Korruptionsskandale ohne Ende

Das Brasilia der sieben Zwerge

Alles begann damit, daß die Polizei im Oktober einen Mann mit dem gut brasilianischen Namen José Carlos dos Santos unter dem Verdacht verhaftete, er habe seine Frau umgebracht, mit Kokain gedealt und Falschgeld unter die Leute gebracht. Nur, der Mann war nicht irgendwer. Der Ökonom José Carlos hatte es in der Bürokratie Brasilias bis zum Assesor des Haushaltsausschusses gebracht, er war bis 1992 einer der entscheidenden Drahtzieher bei der Erstellung des brasilianischen Staatshaushaltes. Seit einem Jahr ist seine Frau verschwunden, er steht unter Mordverdacht. In seiner Wohnung fanden Polizei und der Untersuchungsauschuß drei Millionen US-Dollar, teilweise gefälscht, sowie Videos und Utensilien, die zeigten, daß die Wohnung von José Carlos für Sexorgien – unter Beteiligung von Abgeordneten – diente. Aber diese üble Räuberpistole, die einem billigen Film entliehen scheint, war nur der Auftakt zu einer noch unüberschaubareren Korruptionsaffaire. Im Gefängnis beschloß José Castro auszupacken. Er nannte Namen und Details, wie über Jahre hinweg der Staatshaushalt von einer Gruppe von Abgeordneten manipuliert worden war. Die Gruppe war schon vor diesen Aussagen als die Hintermänner des Haushaltsausschusses identifiziert worden, und die Presse hatte sie als die “sieben Zwerge” bezeichnet. Zunächst hielten viele die Beschuldigungen José Carlos für den Versuch eines in die Enge getriebenen Übeltäters, Dreck in den Ventilator zu schmeißen. Aber immerhin wurde ein parlamentarischer Untersuchungssausschuß (CPI) eingerichtet und der Erste der vernommen wurde, war Joao Alves. Als dieser dann von Gott und Lotto erzählte, war allen klar: die Beschuldigungen von José Carlos haben Hand und Fuß, die Beweise gegen Joao Alves gelten inzwischen als hinreichend, um sein Mandat zu kassieren.

Der Staatshaushalt als Selbstbedienungsladen

Wie aber funktionierte die Haushaltsmafia? Entscheidendes Instrument ist eine Besonderheit des brasilianischen Haushaltrechtes: Einzelne Abgeordnete können Änderungsvorschläge beziehungsweise Ergänzungen (bis zu 50 “emendas”) einreichen. Diese beziehen sich in der Regel auf ein konkretes Projekt: die Straße in der Gemeinde X oder der Kindergarten in der Gemeinde Y. Nur gingen diese Gelder dann in vielen Fällen in Projekte, die viel teurer angesetzt waren als die realen Kosten, oder in Tarnorganisationen, die von Freunden oder Verwandten der Abgeordneten geleitet wurden. Nach Ermittlungen des Untersuchungsausschusses und der Presse sind von 150 Millionen DM, die in den letzten drei Jahren vom Sozialministerium als zusätzliche Mittel bewilligt worden waren, 130 Milionen (etwa 90 Prozent also) zur Finanzierung von Wahlkampagnen mißbraucht worden – oder sie flossen direkt in die Taschen der Abgeordneten und deren Verwandte.
Die Skandale im Einzelnen sind eigentlich keine Neuigkeit, der Mißbrauch von Staatsgeldern für private Zwecke wird immer wieder von Opposition und Presse angeklagt. Neu sind Ausmaß und Systematik dieser Haushaltsmafia. Nur ein Beispiel: einer der “sieben Zwerge” ist Feres Nader, der Tycoon einer Provinzstadt im Staate Rio de Janeiro. Ihm gehören fünf Fernsehsender und mehrere private Schulen und Fachschulen. Sein Jahresumsatz belief sich 1990 auf 2,7 Milliarden (!) US-Dollar, eifrig unterstützt durch Zuwendungen aus dem Staasthaushalt. Joao Alves veranstalte in Bahia ein Ausgabenfestival, um seine Wiederwahl als Abgeordneter zu garantieren. Ohne Nachweise über die Verwendung bringen zu müssen, erhielten Bürgermeister etwa 4 Milionen US-Dollar für das Versprechen, ihm Stimmen zu garantieren (alle Angaben nach Jornal do Brasil vom 31.10.93). Die Enthüllungen des Ausschusses sind auch ein Lehrstück in praktizierter Demokratie in Brasilien.

Linke und Militärs profitieren von der Krise

Jeden Tag werden nun durch Fernsehen und Presse alle Vorurteile gegen die politische Kaste in Brasilia bestätigt. Natürlich erinnert dies alles an den Skandal, der Collor letztes Jahr zu Fall brachte. Aber damals erhofften viele BrasilianerInnen von der Aufdeckung des Skandals, daß dies den Weg für eine neue Ethik in der Politik freimachen könnte. Jetzt werden eher pessimistische Verallgemeinerungen und Politikverdrossenheit verstärkt. In jüngsten Umfragen wächst die Zahl derer, die nicht wählen wollen, gewaltig. Aber der Skandal hat auch konkrete politische Auswirkungen.
Zunächst ist das Projekt der Verfassungsreform, die jetzt anlaufen soll (vgl.LN 233) gefährdet. Die eh schon umstrittene Legitimität des Parlaments für ein solches Werk ist mehr als angeschlagen. Die Verfassungsreform ist das große Anliegen des Mitte-Rechts Blockes, um das geltende Gesetzeswerk von nationalistischen Überbleibseln zu bereinigen und damit den Weg für den Marktliberalismus zu ebnen. Geschwächt durch den Skandal wird also genau dieser Block, und damit auch die Kräfte, die die Regierung Itamar Franco stützen. Ein Jahr vor neuen Präsidenschaftswahlen scheint die Regierung nun kaum den politischen Spielraum zu haben, um noch offensiv zu agieren.
Die vom Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso eingeforderte Steuerreform als Voraussetzung für ein Stabilisierungsprogramm ist in weite Ferne gerückt. Brasilien geht damit in einer unstabilen Situation in das Superwahljahr 1994. Gestärkt wird natürlich bisher die Linke, deren Abgeordnete nicht in den Skandal verwickelt sind. In Umfragen führt der Präsidentschaftskandidat der PT (Arbeiterpartei), Lula da Silva, mit so großem Abstand, daß einige “PTistas” schon von einem Wahlsieg im ersten Durchgang träumen. Aber kurioserweise gibt es auch einen anderen Gewinner. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses heißt Jarbas Passarinho. Dies ist eine tragische Ironie. Passarinho gehört zu den typischen Überlebenskünstlern der brasilianischen Politik. Schon Collor diente er zu dessen Endzeiten als Minister und zu Hochzeiten der Militärdikatatur war er für das Justizressort verantwortlich. Er war es, der das berüchtigte Dekret AI-5 unterschrieb, das die harte Phase der Diktatur einleitete und durch das Mandate von Abgeordneten kassiert werden konnten. Heute posiert Passarinho von neuem als Kreuzritter gegen die Korruption – und schon steigt seine Popularität in den Wahlumfragen, obwohl er erklärt, kein Kandidat zu sein. Aber er ist zumindest wieder eine Schlüsselfigur im politischen Establishment. In den Augen vieler BrasilianerInnen ist die Verbindung zum Militärregime kein Makel mehr. Die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie durch die Korruptionsskandale führt zu einer gewissen nachträglichen Relegitimierung der Miltärdiktatur nach neunjähriger ernüchternder Erfahrung mit zivilen Regierungen. In ein solches Bild passt auch die Diskussion über den Einsatz des Militärs zur Bekämpfung der Drogenbanden in Rio. Nach Umfragen, denen allerdings nicht immer zu trauen ist, befürwortet die Mehrheit der BewohnerInnen Rios einen solchen Einsatz. Die Streitkräfte feiern ein come-back als Ordnungsmacht. Es ist absurd: eine Aufdeckung von Korruption erweckt mehr Befürchtungen als Hoffnungen. Von der Aufbruchstimmung und dem Optimismus, der die Amtsenthebung Collors begleitete, ist zur Zeit – im brasilianischen Frühling – wenig zu spüren.

Menem – ein neuer Perón?

Durch das Votum gestärkt ging Menem in der Woche nach der Wahl in den Senat und bekam dort durch den offensichtlichen Kauf von Senatoren eine Zweidrittel-Mehrheit für seine Verfassungsreform. Für den 21. November hat der Präsident nun eine Volksbefragung angesetzt. Er erhofft sich die Unterstützung der Bevölkerung, die dann die Zustimmung der Abgeordneten erzwingen soll.

Repressalien und Skandale vor der Wahl

In der Zeit des Wahlkampfs verschärfte sich die innenpolitische Situation. KritikerInnen, Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen wurden reihenweise eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder mit dem Tode bedroht. Angst und Schrecken herrschten in den Wochen vor den Wahlen in einem Maße, das an Zustände während der letzten peronistischen Regierung in Argentinien 1974-76 erinnerte.
Nach nur wenigen Monaten im Amt trat Innenminister Gustavo Béliz zurück. Nach eigenen Aussagen war er frustriert über die Diskussion der Verfassungsreform in der Regierung. Offenbar gebe es dort eine Mehrheit, die die umstrittene Reform mit allen Mitteln durchsetzen wolle. Er aber könne sich nicht mit Einschüchterungsmaßnahmen und dem Kauf von Abgeordneten einverstanden erklären. Leider habe er erst jetzt erkannt, worin die eigentliche Aufgabe eines Innenminister in dieser Zeit besteht: die Wiederwahl Menems auf Gedeih und Verderb durchzusetzen, koste es was es wolle. Präsident Menem, der vom Schritt seines Ministers offensichtlich überrascht und sehr enttäuscht war, ersetzte diesen innerhalb von wenigen Stunden durch Carlos Ruckauf. Dieser zeigte sich in den letzten Wochen durchaus Willens, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ein Skandal im Verfassungsgericht bewies außerdem die Abhängigkeit der Justiz vom Menemismus. Ein Urteil gegen einzelne Maßnahmen der Wirtschaftsreform verschwand spurlos aus den Akten. Auf die heftige Kritik reagierte Menem mit einem Angebot an die UCR, das Gericht kurzerhand aufzulösen und es gemeinsam mit den Radikalen neu zu besetzen.

Die politische Auseinandersetzung

Um politische Inhalte wurde zwischen den großen Parteien kaum gestritten. Die Programme der PeronistInnen, Radikalen und Liberalen (UCeDe) unterschieden sich nur in den Details.
Derzeit markiert die UCR den Unterschied zu den PeronistInnen lediglich durch die Forderung nach einer sozialeren und weniger brutalen Privatisierung. Die generelle Linie – Dollar-Bindung des argentinischen Peso, Privatisierung aller Staatsbetriebe, Heruntersetzung der Lohnnebenkosten durch Abbau von Sozialleistungen – war kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
Erstmals landesweit angetreten war die Rechtspartei MODIN (Movimiento por la Dignidad e Independencia), die vom ehemaligen Carapintada-Putschisten Aldo Rico geführt wird. Sie hat eine ultra-nationalistische Programmatik, und wurde mit ihren sieben Abgeordneten im Bundesparlament dritte politische Kraft im Lande. lhr charismatischer Führer will 1995 persönlich als Präsidentschaftskandidat gegen Menem (oder Duhalde) antreten. Seine Forderungen sind: Nationalisierung aller Industrien, Abschottung gegen Arbeitsimmigration, Direktwahl des Präsidenten, aller Gouverneure und Bürgermeister und eine harte Hand bei Grenzstreitigkeiten mit Chile.

Alle Macht dem Präsidenten

Eigentlicher Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Monate ist die Machtfülle von Menem und seinem Team. Vielen im Land flößt eine mögliche Wiederwahl Menems Angst ein. Er hat Ambitionen, die Kultfigur des Juan Domingo Perón aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und sich selbst als den größten argentinischen Präsidenten an seinen Platz zu stellen.
Heute schon kontrolliert Menem praktisch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Gewerkschaften wurden von ihm als politischer Faktor ausgeschaltet, die Wirtschaft steht aufgrund seiner Reformen hinter ihm, und selbst die Militärs sind in Argentinien kein ernstzunehmendes Potential mehr. Zusätzlich stehen große Teile der Medien unter seinem Einfluß, und kritische Berichterstatter werden bestraft, etwa durch Entzug staatlicher Anzeigen.

Das Wahlergebnis

Die Wahlbeteiligung am 3. Oktober lag bei 76,1 Prozent, bei bestehender Wahlpflicht. Dies stellt einen neuen Tiefpunkt seit Wiedereinführung der Demokratie 1983 dar. 3,7 Prozent der WählerInnen gaben einen weißen Stimmzettel ab.
Die PeronistInnen (PJ) konnten 42,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und siegten in 16 der 23 Provinzen. An die Radikale Bürgerunion (UCR) gingen Córdoba, Santiago del Estero, Rio Negro und Catamarca. Überwältigend war der Sieg der Menemisten in der größten und wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Der ehemalige Vizepräsident Argentiniens, Eduardo Duhalde (und heutige Gouverneur dieser Provinz) errang mit seinem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvositzenden der Peronisten im Landesparlament, fast die Hälfte aller Stimmen, zwanzig Prozentpunkte mehr als die Radikalen unter Federico Storani. Ein Sieg, der keineswegs in dieser Höhe erwartet worden war. Duhalde qualifizierte sich damit als politischer Kronprinz Menems, für den Fall, daß dieser die Verfassungsreform nicht durchsetzen könnte. Obwohl enger politischer Freund und Gefährte Menems, zeigte Duhalde bei der Aufstellung der Wahllisten Unabhängigkeit, indem er exponierte Menemisten nicht aufstellte. Auch sein Spitzenkandidat, Alberto Pierri, ist nicht gerade als Menem-Freund bekannt.
In der nach Buenos Aires zweitwichtigsten Provinz Córdoba siegte der dortige Gouverneur Eduardo César Angeloz. Dabei besiegte der seit 1983 regierende Angeloz den Peronisten Juan Schiaretti, der von Wirtschaftsminister Cavallo selbst protegiert wurde. Das eher konservative und traditionelle Córdoba jedoch blieb dem charismatischen Angeloz treu. Jetzt ist Angeloz nahezu sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei für 1995, wo er wahrscheinlich zum zweiten Mal nach 1989 gegen Menem antreten wird.
Möglich wurde die herausragende Position Angeloz’ in der UCR durch die Wahlniederlagen seiner innerparteilichen GegnerInnen. In der Bundeshauptstadt verlor die Schriftstellerin Martha Mercander, Kandidatin seines stärksten Gegenspielers, des Senatoren Fernando de la Rúa . Die große Überraschung der Wahl war der knappe Sieg des ehemaligen Verteidigungsministers und engen Vertrauten Menems, Erman González. In keiner der unzähligen Umfragen vor der Wahl war ein derartiges Ergebnis prognostiziert worden.
Allgemein erwartet worden war ein Stimmenzuwachs für die Rechtspartei MODIN. Aldo Rico persönlich war Spitzenkandidat in der Provinz Buenos Aires und erreichte dort knapp 11 Prozent und vier Abgeordnetensitze. Dieselbe Zahl von Abgeordenten erreichte der Zusammenschluß linker Parteien und Gruppierungen, die Frente Grande, was als sehr gutes Ergebnis zu werten ist.

Jetzt läuft die Kampagne zur Wiederwahl

Die Wahl hat Präsident Menem gestärkt und der Verfassungsänderung ein gutes Stück nähergebracht Es ist ihm gelungen, das Volk glauben zu machen, daß wirtschaftliche Stabilität mit seiner Person verknüpft sei.
Die erste Oppositionskraft, die UCR, ist deutlich geschwächt. Sie hat es nicht vermocht, eine politische Alternative zu Menem präsentieren. Ihr wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat, Córdobas Gouverneur Angeloz, hat 1995 nur dann Chancen, wenn sich die Partei nicht weiterhin in Flügelkämpfen verstrickt. Die liberale UCD unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Alvaro Alsogaray hat ihre politische Bedeutung auf nationaler Ebene verloren und wurde durch den rechtsnationalen MODIN unter Aldo Rico als dritte Kraft ersetzt. Aber auch der MODIN hat sein maximales Wählerpotential (bis 12 Prozent) wahrscheinlich bereits erreicht. Große Veränderungen sind auch bei den Linksparteien Frente Grande und Unidad Socialista nicht zu erwarten.
Das nächste wichtige Datum ist nun der 21. November 1993, Tag der Volksbefragung, deren Ausgang nicht klar vorhersehbar ist. Derzeit läuft eine der größten und teuersten Kampagnen in der argentinischen Geschichte. Es geht darum, ob sich Menem durch eine Wiederwahl unvergeßlich in die Geschichte des Landes “einmeißeln” kann.

Schwarzer Frühling

Nach einem Banküberfall flüchteten die TäterInnen in einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs und zwangen den Fahrer, mit den Fahrgästen an Bord ohne Halt weiterzufahren. Eine fast klassische Situation von Geiselnahme. Noch im Umfeld des Tatorts fing ein Einsatzwagen der Polizei den Bus ab und brachte ihn zum Stehen. Ein Polizist, der sich dem Bus näherte, kam sofort zu Tode. War es mörderischer Dilettantismus oder militarisiertes Denken – über drei Minuten lang feuerte die Polizei auf den Bus mit BankräuberInnen und PassagierInnen: der Bus wies anschließend über 16o Einschüsse von außen auf… Das Ergebnis: sechs Tote, über ein Dutzend Verletzte im Bus.
Für die Polizei war klar (seit welchem Moment des Einsatzes?), daß es sich bei den TäterInnen um “TerroristInnen”, Mitglieder der Stadtguerilla Lautaro, handelte. Entsprechend wurden auch die Verletzten be- bzw. mißhandelt, teilweise mit Handschellen in die Krankenhäuser eingeliefert. So weit, so schlimm.

Regierung billigt Massaker

Schlimmer aber war die erste Reaktion der Regierung auf den Polizeieinsatz – weder Innenminister Krauss noch Präsident Aylwin fanden irgendeinen Anlaß, das Vorgehen der Polizei zu kritisieren. Das Totschlag-Wort “Terrorismus”-Bekämpfung blendete offenbar jede weitere Überlegung aus…
Erst die Recherchen der Medien ergaben im Anschluß, daß von den Opfern im Bus nur drei “Lautaristas” waren, die anderen drei jedoch unbeteiligte Fahrgäste, unter den Verletzten waren zwölf Passagiere…Für die Einschätzung des Polizeieinsatzes sollte es keine Rolle spielen, aber es soll nicht unterschlagen werden – bei ihrem Überfall hatten die Lautaristas sofort einen Bankwächter erschossen.

Kleine Fragezeichen

Wären alle Opfer tatsächlich “Terroristen” gewesen, hätten wohl nur wenige ChilenInnen noch weitere Fragen gestellt So aber, angesichts der unbeteiligten Fahrgäste, fragten nicht nur einige Medien, sondern auch PolitikerInnen des Regierungsbündnisses “Concertación” nach der Angemessenheit des Polizeieinsatzes. Und auch die Regierung ließ erkennen, daß sie das Vorgehen der Polizei nicht einfach unhinterfragt weiter billigen wollte – sie verlangte von der Polizei einen detaillierten Bericht… und sie beantragte die Einsetzung eines Sonderrichters zur Untersuchung der Vorgänge, und das bedeutet: den Überfall der Lautaristas und das Verhalten der Polizei. Wird ihm dieses Bündel von Aufgaben den Blick auf die zivilen Opfer freilassen?
Weitere politische Konsequenzen sind für diese Regierungsperiode nicht zu erwarten. Die Frage nach dem möglichen Rücktritt des verantwortlichen Ministers erledigt sich damit, daß die Polizei – Folge der Militärdiktatur -, sowohl dem Innen- wie dem Verteidigungsminister unterstellt ist. Die Praxis zeigt, sie untersteht keiner wirklichen Kontrolle, sondern agiert autonom – ein für eine demokratische Gesellschaft unhaltbarer Zustand.
Aber hier stellt sich eine weitere Frage – als wie unerträglich wird das Vorgehen der Polizei in Chile empfunden? Nach einer im Regierungsauftrag durchgeführten nicht-repräsentativen Umfrage findet etwa die Hälfte der befragten ChilenInnen an dieser Art, die Gesellschaft zu schützen, nichts auszusetzen. Und die berüchtigten Gespräche im Taxi oder auch Zufallsgespräche im Bus lassen dieses Ergebnis sogar glaubwürdig erscheinen…
Als am 3. November schon wieder Polizisten der Finger zu locker am Abzug der Maschinenpistole lag, war das Opfer weder “Terrorist” noch bloßer Passant, sondern erwies sich als Angehöriger der rivalisierenden Kripo (Investigaciones). Unter diesen Umständen war es unmöglich, einfach zur Tagesordnung überzugehen oder sich mit einer fadenscheinigen Rechtfertigung zu begnügen.
Die rasche Reaktion der obersten Polizeiführung – die sofortige Entlassung der drei beteiligten Polizisten aus dem Dienst und Neuordnung von Zuständigkeiten – berührt das zentrale Problem natürlich überhaupt nicht: Welche Grundsätze gelten für den Waffengebrauch der Polizei? Wer entscheidet über die Politik der inneren Sicherheit im Lande?
In einer längeren Erklärung, die man als Armuts- wie als Ohnmachtszeugnis verstehen kann, bekannte Innenminister Krauss am 6. November, daß sein Ministerium aufgrund der Rechtslage den Einsatz von Carabineros und Investigaciones nur “koordinieren” kann, aber diese Koordination “bezieht sich nicht auf operative Einsätze und bedeutet schon gar keine wirkliche Befehlsgewalt (mando efectivo) über die polizeilichen Institutionen”.
Die Feststellung ist sachlich richtig, aber in diesem Zusammenhang fast bedeutungslos. Weder Krauss noch Aylwin können sich aus ihrer politischen Verantwortung stehlen: schließlich waren sie es, die das Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen am 11. September und beim Massaker in Las Condes ausdrücklich rechtfertigten.

Ein Neuer bei Interpol

Während der Regierung Allende genoß Mery noch den Ruf, der Unidad Popular nahezustehen. Mit dem Putsch aber scheinen sich für ihn die Zeiten gewandelt zu haben. VertreterInnen chilenischer Menschenrechtsorganisationen und ehemalige politische Gefangene geben an, Mery sei eine der Schlüsselfiguren für die Organisation der Repression in der Region Linares gewesen, deren Kriminalpolizei er seinerzeit leitete.

Merys Grill

In dieser Position organisierte er im Verbund mit der berüchtigten Geheimpolizei DINA und dem militärischen Geheimdienst SIM die Verhaftung von GewerkschafterInnen und Linken, die dann in den Kellern der Artillerieschule von Linares inhaftiert wurden. Seine Beteiligung an den Folterungen wurde bereits in der Ende 1992 herausgegebenen Dokumentation “Labradores de la esperanza” des CODEPU (Comité de defensa de los derechos del pueblo) benannt und wird nun unter dem Titel “Merys Grill” erneut in der September-Ausgabe der Zeitschrift “Punto Final” herausgestellt.
In den meisten Berichten der Opfer wird Mery nicht als der unmittelbare Folterer bezeichnet. Er bestimmte, wer verhaftet und wer gefoltert wurde. Im Zusammenhang mit den Folterungen selbst nahm er vor allem die Rolle des “Guten” ein, der selbst keine Gewalt anwendete, sondern nach der Folter den Weg zur Kooperation und zur Aussage ebnen sollte. “Mery war der Ideologe während der Folter und des Verhörs. Er war immer vor dem Folterraum, aber er entschied, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Folter beendet und die Kooperation versucht wurde”, so Solidia Leiva von der Vereinigung der Familienangehörigen von Verschwundenen. Silvia Sepúlveda, in den 70er Jahren Vorsitzende der Bauerngewerkschaft Luciano Cruz und in Linares gefangen und gefoltert, beschreibt, daß Mery den Gefangenen klarzumachen versuchte, Schweigen sei sinnlos. “Mery hat mir gesagt, ich solle alles sagen, was ich weiß, dann würde ich schnell freigelassen.”
Frau Sepúlveda berichtet weiter, sie habe gesehen, wie Mery den Gefangenen Alejandro Mella dazu bringen wollte, eine Erklärung über seine Freilassung zu unterschreiben. Gefangene, die eine solche Erklärung unterschrieben, wurden häufig sofort danach umgebracht. Derartige Dokumente gehörten ins feste Repertoire des Verschwindenlassens: So konnte die Polizei ihre Hände in Unschuld waschen, da sie nachweisen konnte, den Gefangenen freigelassen zu haben.

Ahnungslose Interpol?

Sicher kann man nicht annehmen, daß sämtliche Delegierte der Interpol-Generalversammlung über die Rolle des chilenischen Kripo-Chefs informiert waren. Kein Grund allerdings, gegenüber einem Sicherheitsbeamten aus der Zeit der chilenischen Diktatur nicht generell vorsichtig zu sein. In einer Organisation, die sich in Artikel 2 ihrer Statuten ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte bezieht, ist eine solche Wahl mehr als eine Kleinigkeit.
Die Versuche, Folterer und andere Verantwortliche für schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Amnestien vor einer Verurteilung zu bewahren, das Beharren der Militärs auf einer Teilhabe an der Macht im Land, sind in allen seriösen Zeitungen nachzulesen. Mit der Wahl Mery Figueroas in eine Schlüsselposition beteiligt sich die Interpol-Generalversammlung an der nachträglichen Rechtfertigung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur.
Die nach Kontinenten gewählten Delegierten sollen vor allem die polizeiliche Zusammenarbeit in ihrer Region fördern – ein Vorhaben, das Interpol seit den 80er Jahren verstärkt betreibt. Als einer der zwei Delegierten für Amerika im Exekutivkomitee übernimmt Mery eine bedeutende Position in der einzigen weltweiten Polizeiorganisation, der mittlerweile über 170 Länder angehören. Das Exekutivkomitee von Interpol hat die Aufgabe, die Arbeit des Generalsekretariats in Lyon zu überwachen. Mery dürfte dafür kaum der geeignete Mann sein, denn auch unabhängig von seiner Rolle während der Militärdiktatur des Generals Pinochet hätte der chilenische Kripo-Chef bei den Herren von Interpol auf gesteigertes Interesse stoßen müssen. So veröffentlichte z.B. die chilenische Zeitschrift “Apsi” in ihrer Ausgabe vom 21.9.92 einen längeren Bericht über den Drogenhandel in Chile. Darin findet sich ein Foto, das ihn in freundlicher Begrüßungsszene mit Cabro Carrera zeigt. Der Handschlag der beiden, so betont das Blatt, sei keineswegs ein Einzelfall gewesen. Carreras Name steht in Chile für Drogenhandel, illegales Glücksspiel und andere Dinge, die Hans-Ludwig Zachert, Präsident des BKA und ebenfalls neu gekürtes Mitglied des Interpol-Exekutivkomitees, hierzulande sonst als “organisierte Kriminalität” bezeichnet.

Bearb. Vorabdruck aus “Bürgerrechte und Polizei/CILIP”, Nr.46 (3/93)

Auswege aus einer Krise

Hauptmerkmale der gegenwärtigen Wirtschaftskrise

Zwischen 1988 und 1992 fiel der Erdölimport von 13 Mio. Tonnen auf 6,1 Mio. Tonnen. 90% der in Kuba produzierten Energie wird allerdings durch Ölkraftwerke erzeugt. Das Land wurde dazu gezwungen, entsprechende Anpassungsmaßnahmen zu treffen. Diese führten zu einem drastischen Rückgang des Energieverbrauchs der staatlichen Einrichtungen, zu einem starken Rückgang und sogar teilweisen Erliegen der industriellen Produktion mit hohem Energieverbrauch und zu Rationierungsmaßnahmen bei der Energieverteilung.
Die Zuckerrohrernte der vergangenen Jahren ging drastisch zurück: von 7 Mio. Tonnen 1991 auf 4,2 Mio. Tonnen im Jahr 1992. Und während 1989 für eine Tonne Zucker, Kubas wichtigstem Exportprodukt, noch 7,5 Tonnen Erdöl zu erhalten waren, reicht gegenwärtig eine Tonne gerade für 1,4 Tonnen Erdöl aus. Die gesamte Importkapazität fiel darüberhinaus zwischen 1989 und 1992 um 73% von 8,1 auf 2,2 Mrd US-Dollar zurück.
Die Folgen dieser Politik sind bekannt und für jeden/jede Kuba-Reisende/n sichtbar. Viele der Maßnahmen treffen die Bevölkerung, die teils mit Verständnis und teils mit Unmut, teils mit beidem die Regierungsmaßnahmen zur Kenntnis nimmt. Unsicherheit und Sorgen begleiten die KubanerInnen in das fünfte Jahr des “Período Especial” gleichermaßen wie Zuversicht und Hoffnung. Was überwiegt, vermag kaum jemand zu sagen. Stimmungen scheinen in Kuba wechselhaft, obwohl die Not alltäglich geworden ist.
Die kubanische Regierung hinterläßt bei der Suche nach Auswegen aus der Krise nicht selten den Eindruck, sie jongliere mit den revolutionären Werten. Dabei erntet sie beim Volk Widerspruch, aber Wohlwollen bei ausländischen Investoren.
Wie glaubwürdig erscheinen die Bemühungen Kubas nach einer stärkeren ökonomischen Unabhängigkeit, wenn mit dem Tourismus, Joint Ventures und Kapitalbeteiligungen an staatlichen Betrieben beispielhafte Investitionsbedingungen für ausländische Investoren geschaffen werden? Bisweilen wird in der hiesigen Presse mehr über die Spagate der Regierung als über die Maßnahmen berichtet, die den Weg ebnen sollen, damit Kuba ökonomisch eigenständig wird. Es entsteht leicht der Eindruck, die Regierung sei nur an schnell erwirtschafteten Devisen interessiert, ohne nach anderen Auswegen zu suchen. Der Tourismus, der 1992 Einnahmen in Höhe von 400 Mio. US-Dollar erbrachte und 1995 1 Mrd. Dollar einbringen soll, ist jedenfalls nicht der einzige Ausweg.
Angesichts der verheerenden Folgen des Rückganges der Erdölimporte und des hohen Stellenwertes, den eine kontinuierliche und unabhängige Energieversorgung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hat, wird in diesem Bereich intensiv nach Lösungsstrategien gesucht. Da in absehbarer Zeit weder die einheimische Erdölförderung (1 Mio. Tonnen pro Jahr) ansteigen noch am AKW-Programm weiter gebastelt wird, hat sich das Land auf die Suche nach alternativen Energiequellen gemacht und nach Möglichkeiten, die bestehenden Ressourcen besser zu nutzen. Unter den alternativen Energiequellen haben die erneuerbaren Energien in der augenblicklichen Situation und Entwicklung das größte Gewicht.

Ein ökologischer Weg aus der ökonomischen Krise

Kuba hat in den letzten Jahren ein weltweit beispielhaftes Förderprogramm zur Nutzung erneuerbarer Energien durchgeführt. So wurden beispielsweise in den letzten fünf Jahren über 200 Kleinwasserkraftanlagen gebaut, und über 400 kleine, 50 mittlere und eine große Biogas-Anlage gebaut. Zusätzlich wurden solare Warmwasser- und Trocknungsanlagen gebaut, eine eigene Photovoltaik-Produktion eingerichtet, die Biomasse in der Zuckerindustrie zunehmend energetisch genutzt und windgetriebene Pumpen installiert (es existieren ca. 6000 Windräder zur Wasserversorgung, wobei jedes Windrad jährlich ca. 1,5 Tonnen Diesel einsparen kann). Vielfältige Forschungsaktivitäten suchen weitere Energiequellen zu erschliessen, wie beispielsweise in der Geo- und Meeresthermik, Windstrom, thermische Nutzung pflanzlicher Abfälle.
Die Umsetzung des Programms zur Förderung erneuerbarer Energien ist nicht unproblematisch. Unzureichende Kosten- und Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, sowie eine mangelnde Koordination und Erfahrungsaustausch zwischen den kubanischen Forschungseinrichtungen, können dazu führen, daß das Programm nicht die Ergebnisse bringt, die mensch sich erhofft. Ein anderes Hindernis sind die fehlenden Devisen für die Durchführung der verschiedenen Projekte. An qualifiziertem Personal und Forschungseinrichtungen mangelt es nicht.

Die Träger des ökologischen Ausweges

Auf der Suche nach neuen Lösungsstrategien ist die kubanische Regierung bemüht, einheimischen Organisationen und Institutionen mehr Freiräume zu geben. Sie sollen die Kontakte mit ausländischen Organisationen suchen und selbständig Verträge und Kooperationsvereinbarungen abschließen können. Inwieweit diese “Nichtregierungsorganisationen” (NRO) tatsächlich unabhängig sind, ist eine andere Frage. Auf dem im September mit EG-Mitteln finanzierten Treffen ausländischer und kubanischer NROs wurde eine Zahl von 2144 kubanischen NROs genannt. Möglicherweise ist diese Zahl hoch angesetzt, da die Definition einer NRO in Kuba sehr weit gefaßt ist. Einer der kubanischen Teilnehmer meinte jedenfalls, auch die “Comités de Defensa de la Revolución” (CDR/Komitees zur Verteidigung der Revolution) seien NROs.
Auf dem Treffen erschienen 56 kubanische und 98 ausländische NROs (darunter elf deutsche Organisationen). Ziel des fünftägigen Treffens war die Suche nach einer engeren Kooperation zwischen den kubanischen und ausländischen Organisationen. Ziemlich schnell wurde deutlich, daß beide Gruppen unterschiedliche Vorstellungen vom Treffen hatten. Während es den einen mehr um Vertragsabschlüsse und Projektgelder ging, stand bei den anderen mehr das Sich-Kennenlernen im Vordergrund.

Deutsch-Kubanische Zusammenarbeit

Kontakte zwischen deutschen und kubanischen NROs gibt es auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien schon seit längerer Zeit. Viele dieser Kontakte werden in Deutschland durch Seminare und Kongresse gefördert. In Oktober fanden gleich zwei Kuba-Veranstaltungen, einmal in Bonn und einmal in Berlin, statt. Das Interesse über die Entwicklungen im Bereich der erneuerbaren Energien in Kuba ist sehr groß. Von deutscher Seite sind vor allem kirchliche (“Brot für die Welt”) oder kirchennahe Organisationen (FAKT) und NROs in Kuba engagiert. Letztere formierten sich vor zwei Jahren zu einem Kuba-Energie-Netzwerk, um die Durchführung von Projekten zu koordinieren. Ihm gehören fünf NROs an. Auf kubanischer Seite stehen ebenfalls kirchliche Organisationen, allen voran der Ökumenische Rat von Kuba und andere kubanische NROs, wie z.B. Pro Naturaleza, Cuba Solar und die ANAP (Kleinbauernorganisation).
Inwieweit Entwicklungsprojekte substantielle und langfristige Verbesserungen nach sich ziehen können, darüber kann mensch sich verständlicherweise lange streiten. Die Beispiele aus der Entwicklungszusammenarbeit in anderen Ländern haben gezeigt, wie schnell Projekte sich in Mahnmale gegen die Entwicklungshilfe verwandeln.
Ist Kuba ein Musterland für Entwicklungsprojekte, wird es zur Versuchsstation für ökologische Projekte? Möglich daß auch hier wieder etwas in ein Land hineinprojiziert wird.
Günter Koschwitz, Mitarbeiter bei Dienste in Übersee und beim ökumenischen Rat von Kuba (CEC), schrieb in seinem Bericht nach einer Kuba-Studienreise: “In Kuba bestehen gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche und wirkungsvolle internationale Kooperation zur Förderung der massiven Nutzung von erneuerbaren Energien. Dies aufgrund der reichlich vorhandenen erneuerbaren Energiepotentiale und der eindeutigen energiepolitischen Prioritätensetzung sowie dem professionellen Niveau und der vorhandenen Infrastruktur.”
Der kubanische Staat und die kubanischen NROs wollen eine Wende auf dem Energiesektor einläuten. Es bleibt zu hoffen, daß das ökologische Bewußtsein der Menschen in gleichem Maße steigt. Die Not ist groß, die Kreativität auch, doch schnell kann der Mensch die erlebte Not vergessen, wenn der Magen wieder voll ist.

“Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche”

Ein Buch über “Ches Erben”, zusammengestellt aus Ländereinblicken, Interviews mit Guerilleros und biographischen Notizen, wirkt in Anbetracht der derzeitigen politischen Gesamtlage erst einmal befremdlich. Doch der erste verwunderte, aber auch interessierte Blick auf den Inhalt zerstreut die aufkommenden Befürchtungen. In den Gesprächen mit Vertretern – gibt es eigentlich keine Guerilleras? – der Guerillaorganisationen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien und Uruguay – vermeidet der Autor Albert Sterr jegliche Beschwörung des linken Mythos von heldenhaften Guerilleros, aber auch seine Verdammung: “Die vorliegende Arbeit ist weder eine polemische Absage an den Mythos Befreiungsbewegung noch ein Wegweiser für die Suche nach einer neuen revolutionären Hoffnung für die Menschheit”(S.9). Das zweite Befremden stellt sich jedoch sogleich ein: wozu dann ein solches Buch?
Albert Sterr nennt zwei Leitfragen, zum einen die nach der “politischen Verankerung der (ehemaligen) Guerillabewegungen” und “ob sie für die Bevölkerungsmehrheiten im wirklichen Leben emanzipatorische Spielräume eröffnen” können (S.12), zum anderen, wie der Titel vermuten läßt, nach Che Guevara und seiner Vorbildfunktion (S.14). Beide Fragen werden in den Interviews kaum berührt, in den einleitenden biographischen Essays zu den einzelnen Interviewpartnern nur gestreift. Deutlich wird in der Einleitung allerdings, daß es in diesem Buch vor allem auch um einen Beitrag zur hiesigen Diskussion geht (S.21). Diesen Anspruch erfüllen die Interviews fürwahr. Sie lesen sich sehr spannend, geben einen guten historischen Einblick in die Geschichte der Linken in den jeweiligen Ländern und in die Möglichkeiten von Bewegungen im Widerstand gegen die Regierungen. Außerdem werden die Unterschiede der verschiedenen Bewegungen untereinander dargestellt, einige Tabuthemen wie interne Konflikte aufgegriffen und begangene Fehler thematisiert. Die Interviews haben für sich viel Aussagekraft. Trotzdem fehlte mir nach dem Lesen ein Schlußwort, ich fragte mich, was der Autor aus diesen Interviews nun schließt, ob er Antworten auf seine Fragen finden konnte.
Interessant ist es für die LeserInnen allemal, sich mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der linken Bewegungen Lateinamerikas zu befassen und sich der äußeren Zwänge, die jede revolutionäre Veränderung verhindern, erneut bewußt zu werden. Denn die Erben Che Guevaras haben nicht mehr die gleiche Siegeshoffnung, die er selbst noch hatte als er schrieb: “Und wenn wir fähig wären, uns zu vereinigen, um unsere Schläge solider und genauer durchführen zu können, um Hilfe jeder Art den kämpfenden Völkern noch wirksamer leisten zu können, wie groß wäre dann die Zukunft und wie nah” (Che Guevara, “Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams” 1967).

Gefangen im Goldbergbau

“Wenn ich vier Stunden am Stück unter Wasser bin, dann denke ich nur an die schönen Dinge des Lebens – an gutes Essen oder, daß ich den großen Goldklumpen finde”. So der Garimpero – der Goldgräber -, der auf einem Tauchfloß arbeitet. Während des vierstündigen Tauchgangs wacht ein anderer Garimpero über die Luftzufuhr. Trotzdem gibt es sehr viele Unfälle. Die Suche nach Schwemmgold in den Sandbänken ist aufreibend. Rheumatismus, Herzstörungen und Atembeschwerden sind fast schon normal. Das Saugbaggerfloß arbeitet im Gegensatz zum Tauchfloß mit höherem technischem Aufwand. Die Motoren laufen zwanzig Stunden pro Tag und machen einen ohrenbetäubenden Lärm. Sechs Menschen leben fast ständig auf dieser schwimmenden Maschine. Essen, schlafen, arbeiten auf dem Floß. Andere Garimperos arbeiten im Primärgoldabbau. Felsen werden mit Wasserhochdruckspritzen und schwerem Räumgerät bearbeitet. “Man sucht Gold und bekommt es nie zu Gesicht, es ist das Leben eines Gefangenen” sagt einer der Arbeiter.
Szenen aus dem Dokumentarfilm “Goldbergbau am Oberlauf des Tapajós”, dessen deutsche Fassung im November in Berlin uraufgeführt wurde. Zwischen einer halben und einer Million Menschen arbeiten im Amazonasraum von Brasilien in der Goldgewinnung, um damit ein Auskommen für fünf Millionen Menschen zu sichern. Was üblicherweise wegen der extremen Umweltbelastung und den oft tödlichen Auseinandersetzungen mit IndianerInnen im Kreuzfeuer der internationalen Kritik steht, wird in diesem Film von einer ganz anderen Seite beleuchtet. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Goldgräber stehen im Mittelpunkt. Und die sind denen der Kautschukzapfer, die vor einhundert Jahren das flüssige Gold im Amazonas suchten, nicht unähnlich. Ohne gesetzliche oder soziale Absicherung arbeiten sie für einen Minenbesitzer oder auf eigenes Risiko sechs, manchmal auch sieben Tage in der Woche. Malaria ist die häufigste Krankheit. Lepra, Tuberkulose, Quecksilbervergiftungen und Geschlechtskrankheiten machen den schlecht ernährten Menschen zu schaffen. Eine Krankenversicherung gibt es nicht, genausowenig wie Schulen oder eine funktionierende Justiz. Bei Nichtanwesenheit des Staates gelten eigene Gesetze. Ein in den Film eingeblendeter Ausschnitt einer brasilianischen Fernsehsendung verdeutlicht die Blauäugigkeit und/oder den Zynismus der brasilianischen Gesundheitsbehörden: ein japanisches Wundermittel entgiftet einen an Quecksilbervergiftung leidenden Goldgräber angeblich binnen weniger Tage.
Etwas schwer verständlich für die deutschen ZuschauerInnen ist der Schluß des Videos. Hier sollen Handlungsperspektiven für eine bessere (gewerkschaftliche) Organisation der Garimperos aufgezeigt werden. Daß diese nur unter erheblicher Beteiligung der Minenbesitzer möglich sein soll, ließ unter den in Berlin anwesenden ZuschauerInnen eine lebhafte Diskusssion entstehen.
“Goldbergbau am Oberlauf des Tapajós” beeindruckt durch seine seltenen und nahen Aufnahmen und ist eine sehr gute Einführung in die Problematik des Goldbergbaus im Amazonas. Er entstand als ein brasilianisch-deutsches Kooperationsprojekt (CEPEPO, ABONG, Buntstift und KATALYSE) im Anschluß an das Seminar “Auswirkungen des Goldbergbaus auf Sozialgefüge und Umwelt im Amazonasraum”, das im Dezember 1992 in Belém stattfand. Bei weitergehendem Interesse sei das gleichnamige Buch zum Seminar empfohlen, das jetzt beim Volksblattverlag in Köln erschienen ist. Die deutsche Videoversion in VHS PAL oder Beta SP PAL kann ausgeliehen werden über KATALYSE, Institut für angewandte Umweltforschung, z.Hd. Regine Rehaag, Mauritiuswall 24-26, 50676 Köln. Tel. 0221-235964.

Ein Geisterhaus ohne Geist

Das Buch hatte ich vor Jahren gelesen und ich war schlichtweg begeistert von dieser phantasievollen Familiengeschichte. Vor kurzem kam es mir wieder in die Hände und ich entschloß mich, Isabel Allendes Meisterwerk ein zweites Mal zu lesen. Als ich etwa die Hälfte gelesen hatte, lief der Film an. Gedreht von Bernd Eichinger, der sich mit Filmen wie “Der Name der Rose” einen Namen gemacht hatte und mit einer weiteren Romanverfilmung “Salz auf unserer Haut” diesen Namen fast wieder verloren hat.
Daß der Film natürlich nicht wie das Buch sein kann, war mir von vornherein klar – aber das, was ich dann zu sehen bekam, habe ich nun doch nicht erwartet. Ein völlig langweiliger, platter Film und dazu auch noch einer mit Überlänge. Mehr als die Rahmenhandlung – die Geschichte der Familie Trueba – haben Film und Buch nicht gemeinsam.
Die Darstellung der faszinierenden Charaktere, die das Buch so einmalig macht, bleibt völlig flach und oberflächlich und die Lebensstationen der einzelnen Familienmitglieder werden im Schnelldurchgang abgehakt, was dann ungefähr so ausssieht: Der Jugendliche Estéban Trueba (Jeremy Irons) verliebt sich in die schöne Rosa (die im Film leider keine grünen Haare hat). Sie fällt wenig später einem Giftanschlag zum Opfer, während er in einer Goldmine schuftet, um ihr ein würdiges Leben bieten zu können. Rosas kleinere Schwester Clara (Meryl Streep) hat das Unglück durch ihre hellseherischen Fähigkeiten vorausgesehen. Sie fühlt sich schuldig am Tod der Schwester und verfällt daraufhin in Stummheit. Um seinen Schmerz zu vergessen, kauft sich Estéban eine heruntergekommene Hazienda (“Tres Marías”) und macht aus ihr ein kleines Paradies. Circa zwanzig Jahre später (das Alter ist an ihm vorbeigegangen) kehrt er zurück, um nun die erwachsene Clara zu heiraten. Sie willigt ein und spricht auch prompt wieder. Die Story geht im selben Stil weiter, wobei merkwürdigerweise einige DarstellerInnen in dem Film einfach nicht älter werden, wohingegen andere inzwischen schon als Greise über die Leinwand tattern.
Estebans Schwester Férula (Glenn Close) zieht auf die “Tres Marías”, wird aber von ihrem Bruder bald wieder vertrieben, da er hinter der Zuneigung der beiden Frauen füreinander schweinische Umtriebe vermutet. Clara bekommt eine Tochter namens Blanca (die Söhne werden im Film einfach weggelassen), die innerhalb kurzer Zeit erwachsen ist und sich in den Revoluzzer Pedro verliebt.
Auch hier schafft es der Film nicht einmal ansatzweise, die umfassende Liebe und berauschende Sinnlichkeit der beiden glaubhaft darzustellen. Und weiter geht’s : Férula stirbt einsam und verlassen. Ach! Und ein Graf ist da auch noch, der es natürlich mehr auf das Vermögen als auf Blanca abgesehen hat. Dann gibt es noch den Wahlsieg der Sozialisten und kurz danach, natürlich zum Weihnachtsabend und im Winter, der in Chile anscheinend mit den gleichen Christbäumen wie in Deutschland begangen wird, den Militärputsch (der ja eigentlich im September war). Clara stirbt noch recht theatralisch und so plätschert es weiter: ein bißchen Folter für die Tochter, ein bißchen späte Einsicht des Vaters und Friede, Freude, Eierkuchen mit dem verhaßten Geliebten der Tochter.
Schlußszene: Blanca sitzt auf der Terasse der Hazienda, im Hintergrund eine wunderschöne kitschige Landschaft, die übrigens im ganzen Film nie fehlt, und dann ihr Schlußsatz: “Für mich ist das Leben selbst das wichtigste geworden”. Ach wie schön! Edel-Kitsch auf Breitband-Leinwand.
Als ich dann wieder zuhause war, nach diesem mißglückten Kinoabend, nahm ich mein angefangenes Buch zur Hand und las freudig weiter, als hätte es diesen Film nie gegeben.

Eindrucksvolles Geisterhaus

Der Putsch in Chile ’73 war für Isabel Allende ein wichtiges Thema in ihrem Buch “Das Geisterhaus”. Das Buch, in viele Sprachen übersetzt, gehört zu den Weltbestsellern. Daß versucht wurde, diesen Bestseller zu verfilmen, kann als große Herausforderung betrachtet werden. Leicht ist es nicht, eines der erfolgreichsten Bücher der Welt zu einem gelungenen Spielfilm zu machen. Einen großen Vorteil hat die deutsch-dänische-portugiesische Produktion schon mit der Besetzung. Jeremy Irons, Meryl Streep, Glenn Close, Winona Ryder und Mambo King Antonio Banderas gehören derzeit zu den besten SchauspielerInnen der Welt. Zwei von Ihnen, Jeremy Irons und Meryl Streep haben sogar einen Oscar auf dem Nachtkästchen stehen. Ob dieser Film die Besucherzahl von Jurassic Park überholen wird, ist noch abzuwarten.
Die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, und fängt ganz harmlos, am Anfang des Jahrhunderts an und führt uns zu dem Haus einer Familie der chilenischen Oberschicht. Estéban Trueba (Jeremy Irons), ein hart arbeitender Bergmann, hat die Absicht, Rosa, die älteste Tochter der Familie del Valle, zur glücklichsten Frau der Welt zu machen. Mit der Hochzeit wird aber noch gewartet, weil der in den Minen des Norden arbeitende Estéban voller Hingabe nach Gold sucht. Seine Hingabe lohnt sich, als er auf die lang erwartete Goldader stößt. Aber leider ist seine geliebte Verlobte inzwischen ermordet worden. Ein Schluck von einem geschenkten Schnaps wurde ihr zum Verhängnis und vermutlich wurde der tragische Mordanschlag wegen der politischen Überzeugung ihres Vaters verübt. Der Tod war von der kleinen übersinnlich begabten Schwester, Clara, vorausgesehen worden. Nach dem Todesfall entschloß sie sich, nicht mehr zu sprechen.
Der enttäuschte Verlobte, Estéban, zieht voll Bitterkeit nach “Tres Marías” und wird mit “Hilfe” der einheimischen Bevölkerung ein erfolgreicher, aber jähzorniger, Viehzüchter. Der respekt- und morallose Estéban ist fest entschlossen, Karriere zu machen.
Wegen des Todes seiner Mutter kehrt er wieder heim und begegnet der jetzt erwachsenen Clara. Die beiden heiraten und ziehen zusammen sehr glücklich nach “Tres Marías”. Die bei Estéban nicht sehr beliebte Schwester Férula (Glenn Close) kommt mit und ist tagsüber als Hausfrau im Haus beschäftigt. Férula wird eine sehr gute Freundin von Clara und eine zweite Mutter für Blanca (Winona Ryder). Férula wird aber von dem eifersüchtigen Bruder aus dem Haus geschickt und stirbt unglücklich.
Estébans und Claras Tochter Blanca wächst in “Tres Marías” auf und freundet sich mit Pedro García, einem Bauernsohn, an. Pedro wird Revolutionär der People’s Party (sic!) und ist eine Gefahr für die Konservative Partei und dadurch auch für Estéban. Als er hört, daß Blanca und Pedro auch noch ein Liebespaar sind, treibt er die zwei gewalttätig auseinander. Clara zieht mit ihrer schwangeren Tochter in die Stadt und redet nie wieder mit ihrem Mann. Als Gutsbesitzer und Senator kommt Estébans politische Karriere zum Höhepunkt, als er zum Anführer der Konservativen ernannt wird.
Der politische Umschwung in Chile ereignet sich, als die People’s Party eine überzeugende Mehrheit bei den Wahlen erhält. Estéban, alt, grau und voller Narben, findet im Alter Trost bei seiner Frau, die aber trotzdem ihr Versprechen, nie wieder mit ihm zu reden, einhält. Statt die Enttäuschung ihres Mannes zu teilen, ist Clara mit der Sieg der People’s Party einverstanden. Viel Mitleid kann sie ihm leider nicht mehr geben, weil sie stirbt.
An dem Tag, an dem sie begraben wird, ziehen Panzer und Truppen in die Stadt und verhaften hemmungslos die Bürger. Der Putsch ’73 hat sich ereignet. Blanca, jetzt Mutter eines Kindes, wird verhaftet wegen ihrer Beziehung zu dem verschwundenen Pedro.
Blanca wird im Gefängnis peinlich an ihren Halbbruder, das uneheliche Kind ihres Vaters erinnert. Der Sohn Estébans, der mit finanzieller Unterstützung seines Vaters ein erfolgreicher Militär geworden ist, versucht, Pedros Versteck mit Hilfe von Folter und Gewalt zu erfahren. Als sie halb tot in ihrem Folterkeller liegt, besucht der Geist ihrer Mutter die Zelle und gibt ihr neue Hoffnung. Kurz danach kommt sie frei mit Hilfe einer “Freundin” ihres Vaters. Mit Tochter und Vater fährt sie zurück nach Tres Marías.
Von Anfang an hat man das Gefühl, daß der Regisseur in sehr kurzer Zeit alle Einzelheiten des Buches verfilmen will. Drei Generationen verfliegen und die HauptdarstellerInnen werden sehr schnell alt. Wenn man den abgerissenen Kopf von Claras Mutter nach einem Autounfall über die Leinwand fliegen sieht, zweifelt man an der Seriosität des Filmes. Doch machen die genialen Leistungen der SchauspielerInnen diesen Film zu einem großen Erfolg. Nicht nur die SchauspielerInnen, auch die Bilder zeigen die Professionalität der Filmemacher. Immer wieder interessante Charakterstudien der Menschen werden auch im Geisterhaus hervorragend gezeigt. Estéban Trueba, der Schreckliche, gegenüber der Freundlichkeit und Heiterkeit von Clara. Leider ist die politische Botschaft nicht sehr deutlich, aber trotzdem vorhanden. Die schrecklichen Folgen des Putsches werden mit militärischen Übergriffen und Folter eindrucksvoll gezeigt.

Abschied vom selbstgewählten Image

Kein Interesse an Zentralamerika

Während die vier Länder Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua im Juni in Guatemala einen Vertrag zur zentralamerikanischen Einigung unterzeichneten, der einige Zoll- und Handelsschranken beseitigte und Migrationskontrollen lockerte, blieb Costa Rica ebenso wie Panamá in der Rolle des stillen Beobachters. Statt auf Gemeinsamkeiten blicken die costaricanischen PolitikerInnen eher mißtrauisch auf Unterschiede zu den Nachbarstaaten; so zum Beispiel der neugewählte Parlamentspräsident Danilo Chaverri von der konservativen Regierungspartei Partido Unidad Social Cristiana (PUSC). In einem Zeitungsinterview erklärte er: “Wir haben ein Land mit 40 % Arbeitslosigkeit (gemeint ist der Nachbarstaat Nicaragua, der Verf.), und eine Öffnung der Grenzen würde eine Flut von Immigranten auslösen, die in sehr starkem Maße an unserer kulturellen Identität rütteln würde.” Abgesehen von der verblüffenden Geistesverwandtschaft einiger costaricanischer PolitikerInnen zu ihren KollegInnen in der BRD wird hier eine interessante Frage aufgezeigt: Was soll denn Costa Ricas “kulturelle Identität” bedeuten?

Identität durch Abgrenzung

Gehen wir einmal davon aus, daß es so etwas tatsächlich gibt: Mit einer gemeinsamen Identität der Länder Mittelamerikas, einer gemeinsamen Rolle in der Geschichte und gleichen aktuellen gesellschaftlichen Merkmalen, hat es offenbar nichts zu tun. Wer eine eigene Identität so sehr an die Notwendigkeit zur Abschottung knüpft, gibt damit zu, daß er Angst hat, sie sehr leicht verlieren zu können. Eine Angst, die sich politisch seit Jahren durch eine Das-geht-mich-nichts-an-Haltung ausdrückt, oder höflicher: durch eine Neutralitätspolitik. Und wenn das Land mit den Problemen anderer in speziellen Fällen ganz besonders wenig zu tun haben wollte (wie in den 80er Jahren mit Nicaragua), dann gab es sich einfach so extrem neutral, daß die ein-und ausgehenden Contras gar nicht bemerkt werden konnten.
Was aber ist für die CostaricanerInnen die eigene Kultur? Marimbaklänge und Volkstanzgruppen aus Guanacaste – vielleicht. Die Tradition der Schwarzen von der Atlantikküste schon weniger. Und was die Indígena-Kultur betrifft, so galt diese vielen schon immer als etwas Fremdes im eigenen Land. Die Conquistadoren bewirkten hier gemeinsam mit der Gesetzgebung der jüngeren Vergangenheit etwas, was anderswo mordende Soldaten nicht schafften: Die ohnehin zahlenmäßig nie sehr große Indígena-Bevölkerung Costa Ricas konnte große Teile ihrer natürlichen Lebensform und ihrer Traditionen nicht bewahren.

Falsches Bild vom “grünen Land”

Der Tourismus tut ein übriges. Längst sind unter den 610.000 TouristInnen, die im letzten Jahr kamen, nicht mehr nur die üblichen Gringo-RentnerInnengruppen, sondern fast ebenso viele junge, “individuelle” “Alternativ”-Reisende aus Europa.
Ob Gruppe oder Einzelreisende/r; für ein Land mit etwas über drei Millionen BewohnerInnen hat der Tourismus, der allen Prophezeiungen zufolge demnächst die Bananen als Devisenquelle Nummer eins ablösen wird, eine Größenordnung erreicht, die eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für die Natur des Landes darstellt. Im Falle des Nationalparks Manuel Antonio an der Pazifikküste wird längst überlegt, ähnlich wie schon im Naturreservat Monteverde, täglich nur eine begrenzte BesucherInnenzahl in den Park zu lassen. Manuel Antonios Pendant an der Karibikküste ist der Nationalpark Cahuita, der bevorzugt von all jenen aufgesucht wird, die sich ihr Klischee vom relaxten Leben der schwarzen KüstenbewohnerInnen zwischen Reggae und Marihuana bestätigen lassen wollen – und sich wundern, daß sie dort auf immer größere Ablehnung stoßen.

“Öko-Teufel” für den Präsidenten

Die geschützten Nationalparks drohen an den TouristInnenströmen zu ersticken; darüber hinaus wird außerhalb der Reservate weiterhin Tropenwald gerodet, und es steht zu befürchten, daß in nicht zu weiter Ferne außer den Parks die Grünflächen Costa Ricas praktisch verschwunden sein werden.
Nicht gerade rühmlich für die Regierung des “grünen Landes”; Präsident Rafael Angel Calderón mußte dann kürzlich auch von Robin Wood den “Öko-Teufel ’92” hinnehmen – für die “scheinheiligste Öko-Politik”. Konkreter Anlaß hierzu war allerdings der umstrittene 400-Betten-Hotelkomplex der spanischen Barceló-Gruppe am Strand von Tambor, einem Mammutprojekt, für das unter anderem Wagenladungen weißen Sandes über den imageunfreundlichen dunklen Strand gekippt wurden. Gesetzesverletzungen bei der Errichtung des Hotels Las Palmas an der Atlantikküste veranlaßten die costaricanische Schriftstellerin Anacristina Rossi dazu, einen Roman über den Skandal zu schreiben (der sich in Costa Rica hervorragend verkauft).

“Grundwerte” Religion und Familie
Wer schließlich versucht, die kulturelle Identität durch bestimmte gesellschaftliche Werte oder Normen zu definieren, darf davon ausgehen, von den CostaricanerInnen auf die ungemein wichtige Bedeutung solcher Begriffe wie Religion oder Familie in ihrem Lande hingewiesen zu werden. Auch das ist freilich mit Vorsicht zu genießen. In einem Staat, in dem 60 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren bereits mindestens eine Schwangerschaft hinter sich haben, scheint es mit der Einhaltung katholischer Verhaltensmaßregeln nicht allzu weit her zu sein. Und die Tatsache, daß später 41 Prozent jener Mädchen als alleinstehende Mütter einen Haushalt führen müssen, weist nicht gerade auf ein intaktes Familienbild in Costa Rica hin.
So wäre es vielleicht korrekter, anstatt von einer kulturellen Identität von einer nationalen Identität zu sprechen, und zu deren Umschreibung müssen immer wieder zwei abgenudelte Begriffe herhalten: “Demokratie” und “Frieden”.

Eine Musterdemokratie?

Die costaricanische Demokratie weist eindeutige Parallelen zu der US-amerikanischen auf. Die Macht wird mittlerweile abwechselnd von zwei programmatisch kaum variierenden Parteien, PLN (Partido Liberación Nacional) und PUSC, ausgeübt. Besonders einig sind sich die VolksvertreterInnen immer dann, wenn es um die Erhöhung ihrer Diäten geht. Der neue PLN-Fraktionsvorsitzende Federico Vargas etwa ist stolz, durch ein neues Gesetz, das die jährliche Erhöhung der Bezüge um fünf Prozent im voraus festlegt, die zukünftigen ParlamentarierInnen vor dem “schrecklichen Trauma” bewahrt zu haben, sich selbst immer neue Profite genehmigen zu müssen. Parlamentspräsident Chaverri hält Rechtfertigungen sowieso nicht für nötig: “Die Abgeordneten sind die Funktionäre, die am meisten in der öffentlichen Kritik stehen, vor allem deshalb, weil in diesem Jahr fast jeder der drei Millionen Costaricaner Abgeordneter sein möchte.”
Daß das Land erstmals seit sieben Jahren wieder im Jahresbericht von Amnesty International genannt wird, trägt neben derartigen Äußerungen ebenfalls nicht gerade zum Image der costaricanischen Demokratie bei. Zielscheibe der Vorwürfe ist die ohnehin keinen besonders guten Ruf genießende Polizei, der Morde an vermeintlichen Drogendealern und Mißhandlungen von Transvestiten in San José zur Last gelegt werden.
Kandidat unter Mordverdacht
Ob von einer PLN-Regierung neue Impulse für die Politik zu erwarten wären, ist fraglich. Wenn es nämlich einen der parteiinternen KandidatInnen der sozialdemokratischen Partei gab, dem getrost einige Schwierigkeiten beim Umgang mit der Demokratie bescheinigt werden konnten, so war dies José Maria Figueres Olsen. Weniger wegen der etwas verworrenen Vorwürfe gegen seine Person, nämlich dem Mordverdacht an einem kleinen Drogendealer Anfang der siebziger Jahre (“Caso Chemisse”) und dem des Betruges als Repräsentant einer Minenfirma, als vielmehr wegen seiner teilweise sehr eigenen Art, darauf zu reagieren: So verweigerte Figueres dem TV-Kanal 7 ein einstündiges Interview zu den offenen Fragen, wollte aber stattdessen eine (von seinem Team hergestellte) “Reportage” ins Programm rücken. Dies war kurz vor den Vorwahlen im Juni. Inzwischen haben die WählerInnen gesprochen: Der PLN-Herausforderer um die Nachfolge von PUSC-Präsident Rafael Angel Calderón (Sohn des Staatspräsidenten 1940-44) ist der mit 57,4 Prozent aller Stimmen berufene José Maria Figueres (Sohn des Staatspräsidenten 1953-58 sowie 1970-74). Und dem PUSC-Kandidaten, dem eifrigen Neoliberalismus-Verfechter Miguel Angel Rodríguez, kommt nun zugute, im Wahlkampf auf die Argumente der Figueres-Gegner aus dessen eigenen Reihen zurückgreifen zu können; da ist dann vielleicht nicht ganz so schmerzlich, daß er selbst kein Präsidenten-Sohn ist.

Wer rettet den sozialen Frieden?

Zu tun gibt es für den kommenden Präsidenten einiges. Vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen die Probleme. Die Zahl verarmter Familien liegt bei 22,2 Prozent; nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation nahm unter der amtierenden Regierung die Unterernährung in der Bevölkerung stark zu – kein Wunder, wo doch der Preis für die “Canasta Básica”, die Grundnahrungsmittel, sich innerhalb von sechs Jahren verdreifachte, ein Sprung, den die Gehälter nicht vollzogen. Die Arbeitslosigkeit sank zwar auf offizielle 4,1 Prozent (1992), doch ging dies zu Lasten eines explodierenden informellen Sektors (ambulante VerkäuferInnen, “Piraten”-Taxis etc.) Mit der Pro-Kopf-Verschuldung (März’93: 1.114 US-$) liegt Costa Rica schon seit Jahren auf einem Spitzenplatz in der Welt.
Ein sozialer Friede läßt sich bei solchen Zahlen kaum aufrechterhalten. In Costa Rica äußert sich dies in einem Anstieg der Raub-und Diebstahldelikte, bevorzugt gegen unvorsichtige TouristInnen. Rafael Guillén, Chef der Kriminalpolizei OIJ, sieht das ganze so: “Wenn ein Land, das in der Entwicklungsphase ist, sich nach vorne bewegt, bleiben Personen auf der Strecke, die sich nicht auf die neue Situation einstellen können.”
Verbrechen ganz anderer Art waren es jedoch, die das Bild von der Friedensinsel Costa Rica endgültig umstießen – und das Land einmal in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken ließ.

Drei Geiseldramen in sieben Monaten

Wurde die eintägige Entführung des obersten Hüters über die innere Sicherheit, des Innenministers Luis Fishman durch den Honduraner Ordonez noch als einmaliger Ausrutscher ins Kuriositätenkabinett eingeordnet, so war die 13tägige Besetzung der nicaraguanischen Botschaft samt Geiselnahme in der Hauptstadt San José im März diesen Jahres ein Schlag von ganz anderem Kaliber. Zwar besaß das ohne Blutvergießen beendete Geiseldrama durchaus kabarettistische Züge, beispielweise wenn Terroristenboß Urbina Lara in selbstdarstellerischer Manier ein Dekret nach dem anderen über die Lautsprecher schickte, oder wenn das benachbarte “Pizza Hut” Opfer und Täter mal schnell mit seinen Köstlichkeiten versorgte; von der Berichterstattung der in solcherlei Dingen unerfahrenen Medien gar nicht zu reden. Der Versuch der costaricanischen Regierung jedoch, das ganze als rein nicaraguanische Angelegenheit abzutun, wirkte kläglich.
Es gelang aber, noch eins draufzusetzen: Die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit Geiselnahme von 24 Angestellten (26. – 29. April). Anders als wie zuvor verbreitet (und wohl auch gehofft), handelte es sich bei den Geiselnehmern nicht etwa um kolumbianische Drogenmafiosi, sondern um ehemalige costaricanische Justizangestellte. Da half dann auch nichts mehr, daß Kommandoführer “Charlie” in seinem Bekennerbrief dreimal “Verzeih’ mir, Costa Rica” schrieb und nach seiner Gefangennahme (kurz vor dem Einstieg in den Fluchthubschrauber übergaben die Gangster ihre Waffen freiwillig (!) der Polizei und wurden daraufhin überwältigt) erklärte, er hätte sich mit dem Lösegeld nur eine dringende Lebertransplantation finanzieren wollen – wobei die Ärzte versicherten, “Charlie” stünde nicht auf der Dringlichkeitsliste.

…und nun auch noch Dinosaurier!

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar ’94 ist es also endgültig vorbei mit dem so liebevoll gepflegten Image des “Paradieses” Costa Rica. Neben politischen Entscheidungen scheint aber auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der “kulturellen” oder “nationalen” Identität vonnöten, bei der davon abgegangen werden sollte, sich weiterhin hinter leeren Floskeln zu verschanzen.
Übrigens: Ob der Film “Jurassic Park”, den Regisseur Spielberg “auf einer Insel vor Costa Rica” spielen läßt (in Wirklichkeit wurde auf Hawaii gedreht), sich imagefördend auf das mittelamerikanische Land auswirkt? Zumindest die Darstellung der Hauptstadt San José war im Lande recht umstritten. Im Film zeigte man ein Kaff am Karibikstrand, das offenbar zur Gänze aus einem Open-Air-Café bestand. In der Version, die in der costaricanischen Hauptstadt (etwa eine Million Einwohner und 100 bzw. 160 Kilometer von Pazifik- und Karibikküste entfernt) in den Kinos gezeigt wurde, befand sich dann auch ein schwarzer Balken über dem eingeblendeten Wort San José, der jedoch leider etwas verrutscht war – was gemischte Reaktionen des Publikums hervorrief.

Wer zerstört, wer rettet Amazonien?

Der folgende Beitrag von Thomas W. Fatheuer ist einer Publikation der brasilianischen Nicht-Regierungsorganisation FASE entnommen, die kürzlich unter dem Titel “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” auf deutsch erschienen ist.

Amazonien der große Wald

Amazonien wird in der internationalen Wahrnehmung fast immer und ausschließlich mit dem Regenwald identifiziert. Damit wird die Region zum primären Objekt der Ökologie. Tatsächlich hat die Analyse des Ökosystems Regenwald wichtige Ergebnisse zu Tage gebracht. So ist es heute fast Allgemeinwissen, daß die tropische Fülle des Regenwaldes nicht mit einer hohen Bodenfruchtbarkeit korrespondiert. Der bekannte Biologe und Vorstandsmitglied des WWF J.Reichholf konfrontiert die Welt des Überschusses, aus der die Siedler kommen, mit der Realität des Regenwaldes: “Diesen Überschuß gibt es im Regenwald nicht. Das gesamte System ist auf geschlossene Kreisläufe eingestellt. Jede Öffnung, um Überschuß zu erreichen, schädigt und zerstört das System. Nur das Sicheinfügen in ein ökologisches Großsystem mit ‘Nullwachstum’ gäbe dem Menschen einen Platz im tropischen Regenwald. Dieser Wald befindet sich in einem umfassenden Gleichgewicht.” (Reichholf 1990, S.181f) Die Konsequenz ist klar: “Die landwirtschaftliche Erschließung der tropischen Regenwälder lohnt sich nicht.” (Reichholf 1990, S.184) Gnade finden allenthalben Indios mit an den Wald angepaßter Wirtschaftsweise bei geringer Besiedlungsdichte. Ansonsten sind die Regenwälder “weder mittel- noch langfristig nutzbar” (Reichholf 1991, S.20). Diese Ausführungen Reichholfs werden illustriert durch eine Karte über die “ökologische Großgliederung Amazoniens” (Reichholf 1990, S.183). Die gesamte Region, größer als Europa, wird aus drei Teilen gebildet: (1.) dem extrem nährstoffarmen zentralamazonischen Bereich, durchzogen von der (2.) fruchtbareren Várzea (zeitweise überschwemmtes Land), die an Bodenfruchtbarkeit mit dem Andenvorland gleichzusetzten ist und (3.) die ebenfalls recht mineralstoffarmen Zonen des nördlichen und südlichen Randgebietes. Demonstrieren soll diese Karte, daß in Amazonien lediglich eine “Flußoasenkultur” inmitten einer grünen Wüste entstanden und tragfähig ist.

Die “soziale Leere”

Auf dieser Karte verschwinden sowohl Städte wie Gebiete, die seit hundert Jahren landwirtschaftlich genutzt werden – was natürlich bei einer Illustration der ökologischen Großgliederung verständlich ist. Das Problem aber ist, daß Städte und Landwirtschaft in der Diskussion einer Lösung für den Regenwald/Amazonien überhaupt nicht auftauchen. Genau das ist es, was die schon zitierte Äußerung von H. Acselrod meint, wenn sie die “soziale Leere” Amazoniens in solchen Diskursen kennzeichnet. Die totale Ökologisierung Amazoniens entleert die Region ihrer sozialen Gestaltung. Es ist leicht einzusehen, warum: In dem ökologischen Gleichgewichtsmodell sind alle menschlichen Eingriffe als Schädigungen (s.o.) klassifiziert. Zugespitzt: der Mensch erscheint, sei er denn nicht ein Indio, als Zerstörer, als Schädling. Er kann gar nicht anders. Die Kritik an der Entwicklung Amazoniens bezieht sich somit nicht auf ein bestimmtes historisches, ökonomisch und sozial determiniertes Aneignungsmodell, sondern auf menschliche Nutzung schlechthin.
Was bedeutet aber eine solche Analyse für Amazonien? Über die Hälfte der etwa 17 Millionen Einwohner Amazoniens leben in den Städten, bei der ländlichen Bevölkerung beträgt die Anzahl der Indios etwa 170 000. Mag man noch zu den Indios andere Gruppen zählen, die auf traditionelle Weise den Wald nutzen, bei großzügiger Rechnung bleibt doch eine Bevölkerung von etwa 15 Mio, für die in den öklogischen Konzepten kein Platz ist. Was soll mit diesen 15 Mio Waldschädlingen geschehen? Nein, niemand schlägt vor, diese umzusiedeln oder Ähnliches. Vor solch offensichtlichem Unsinn schützt doch in der Regel der gesunde Menschenverstand. Das Problem sind nicht absurde Vorschläge, sondern ist das Schweigen. Es wird einfach nicht diskutiert. Amazonien ist der Wald. Die soziale Vielfalt, die Geschichte der Region, ihre Wandlungen und Dynamik, all das tritt nicht ins Bild – oder nur, um Zerstörung und Sinnlosigkeit der Nutzung anzuklagen. Die Bilder vom nicht-florestalen Amazonien (“Hohe Schornsteine am Amazonas”) dokumentieren nur den zerstörerischen Charakter all dessen, was nicht Wald ist. Sinnbildlich ist diese Ikonografie auf dem Titel des “Regenwaldbuches” (Niemetz 1992): In einen wunderschönen Moosregenwald auf Zentralsulavesi ist das Kleinfoto von Hochspannungsleitungen des Wasserkraftwerkes Balbina hineinmontiert. Was gut und was schlecht ist, bedarf keines Kommentares.
Die auf einer Ökologie des Regenwaldes (die hier nicht kritisiert werden soll) beruhende Ökologisierung Amazoniens wird fatal durch Ausblendung. Die ökologische Kritik hat sich als äußerst wertvoll darin erwiesen, den Unsinn der bisherigen Entwicklungsstrategien in Amazonien aufzuzeigen, sie hat aber – jenseits der Propagierung der indianischen Wirtschaftsweise – keine Perspektiven für die Mehrheit der Bevölkerung entwickeln können. Das Pilotprogramm (der G-7 für Amazonien) reflektiert dieses Dilemma. Es ist Ausdruck der florestalen Wahrnehmung Amazoniens und setzt das Schweigen über den “Rest” fort.

Rettet indianisches Wissen den Regenwald?

Der Umschlag des Regenwaldberichts der deutschen Bundesregierung zeigt das Foto einer Brandrodung: ein brennendes Stück Land und ein Mann auf dem Maultier. Das stammt, so werden werden wir aufgeklärt, aus dem Bildarchiv des WWF und zeigt “shifting cultivation” in Brasilien. Gleich in der Einleitung des Berichtes wird zu den Ursachen der Tropenwaldprobleme festgestellt: “Der größte Teil der weltweiten Zerstörung tropischer Wälder ist durch Brandrodung verursacht. Diese Methode beruht insbesondere auf Armut, Überbevölkerung und ungünstiger Landverteilung.”(S.14) Später wird diese Aussage auf 60% präzisiert und kein Zweifel gelassen, wer hier abbrennt: “lokale Bevölkerung und Siedler aus anderen Gebieten” (S.32). Auf das Konto von Viehzucht und Großprojekten soll nur 30% der Waldzerstörung gehen. Eine auf portugiesisch verfasste Informationsbroschüre über die deutsche Tropenwaldpolitik wiederholt diese Angaben.
Als diese Zahlen auf dem Seminar in Belém zitiert wurden, haben sie einen Empörungssturm und eine hitzige Debatte hervorgerufen. Verständlicherweise. Ikonografie und Zahlen definieren eindeutig die Kleinbauern als die Hauptgefahr für den Wald, im Drama der Waldzerstörung sind sie die “Bösen”. Natürlich gibt es auch die “Guten”. “Der Schlüssel für Amazonien liegt im indianischen Wissen.” (Gawora 1992, S.21). Diese Aussage dürfte einen weiten Konsens unter Regenwaldgruppen darstellen.
Die Wiederentdeckung und Aufwertung indianischen Wissens – dies wurde bereits gesagt – ist eine äußerst positive Entwicklung, die viel zur Kritik am herrschenden Entwicklungsmodell beigetragen hat. Insbesondere die Forschungen von Darrell Posey haben gezeigt, mit welch differenzierten Strategien Indios, in diesem Fall die Kayapo, den Urwald nutzen. Sie haben auch gezeigt, daß der “Urwald” Amazoniens viel mehr durch menschliche Eingriffe beeinflußt worden ist, als wir bisher angenommen haben. “Die Unterscheidung in Urwald und Kulturland ist nicht mehr möglich…Der Regenwald sollte nicht mehr als undurchdringlicher Dschungel betrachtet werden, sondern als indianische Kulturlandschaft” (ebd.:20). In dieser Sichtweise wird den Kleinbauern zumindest eine Perpektive eingeräumt: “Übernahme indianischer Landnutzungssysteme” (ebd). Beispiel für eine zumindest partielle Übernahme indianischer Techniken, sind die Kautschukzapfer, Paranußsammler, oder seit längerem im Urwald lebende Flußanwohner (ribeirinhos). Dennoch ist die Konsequenz klar: konventionelle kleinbäuerliche Nutzungsformen sind gescheitert, Kleinbauern haben nur eine Chance, wenn sie quasi zu Indios werden. Es herrscht eine klare Dichotomie. Die Kleinbauern sind eindeutig als Teil des Problems definiert, die Indios hingegen als Teil der Lösung. Für die Bestimmung sozialer Akteure in Amazonien ist dies natürlich eine folgenreiche Feststellung.

Die Waldvernichter No. 1

Die erste Grundannahme dieser Konstruktion, daß die Kleinbauern die Hauptverursacher der Waldvernichtung sind, ist zumindest für Amazonien eindeutig falsch. Francisco Costa kommt aufgrund einer Analyse der für den Bundesstaat Pará vorliegenden Zahlen zu einem eindeutigen Schluß: 67% der durch landwirtschaftliche Nutzung verursachten Entwaldung geht auf Kosten der Anlage von Viehweiden. Zu nicht weniger als 80,7% sind dafür landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von über 200 ha verantwortlich (alle Zahlen für 1985). Bäuerliche Betriebe mit einer Fläche bis zu 200 ha sind insgesamt mit 38% an der Entwaldung beteiligt, ein sicherlich nicht geringer Anteil, der aber eine sinkende Tendenz aufweist (vgl. Costa 1992, S.64f). Diese Zahlen widersprechen jedenfalls völlig den Behauptungen des Tropenwaldberichts, zumal wenn man bedenkt, daß hier die Waldzerstörungen durch Großprojekte (Staudämme, Carajás) nicht einbezogen sind.
Dennoch bleibt die Feststellung, daß auch Kleinbauern den Wald zerstören. Diesen aber das indianische Wissen als Alternative anzubieten, ist illusorisch. Indianische Produktionssysteme haben eine lange Geschichte, sie sind in eine spezifische Kultur integriert und – das ist der entscheidende Punkt – sie sind nicht auf eine Marktproduktion ausgerichtet. Gawora gibt auch als Voraussetzung für die Übernahme indianischen Landnutzungssysteme durch Bauern “eine gewisse Teilautonomie vom Markt” an. Außerdem haben indianische Lebensformen nur da eine Chance, wo viel Land in gesicherten Verhältnissen zur Verfügung steht. Dies unter den gegebenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen Kleinbauern als einzige Alternative anzubieten, heißt ihnen keine Alternative anzubieten.

Die Kleinbauern wirtschaften effizienter

All dies zeigt erst einmal nur, daß in den gängigen Vorstellungen über Amazonien für Kleinbauern kein Platz ist. Natürlich ist damit keineswegs die Annahme widerlegt, daß landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien aus ökologischen Gründen prinzipiell nicht bzw. nur in der indianischen Variante möglich ist. Die prinzipielle Leugnung einer landwirtschaftlichen Nutzung übersieht die geografische und ökologische Diversität Amazoniens – auch die regional und lokal äußerst unterschiedlichen Bodenqualitäten. Tatsächlich zeigen Erfahrungen zum Beispiel in der Region Bragantina, zwischen Belém und dem Meer, und in der Region der Transamazônica, daß eine landwirtschaftliche Nutzung in Teilen Amazoniens auf Dauer möglich ist. In der Bragantina wird seit 100 Jahren Landwirtschaft betrieben. Wer meint, alle Erfahrungen mit der landwirtschaftlichen Entwicklung in Amazonien mit einem (ökologischen) Federstrich abtun zu können, wird nicht in der Lage sein, Strategien zu entwickeln, die an den sozialen Gegebenheiten der Region ansetzen. Erste Erhebungen des Instituts für Amazonasstudien (NAEA) an der Universität Belém und der FASE weisen darauf hin, daß es positive Erfahrungen im Bereich der kleinbäuerlichen Produktion gibt, Tendenzen der Nutzung, die sich als erfolgversprechend erweisen.
Zwei Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Statistiken zeigen, daß der Anteil der Dauerkulturen am Wert der landwirtschaftlichen Produktion von Kleinbauern steigt. 1980 betrug er 14 Prozent gegenüber 22 Prozent 1985 (Costa 1992, S.58). Auf den entwaldeten Flächen produzieren die Kleinbauern einen 3-5 mal höheren Wert als Großbetriebe (Costa 1992, S.61). Während die Großbetriebe eine flächenver(b)rauchende, extensive Viehwirtschaft bei geringem Einsatz von Arbeitskräften privilegieren, tendieren die Bauern zu einer kapitalintensiven Dauerkultur. Es besteht also eine deutliche Differenz zwischen den Nutzungsmethoden der Kleinbauern auf der einen und den Großgrundbesitzern auf der anderen Seite. Es zeigt sich damit auch, daß die “shift cultivation keineswegs eine natürliche Technik ist und daß der Wanderbau nicht der bäuerlichen Produktionsweise inhärent ist.” (Costa 1992, S.65)
Die bäuerliche Landwirtschaft in Amazonien leidet unter dem Fehlen angepaßter Technologien und der Unterordnung unter die Ausbeutung durch das Handelskapital, das die Vermarktung der Produkte erschwert. Erste Analysen weisen darauf hin, daß Kleinbauern dort Erfolg haben, wo sie angepaßte Produktionsmethoden entwickeln, den Anbau durch agroforstwirtschaftliche Techniken diversifizieren, Zugänge zu Vermarktung und Krediten erlangen und die Eigentumsverhältnisse gesichert sind. Dies ist genau die Richtung, in die die Organisationen der Kleinbauern (Gewerkschaften) und Unterstützergruppen in Amazonien arbeiten. Unter solchen Voraussetzungen ist eine kleinbäuerliche landwirtschaftliche Entwicklung in Teilen Amazoniens möglich. Wer meint, dies sei nicht möglich, kann diese Erfahrungen nicht mit einer roten Karte oder einem Handschlenker abtun, sondern muß sich mit den realen Entwicklungen in Amazonien konfrontieren lassen.

Das Problem ist die Agrarindustrie

Das Verschwinden(lassen) der Kleinbauern in den ökologischen Konzepten hat eine fatale Konsequenz: Es differenziert nicht zwischen der zerstörerischen Aneignung durch die landwirtschaftlichen Großprojekte und der kleinbäuerlichen Produktion. Beide erscheinen als Momente des gleichen zerstörerischen Prozesses. Damit werden die Kleinbauern als Bündnispartner ausgegrenzt und politisch in die Hände der Großgrundbesitzer getrieben. Nicht die landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien ist das Problem, sondern die vorherrschend praktizierte Form durch Großgrundbesitz und Agroindustrie, die, wie hier gezeigt wurde, erheblich mehr Flächen bei ungleich geringerer Produktivität als die bäuerliche Wirtschaft verbraucht. Kleinbauern sind an eine ökologische Entwicklung in Amazonien ankoppelbar, die großen Viehfarmen nicht. Großgrundbesitz und Agroindustrie sind in den letzten beiden Jahrzehnten durch Subventionen massiv begünstigt und die Kleinbauern marginalisiert worden. Nur eine Änderung dieser (Macht-) Verhältnisse wird eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung ermöglichen – und nicht eine erneute Marginalisierung der Kleinbauern durch ihre ökologisch begründete Ausgrenzung.
“Die Rettung Amazoniens erfordert es, das Rückgrat der Latifundienwirtschaft zu brechen. Um den Migrationsfluß nach Amazonien zu stoppen, ist die grundlegende ökologische Forderung in Brasilien heute die Agrarreform in den Landesteilen mit längerer landwirtschaftlicher Tradition.” (Costa 1992, S.75) Auf dieser Grundlage kann das Bündnis der “Völker des Waldes” durch eine Zusammenarbeit mit den Kleinbauern erweitert werden. Demarkierung und Schutz der Indianergebiete, Einrichtung von Sammelzonen und eine nachhaltige kleinbäuerliche Produktion wären dann die Grundpfeiler ländlicher Entwicklung und Waldschutz in Amazonien. In ihrer Gegnerschaft zum Latifundium, zu zerstörerischen Großprojekten, zur industriellen Fischerei haben Indios, Sammler und Kleinbauern eine gleiche Interessenlage.

Costa, Francisco (1992) – “Ecologismo e questâo agrária na Amazônia”, Belém.
Gawora, Dieter (1992) – “Indianisches Wissen in Amazonien. Landnutzung und Heilwissen: Chance und Gefahr” in: Entwicklung und ländlicher Raum Nr. 1.
Niemetz, Carsten (1992) – “Das Regenwaldbuch”, Berlin, Hamburg.
Reichholf, Josef (1990) – “Der Tropische Regenwald”, München.

Die Broschüre von Thomas W. Fatheuer (FASE) – “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” ist gegen DM 5.- in Briefmarken, Scheck oder bar erhältlich bei:
Lateinamerika Nachrichten – Vertrieb, Gneisenaustr. 2a, 10 961 Berlin, Tel. 030 – 694 61 00.

Kasten:

Hauptursachen der Waldvernichtung

Philip Fearnside, Forscher am Instituto Nacional de Pesquisa da Amazônia (INPA) in Manaus, ist vielleicht der Forscher, der sich in den letzten Jahren am kontinuierlichsten und intensivsten mit der Frage nach den Ursachen der Entwaldung in Amazonien beschäftigt hat. Er sieht die Hauptursachen in einem kombinierten Entwicklungsprozeß, der die Migration nach Amazonien forcierte, verbunden mit einem Entwicklungsmodell, das die negativen Auswirkungen des Migrationsflusses auf den Wald maximierten. Dabei spielt die Viehwirtschaft eine herausgehobene Rolle: “Die Rinderwirtschaft macht den größten Teil der entwaldeten Flächen in Amazonien aus” (Fearnside 1992, S.207). Die Anlage von Viehweiden dient nicht nur der Produktion von Fleisch, sondern ist auch durch Immobilienspekulation begünstigt. Die Entwaldung zur Anlage von Viehweiden gilt in der Gesetzgebung als “Verbesserung”, schützt vor Enteignung wegen unterlassener Nutzung und erhöht den Wert des Grundstückes. Weitere Hauptursachen der Waldvernichtung sind:

– Staudammbauten und die damit verbundene Entwicklung der Aluminiumindustrie in Amazonien.
– Die Holzgewinnung, die historisch kein wichtiger Faktor war, in den letzten Jahren aber an Bedeutung gewann.
– Herstellung von Holzkohle
– die Anpflanzung homogener Wälder (Eukalyptus)

Der Wanderfeldbau, den traditionelle Waldbewohner praktizieren, ist für Fearnside in Brasilien “ein minimaler Faktor”. Über diese Feststellungen hinaus ist es schwierig, die einzelnen Momente der Waldvernichtung genau zu quantifizieren. Fearnside läßt aber keine Zweifel daran aufkommen, daß es die landwirtschaftlichen und industriellen Großprojekte sind, die die Hauptverursacher darstellen.
Als wichtigste Problemfelder, an denen eine Gegenstrategie ansetzten müßte, sieht er: “Entscheidungen über Bau und Verbesserung von Straßen; die Politik der Anerkennung des Landbesitzes auf der Grundlage von Weiden, deren Anlage als ‘Verbesserung’ akzeptiert wird; die Politik der ländlichen und industriellen Entwicklungen in den Herkunftsgebieten der Migranten, außerhalb Amazoniens.

Fearnside, Philip (1992) – “Desmatamento e desenvolvimento agrícola na Amazônia Brasileira”, in: Philippe Lena/ Adéla Oliveira – “Amazônia: a fronteira agrícola 20 anos depois”, Belém.

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

gez. P. Gonzalo

Die Vermutungen, wie der Brief von Guzmán und Iparraguirre zustandegekommen sein kann, haben eines gemeinsam: niemand weiß Genaues außer denen, die daran beteiligt waren. Und die schweigen.
Eine beliebte Interpretation bei Fujimori-Fans ist die vom durch Einzelhaft psychisch gebrochenen Guzmán. Besonders die Zeitung Expreso vertritt offen triumphalistisch die spöttische These, ein Jahr Gefängnis hätten wohl ausgereicht, um den großen Führer zur völligen Kapitulation zu bewegen. Die AnhängerInnen Senderos dagegen hatten schon nach den Gerüchten vom Juli vorsorglich die Version verbreitet, Guzmán werde unter Drogen und Folter gegen seinen Willen zu solchen Äußerungen gezwungen, eine Meinung, die zum Teil auch außerhalb des Sendero-Spektrums ernstgenommen wird.
Andere suchen nach Gründen, die Guzmán zum Verfassen der Briefe bewegt haben könnten. Bei der Betrachtung des Wortlautes lassen sich dafür Indizien finden, wenn auch die Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt notwendigerweise spekulativ bleibt.
Die Briefe enthalten eine militärische Kapitulation, aber keine ideologische Kapitulation. Mit derselben wissenschaftlich-analytischen Kühle, mit der Guzmán die Notwendigkeit von einer Million Toten im Volkskrieg vertritt, stellt er fest, daß die Regierung es geschafft hat, militärisch entscheidende Erfolge zu erzielen. In seinem Brief vom 6. Oktober schreibt er: “Wir denken, daß sich die Kommunistische Partei Perus (Sendero Luminoso) in letzter Zeit mit neuen, ernsten und sehr komplexen Problemen bezüglich ihrer Führung konfrontiert sieht, und in diesem Bereich hat unsere Partei ihre schwerste Niederlage erlitten. Die Führungsfrage ist … entscheidend und wird in unserem Fall auf längere Sicht nicht zu lösen sein, was vor allem auf den weiteren Verlauf des Volkskrieges Auswirkungen hat.” Guzmán kommt nicht umhin, die Kohärenz der Strategie Fujimoris anzuerkennen: ” …seit diesem Datum (dem 5.April 1992, dem Selbstputsch Fujimoris) haben Sie unter ihrer politischen Führung eine systematische, kohärente Strategie auf verschiedenen Ebenen entwickelt, besonders auf dem Gebiet der geheimdienstlichen Tätigkeit und konnten reale Erfolge erzielen… Auf diese Weise haben Sie den Weg, der von ihnen vorgeschlagen wurde und unter Ihrer Führung vorangetrieben wird, gangbarer gemacht.”
Der Intellektuelle Guzmán analysiert die Situation und kommt zu dem Schluß, daß Fujimori sein Projekt in jeder Hinsicht mit großem Geschick in die Tat umgesetzt habe, militärisch, geheimdienstlich und politisch, aber auch, was die öffentliche Zustimmung angehe. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, Guzmán habe seine Überzeugungen aufgegeben – im Gegenteil. Die Wortwahl zeigt lediglich, daß ihn im Gegensatz zu vielen seiner AnhängerInnen die Fähigkeit zum klaren Nachdenken über die Realität nicht verlassen hat.
Wenn Guzmán auf der Grundlage solcher Gedankengänge Friedensverhandlungen vorschlägt, versucht er zu retten, was zu retten ist. Wenn der Volkskrieg Senderos wieder eine Chance haben soll, und von seiner Notwendigkeit ist Guzmán weiterhin überzeugt, braucht die Partei Zeit, um die eigenen Kader und das sogenannte Volksheer wieder aufzubauen. Ein Friedensabkommen könnte den notwendigen Raum schaffen. Guzmán kann dabei nur von der Hoffnung ausgehen, daß für einen Wiederaufbau der Strukturen Senderos unter anderer Führung noch genügend Kader in Freiheit sind. Vorausgesetzt, seine Isolation im Gefängnis ist effektiv, kann er über diese Hoffnung hinaus kein konkretes Bild über den aktuellen Zustand der Partei haben. Aber er ist offenbar entschlossen, diesen möglicherweise letzten Weg zur Rettung des Projektes Sendero zu gehen.
Die Gelegenheit dazu war günstig, denn Fujimori brauchte im Vorfeld des Referendums dringend die wahlkampfwirksamen Briefe aus dem Gefängnis von Callao. Daß Fujimori sie der Öffentlichkeit als völlige Kapitulation präsentieren würde, muß Guzmán nicht stören. In seinem geschlossenen ideologischen Konzept ist es nur logisch, daß die Gegensätze sich zuspitzen. Daß der seit dreizehn Jahren geführte Krieg gescheitert ist, wird in dieser Denkweise zu einer Etappe, ohne den Gedanken aufzugeben, daß sich weiterhin die Weltgeschichte mit zwangsläufiger Notwendigkeit auf die Revolution zubewegt. Die Gewißheit des Endsieges auf Seiten der Regierung und im öffentlichen Bewußtsein könnte die Bedingung dafür darstellen, den nächsten Anlauf zum revolutionären Kampf zu unternehmen.
Daß Fujimori als halb-demokratisch legitimierter Diktator de facto weiterregiert, paßt in das Bild. Ein erfolgreicherer Schlag gegen die ideologische Gewißheit der Senderisten wäre es, würde sich in Peru nach den Jahren des Krieges nicht ein autoritäres Präsidialregime, sondern eine leidlich funktionierende zivile Demokratie entwicklen. Guzmán weiß, daß das nicht die Vorstellungen Alberto Fujimoris sind. Und so unterzeichnet er seine Briefe weiter mit “Presidente Gonzalo”.

Kasten:

Der erste Brief Guzmáns im Wortlaut

Señor Presidente:
Acudimos a Usted en su condición de jefe del Estado Peruano para solicitarle celebrar conversaciones que conduzcan a un Acuerdo de Paz cuya aplicación lleve a concluir la guerra que por más de trece años vive el país. Damos este paso de gran transcendencia partiendo de nuestra ideología y principios de clase, cabalmente seguros de la necesidad histórica insoslayable del mismo y con la clara comprensión de que refleja lo que ha devenido una necesidad del pueblo, la nación y la sociedad peruana en su conjunto.
Sírvase, Señor Presidente, prestar atención a nuestra solicitud y acceder a ella.

Penal militar naval del Callao, 15 de setiembre de 1993
Abimael Guzmán Reinoso (P.Gonzalo)
Elena Albertina Iparraguirre Revoredo (C.Miriam)

Herr Präsident,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Eigenschaft als Staatschef Perus, um Ihnen Gespräche hinsichtlich eines Friedensabkommens vorzuschlagen, dessen Anwendung den seit mehr als dreizehn Jahre dauernden Krieg beenden würde. Wir unternehmen diesen Schritt von großer Transzendenz ausgehend von unserer Ideologie und unseren Klasseninteressen, in fester Überzeugung seiner historischen Unausweichlichkeit und in völliger Klarheit darüber, daß er ein Bedürfnis des Volkes, der Nation und des peruanischen Staates in seiner Gesamtheit widerspiegelt.
Wir überlassen es Ihnen, sich mit unserem Vorschlag zu beschäftigen und auf ihn einzugehen.

Marinegefängnis Callao, 15. September

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Die Revolution ist von jeglichem Idealismus geheilt

LN: Am 26. Juli wurde der Dollarbesitz für Kubaner offiziell erlaubt. Fidel Castro sprach bei der Verkündigung dieser Maßnahme nicht mehr von der Rettung des Sozialismus und des Vaterlandes, sondern nur noch von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution. Können nur kapitalistische Maßnahmen Kuba aus der schwersten Krise seiner Geschichte retten?
Abel Prieto: Diese Änderung des politischen Diskurses hat selbstverständlich etwas mit den derzeitigen Umwandlungen zu tun, und mit dem sozialen Preis, den einige unserer Maßnahmen mit sich bringen werden. Fidel hat in seiner Rede vom 26. Juli einen Begriff benutzt, den es bisher in der kubanischen Revolution nicht gegeben hat, das Wort Konzession. Die Devisenfreigabe ist eindeutig auf die Leute ausgerichtet. Das ist eine der Ursachen für die Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses der Revolution, daß offen mit den Leuten geredet wird, daß offen gesagt wird, daß es sich dabei um ein Zugeständnis handelt. Und das ist gleichzeitig das Drama im Augenblick. Wir haben nur einen Weg: entweder wir kapitulieren oder wir versuchen, mit Zugeständnissen, Tricks und kapitalistischen Rezepten die Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichheit so weit wie möglich zu bewahren.

Wie können also die Errungenschaften der Revolution bewahrt werden, wenn die Mittel, die Kuba derzeit zur Verfügung stehen, derart beschränkt sind? Es gibt viele Ärzte, aber es fehlt an Medizin. Womit sollen die Schulbildung und die Gesundheitsversorgung für alle finanziert werden?
Wir wollen auf den Gebieten weitermachen, auf denen wir angefangen haben und die bekannt sind: Tourismus, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie, Nickel, Suche nach eigenen Ölvorkommen, traditionelle Exportgüter wie Zucker, Tabak usw. Durch eine möglichst gerechte Verteilung der Einnahmen aus den herkömmlichen wie aus den neuen Wirtschaftsbereichen wollen wir erreichen, daß eben diese Errungenschaften am wenigsten Schaden nehmen. Das ist unsere Idee, und das widerspricht natürlich einer Schocktherapie oder einer drastischen Anhebung der Preise. Wenn wir das Problem des öffentlichen Personenverkehrs dadurch lösen, daß wir in Übereinstimmung mit dem Ersatzteil- und Benzin
mangel die Preise erhöhen – wen treffen wir damit? Das Problem ist z.B. auch, daß es auf der Straße viel Geld gibt, das aber nicht gleichmäßig verteilt ist. Es wird von 11 Monatslöhnen gesprochen, die auf der Straße zirkulieren und für die es kein Angebot gibt. Das ist aber überhaupt nicht gleichmäßig verteilt, es gibt Leute mit sehr niedrigem Einkommen. Es ist also große Vorsicht geboten. Die Unterstützung der politischen Führung beruht im wesentlichen darauf, daß die Leute merken, daß das Wenige, was es in diesem Land z.Zt. gibt, gerecht verteilt ist.

Aber wird nicht gerade das Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, eins der Grundprinzipien der kubanischen Revolution, durch die neue Dollarpolitik unterhöhlt?
Der Dollar war ja illegal bereits im Umlauf. Durch die Legalisierung des Dollarbesitzes kannst du erreichen, daß die Leute mehr schicken. Die Gleichheit, ein Campesino lebt beispielsweise nicht
genauso wie jemand in der Stadt. Es gibt Campesinos, die ½ Million Pesos auf der Bank haben, zwei oder drei Autos, einen LKW, sie haben immer Benzin, denn sie kaufen es auf dem Schwarzmarkt, wo sie alles kaufen können. Wir haben bereits mit einer gewissen Ungleichheit gelebt. Ich bin mit der Einschätzung einverstanden, daß die jüngsten Maßnahmen größere Unterschiede hervorrufen werden. Unsere Herausforderung ist, entweder zu kapitulieren bzw. alles, was wir geschafft haben, dem Sturm der Revanchisten in Miami zu überlassen, den Faschisten, die es auch gibt und deren Ziele in ihrem Diskurs offensichtlich werden, oder mit diesen Zugeständnissen zu leben: Oder glaubst du, der Tourismus ist unter diesen Bedingungen nicht hochgradig schädlich für die Bevölkerung? Glaubst du, das hat nicht seinen Preis? Die ganzen Auslandsinvestitionen, all das hat seinen Preis.

Das bedeutet letztlich, daß zwar einige Errungenschaften des Sozialismus zu retten sind, aber der Sozialismus als System kaum Überlebenschancen hat. Heißt das, zu einem möglichst sozialen Kapitalismus zurückzukehren?
Wir werden beispielsweise nicht auf den Staatsbesitz an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Wir gründen zwar joint-venture-Unternehmen, aber wir werden keinen Ausverkauf des Landes zulassen. Wir werden Privatisierungen vornehmen, das Gesetz des Marktes anwenden, wir werden andere Wege im vorgegebenen Rahmen suchen. Die andere Alternative wäre die Kapitulation. Die Dichotomie, die sich uns bietet, ist so einfach, daß sie brutal, hart, extrem hart ist. Entweder wir retten ein Projekt, das abgeschliffen werden kann, das an einigen Stellen entarten kann, oder wir kapitulieren. Mit der zweiten Alternative würden wir alles verlieren, die Alternative der Kapitulation bedeutet einen abhängigen Kapitalismus in diesem Land.

Bis jetzt haben wir über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen geredet. Nun kommen wir zur rein politischen Ebene. Manche Beobachter vergleichen Kuba mit China, weil es sehr wohl eine ökonomische Liberalisierung gibt, die allerdings nicht von einer gleich schnellen politischen Liberalisierung begleitet ist. Stimmt dieser Vergleich zwischen beiden Ländern, abgesehen von den unübersehbaren Unterschieden, die es natürlich gibt?
Ich war in China. Das war eine hochinteressante Erfahrung, was die Chinesen machen. Sie sind auf wirtschaftlichem Gebiet nicht wesentlich weiter. Ich glaube, der Vergleich hinkt aus vielen Gründen. U.a. gibt es in Kuba noch eine historische Führung, nämlich die der Revolution, während es in China nur noch ein paar Überlebende der historischen Führung gibt. Wir führen alle Veränderungen mit der historischen Führung durch, mit einer Partei, deren Vorstand aus mehreren Generationen zusammengesetzt ist. Es ist interessant zu sehen, wie hier in Kuba versucht wurde, die Präsenz verschiedener Generationen in der Führung der Staatspartei zu gewährleisten.

Trotz dieser aus mehreren Generationen zusammengesetzten poltischen Führung hat einer großer Freund der kubanischen Revolution, Eduardo Galeano, vor kurzem gesagt: “Die kubanische Revolution erlebt eine zunehmende Spannung zwischen den in ihr enthaltenen verändernden Energien und ihren versteinerten Machtstrukturen.” Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Diese Kritik kommt zwar von einem großen Freund der kubanischen Revolution, aber ich glaube nicht, daß die Machtstrukturen versteinert sein können. Das hat sich zum Beispiel gerade in der Nationalversammlung gezeigt, in den Veränderungen, die dort stattgefunden haben, in ihrem neuen Arbeitsstil.

Was bisher eher ein Versprechen denn die Realität ist.
Ich denke, das ist schon Wirklichkeit. Die Nationalversammlung wird natürlich kein Erdöl finden. Wenn die Nationalversammlung schließlich Öl finden würde, wäre das vielleicht eine solche Realität? Es ist kein Wunder geschehen, aber es handelt sich um einen neuen Arbeitsstil, die Führungs- und Arbeitsstile haben sich auf Regierungs- und Kommunalebene sehr wohl gewandelt. All dies, diesen veränderten Arbeitsstil, sieht man deutlicher auf kommunaler Ebene und v.a. außerhalb von Havanna als in der globalen Politik. Ich glaube nicht, daß man da nicht von einer versteinerten Macht- und Regierungsstruktur sprechen kann. Unter den jetzigen Bedingungen des Drucks und der Feindseligkeiten von außen können wir allerdings, und ich glaube, Galeano weiß das sehr genau, die Einheit nicht opfern, das können wir nicht auf’s Spiel setzen. Jede Veränderung zur Verbesserung des politischen Systems in Kuba, damit es besser läuft, damit es eine wirksamere Mitbestimmung gibt, muß erfolgen, ohne diese Einheit zu gefährden. … Wir müssen sehr vorsichtig agieren, sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet. Wir können uns keine Krise erlauben.

Aber die wirtschaftliche Krise ist schon da …
Ja, wir dürfen uns keine politische Krise erlauben. Wir dürfen den Amerikanern keinen Vorwand liefern, sonst drücken sie uns eine humanitäre Invasion auf. Wir müssen hart daran arbeiten, daß die Leute die Situation verstehen, unsere Maßnahmen nachvollziehen können. Die Leute werden zu dem Schluß kommen, daß sich einige tatsächlich bereichern können, aber in dem Maße, wie sich die Wirtschaft erholt, auch die große Mehrheit der Bevölkerung Nutzen davon haben wird. Um auf die Frage zurückzukommen, man muß mit Vorsicht, Intelligenz, Weisheit vorgehen, denn wir dürfen keine Anarchieäußerung zulassen, hier darf es keine Anarchie geben. Dieser Prozeß muß sehr vorsichtig und umsichtig erfolgen.

Die erste Konzession der kubanischen Revolution seit 1959!
Nein, sie wird nur zum ersten Mal im politischen Diskurs angewendet.

Dann zumindest das weitestgehende Zugeständnis, das die kubanische Revolution jemals gemacht hat.
Es ist zumindest eins der deutlichsten, der schmerzhaftesten Zugeständnisse, weil damit offiziell – inoffiziell war das ja schon so – zwei Klassen von Kubanern anerkannt werden. Es gibt jetzt zwei Kategorien von Kubanern. Das bewirkt einen moralischen Schaden, dafür müssen wir einen moralischen Preis bezahlen. Es entsteht eine neue Form der Ausrichtung, einerseits auf den Konsum und andererseits auf den Mangel. Das führt dazu, daß sich die Leute auf ganz verschiedene Arten prostituieren, nicht nur so wie die Prostituierten auf der Va Avenida, es gibt auch eine Art intellektueller ‘jineteros’, die auch die Hotelhallen belagern, um an Einladungen heranzukommen, um aus dem Land herauszukommen oder ein paar Dollars zu verdienen. Der einzige Ausweg ist die Überwindung der Krise.

Carlos Lage sagt, er sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Können Sie Licht erkennen?
Wir wissen bisher noch nicht, wie lang der Tunnel ist. Ich glaube sehr wohl, daß wir aus ihm herauskommen werden. Ich weiß weder wann, noch auf welchem Weg. Aber wir werden wieder herauskommen. Zunächst ist die kubanische Revolution von jeglichem Idealismus geheilt. Wir wissen nun, daß der neue Mensch bedauerlicherweise in weiter Ferne ist.

Bei den Wahlen vom Februar, die eher ein Plebiszit waren, zeigte sich, daß es eine Gruppe von DissidentInnen im Land gibt, die z.B. für keine/n der KandidatInnen und damit gegen das System gestimmt haben. Welche Rolle kann diese Gruppe in der kubanischen Gesellschaft spielen? Wenn die Kommunistische Partei die nationale Partei ist, was geschieht dann mit denjenigen, die nicht innerhalb dieser Partei sein möchten oder können? Welchen Spielraum haben die DissidentInnen in Kuba?
Im Augenblick keinen, sie haben keinen Spielraum.

Das bedeutet aber, daß ein Teil der Bevölkerung, wenn auch ein kleiner, nämlich rund 10%, ausgeschlossen bleibt.
Erstens bieten diese Leute keine Lösung. Zweitens ist es eine kleine Minderheit, die es aber sehr wohl gibt.

Bei den letzten Wahlen in Deutschland stimmte ein ähnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich rund 10%, für systemkritische Parteien, d.h. Kommunisten, Sozialisten, Grüne, der ganze Rest wählte die Parteien, die uneingeschränkt für das System stehen.
Diese Leute haben dieselbe Chance wie ein Kommunist, der in den USA Präsident werden will. Was hätte er für eine Chance mit einem kommunistischen Projekt? Keine! Diese Gruppe hat die reelle Chance, sich als Kandidat für die Delegierten der Basis aufstellen zu lassen. Diesmal haben sie sich nicht einmal aufstellen lassen. Wenn diese Minderheit einen politischen Spielraum fordert, dann müssen sie es nach unseren Spielregeln tun. Und unter diesen Spielregeln werden sie schwerlich Chancen haben. Es ist eben nicht alles darauf vorbereitet, daß Elizardo in die Nationalversammlung einzieht. Dazu muß er viele Hindernisse überwinden, denn unser politisches System ist ausgehend von der Vorstellung entworfen worden, daß die Revolutionäre die Situation beherrschen.

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