parlaments Ende 2005 in Montevideo organisiert hat. Ziel der RECM war es, den Parlamentariern das Spannungsverhältnis aufzuzeigen, das mit der beabsichtigten Neufassung bestimmter Regelungen der Finanzprüfung und -abrechnung für die Grundprinzipien demokratischer Kontrolle und Teilhabe von Kooperativen verbunden war. Es handelte sich hierbei um privatrechtliche Standards, die nicht einfach auf Kooperativen übertragen werden konnten. Des Weiteren hat die RECM im Zuge der Novellierung des brasilianischen Zivilrechtes 2003 dem brasilianischen Kooperativendachverband (OCB) den Rücken gestärkt, indem sie gemeinsam für eine Verbesserung der Rechtsform von Kooperativen in Brasilien eintraten.

Die Verhandlungen eines Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union haben lange die offizielle Agenda des MERCOSUR bestimmt. Inwiefern war dieses Thema für die RECM von Bedeutung und gab es eine Kooperation mit europäischen Genossenschaften?

In den MERCOSUR-Mitgliedstaaten ist das Konzept solidarischen Wirtschaftens ein wichtiger Bestandteil der nationalen Ökonomien. Der rechtliche Status für Kooperativen ist mittlerweile auf der MERCOSUR-Ebene im Sinne eines gemeinschaftlichen Rahmens verankert, ähnlich dem Status für Europäische Genossenschaften in Europa. Die nationalen Bestimmungen, die entsprechend der jeweiligen kooperativen Tradition auch historisch und kulturell gewachsene Wertesysteme zum Ausdruck bringen, sind weiterhin in Kraft. Im Zuge eines Abkommens hätten gegebenenfalls Regelungen neu gestaltet, also auch auf Ebene der Mitgliedstaaten internalisiert werden müssen. Dementsprechend war es das Ziel der Zusammenarbeit mit europäischen Genossenschaftsverbänden, auf die Umsetzung der Prinzipien der solidarischen Ökonomie hinzuwirken. Dies geschah vermittelt über die jeweiligen nationalen und regionalen Entscheidungskanäle, zumal die RECM ja nicht direkt an den Verhandlungen teilnahm.

Welche Gründe siehst Du für das Scheitern der Verhandlungen zwischen der EU und dem MERCOSUR und gibt es Versuche für eine Wiederaufnahme?

Das Scheitern der Verhandlungen im Oktober 2004 war zu erwarten, trotz der damaligen optimistisch klingenden, offiziellen Verlautbarungen. Zum einen befand sich die Doha-Runde der Welthandelsorganisation in der Krise. Zum anderen hatten sich die MERCOSUR-Staaten gerade aus einer enormen ökonomischen Tieflage heraus gewunden, die jedoch dazu führte, dass das bis dahin dominante neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wurde. Demgegenüber stand auf der anderen Seite eine Europäische Kommission, die eben weiter auf die Versprechungen dieser Schule setzte. Das Festhalten an Agrarsubventionen und protektionistischen Tarifen für Industrieprodukte gab schließlich den Ausschlag für die MERCOSUR-Staaten, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Nichtsdestotrotz folgt die EU dem Beispiel der USA, indem sie bilateral mit Schlüsselstaaten verhandelt. Beispielsweise wurde auf dem ersten europäisch-brasilianischem Gipfeltreffen im Juli 2007 das Vorhaben einer „strategischen Partnerschaft“ mit Brasilien vorgestellt.

Im Juli 2006 ist Venezuela dem MERCOSUR beigetreten. Welche Dynamiken sind von dieser Mitgliedschaft zu erwarten, sowohl hinsichtlich des Integrationskurses als auch der Führungsrolle Brasiliens innerhalb des MERCOSUR?

Venezuela ist zwar formal Mitglied, trotzdem ist die Umsetzung in die Praxis noch nicht erfolgt. Dies liegt daran, dass jede im Rahmen des MERCOSUR getroffene Entscheidung danach von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. In Brasilien, zum Beispiel, haben sich einzelne Gremien bislang quer gestellt, Venezuelas Vollmitgliedschaft zu bestätigen. Mit Blick auf den Integrationskurs repräsentiert Venezuela ohne Zweifel einen anderen Weg. Aber gegenwärtig ist es schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen hiermit verbunden sind.

Wie bewertest Du die neuen regionalen Initiativen und Projekte wie insbesondere die im letzten Jahr gegründete Bank des Südens?

Durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch in Argentinien, die politischen Machtwechsel in Argentinien und Uruguay sowie die Wahlen in Bolivien und Venezuela sind in der Region neue Rahmenbedingungen für die Gründung gemeinsamer Institutionen entstanden. Diese bringen der Region mehr Autonomie, vor allem gegenüber den USA. Ein neuer Aspekt besteht zudem darin, dass Ressourcen vermehrt und besser koordiniert und kanalisiert werden sollen. Ich hoffe sehr, dass derartige Bemühungen weiter anhalten und einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Armut und der wachsenden Ungleichheit leisten. Sie legen den Grundstein für einen Mentalitätswandel und vermitteln der Region eine Vision für die Zukunft.

Kasten
RECM – Repräsentation der Kooperativen im MERCOSUR

Die Reunión Especializada de Cooperativas del MERCOSUR (RECM) wurde 2001 formell begründet und vertritt die Interessen der organisierten Kooperativen im MERCOSUR. Sie setzt sich zusammen aus Regierungsvertretern und Repräsentanten der Kooperativenverbände der Mitgliedstaaten. Ihre Arbeit zielt auf die Anerkennung des Kooperativismus und der Solidarischen Ökonomie (siehe: LN 389; 397/398), die auf alternativen Formen sozialen und ökologischen Wirtschaftens aufbaut. Leitprinzipien sind gesellschaftliche Verantwortung, betriebliche und zwischenbetriebliche Demokratie und gemeinschaftliche Selbsthilfe. Zur Verwirklichung dieser Ideen versucht die RECM im MERCOSUR auf die Beschlussfassung und Gestaltung von Regelungen einzuwirken, da diese den rechtlichen Rahmen für kooperatives Handeln und betriebliche Selbstverwaltung bestimmen. Im Zusammenhang der regionalen Integration setzt sie sich für eine sozial gerechte öffentliche Ausgabenpolitik und eine Stärkung lokal-ökonomischer Entwicklungsprozesse ein. Innerhalb der RECM bestehen beispielsweise Arbeitsgruppen zu ökologisch nachhaltiger Agrarproduktion oder zur verbesserten Anbindung benachteiligter Regionen und Grenzgebiete. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, organisiert die RECM seit 2006 jährlich parallel zum Gipfel der MERCOSUR-Präsidenten den „Sozialgipfel des MERCOSUR“.

Am Rande des Abgrunds

Bereits jetzt, etwa sechs Monate vor der Wahl, veröffentlicht die Tagespresse in Paraguay fast wöchentlich Wahlumfragen. Wofür genau die KandidatInnen stehen, wird nicht diskutiert, Inhalte stehen kaum zur Debatte. Es geht nur darum, wer in den Meinungsbildern vorne liegt, und ob die seit über 60 Jahren regierende Colorado-Partei tatsächlich abgelöst werden soll.
Bisher erhält der oppositionelle Kandidat Fernando Lugo in allen Umfragen die größte Zustimmung. Der ehemalige Erzbischof von San Pedro ist Mitglied des Movimiento Tekojoja. Das heißt in Guarani, der Sprache, die über 80 Prozent der ParaguayerInnen in ihrem Alltag benutzen, „Gleichheit“ oder „Gerechtigkeit“. Es handelt sich um ein Sammelbecken, in dem ein Spektrum von Kleinbauernorganisa­tionen bis hin zu linken Intellektuelle vertreten ist.
Das Problem von Tekojoja ist, dass die Bewegung keine anerkannte Partei ist und ihre KandidatInnen sich deshalb auf den Listen bestehender Parteien dem Wahlvolk stellen müssen. Diese Tatsache hat ein großes Tauziehen um Lugo ausgelöst. Unter anderem wollte die linke Kleinpartei P-MAS, die sich mit Geldern der staatlichen, US-amerikanischen Hilfsorganisation USAID finanziert, ihn als Kandidaten aufstellen. Schlussendlich wird er sich nun bei den Christdemokraten auf die Liste setzen lassen, einer fast inexistenten Partei.
Egal bei welcher Partei er nun auf die Liste kommt, Lugo ist der Kandidat des Parteienbündnisses Concertación, welches alle Parteien zusammenführt, die sich gegen die alles beherrschenden Colorados stellen. In dem Bündnis ist allerdings die liberale Partei die tonangebende Kraft. Viele linke Parteien befürchten, dass Lugo, der „Bischof der Armen“, von den Liberalen instrumentalisiert werden könnte.
Die arme Landbevölkerung setzt sehr viele Hoffnungen auf Fernando Lugo, vor allem wegen seines vermittelnden Eingreifens bei Landkonflikten in San Pedro. Doch Lugo fehlt ein ausgearbeitetes politisches Programm. Auch verfügt er nicht über einen breit besetzten Beraterstab. Sollte er die Wahlen gewinnen, besteht die Gefahr, dass er die Hoffnungen seiner WählerInnen enttäuschen wird. Tiefgreifende oder gar strukturelle Veränderungen wird er vermutlich nicht auf die Agenda bringen. So verlor er beispielsweise kein Wort über die soziale und ökologische Katastrophe die der Sojaanbau bedeutet, die damit verbundene Abholzung, den Einsatz von Pestiziden oder die Vertreibungen von Kleinbäuerinnen und -bauern durch paramilitärischen Gruppen, die von den Sojabaronen finanziert werden. Für viele war es enttäuschend, dass diesem „Hoffnungsträger“ einfach nichts über diese tiefen Probleme des Landes über die Lippen kam. Es ist zudem zu befürchten, dass ihn die Liberalen im Falle eines Sieges beerben und ein System der Alternanz mit den Colorados errichten, ähnlich dem in den USA mit Republikanern und Demokraten.
Überhaupt ist Lugos Wahlsieg noch nicht gesichert. Ende August traten einige größere Kräfte aus der Concertación aus, als der Ex-General Lino Oviedo auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde. Oviedos Partei „Nationale Union ethischer Bürger“ und die neoliberale Rechte der Partei Patria Querida („Geliebtes Vaterland“) unter Pedro Fadul verließen das Parteienbündnis, da sie mit dem Kandidaten Lugo nicht einverstanden waren. Doch auch auf die Unterstützung von rechten DissidentInnen aus der liberalen Partei, die gegen Lugo eingestellt sind, können Oviedo und Fadul zählen.
Oviedo verfügt über eine beträchtliche Massenbasis, vor allem im ländlichen Raum. Vielen gilt er wegen seines Populismus als Messias. Dank seines Vermögens, das auf 1,3 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, erlahmte seine politische Bewegung, die vor allem aus klientelistischen Netzwerken besteht, auch dann nicht, als er im Gefängnis saß. Seine Freilassung war ein politisches Manöver der Colorados, besser gesagt des offizialistischen Flügels des Präsidenten Nicanor Duarte Frutos, um die Concertación zu sprengen und eine dritte politische Kraft zu schaffen, die fähig ist, Stimmen von Lugo abzuschöpfen, um so der Coloradopartei doch zum Sieg zu verhelfen.
Auch wenn es so scheint, als sei Oviedo ein Politiker, der gegen die Colorados eingestellt ist, so kommt er doch aus genau dieser Partei. Er entstammt dem militärischen Coloradoflügel, der den Diktator Alfredo Strössner 1989 absetzte. Diese vermeintliche Rückkehr zur Demokratie war eine Farce, man spricht von der „Demokratie light“ in Paraguay. Die alles beherrschende Stellung der Coloradopartei und ihrer klientelistischen Netzwerke blieben bestehen.
Angeführt wurde die „Palastrevolte“ gegen Strössner von General Andrés Rodriguez Pedotti, der danach Präsident des Landes wurde. Die Nummer zwei unter Präsident Rodriguez war Lino Oviedo. Rodriguez und Oviedo waren in den 90er-Jahren die großen Namen im Drogengeschäft. Ihre Vermögen machten sie mit allerhand illegalen Geschäften von Drogen-, Waffen- und Menschenhandel bis hin zu Giftmüllimporten, unter anderem aus Deutschland.
Nach Rodriguez‘ Tod 1997 trat Oviedo zu den Wahlen 1998 als Kandidat an und gewann diese auch. Doch Oviedo durfte sein Amt nicht antreten, weil ihm von der Justiz ein Putschversuch 1996 vorgeworfen wurde. Die treibende Kraft hinter der Kampagne war die coloradointerne Opposition um Luís Maria Argaña.
Dieser wurde während der großen Krise im März 1999, inmitten von Bauern- und Studentenprotesten, ermordet. Der Verdacht, den Mord angezettelt zu haben, fiel auf Oviedo. Der setzte sich nach Argentinien ab, wo der argentinischen Präsident Carlos Saúl Menem ihn protegierte. Als Menem die Wahlen im gleichen Jahr verlor, ging Oviedo nach Brasilien, wo er verhaftet und schließlich an Paraguay ausgeliefert wurde. Dort wurde er für die Anstiftung zum Mord an Argaña und den Massakern an protestierenden Studenten verurteilt und saß seitdem in Haft. Er bezeichnete sich als „letzten politischen Gefangenen Lateinamerikas“ und selbst Fernando Lugo gestand ihm zu, ein politischer Gefangener zu sein.
Nun hat der 64-jährige Oviedo das Ziel, sich weiß zu waschen, um frühestens im Jahr 2013 zu den Wahlen antreten zu können. Doch noch ist seine Freiheit recht prekär. Um einer erneuten Verurteilung zu entgehen, wird er sich bei denen erkenntlich zeigen müssen, die seine Freilassung ermöglicht haben: seinen verhassten Rivalen vom offizialistischen Flügel der Colorado-Partei. Bei den kommenden Wahlen wird Oviedo wohl seine umfassende politische Maschinerie für den Kandidaten der Colorados in Gang setzten.
Wer dieser Kandidat der Colorados nun überhaupt sein wird, ist aber noch unklar. Dies ist auch kaum zu sagen, denn wie genau die Konflikte innerhalb der quasi-staatlichen Colorado-Partei verlaufen, ist für Außenstehende schwer zu durchschauen. Pfründe, Assistenzialismus, Klientelismus und mafiöse Geschäfte sind die Grundlagen für den massiven Rückhalt der Colorados in der Bevölkerung. Um LehrerIn oder KrankenpflegerIn zu werden, muss man sich der Coloradopartei anschließen und bei Wahlveranstaltungen jubeln gehen. Die wichtigsten AnwärterInnen auf die Präsidentschaftskandidatur der Regierungspartei sind Blanca Ovelar und Luis Castiglioni.
Ovelar ist die ehemalige Bildungsministerin, die in diesem Winter während eines Lehrerstreiks zurücktrat und sich dem Wahlkampf widmete. Sie repräsentiert die offizialistische Strömung des coloradismo. Präsident Duarte Frutos widmet sich seit Monaten mehr dem Wahlkampf seines Schützlings Ovelar als seinen Amtsgeschäften.
Castiglioni dagegen hat die Rückendeckung der wahren Herren im Lande, der großen Sojaproduzenten, aber auch der US-amerikanischen Botschaft. Er ist der Kandidat der Agrarindustrie und vertritt eine rechte, neoliberale Politik. Sein Ziel ist es, das Agroexportmodell zu vertiefen, um die Komponente Agrotreibstoffe zu bereichern, was das Ende der kleinbäuerlichen Landwirtschaft bedeuten wird, die ohnehin nie nennenswert staatlich unterstützt wurde.
Tatsächlich beruhte die Herrschaft der Colorados auf der Repression jedweder eigenständigen politischen Organisation der Kleinbäuerinnen und -bauern. Mitte der 70er Jahre gingen die Sicherheitskräfte brutal gegen die christlichen Agrarligen vor. Diese Repression hat mit dem Ende der Diktatur nicht aufgehört.
In Paraguay besitzen ein Prozent der Bevölkerung 77 Prozent des Grund und Bodens. Während der Agrarreform von oben in den 60er Jahren verteilte Präsident Strössner zwölf Millionen Hektar an befreundete Militärs, PolitikerInnen und UnternehmerInnen, unter ihnen auch damals schon etliche aus Brasilien. Im letzten Sojazyklus 2006/2007 wurden fast 2,5 Millionen Hektar Soja angebaut. Davon sind 80 Prozent in ausländischer Hand, meistens in der deutschstämmiger Brasilianer. Die paraguayische Menschenrechtskoordination CODEHUPY hat im Juni den mehrere hundert Seiten dicken Bericht „Chokokue“ präsentiert (Chokokue heißt Kleinbauer auf Guarani). In diesem wissenschaftlichen Werk dokumentiert das juristische Team minutiös 75 Morde an Kleinbäuerinnen und -bauern und Landlosen zwischen 1990 und 2005, außerdem das Schicksal zweier Menschen, die als verschwunden gelten. In über 30 Prozent der Fälle waren Polizeieinheiten die Täter, in den übrigen meist paramilitärische Kräfte, die von GroßgrundbesitzerInnen finanziert werden. Der Chokokue-Bericht soll dazu dienen, die Menschenrechtsverbrechen der paraguayischen „Demokratie“ international zu denunzieren, beispielsweise diesen November in Genf bei der UNO-Menschenrechtskommission. Von den untersuchten 77 Repressionsfällen kam es nur bei zweien zu Verurteilungen. Die Straflosigkeit ist integraler Bestandteil des Systems und hinterlässt gravierende mentale Spuren bei der betroffenen Bevölkerung. Diese Repression und ein verfilzter und mafiöser Klientelismus verhindern fast durchwegs autonome Handlungsformen und Organisation.
Vor diesem Hintergrund können sich die GroßgrundbesitzerInnen in Paraguay nahezu alles erlauben. In den letzten Jahrzehnten wurde immer mehr der industriemäßige Anbau von Soja ihre Haupteinnahmequelle. Das Umweltgesetz, das lebende Barrieren mit Bäumen gegen den Pestizidabdrift vorschreibt, ignorieren die latifundistas konsequent.
Die Flüsse und Bäche sind vor allem in Alto Parano und Itapua vielerorts biologisch tot. Der ehemalige Fischreichtum ist eine blasse Erinnerung. Paraguays Kleinbäuerinnen und -bauern lebten traditionell von ein bisschen Ackerbau und Viehhaltung, aber immer ergänzt durch Fischfang, Jagen und Sammeln im Wald. Die gnadenlose Abholzung des atlantischen Regenwaldes und der Pestizideinsatz in der industriellen Landwirtschaft haben diese traditionellen Subsistenzformen stark eingeschränkt. Dazu kommt, dass viele GroßgrundbesitzerInnen – die immer häufiger aus Brasilien kommen – ein Eindringen in ihr latifundio nicht mehr tolerieren und ihr Wachpersonal, die capataces, angewiesen haben, jeden Eindringling zu töten.
Die Sojalobby in Paraguay plant, in den nächsten Jahren die Sojanbaufläche auf vier Millionen Hektar auszudehnen. Die Nachfrage ist dank boomender europäischer und chinesischer Tierfabriken und dem Run auf Agrotreibstoffe gegeben. Die Sojabauern und -bäuerinnen denken auch ernsthaft darüber nach, die traditionelle Winterkultur Weizen durch Raps zu ersetzen, um europäische Autos und Lastwagen zu beliefern, anstatt die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen.
Dieser massive Vormarsch des Agrobusiness in Paraguay bedroht das Überleben der letzten kleinbäuerlichen und indigenen Siedlungen. Die Sojabarone pflanzen gentechnisch verändertes und hybrides Saatgut, was das traditionellen Saatgut der benachbarten Kleinbäuerinnen und -bauern verunreinigt. Wegen der steigenden Nachfrage nach Futtermitteln in Europa und nach pseudo-ökologischen Treibstoffen, dehnen sich diese Farmen immer weiter aus.
Der Verlust von Bodenfruchtbarkeit wegen Erosion, Verwüstung, Versauerung oder Versalzung erreicht sehr beunruhigende Dimensionen, wenn man gleichzeitig das Wachstum der Weltbevölkerung bedenkt. Das Vergeuden von Wasser für Bewässerungssysteme auf riesigen Flächen erschöpft die Grundwasserreserven und die Vernichtung des Waldes hat zu einer Veränderung des Wasserhaushaltes und der Regenzyklen geführt. Ausgedehnte Trockenphasen und Dürren wechseln mit Überschwemmungen ab. Die Degradierung der Ökosysteme provoziert regelrechte Schädlingsplagen in der Landwirtschaft, weil es keine natürlichen Feinde mehr gibt. Der Einsatz von Pestiziden vergiftet die Flüsse, und damit auch die arme Landbevölkerung, die aus ihnen trinkt und fischt. So gefährdet der Sojaanbau als Exportmodell Leib und Leben der armen Bevölkerung Paraguays.
Die paraguayische Bevölkerung sieht also gigantischen Problemen entgegen. Dass die kommenden Wahlen an ihnen etwas ändern, ist sehr unwahrscheinlich, selbst wenn der Hoffnungsträger der Armen, Fernando Lugo gewinnen sollte. Es ist kaum denkbar, dass er gegen die mächtigen Interessen der Sojalobby ankäme, selbst wenn er es wollte.
Auch wenn im Wahlkampf Inhalte kaum eine Rolle spielen, und die Konflikte in den Medien auf die Personen reduziert werden, ist es doch eine Neuerung für Paraguay, dass der kommende Präsident noch nicht feststeht, und eventuell kein Colorado sein wird. Denn das Land hat nie wirklich mit der Diktatur gebrochen. Es gibt kaum demokratische Kultur. Die Militärdiktatur Strössners wurde von Militärs gestürzt. Alle Putschisten waren Mitglieder und Führungsfiguren der gleichen Partei, die das Land seit über 60 Jahren regiert.
Ein großer Teil der Bevölkerung ist sehr passiv und voller Angst, seine Rechte aktiv einzufordern. Zu brutal waren die 35 langen Jahre von Strössners Herrschaft. Zu viele Gefolterte, Ermordete, Gefangene, Verschwundene und Exilierte prägen nach wie vor die kollektive Erinnerung und die Psyche vor allem der Landbevölkerung. Die ersten Todesflüge in Lateinamerika fanden Ende der 50er Jahre in Paraguay statt, in Itapua und Misiones, bei denen Gefangene der damaligen Guerilla lebendig aus Flugzeugen in die Flüsse und den Urwald geworfen wurden.
Deshalb ist es fraglich, ob die Colorados friedlich die Regierung abgeben werden, sollten sie bei den Wahlen unterliegen. Einige Intellektuelle und AktivistInnen von Kleinbäuerinnen- und -bauernorganisationen erwarten, dass die Colorados sofort viel Geld aufwenden würden, um das Land zu destabilisieren. Es gibt Befürchtungen, dass sie die verarmte Bevölkerung zu Landbesetzungen und Straßenblockaden anstacheln könnten. Dies solle dazu dienen, das Land unregierbar machen, um es dann mit einem Militärputsch wieder unter Kontrolle zu bekommen. Damit könnten sich die Colorados erneut als die Garanten der Stabilität präsentieren.

KASTEN:

Hommage An Joel

Joel ist jung, Anfang zwanzig. Er ist mit Perla verheiratet und sie haben zwei Kinder. Sie leben in der Gemeinde Tekojoja, was auf Guarani Gerechtigkeit oder Gleichheit bedeutet. Angrenzend an ihre zweieinhalb Hektar kleine Parzelle beginnen die endlosen Sojamonokulturen, die grüne Wüste, wie Joel zu sagen pflegt. Traurige Berühmtheit erlangte Tekojoja am 24. Juni 2005, als brasilianische Sojafarmer eine illegale Räumung mit bestochenen Staatsanwälten, Polizei und eigenen bewaffneten Schlägern durchführten. 56 Häuser wurden niedergebrannt, die Feldkulturen mit Traktoren plattgewalzt, 150 Personen verhaftet und zwei Campesinos erschossen. Am Vorabend der Räumung hatte Joel den Ziehbrunnen fertig gegraben, alles von Hand mit der Schaufel. Bis in 12 Meter Tiefe. Am folgenden Tag wurde auch ihr Haus niedergebrannt, ihre Kulturen zerstört und der Brunnen zugeschüttet. Doch das junge Paar kehrte wie alle anderen zurück. Joel hob den Brunnenschacht wieder aus. Sie säten von neuem aus und pflanzten Bäume. Seine Tochter Vivi kam mit einer Missbildung im Gesicht zur Welt, weil Perla während der Schwangerschaft mehrmals dem Abdrift der Pestizide ausgesetzt war.
Joel hat das Umweltschutzgesetz gelesen und kennt die entscheidenden Paragrafen auswendig. Es ist das einzige Buch in seinem Haus. Bei jeder Sprühung führt er die Dorfbewohner an, wenn sie die Traktoren zum Umkehren zwingen. Oft kehren sie unter Polizeischutz zurück. Einmal riss ein Polizist eine Seite aus dem Gesetzesbuch raus und stopfte sie Joel in den Mund, nachdem er ihn zu Boden geschlagen hatte. Der brasilianische Sojafarmer stand spöttisch neben ihm und sagte: „In diesem Land gibt es kein Gesetz. Es gibt nur Geld.“ Doch bei der nächsten Sprühung stand Joel wieder dort, die anderen anführend. Jedes Mal wieder. Die Hoffnung gibt er nicht auf: Zwei Jahre nach der Räumung hat Joel das erste Biolandbaukomitee der Gemeinde gegründet.

Der mafiöse Staat

Justiça, Paz e Liberdade!“ – „Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit“, so steht es an zahlreichen Häuserwänden in den Armenvierteln von São Paulo geschrieben. Doch ist dies keine Forderung einer sozialen Bewegung. So lautet das Motto der Gefängnismafia Erstes Hauptstadtkommando (PCC). In Rio de Janeiro findet man ähnlich gelagerte Sprüche an den Wänden: „CV ist die Macht der Jugend!“ CV, das ist das Comando Vermelho – das Rote Kommando – die älteste Verbrecherorgansisation Brasiliens. Passend dazu kann man im Internet Hip-Hop-Lieder hören, welche die Gewalt des CV oder des PCC feiern und legitimieren. Nur sie würden sich wirklich um die armen Viertel kümmern, ihre Gewalt sei letztlich eine legitime Selbstverteidigung, so der Tenor dieser Texte.

Moderne Robin Hoods?

Zu gerne geben sich die Drogengangs als Rächer der Enterbten. Allein der Name „Rotes Kommando“ suggeriert, dass dieses sich als eine Widerstandsbewegung präsentiert, die für die unteren Klassen der brasilianischen Bevölkerung kämpft. Ihre Herkunft aus den Armenvierteln passt dabei sehr gut zum romantischen Bild vom Sozialrebellen. Tatsächlich wurden beide Organisationen, CV und PCC, in Gefängnissen gegründet, um sich gegen die brutalen Haftbedingungen gemeinsam zu wehren. Auch außerhalb der Gefängnisse halten die Bandenmitglieder zusammen. In ihren Pressebotschaften sprechen sowohl PCC als auch CV immer vom „Widerstand“ gegen die Polizeigewalt.
Doch die Realität sieht anders aus. Hauptbeschäftigung der Banden ist der Konkurrenzkampf um die in den Favelas angesiedelten Verkaufsstellen für Drogen. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den hochbewaffneten Gruppen gehören dabei, insbesondere in Rio de Janeiro, zum Alltag in der Favela. Die Gewalt der Drogengangs richtet sich mitnichten ausschließlich gegen die Polizei. BewohnerInnen der Favelas, die sich nicht dem Willen der Gangs unterwerfen, werden schnell zur Zielscheibe der Brutalität der Jugendbanden. Um gleichzeitig ein wenig Rückhalt in der Bevölkerung zu bekommen, verteilen die Kommandos gelegentlich Essen oder Medikamente in den Favelas. Der hochgehaltene Wert der Solidarität gilt jedoch nur untereinander.

Pervers integriert

Von den – nicht nur brasilianischen – Medien werden die Chefs dieser Banden immer wieder als „Feudalherren“ bezeichnet. Die Bosse werden als souveräne Herrscher über die Favelas dargestellt, die absolute Kontrolle über einen von jeglichem staatlichen Zugriff befreiten, autonomen Raum besitzen würden. PCC, CV und ähnliche Vereinigungen seien ein „Staat im Staat“ oder eine „Parallelmacht“, heißt es oft.
Diesen Mediendarstellungen widerspricht Marcelo Freixo, Aktivist der in Rio de Janeiro tätigen Menschenrechtsorganisation Justiça Global vehement: „Die Drogenbanden stellen keine Parallelmacht dar! Die Macht der Drogengangs ist lokal extrem beschränkt. Sie erstreckt sich ausschließlich auf die Armenviertel.“ Gegen die Polizei hätten sie keine wirklich „militärische“ Chance, sagte er den Lateinamerika Nachrichten.
Der Gedanke einer Parallelität führe in die Irre. Schon allein über die Verbindungen zum internationalen Waffenhandel werden Drogengangs und staatliche Akteure zu Geschäftspartnern. Drogenhandel ist schließlich eines der lukrativsten Geschäfte der Welt. „Die Versorgung mit Waffen funktioniert über korrupte Polizisten“, erklärt Freixo. Die Waffen würden von Netzwerken innerhalb der Polizei und des Militärs vor allem über Paraguay nach Brasilien geschmuggelt. Die moderne Bewaffnung und die lokale Macht der Gangs in den Armenvierteln lässt sich nicht ohne die Beteiligung von Teilen des Staatsapparats erklären.
Zu diesem Schluss kommt auch die Anthropologin Alba Zaluar. Für sie handelt es sich deshalb um eine „perverse Integration“ der Drogengangs in den Staat. So lautet der Titel ihres Buches von 2004, in dem sie die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Forschung über Armut und Drogenhandel präsentierte. Der Transport der Drogen – vor allem Kokain aus den Andenländern – würde von GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen organisiert. Sie machten den großen Profit. „Die kleinen Dealer aus der Favela, ihrem ganzen militärischen Apparates zum Trotz, helfen in Wirklichkeit nur denen, sich zu bereichern, die tonnenweise mit Drogen handeln und den Waffenhandel kontrollieren: dem Handelsunternehmer, der in illegale Geschäfte involviert ist, dem korrupten Polizisten, dem kriminellen Anwalt und so weiter“, schreibt sie in ihrem Buch.
Dass vermeintliche Sozialbanditen gut in den Staat integriert sind, hat in Brasilien Tradition. Bis heute wird Lampião, ein Bandit, der in den 1920er Jahren im Hinterland des Nordostens aktiv war, von vielen Linken und armen BrasilianerInnen als Held der Armen dargestellt. Letztlich waren die cangaceiros, wie die Banditen des Nordostens genannt wurden, jedoch weniger Sozialbanditen als Banditen zur sozialen Kontrolle, wie der Publizist Julio Chiavenato schreibt. So erhielten die Banditen ihre relative territoriale Kontrolle nur dank Verbindungen mit Großgrundbesitzern und Politikern, welche im Gegenzug für die Freiräume die Banditen als Privatgarde gegen unliebsame Kleinbauern in den Dienst nehmen konnten. Letztlich unterschieden sich Banditen und Polizei wenig in Brasilien, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wer Bandit ist und wer nicht, hat vor allem mit Beziehungen zu tun.
Dies macht eben die brasilianische Staatlichkeit aus: Seit der
Kolonialzeit bediente sich die Administration extralegaler und nichtstaatlicher Gewalt, um die bestehende Ordnung zu verteidigen. Dies war auch nötig, um das große und dünn besiedelte Territorium überhaupt kontrollieren zu können. Im 19. Jahrhundert wurden die Privatarmeen der lokalen Eliten in der Form von Milizen sogar institutionalisiert. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass nichtstaatliche Gewaltakteure Teil der brasilianischen Staatsformation sind (Vergleiche den Artikel von Markus-Michael Müller in dieser Ausgabe).
Einen wichtigen Wandel im Verhältnis von staatlichen Sicherheitsorganen und Bevölkerung brachte der Militärputsch von 1964. Ab dieser Zeit bekam die Polizei einen Freifahrtschein für jegliche Gewaltanwendung gegen die politische Linke. „Nach dem Ende der Militärdiktatur gab es keine strukturelle Änderung der Sicherheitsorgane. Die Demokratie hat diese Struktur übernommen“, meint Mauricio Campos gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er ist in dem Netzwerk Front des Populären Kampfes (FLP) gegen Polizeigewalt in Rio de Janeiro aktiv, die Menschen betreuen, die Opfer von Polizeigewalt wurden und versuchen, Fälle willkürlicher Polizeigewalt aufzuklären.

Polizei außer Kontrolle

Meistens ist die Polizeigewalt Resultat von Streitigkeiten innerhalb mafiöser Strukturen. „Die brasilianische Polizei, insbesondere die in Rio de Janeiro, ist extrem korrupt“, erzählt Campos. 30 bis 40 Prozent der Einnahmen der Drogengangs in den Favelas gingen als Schutzgelder an die Polizei. Diese Zahlen wurden auch von O Globo, der größten Tageszeitung Rio de Janeiros, bestätigt. „Die mafiösen Strukturen brauchen das Klima der Gewalt. Die Polizei muss immer wieder Gewalt ausüben, sonst verliert sie ihre Verhandlungsmasse. Sie muss demonstrieren, dass sie fähig ist, das Geschäft empfindlich zu stören, damit sie Schutzgelder abpressen kann“, erzählt Campos weiter. Außerhalb ihrer Dienstzeit würden viele Polizisten noch bei paramilitärischen Gruppen arbeiten. Diese wurden von Ladenbesitzern gegründet, um als private Sicherheitsfirmen zu agieren, doch mit der Zeit suchten sich diese Gruppen noch andere Geschäftsbereiche wie etwa Schutzgelderpressung oder die Kontrolle von illegalem Glücksspiel. Die berüchtigte Paramilitärische Gruppe Scuderie Detective Lecocq, der vor allem Polizisten, aber auch Staatsanwälte, Richter und Politiker angehören, kontrolliert etwa den gesamten Drogenhandel des Bundesstaates Espirito Santo. In der dortigen Hauptstadt Vitoria existiert einer der größten Fernhäfen Brasiliens, und die Scuderie kontrolliert auf diese Weise auch einen großen Teil des Exports von Kokain aus Brasilien nach Europa und in die USA.

Kontrolle der Überflüssigen

„In Brasilien hat die Polizei nicht die Aufgabe, die Rechte der Bevölkerung zu garantieren, sondern die Armen zu kontrollieren“, meint deshalb Marcelo Freixo. Die Repression der Polizei konzentriere sich auf den schwächsten Teil des Drogenhandels, die Gangs in den Favelas, während der große Reibach an andere ginge. „Eine effektive Verfolgung der Geldströme, die aus dem Drogengeschäft stammen, würde wahrscheinlich viele Politiker, Unternehmer und sogar Richter auffliegen lassen.“
Marcelo Freixo vergleicht das Strafsystem Brasiliens mit dem der USA, wie es der französische Soziologe Loïc Wacquant beschrieben hat: als Strafstaat. „In den neunziger Jahren hat sich in Brasilien mit dem neoliberalen System ein ‚minimaler‘ Staat herausgebildet, der immer weniger in den sozialen Bereich investiert. Allerdings wird er begleitet von einem Staat der maximalen Repression, der totalitäre Züge trägt, dem ‘Strafstaat’“, sagt Freixo. Immer mehr Menschen in Brasilien seien für die kapitalistische Wirtschaft schlicht überflüssig. Diese Bevölkerung gelte es zu kontrollieren. Armut und die Bevölkerung ganzer Armenviertel werde kriminalisiert. Deshalb sei auch der Diskurs, der von einer „Parallelmacht“ in den Händen der Drogengangs rede, so gefährlich. „Jeder Bewohner einer Favela wird als verdächtig angesehen, als potentieller Feind der Gesellschaft betrachtet.“ So werde das extrem brutale Vorgehen der Polizei gegen die FavelabewohnerInnen gerechtfertigt, meint Freixo. „Wir haben es mit einer Ausrottungspolitik des brasilianischen Staates zu tun, die sich vor allem gegen schwarze und männliche Jugendliche aus den Armenvierteln richtet.“
Mauricio Campos sieht das ähnlich. Das brasilianische Justizsystem hilft dabei, die Ungleichheit zwischen Armen, die von der Polizei einfach getötet werden dürfen, und Reichen, die beschützt werden müssen, aufrecht zu erhalten. „Wir haben es teilweise mit Richtern zu tun, die von ‚genetischem Müll’ reden‘ wenn sie über die Bewohner und Bewohnerinnen von Favelas sprechen.“ In Rio de Janeiro unterstützen einige Politiker sogar paramilitärische Milizen, die Sicherheit bei den diesjährigen Panamerikanischen Spielen in Rio de Janeiro „anbieten“. Selbst Bürgermeister César Maia bezeichnete den „Sicherheitsservice“ der Kommunitären Selbstverteidigung (ACD) im Zusammenhang mit den Spielen als „nur ein kleines Problem, ein viel kleineres als etwa der Drogenhandel.“ Den Begriff ACD, der an die berüchtigten Paramilitärs AUC in Kolumbien erinnert, hat der Bürgermeister höchstpersönlich erfunden.

Rebellen ohne Perspektive

Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlicher, weshalb es den Drogengangs zum Teil gelingt, sich als Widerstandskämpfer darzustellen. Dennoch ist es falsch, sie als Sozialrebellen zu betrachten. Alba Zaluar hat in ihren jahrelangen Forschungen nachgewiesen, dass die Drogengangs in keiner Weise zu einer Umverteilung des Reichtums beitragen. „Die Jugendlichen sind in einer Ideologie des absoluten Egoismus und Konsumismus gefangen“, schreibt sie in ihrer Studie. Häufig sind sie selbst drogenabhängig, deshalb hoch verschuldet und dadurch gezwungen, in dem Geschäft weiterzumachen, wenn sie ihr Leben nicht riskieren wollen. „Der Drogenhandel hat nichts Revolutionäres“, meint deshalb auch Marcelo Freixo. Vielmehr sei es eine unbewusste Reaktion auf eine Gesellschaft, die die Armen ausgrenze, aber Konsum als das reine Glücksversprechen anpreise. „Die Drogengangs in Rio de Janeiro sind extrem unorganisiert. Ihre Mitglieder werden immer jünger und immer brutaler. Die meisten bocas de fumo [Drogenverkaufsstellen, Anm. d. Red.] machen sogar ein Minusgeschäft. Diese Jungen arbeiten im Drogengeschäft, um etwas soziales Prestige zu bekommen. Sie wollen ein paar moderne Turnschuhe, ein bißchen Macht und mit ihren Waffen vor den Mädchen angeben. Es ist keine soziale Ideologie, die diese Jungen antreibt.“
Zudem ist die Gewalt der Jugendgangs in Brasilien hochgradig sexualisiert und maskulin aufgeladen. Die Jungen treibe eine extreme Form des Machismo zu ihrer Gewalt, schreibt Alba Zaluar. Frauen haben in besonderer Weise unter der Gewalt in den Favelas zu leiden. Denn durch die Abwesenheit oder den frühen Tod der Männer gibt es immer mehr alleinstehende Frauen, die ihre Familien nur auf sich gestellt durchbringen müssen. Diese Frauen müssten extrem viel arbeiten, was nicht selten dazu führe, dass die Kinder verwahrlosten, nicht zur Schule gingen und so auch leichter in die Fänge der Drogenbanden gerieten. So entstehe ein Teufelskreis, meint Alba Zaluar.
Als Lösung sehen Marcelo Freixo und Mauricio Campos nur eine wirkliche Umgestaltung der brasilianischen Gesellschaft. „Innerhalb des kapitalistischen Systems sehe ich keine Lösung für diese Probleme“, meint Freixo. „In Wirklichkeit ist der Staat die Mafia“, resümiert Mauricio Campos. Diese mafiöse Struktur müsse abgelöst werden von einem System, das auf Solidarität basiert. Nur so könnte die marginalisierte Bevölkerung auf eine Weise in die Gesellschaft integriert werden, die nicht pervers ist.

Neue Geber, neue Chancen?

Venezuela leistet Entwicklungshilfe in den USA, hätte die Schlagzeile lauten können: Im Winter 2005/2006 startete der venezolanische Präsident Hugo Chávez ein Hilfsprogramm für arme US-AmerikanerInnen. Was bei den EmpfängerInnen für Freude sorgte, verärgerte das Weiße Haus. Die US-Regierung hatte sich geweigert, die Heizkostenzuschüsse für arme Haushalte wegen der hohen Heizkosten zu erhöhen; US-Konzerne lehnten Preissenkungen ab. Chávez sprang ein, bot armen US-Haushalten um 40 Prozent verbilligtes Heizöl an – und provozierte einmal mehr seinen „Lieblingsfeind“, US-Präsidenten Bush.
So weit, dass ein Land des ehemals globalen Südens „Entwicklungshilfe“ in einem Industrieland leistet, ist es noch nicht. Doch das starre Muster, das dem Diskurs von Entwicklung und Entwicklungshilfe lange Zeit zugrunde lag, ist aufgebrochen. Die Episode von Chávez‘ Hilfsprogramm zeigt: Längst stehen sich nicht mehr wohlhabende Industrieländer und mittellose Dritte-Welt-Staaten gegenüber, längst fließt Hilfe nicht mehr nur vom Norden in den Süden. Die globalisierte Welt zerfällt in ein Mosaik von armen und reichen Blöcken, Staaten, Regionen, in Netzwerke von Konkurrenz und Kooperation. Nicht nur in den USA, auch in den ehemals europäischen Zentren des Wohlstandes bilden sich zunehmend Schichten heraus, auf die die Bezeichnung „arm“ zutrifft – während Staaten wie China, Indien oder Brasilien zu Wirtschaftsmächten aufsteigen, die die ehemals vorherrschenden westlichen Staaten weder ignorieren noch umgehen können.

Entwicklungshilfe für die Geber

Dies wirkt sich auch auf die Entwicklungspolitik aus. Lange Zeit hatten die westlichen Industrienationen freie Hand: Für die technische und finanzielle Hilfe, die sie den ärmeren Staaten des globalen Südens zukommen ließen, konnten sie weitreichende Forderungen stellen. Dabei ging es häufig um wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Vor allem Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) machten seit den 1980er Jahren Strukturanpassungsmaßnahmen zur Bedingung für Kredite. Entsprechend ihrer neoliberalen Doktrin bestanden diese vor allem aus Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Seit den 1990ern forderten die traditionellen Geberländer zunehmend Anstrengungen im Bereich der good governance („guter Regierungsführung“) für Entwicklungshilfe: Verringerung der Korruption, Einhaltung der Menschenrechte, Meinungs- und Wahlfreiheit. Beides brachte den Geberländern von verschiedener Seite Kritik ein: Die geforderten Reformen dienten vor allem der eigenen Wirtschaft und erleichterten den Industriestaaten den Zugang zu den Märkten des Südens; sie zwängen anderen Staaten ihre Vorstellungen von Demokratie und freier Marktwirtschaft auf oder machten es manchen diktatorisch regierten Staaten unmöglich, überhaupt noch Hilfe zu bekommen – worunter vor allem die Ärmsten in diesen Ländern zu leiden hätten.
Jetzt ist alles anders, oder zumindest scheint es auf den ersten Blick so: Viele Staaten in Afrika, Asien oder Lateinamerika haben an Wahlfreiheit gewonnen, seit neue Staaten die Entwicklungspolitik für sich entdeckt haben. Für viele afrikanische Staaten ist China inzwischen wichtigster Handelspartner, Investor – und wichtigstes Geberland für Entwicklungshilfe. Für seine Investitionen fordert China nichts als den Zugang zu Rohstoffen, es interessiert sich – wenig verwunderlich – weder für die Lage der Menschenrechte noch für wirtschaftliche Reformen. Um seinen hohen Energiebedarf zu decken, hat China ein weitgefächertes Netz von Rohstofflieferanten geknüpft und dabei gerade die Länder in Asien oder Afrika einbezogen, die der Westen lange Zeit links liegen ließ. Was der SPIEGEL (13/2006) einen „brachialen Expansionskurs“ schimpft, ist gerade für viele afrikanische Staaten eine Alternative zum neoliberalen Programm von Weltbank und IWF. In Angola beispielsweise hat „der chinesische Weg“ die Armut deutlich effektiver bekämpft als die Entwicklungskredite des IWF. Chinas Ignoranz gegenüber Verletzungen der Menschenrechte machen seine Hilfe dennoch zu einer zweischneidigen Sache, wenn es, wie in Burma oder dem Sudan, bedingungslos mit Militärregimen kooperiert.
Anders die Situation in Lateinamerika: Dort avanciert Venezuela zum zentralen Akteur in Sachen Entwicklungspolitik. Im Unterschied zu China geht es dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nicht (nur) um Wirtschaftspolitik: Er treibt vor allem sein politisches Projekt ALBA voran, eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der Länder Lateinamerikas, die explizit gegen die US-amerikanische Vorherrschaft in der Region gerichtet ist.

Öl gegen Solidarität

Die „Bolivarianische Alternative für Amerika“ soll genau das Gegenteil der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA sein, mit deren Aufbau die USA in Lateinamerika scheiterten. ALBA statt ALCA – der Wechsel symbolisiert auch den Machtverlust der USA in Lateinamerika. Zwar sind die USA für viele Länder Lateinamerikas weiterhin wichtigster Handelspartner, doch haben sie ihren einstigen „Hinterhof“ in den letzten Jahren vernachlässigt, finanziell wie politisch. Einzig Kolumbien erhält über den Plan Colombia nach wie vor hohe finanzielle Zuschüsse. Der größte Teil des Geldes, mit dem sich die USA den Süden des Kontinents gefügig machten, geht heute in den Irak. So boten sich für Chávez perfekte Bedingungen: Während er in Venezuela den Aufbau des „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“ in seinem Sinne vorantreibt, sichern ihm die sprudelnden Öleinnahmen außenpolitisch freie Hand. Linksgerichtete Regierungen wie in Argentinien, Bolivien und Ecuador unterstützt er großzügig und sichert sich im Gegenzug ihre Solidarität in seinem Konfrontationskurs gegenüber den USA.
Zwar hat Venezuelas Großzügigkeit auch wirtschaftliche Gründe: Zum einen geht zurzeit noch ein Großteil seiner Exporte in die USA, und Chávez möchte dem Land neue Absatzmärkte erschließen. Zum anderen erhöhen die vermehrten Öleinnahmen den Druck auf die venezolanische Währung. Um diese nicht aufwerten zu müssen und damit Exporte zu verteuern, sind die Finanzhilfen an befreundete Staaten ein willkommenes Mittel, um Kapital zu exportieren. Seit 2005 hat Venezuela für über drei Milliarden US-Dollar argentinische Staatsanleihen erworben. Auch Argentinien hat davon profitiert. Die argentinische Regierung konnte mit dem venezolanischen Geld auf einen Schlag ihre Schulden beim IWF zurückzahlen – was den Internationalen Währungsfonds politisch wie finanziell in eine Krise stürzte.

Kreative Tauschgeschäfte

Wieviel Venezuela tatsächlich in Entwicklungshilfe investiert, lässt sich nicht sagen – anders als in den Staaten der OECD gibt es weder einen festen Etat für die Hilfe noch ein eigenes Ministerium. Die Hilfe läuft zumeist über den staatlichen Ölkonzern PDVSA. Neben Finanzhilfen bietet Venezuela verschiedene, durchaus kreative Formen der Hilfe an. So zahlt es im Rahmen des Aufbaus von ALBA in Kompensationsfonds ein, mit denen bestehende Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten ausgeglichen werden sollen. Es versorgt Länder Zentralamerikas und der Karibik im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens mit verbilligtem Öl, was den Anstieg des Ölpreises für diese abmildert und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert. Mit Kuba verbindet Venezuela nicht nur die symbolische Freundschaft zwischen Fidel Castro und dem Aufsteiger Chávez, sondern auch ein besonderer Tausch: Kuba erhält Öl – und schickt im Gegenzug Ärzte in die Armenviertel Venezuelas. Ähnlich funktioniert die Zusammenarbeit mit Bolivien, das gegen Öl Nahrungsmittel liefert, die an Bedürftige in Venezuela verkauft werden.
Gerade an solchen Projekten werden die Besonderheiten der venezolanischen Hilfe deutlich: Venezuela hat auch die Armut im eigenen Land noch nicht vollkommen besiegt und verknüpft so Aufbau in anderen Ländern mit Armutsbekämpfung im Inneren. Zugleich ist die Hilfe – auch aufgrund dieser Tatsache – stärker auf gegenseitige Kooperation angelegt als auf paternalistische Bevormundung, wie das bei der westlichen Entwicklungszusammenarbeit der Fall war. Den Staaten Lateinamerikas haben sich so zumindest Wahlmöglichkeiten ergeben: Sie können sich zwischen verschiedenen Optionen der Kooperation – und damit auch der Richtung der Entwicklung – entscheiden. Und das erhöht wiederum den Druck auf die Geberländer, ihre Formen der Hilfe zu überprüfen: Sie müssen nun nachweisen, wie erfolgreich ihre Hilfsprogramme tatsächlich sind. Die Zeiten sind vorbei, als die westlichen Geberländer den Ländern des Südens neoliberale Reformen aufdrücken konnten, ohne deren katastrophalen Folgen rechtfertigen zu müssen.
Dennoch bewegt sich Entwicklungshilfe weiterhin auf einem schmalen Grat: zwischen neuen Abhängigkeiten und der Eröffnung politischer Spielräume, zwischen freiwilliger Gefolgschaft und erkaufter Loyalität. Was auf der einen Seite Wahlmöglichkeiten bedeutet, bedeutet auf der anderen Seite auch Konkurrenz: Konkurrenz nicht nur zwischen den Geberländern, die durch die Hilfe auch Zugang zu begehrten Rohstoffen oder strategische Allianzen sichern. Sie bedeutet auch Konkurrenz um die Geber, um Investitionen und Handelserleichterungen. Der Wettbewerb der Standorte setzt sich – verschärft – in der Entwicklungshilfe fort. Wo, wie im Fall Venezuelas, politische Strategien eine größere Rolle spielen, mag diese Tatsache vorübergehend abgemildert werden. Auch hier gilt: Hilfe wird weiterhin nicht ohne Hintergedanken gegeben. Auch wenn manche der jetzt in Lateinamerika erprobten Ansätze die Hoffnung wecken, auf Dauer tatsächlich zu mehr Gleichheit zwischen den Partnern zu führen, statt, wie Entwicklungshilfe es bisher oft getan hat, die Ungleichheiten nur zu zementieren.

KASTEN:
Monetäre Emanzipation
Brasilien unterstützt Venezuela beim Aufbau einer „Bank des Südens“
Schon wieder so eine verrückte Idee von Chávez, mag man in den Bankdirektionen des Nordens geseufzt haben, als der venezolanische Präsident letztes Jahr ankündigte, eine „Bank des Südens“ aufbauen zu wollen – ein regionales Gegengewicht zu Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank. Die bestehenden internationalen Finanzinstitutionen werden von den Staaten Lateinamerikas seit vielen Jahren als zu stark von den USA dominiert kritisiert. Um Kredite zu bekommen, mussten sie neoliberale Reformen durchführen, die manche von ihnen – wie Argentinien – erst recht in die Krise trieben. Damit soll es jetzt vorbei sein – und das meint nicht nur Chávez, der am 30. April gar den Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank verkündete. Bereits im Februar 2007 unterzeichnete er mit dem argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner offziell ein Abkommen zur Gründung der Bank, inzwischen haben sich Ecuador, Paraguay und Bolivien angeschlossen. Als kürzlich auch Brasilien zusagte, sich zu beteiligen, horchte man auf einem Mal auch im Ausland auf. Die regionalen Schwergewichte Brasilien und Venezuela sind sich zwar nicht immer einig – arbeiten sie zusammen, könnte es die „Bank des Südens“ aber tatsächlich bald geben. Beide Staaten haben derzeit hohe finanzielle Einnahmen und suchen nach Möglichkeiten, ihr Geld anlegen zu können. Wann die „Bank des Südens“ ihre Arbeit aufnehmen kann und Infrastrukturprojekte sowie kleine und mittlere Betriebe finanziert, ist noch offen; in den kommenden drei Monaten sollen zunächst grundlegende Fragen geklärt werden. Eines lässt sich in jedem Fall sagen: Der IWF verliert in der Region weiter an Einfluss.
Juliane Schumacher

Zertifiziertes Raubrittertum

Der Klimawandel entwickelt sich zu einem neuen Hauptwiderspruch. Um die Erderwärmung zu begrenzen, scheint alles erlaubt. Als „sauberer“ Energieträger gilt zunehmend die Biomasse der Dritten Welt: Soja, Zuckerrohr, Palmen, Rizinus, Maniok, Eukalyptus oder Bambus. Emsig arbeitet eine breite Koalition aus Auto-, Öl-, und Agromultis gemeinsam mit Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) an der Verwandlung dieser nachwachsenden Rohstoffe in Treibstoffe für das kapitalistische Produktionsmodell.
Derweil schrumpfen die Folgen dieser Inwertsetzung zum Nebenwiderspruch: die Expansion von Monokulturen, die Plünderung der Tropenwälder, die gewaltsamen Vertreibungen, der Siegeszug der Gentechnik, das Verheizen von Nahrungspflanzen und nicht zuletzt die nachwachsenden Monopole transnationaler Konzerne. Trotz alledem betrachten viele NRO die massive Steigerung der Biomasse-Importe in die EU als alternativlos. Der Treibhaus-Effekt lasse keine andere Wahl, so ihr Diktum.

Im Rausch des Bioethanols

Zu den Propagandisten des Hauptwiderspruchs vom Klimawandel gehört das deutsche Forum Umwelt und Entwicklung. In einem Positionspapier schreibt dieses Netzwerk, der Klimawandel zwinge die Menschheit, auf erneuerbare Energien umzustellen, und schlussfolgert: „In diesem Sinne ist eine massiv ausgebaute Biomasse-Nutzung alternativlos.“ Für Entwicklungsländer biete der Export von Bioenergieträgern eine Chance, die sie auch nutzen würden.
Vor allem für das aus Zuckerrohr gewonnene brasilianische
Bioethanol will das Forum die Handelsschranken niederreißen. „Es ist politisch kaum durchsetzbar und auch nicht sinnvoll, international nicht wettbewerbsfähiges, teures europäisches Bioethanol durch protektionistische Maßnahmen vor der Konkurrenz aus Entwicklungsländern zu schützen“, schreiben sie. Entsprechend solle dieser Flüssigtreibstoffbedarf in der EU „vorwiegend aus Importen gedeckt werden“.
Aber nicht nur Brasilien, neben den USA der größte Bioethanolproduzent, soll massenhaft in die EU exportieren. Die deutsche Lobbyinitiative Germanwatch prüft, ob und wie auch afrikanische, karibische und pazifische Länder (sog. AKP-Gruppe) vom Bioethanol-Boom profitieren können. Anders als Brasilien dürfen die AKP-Staaten aufgrund von Präferenzabkommen zollfrei Bioethanol in die EU einführen.
Ergänzend fordert das Forum Umwelt und Entwicklung die „aktive Förderung eines vielfältigen Energiepflanzenanbaus“ in aller Welt. Denn neben dem bereits expandierenden Weltmarkt für Bioethanol wächst auch die Produktion von Biodiesel. Die Basis des Bioethanols bilden diverse zucker- oder stärkehaltige Pflanzen (Zuckerrohr, Zuckerrüben, Gerste, Weizen, Mais und Maniok) sowie Zellulose aus Gras, Stroh, Holz und Abfällen. Biodiesel hingegen wird aus verschiedenen Ölpflanzen gewonnen, etwa Raps, Soja, Palmen, Sonnenblumen, Rizinus oder Jatropha.

Blut für Pflanzenöl

Angeheizt wird der Welthandel mit Agroenergie duch die Beimischungsziele in den USA, Europa und einer Reihe von Schwellenländern. Bis 2010 will die Europäische Union einen Biosprit-Anteil von 5,75 Prozent der fossilen Brennstoffe erreichen, bis 2020 sollen es 10 Prozent sein. Die USA wollen 15 Prozent des fossilen Kraftstoffverbrauchs bis 2017 durch Biosprit ersetzen. Ähnliche Ziele formulierten China, Indien und Brasilien. Da Europa und die USA diesen Bedarf nicht durch Eigenproduktion decken können, setzen Wirtschaft und Politik auf steigende Importe.
Schon jetzt erweisen sich die niedrigeren Herstellungskosten in Asien, Lateinamerika und Afrika als entscheidender Katalysator des Handels. Beispiel Bioethanol: Trotz hoher Zölle in den USA und Europa lohnt die Einfuhr, denn Brasiliens Zuckerbarone haben die weltweite Preisführerschaft inne. Nicht nur die klimatischen Vorteile ermöglichen dies, sondern vor allem der stark konzentrierte Landbesitz, der Monokulturanbau, der hohe Mechanisierungsgrad und der intensive Pestizideinsatz. Kehrseite der Medaille ist die Vergiftung von Böden, Grundwasser und Saison-ArbeiterInnen. Die Arbeitsbedingungen gehören zu den härtesten in der Landwirtschaft: Noch heute sterben Zuckerrohrschneider an Erschöpfung.
Ähnliches gilt für Palmöl: Aufgrund steigender Preise für heimischen Raps ist der Großteil der deutschen Betreiber von Blockheizkraftwerken zur Verbrennung von billigerem Palmöl übergegangen. Verschiedene Stadtwerke planen den Bau von Palmölkraftwerken. Zu den Hauptanbaugebieten zählen Indonesien und Malaysia, in Lateinamerika vor allem Kolumbien, Ecuador und Brasilien. Während deutscher Rapsanbau dem streng kontrollierten Regularium der „guten fachlichen Praxis“ unterworfen ist, gehören in Lateinamerika großflächige Abholzungen und schwere Menschenrechtsverletzungen zu den häufigen Begleiterscheinungen der Palmölproduktion.
Eine Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Everywhere beschreibt die „gute fachliche Praxis“ in Kolumbien als mehrstufiges System der gewaltsamen Inwertsetzung. Zunächst rücken paramilitärische Gruppen in Regenwaldgebiete vor, um mit Terror und Mord die lokale Bevölkerung zu vertreiben. Anschließend werden Wälder gerodet, das Holz verkauft und der Landraub mittels Korruption „legalisiert“. Es folgt die Anlage großflächiger Palmplantagen und die industrielle Verarbeitung des Palmöls, auch dies unter dem Schutz der Paramilitärs. Schließlich landet das blutige Pflanzenöl auf dem internationalen Markt, um unter anderem in Blockheizkraftwerken verbrannt zu werden.

Die Be-Siegelung des Raubbaus

Diese und andere Verwerfungen meinen viele NRO durch zertifizierte Nachhaltigkeitskriterien eindämmen zu können. So fordert das Forum Umwelt und Entwicklung ein europäisches „EcoFair-Zertifizierungsschema für nachhaltig erzeugte Bioenergieträger“. Dessen Kriterien sollen Energie- und Arbeitsplatzbilanzen, eine nachhaltige Landwirtschaft und soziale Auswirkungen berücksichtigen. Allerdings will das Forum den Biomasse-Handel keineswegs behindern. Vielmehr sollen „privilegierte Marktzugangsbedingungen in der EU“ zugesichert und „verdeckter Protektionismus“ verhindert werden. Die optimistische Erwartung ist, dass die Zertifizierungen „Rahmenbedingungen schaffen, die auch in den Anbauländern zu nachhaltiger Entwicklung führen.“
Damit liegt das Forum ganz auf der Linie transnationaler Konzerne, die sich ebenfalls Nachhaltigkeitskriterien wünschen. Gern arbeiten sie dafür auch mit NRO zusammen, wie diverse Runde Tische zeigen Der Runde Tisch zu Nachhaltigen Biotreibstoffen (Roundtable on Sustainable Biofuels) etwa versammelt eine illustre Schar von Konzernen, internationalen Organisationen und NRO, darunter Shell, British Petroleum, Petrobras, Toyota, die Gentech-Firmen Dupont und Genencor, der Agrarhändler Bunge, das World Economic Forum, die International Energy Agency, die Siegel-Organisationen Max Havelaar und Forest Stewardship Council (FSC) sowie der World Wide Fund for Nature (WWF) und Oxfam.
Ziel dieses Runden Tisches ist die Erarbeitung eines globalen Mindeststandards mitsamt Zertifizierungssystem für Biokraftstoffe. Dieser Prozess soll staatliche, private und zivilgesellschaftliche Akteure einbinden, um dem Standard „Legitimität zu verleihen“. Allerdings betont der Runde Tisch, dass der Standard „keine Handelsbarriere errichten“ dürfe. Vielmehr solle er „generisch, einfach und apolitisch“ sein. Damit die Zertifizierung so reibungslos wie möglich erfolgt, möchte man auf vorhandene Standards zurückgreifen. Als Referenz gelten vor allem das FSC-Siegel und aktuelle Zertifizierungsprojekte des WWF.
Jedoch sind diese Initiativen aufgrund dürftiger Standards, leichter Zugänglichkeit und mangelhafter Kontrolle erheblich unter Beschuss geraten. So forderten im vergangenen Jahr Umweltgruppen aus acht Ländern, darunter Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador und Uruguay, der Forest Stewardship Council solle einer Reihe von Firmen das FSC-Siegel wieder aberkennen. Dabei handelte es sich durchgängig um großflächige Monokulturen wie Eukalyptus- oder Pinien-Plantagen, die massiv gegen die Grundsätze des FSC verstießen. Die beteiligten Gruppen
begründeten ihre De-Zertifizierungsforderung mit erheblichen Umweltschäden, Menschenrechtsverletzungen und Landkonflikten. Getragen wird der FSC von Konzernen und NRO, darunter WWF, Greenpeace und Friends of the Earth.
Auf Industrieseite erfreut sich der Holzzertifizierer jedoch großer Beliebtheit. Schon seit vielen Jahren bereitet sich Royal Dutch Shell auf das Ende des Öls und den kommenden Zellulose-Boom vor. Eifrig kauft der Öl-Multi Plantagen in aller Welt mit Schwerpunkt Lateinamerika. Im Jahr 2001 schließlich erhielt Shell Forestry das FSC-Siegel für seine Wälder in Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay. Damit die Siegel-Kriterien auch künftig den Zellulose-Handel stimulieren, setzt sich der Konzern für eine „Harmonisierung“ und „Rationalisierung“ bestehender Zertifizierungssysteme ein.

Greenwashing des Biobusiness

So verwundert es nicht, dass Shell auch am Runden Tisch zu nachhaltigem Palmöl (Roundtable on Sustainable Palm Oil, kurz RSPO) Platz genommen hat. Geladen hatte der WWF. Erklärtes Ziel des RSPO sind Förderung und Wachstum einer vorgeblich „nachhaltigen“ Palmölproduktion. Dazu entwickelten die Beteiligten einen Satz von fragwürdigen Kriterien, anhand derer demnächst die ersten Plantagen zertifiziert werden. Mittlerweile zählt der Runde Tisch 173 Mitglieder, darunter nur elf NRO. Lediglich eine von ihnen, die indonesische Sawit Watch, vertritt Betroffene aus einem der Anbauländer. Der Rest der Mitglieder repräsentiert Plantagenbesitzer, Palmölverarbeiter, Handelsfirmen und Finanzinvestoren.
Auffällig ist dabei der neue Komplex aus Agro-, Gentech-, und Energiekonzernen. Beim RSPO kooperieren u.a. Cargill, Bunge, Bayer, Syngenta, BP, Shell, EDF und RWE. Die Industriedominanz wird noch dadurch abgesichert, dass jedes Mitglied eine Stimme hat, vorausgesetzt es entrichtet den Jahresbeitrag von 2.600 US$.
Zur Freude des Schweizer Biotech-Unternehmens Syngenta schließen die RSPO-Kriterien die Verwendung gesundheitsschädlicher Pestizide nicht aus. Syngenta ist wichtigster Hersteller des hochgiftigen Unkrautbekämpfungsmittels Paraquat. Dieses kommt beim industriellen Anbau von Ölpalmen und Soja zum Einsatz. Hunderte von ArbeiterInnen vergiften sich jedes Jahr schon bei der vorschriftsmäßigen Handhabung von Paraquat. Viele von ihnen sterben an den Folgen.
Nach dem Muster des RSPO lancierte der WWF noch weitere Runde Tische, so zu Soja und Zuckerrohr. Damit ist die Umweltorganisation bei einigen der bedeutendsten Bioenergieträgern mit Siegelprojekten präsent. Jedoch trifft der WWF auch auf Widerstand. Als er im März 2005 zu einer ersten Konferenz seines Runden Tisches zu Verantvortungsvoll Gewonnenem Soja (Roundtable on Responsible Soy) im brasilianischen Foz do Iguaçu einlud, veranstaltete das Netzwerk Vía Campesina die Gegenkonferenz „Nein zum ‚nachhaltigen‘ Soja“. Zum Abschluss ihres Treffens demonstrierten die AktivistInnen vor dem Tagungshotel der WWF-Veranstaltung.
Die Proteste sind leicht verständlich, denn unter den Mitgliedern des Soja-Tisches finden sich berüchtigte Anbauer wie das Unternehmen des brasilianischen „Sojakönigs“ und Gouverneurs des Bundesstaates Mato Grosso, Blairo Maggi. Scharf kritisierte Vía Campesina daher die „skandalöse Unterstützung großer NRO“ für das Agrobusiness. Die zentrale Schwäche der WWF-Initiativen bringen die AktivistInnen auf den Punkt: „Wo es Monokulturen gibt, kann die Nachhaltigkeit nicht existieren, wo es das Agrobusiness gibt, können Campesinos nicht existieren.“
Tatsächlich stellen die Siegelprojekte in erster Linie die Nachhaltigkeit des Biomasse-Nachschubs sicher, nicht eine nachhaltige Produktion. Sie zeichnen intensive Plantagenwirtschaft aus, die sich mit steigender Nachfrage nach Energiepflanzen weiter ausdehnen wird. Keine der Initiativen intendiert eine Beschränkung des Handels. Viele NRO stützen diese Entwicklung. Explizit sprechen sie sich für das Wachstum des Bioenergiemarktes und gegen „Protektionismus“ aus.
Selbst wenn ihre Siegel greifen und zu umwelt- und sozialverträglicherem Anbau auf den kontrollierten Flächen führen würden, bliebe das Expansionsproblem. Denn die Weltmarktpreise befehligen den Vormarsch der Monokulturen in Wälder und Weiden. Die Abholzung des Amazonas korreliert mit dem Sojapreis. Gegenwärtig ziehen die Preise für die energetisch genutzten Pflanzen kräftig an. Solange die Nachfrage nach Agroenergie steigt und die Flächenexpansion nicht zu Angebotsüberschüssen führt, wird dies auch so bleiben.

Zertifizierte Destruktion

Die Preissteigerungen betreffen vor allem Ölpflanzen und Getreide. FAO-Prognosen (Food and Agriculture Organisation der UN) gehen davon aus, dass dieser Trend anhalten wird. Für die auf Nahrungsmittelimporte angewiesenen Entwicklungsländer, viele von ihnen auch Ölimporteure, ist dies überaus bedrohlich. Laut FAO müssen viele von ihnen mangels Devisen die Lebensmitteleinfuhr einschränken.
Allein für die 48 LDCs (am wenigsten entwickelte Länder) stiegen die Importrechnungen für Nahrungsmittel zwischen 2000 und 2006 bereits um 58%. Die Ausgabensteigerung ging auf die Preiserhöhungen zurück, nicht auf größere Importmengen. Diese können real gesunken sein. Wissenschaftler der Universität von Minnesota berechneten, dass die Zahl der Hungernden ohne den Biotreibstoffhandel bis zum Jahr 2025 von über 800 Millionen auf 625 Millionen hätte sinken können. Setzt sich das Verheizen von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen jedoch im prognostizierten großen Maßstab fort, könnten im Jahr 2025 möglicherweise 1,2 Milliarden Menschen hungern.
Die Konkurrenz mit der energetischen Nutzung betrifft mittlerweile auch Nahrungspflanzen, die bisher noch nicht im Zentrum des Verwertungsinteresses standen. BASF Plant Science arbeitet an der genetischen Manipulation von Maniok, um den Stärkegehalt für die Produktion von Bioethanol zu vergrößern. Maniok ist ein Grundnahrungsmittel für über 600 Millionen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika, das vielfach für die Subsistenz angebaut wird. Nun aber stimuliert der Biotreibstoffboom die Entwicklung patentierter Hochleistungssorten, deren Anbau die traditionelle Landwirtschaft nur noch weiter verdrängt.
Während viele deutsche NRO dieses Raubrittertum „be-siegeln“ wollen, nimmt die Kritik in den Anbauländern immer mehr zu. Das lateinamerikanische „Forum Widerstand gegen das Agrobusiness“ erinnert an eine Option, die der NRO-Mainstream längst ausgesondert hat: „Die Zentralität der Energiekrise für die Kapitalakkumulation eröffnet die Möglichkeit einer globalen Debatte über andere Formen der Produktion und des Lebens, über ein radikal anderes Projekt.“ Ohne eine solche Debatte jedoch werde das destruktive Gesellschaftsmodell, nun auf Basis der Bioenergien, lediglich fortgeschrieben.

ALBA ist auf Öl gebaut

Eines ist bei Hugo Chávez Reden immer sicher: Der Witz geht auf George Bushs Kosten. Ob bei der UNO, wo er am Rednerpult nach dem Auftritt des USA-Präsidenten den Schwefelgeruch des Teufels auszumachen glaubte oder nun bei seinem Auftritt in einem mit 30.000 ZuhörerInnen gefüllten Stadion in Buenos Aires während seiner Lateinamerikareise: Bush sei ein „politischer Leichnam“, der sich bald in kosmischen Staub verwandeln werde. Keine gewagte These, denn Bushs Amtszeit läuft 2008 ab und eine Änderung der Verfassung, die mehr als zwei Amtszeiten erlaubt, ist in den USA im Gegensatz zu Venezuela nicht in der Diskussion. Den Tod hat Hugo Chávez 2005 auch schon der geplanten amerikanischen Freihandelszone (ALCA) vorausgesagt, nachdem das seit 1990 von den USA vorangetriebene Vorhaben beim Amerika-Gipfel in Mar del Plata auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Chávez hat aus seiner ablehnenden Position gegenüber ALCA ohnehin nie einen Hehl gemacht „ALCA ist dazu da, Lateinamerika zu zerstören und für immer in der Unterentwicklung zu halten.“ Ganz so extrem sehen das zwar nur wenige Regierungen in Lateinamerika, aber auf Freihandel unter den Bedingungen der USA lassen sich derzeit nur die schwächsten und abhängigsten Ländern ein, während die prosperierenden regionalen Größen wie Argentinien und Brasilien zu ALCA deutlicher denn je auf Distanz gegangen sind.
Das gilt besonders für Argentinien, dessen Präsident Néstor Kirchner auf Bushs Erzfeind Chávez nichts kommen lässt und dafür Verstimmungen mit dem Weißen Haus in Kauf nimmt. „Zusammen mit unserem Bruder, Präsident Chávez, arbeiten wir an der Integration Südamerikas“, so Kirchner am 21. Februar beim Start der Probebohrungen des argentinisch-venezolanischen Jointventure in San Tomé am Orinoco. Argentinien und Venezuela schließen zum Verdruss Washingtons ein Kooperationsabkommen nach dem andern – vor allem im Energiesektor, aber auch im Agrarbereich und Gesundheitswesen. So geht in den USA das Gespenst um, Argentinien könnte gar der Bolivarianischen Alternative für Amerika (ALBA) beitreten und damit den US-Freihandelsinteressen einen empfindlichen Schlag versetzen.
ALBA entwickelt sich nämlich im Gegensatz zu ALCA Schritt um Schritt weiter. Die Gründungserklärung ist gerade einmal gut zwei Jahre alt: Am 14. Dezember 2004 wurde sie in Havanna von Fidel Castro und Hugo Chávez unterzeichnet. Eine Erklärung, die ehrgeizige Ziele formuliert: ALBA hat das Ziel, die Gesellschaften der Länder Lateinamerikas und der Karibik so zu ändern, dass sie gerechter, gebildeter, solidarischer werden und sich durch größere Mitbestimmung auszeichnen. ALBA ist als eine integrale Entwicklung zu verstehen, welche die sozialen Ungleichheiten aus dem Weg räumt, die Lebensqualität sowie eine wirksame Partizipation der Völker an der Gestaltung ihrer Zukunft fördert.
Und Chávez hat guten Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen: „Wir haben Öl für 200 Jahre“, frohlockt Bushs Antipode. Venezuela verfügt nach eigenen Angaben über größere Ölvorräte als Saudi-Arabien. Neben den rund 80 Milliarden Fass an sicher nachgewiesenen Reserven, lagern nach Regierungsschätzungen weitere Vorkommen von unfassbaren 1,3 Billionen Fass in dem noch unzureichend erforschten Orinoko-Becken. Damit würden die 267 Milliarden Barrel sicher nachgewiesenen Reserven Saudi-Arabiens locker übertroffen.
Chávez dürfte somit auch in Zukunft über genügend Finanzmittel verfügen, um auf nationaler Ebene Sozialprogramme und den Umbau der Gesellschaft zu finanzieren und auf internationaler Ebene seine Vision der amerikanischen, zumindest lateinamerikanischen Integration, voranzutreiben. Im ersten Jahr beschränkte sich ALBA auf die Kooperation Venezuela – Kuba. Venezuela liefert täglich rund 92.000 Barrel zu Vorzugsbedingungen an Kuba. Im Gegenzug exportiert Kuba vor allem medizinisches Personal: Heute sollen bereits 20.000 kubanische Ärzte in Venezuela tätig sein, aber auch im Bildungssektor erhält Venezuela von der Karibikinsel Unterstützung. Dass der Integrationsprozess vorankommt, hat zwei zentrale Gründe: den politischen Willen auf beiden Seiten und die sprudelnden Erdöleinnahmen, die Chávez seinen politischen Vorstellungen entsprechend im Land und in der Region investiert. So haben sich Caracas und Havanna geeinigt, den Plan Milagro zur Behandlung von Augenkrankheiten auf hunderttausend bedürftige Lateinamerikaner auszuweiten. Ende April 2005 unterzeichneten die beiden Länder 49 Abkommen in den Sektoren Gesundheit, Finanzen, Kommunikation, Transport, Energie und Industrie, die einen strategischen Plan zur Umsetzung der ALBA beinhalten.
Inzwischen hat sich auch Bolivien ALBA angeschlossen – beim Dreiergipfel in Havanna am Wochenende vor dem 1. Mai 2006, an dem Evo Morales seine Erdgasverstaatlichungspläne bekannt gab. Der „Handelsvertrag der Völker“, den Morales mit Castro und Chávez unterzeichnete, sieht unter anderem die Abschaffung der Zölle von bestimmten Gütern im Warenverkehr der drei Länder vor. So soll Bolivien künftig seine gesamte Sojaproduktion zollfrei nach Kuba und Venezuela verkaufen dürfen. Kuba zahlt mit Ärzten und Lehrern, Venezuela mit Öl.
Der Erdölreichtum Venezuelas gepaart mit Chávez Vision eines geeinten Lateinamerikas treibt ALBA und auch darüber hinaus gehende Kooperationen an. Überall dort, wo komplementäre Strukturen vorliegen und/oder wo Chávez bereit ist, mit seinen Ölgeldern Integration zu subventionieren geht es voran. So entstand in Venezuela die Idee des kontinentalen Brennstoffverbundes Petroamérica, der sich aus den drei regionalen Zusammenschlüssen Petrocaribe, Petrosur und Petroandina zusammensetzen soll.
Am weitesten fortgeschritten ist die im Juni 2005 gegründete karibische Erdölallianz Petrocaribe, der 13 der 15 Länder der Caribbean Community (CARICOM) angehören. Außen vor sind Trinidad & Tobago und Barbados. Vor allem die nördlich von Venezuela gelegene selbst Erdöl exportierende Zwillingsinsel Trinidad & Tobago findet es alles andere als lustig, dass Venezuela die Preise drückt. Venezuela sicherte vertraglich zu, täglich 185.700 Barrel Öl zu Vorzugspreisen zu liefern und das Versorgungsnetz zu stellen. 60 Prozent des Kaufpreises sind binnen dreier Monate zu erstatten. Bei Devisenmangel darf, ähnlich wie bei ALBA, auch auf Agrarexportprodukte zurückgegriffen werden. Die restlichen 40 Prozent werden als Kredite mit langen Laufzeiten von 17 bis 25 Jahren zu sehr niedrigen Zinssätzen verbucht. Solidarischer Handel, den sich Venezuela leisten will und offenbar auch kann.

Wirbelsäule für Lateinamerika

Venezuela forciert vor allem die Energiekooperation. Nicht weniger als die längste Leitung der Welt schwebt Venezuelas Präsident vor: Von den Stränden Venezuelas durch den brasilianischen Urwald bis hin zur argentinischen Pampa soll sie sich über 7000 Kilometer erstrecken und venezolanisches Gas an die Abnehmer bringen. „Die Pipeline des Südens ist die Wirbelsäule für Lateinamerika“, beschrieb Chávez in seiner Sendung „Aló Presidente“ malerisch das Megavorhaben. Auf fünf bis sieben Jahre veranschlagt das venezolanische Energieministerium die Bauzeit des auf 20-Milliarden-US-Dollar geschätzten Projektes. Außer Brasilien und Argentinien sollen auch Paraguay und Uruguay, später auch Peru und Chile an das Gasversorgungsnetz angeschlossen werden. Auch bolivianisches Gas soll in das Netz eingespeist werden. Bisher beliefert Bolivien seine Nachbarn Brasilien und Argentinien mit Erdgas und will dies auch nach der Nationalisierung weiter tun ­– wenn auch künftig zu höheren Preisen. Ein strategisches Interesse des Andenlandes an der Pipeline besteht insofern nicht. Trotzdem scheint angesichts der guten Beziehungen von Chávez zu Morales hier ein Interessensausgleich möglich, während das in Sachen Umwelt schwer vorstellbar erscheint. Umweltschutzorganisationen beklagen, dass die Fernleitung durch ökologisch sensible Gebiete wie die venezolanische Gran Sabana, die zum Weltkulturerbe der Menschheit zählt und durch das Herz des brasilianischen Amazonas führen würde. Die Umweltschützer der Red Alerta Petrolera-Orinoco Oilwatch wandten sich gar mit einem offenen Brief an Chávez, um ihn auf die Gefahren und die ökologischen Kosten durch erforderliche Rodungen und Erdabtragungen hinzuweisen. Ganz im Sinne der venezolanischen Verfassung forderten sie die Regierung auf, das Großprojekt in einer öffentlichen Debatte zu diskutieren und darüber in einer Volksabstimmung befinden zu lassen.
In Sachen Energiekooperation weiß Chávez die Energieimporteure Brasilien und Argentinien nicht nur bei der Pipeline auf seiner Seite. Die Anfang Juli 2004 beschlossene Zusammenarbeit zwischen Kirchner und Chavez im Energiesektor soll letztendlich in eine wirtschaftliche, soziale und politische Integration münden und auch mit Brasilien besteht eine strategische Energie-Allianz.
So kommt die Integration in Lateinamerika vor allem dort voran, wo sich ökonomische Strukturen und Interessen ergänzen. „Das 21. Jahrhundert sieht uns vereint oder beherrscht“, lautet eine These von Hugo Chávez. Noch ist Lateinamerika eindeutig beherrscht und gemeinsames Handeln auf Ausnahmen beschränkt. Wie lange die Rohstoffpreisentwicklung nach oben anhält, ist offen. Fünf bis zehn Jahre wird der Rohstoff-Boom anhalten, schätzen Experten. In dieser Zeit müssten die Weichen in Richtung einer langfristigen Entwicklungsstrategie gestellt werden, die, weit mehr als die Rohstoffe, Ressourcen wie Bildung und Ausbildung in den Vordergrund stellen müsste.
Um der ALBA-Vision einer integralen Entwicklung, welche die sozialen Ungleichheiten aus dem Weg räumt und die Lebensqualität sowie eine wirksame Partizipation der Völker an der Gestaltung ihrer Zukunft fördert, näher zu kommen, müssen viele Weichen neu gestellt werden: auf nationaler, regionaler und globaler Ebene. Doch das erwachende Selbstbewusstsein in Teilen Lateinamerikas hat die amerikanischen Machtverhältnisse in Bewegung gebracht. Auch das zeigten die gleichzeitigen Reisen von Chávez und Bush: Chávez erntete tosenden Beifall, während Bush seine Botschaft von den USA als Freund und Helfer nur unter massivem Polizeischutz verkünden konnte.

Lieblingskind Export unterdrückt Recht auf Nahrung

Fünf Hektar reichen nicht. Nicht für den Lebensunterhalt einer Familie. Vierzig Prozent des Landbesitzes liegen in Paraguay unterhalb dieser fünf Hektar und machen damit nur ein Prozent der Fläche des sich zwischen Bolivien, Argentinien und Brasilien erstreckenden Landes aus. Stattdessen sind es Großgrundbesitze, die die Besitzstrukturen domi­nieren und Auskunft geben über eine der ungerechtesten Landverteilungen in Lateinamerika: Über 77 Prozent des Landes befinden sich in den Händen von nur einem Prozent der Land­be­sitzenden – Frauen stellen nicht einmal den zehnten Teil von ihnen, ein Ausdruck der bestehenden patriarchalischen Strukturen in der Titelvergabe für Land. Um die 120.000 Familien besitzen überhaupt kein Land. Landlose Bauernfamilien warten in provisorischen Lagern unter unwürdigen Bedingungen auf die Überschreibung von Land durch die Regierung. Indigene Gemeinschaften wie die Yakye Axa im paraguayischen Cha­co-Gebiet, deren Überleben von der Nutzung ihrer weitläufigen traditionellen Sied­lungs­gebiete abhängt, sind ebenso von den Versäumnissen des Staates betroffen. Seit nunmehr zehn Jahren kämpfen sie um ihr Land, das ihnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts genommen wurde.

Alle Macht dem Export

Während seiner 35 Jahre andauernden Herrschaft, die 1989 endete, legte der im letzten Jahr verstorbene Diktator Alfredo Stroessner den Grundstein für die heutige auf Massenproduktion und Export ausgerichtete Landwirtschaft. Er ver­teilte mit elf Millionen Hektar Staatseigentum nicht weniger als ein Viertel der Landes­fläche an nur wenige Begünstigte. Paraguay ist heute der viertgrößte Sojaexporteur der Welt. Die Sojapflanzungen, von denen 80 Prozent genetisch manipuliert sind, nehmen allein zwei Drittel der landwirtschaftlichen Anbaufläche ein. Dieses Produktionsmodell und die extreme Konzentration des Landes in den Händen Weniger führen dazu, dass Armut und Hunger traditionell ländliche Phänomene sind. Ein Grund dafür sind die von den GroßgrundbesitzerInnen eingesetzten Pestizide, die häufig Nahrung und Trink­­wasser­ressourcen der benachbarten Siedlungen der Kleinbauern und -bäuerinnen und Indigenen vergiften, was zusätzlich zu Hunger und Krankheiten, in einigen Fällen gar zum Tod führt. Bäuerliche und indigene Gemeinschaften leiden besonders unter der Krise ihrer wichtigsten Ertragsgüter, der Einschränkung staatlicher Ressourcen für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, unter Umweltzerstörung sowie der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ausgrenzung. Die Armutsquote von 35 Prozent auf dem Land wird seit 1997 von der Armut in städtischen Zonen übertroffen. Dies ist eine Folge der Abwan­derung in die Städte, wo sich die Hoffnung auf einen besseren Lebensstandard jedoch oft nicht erfüllt.
Ohne Alternativen der Ernährungssicherung bleibt den Landlosen häufig kein anderer Ausweg als die Besetzung von ungenutztem Land. Immer mehr gewaltsame Konflikte mit den GroßgrundbesitzerInnen sind die Folge, die mit ihren so genannten „Sicherheitskräften“ (private Milizen) am längeren Hebel sitzen. Vor allem dort, wo sich die verarmte Landbevölkerung organisiert und intensiv für ihren Zugang zu Land kämpft, werden AnführerInnen sozialer Bewegungen und deren Familien mittels Einschüchterung oder Verschleppung bis hin zu Morddrohungen terrorisiert. Den privaten Milizen werden zahlreiche Verstöße gegen die Menschenrechte zur Last gelegt. Eine Strafverfolgung ist jedoch meist unzureichend oder wird erst gar nicht aufgenom­men. Selbst die Polizei geht bei Räumungen friedlicher Landbesetzungen oder Straßen­sperren mit unangemessener Gewalt gegen die Landlosen vor und verstößt damit massiv gegen die Menschenrechte.

Papiertiger Agrarreform

Die Instrumente für eine Agrarreform sind da. 1992 ratifizierte Paraguay den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt) und verpflichtete sich dadurch, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht auf Nahrung durch den direkten Zugang zu Land umzusetzen. Auch der paraguayischen Verfassung zufolge muss kleinen und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben der Zugang zu ungenutztem Land ermöglicht werden. Durch die Vergabe von Krediten und die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur müssen diese zudem bei der Nutzung des Landes unterstützt werden.
Statt sich jedoch um die Sicherung der Lebensgrundlage für die Landbevölkerung zu kümmern, setzt die Regierung im Nationalen Plan für landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung (2004 bis 2008) die oberste Priorität auf die Steigerung der Agrarexporte. Die Förderung der Kleinbauern und -bäuerinnen sowie der Landlosen wird erst an zweiter Stelle erwähnt. Vorgesehen ist demnach die Vergabe von 8.000 Landtiteln pro Jahr an begünstigte landlose Familien. Für die zuständige Behörde INDERT ist das Privateigentum jedoch „heilig“. Das Instrument der Enteignung von GroßgrundbesitzerInnen wird nur zurückhaltend eingesetzt. Für den Kauf von hochwertigem Land für die Bauernfamilien reicht das Budget des INDERT wiederum nicht aus.

Staatliches Desinteresse

Die indigene Bevölkerung Paraguays repräsentiert mit rund 90.000 Menschen zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Die kollektiven Landrechte sollten durch die Verfassung und das so genannte „Indianerstatut“ von 1981 rechtlich abgesichert sein. Paraguay ist zudem seit 1993 der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verpflichtet, die ethnischen Gruppen das traditionell bewohnte Territorium garantieren soll. Aufgabe der Regierung wäre es, dieses Territorium anzuer­ken­nen und über das paraguayische Indigenen-Institut (INDI) zu übertragen. Heute leben zwar 80 Prozent der Indigenen auf Territorien, die ihnen zur exklusiven Nutzung überlassen sind, doch nur die Hälfte von ihnen verfügt auch über die offiziellen Besitzurkunden. Die rechtliche Absicherung ist damit meist ungeklärt. Die Gefahr, das Land wieder zu verlieren, ist ständig präsent. Selbst in den von ihnen bewohnten Gebieten leiden sie häufig unter schlechten Lebensbedingungen, illegalen Besetzungen durch landlose Bauern­familien und Diskriminierung von Seiten staatlicher Behörden.
Extremfälle zeigen Auswirkungen staatlichen Desinteresses. Die der Ethnie der Enxet zugehörigen Yakye Axa haben einen jahrelangen Kampf und die ergebnislose Bearbeitung ihrer Klagen durch Behörden bereits erfahren. Sie erreichten schließlich, dass Paraguay am 17. Juni 2005 vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde, ihr Recht auf Eigentum und Leben missachtet zu haben. Als Entschädigung muss der Staat ihnen das geforderte Land überschreiben und Entschädigungszahlungen tätigen. Bis dies geschehen ist, steht ihnen eine grundlegende Versorgung mit den nötigsten Gütern und Dienstleistungen zur Sicherung ihres Überlebens zu.
Doch selbst ein solcher Erfolg hat keine direkte Verbesserung ihrer Situation bewirkt. Bis auf eine offizielle Entschuldigung von Vertretern des Staates ist bis jetzt noch nicht viel passiert. Und so kampieren die 319 Menschen noch immer unter extrem schlechten Bedingungen und ohne Lebensgrundlage an einer Straße vor der Abzäunung, die sie von ihrem rechtmäßigen Land trennt, während sie darauf warten, dass der Staat dem Urteil endlich Folge leistet.

Zum Weltgebetstag der Frauen organisiert FIAN International eine Postkartenaktion, die den Prozess der Landübergabe und die Über­­brückungs­maßnahmen für die Yakye Axa vorantreiben soll. Die Aktion läuft vom 15. Februar bis 15. Mai 2007. FIAN International nahm an einer Fact-Finding-Mission in Paraguay mit La Via Campesina und in Zusammen­arbeit mit Misereor teil.

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